Stephan Pabst: Zu Wolfgang Hilbigs Gedicht „Die Zisterne“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Wolfgang Hilbigs Gedicht „Die Zisterne“ aus Wolfgang Hilbig: Bilder vom Erzählen. 

 

 

 

 

WOLFGANG HILBIG

Die Zisterne

Einmal ihr Musen noch blättern
im Traumbuch der Moderne. Entziffern die Lettern
bis zur letzten brandgefleckten Seite bis zur letzten Wendung.
Einmal noch den trüben Spiegel plündern
ohne Selbst und ohne Sendung…
Mit euch im Verein?
Ihr rieft mich zu spät in den heiligen Hain…
dort stritten schon Makler um unser Gebein…
und Nattern sah ich züngeln aus den Mündern
der Nymphen aus ergrautem Stein.

Wir zielten auf die Schönheit doch die war in der Ferne
was bleibt uns nun von allem was wir ausgelitten?
O Musen in den dunklen Wasserspiegel schütten
die nächtlichen Himmel ungereimtes Licht der Sterne.

 

Mythos Moderne

Wolfgang Hilbigs letzter Gedichtband Bilder vom Erzählen (2001) ist nie so recht zur Kenntnis genommen worden – zu Unrecht. Er enthält nicht nur einige seiner gelungensten Gedichte, er ist auch werkgeschichtlich bedeutsam als später Widerruf moderner Dichtung. Dieser Widerruf macht sich in der Wahl des Gegenstandes bemerkbar. Ein großer Teil der Gedichte beschäftigt sich mit dem Mythos des Odysseus. Die historisch konkrete Erfahrung des Ostdeutschen, der eine Heimat verlor, die er als seine nie akzeptierte, wird zur mythischen Erfahrung. Der Widerruf macht sich aber auch in scheinbaren Nebensächlichkeiten bemerkbar. Anders als in seinen früheren Gedichtbänden, in denen alle Worte klein geschrieben waren, unterscheidet Hilbig hier wieder zwischen Groß- und Kleinschreibung.
Kaum ein Gedicht des Bandes steht für diesen Widerruf der Moderne ausdrücklicher ein als das Gedicht „Die Zisterne“ (1998).
Die beiden Eingangsverse blicken etwas sentimental zurück auf eine Moderne, die ein „Traum“ war und eine Katastrophe. Auch dieses Gedicht schreibt groß und klein, bedient sich scheinbar ganz anachronistischer Wendungen wie dem Musenanruf im ersten und vorletzten Vers und reimt mehr oder minder regelmäßig. Durch das Gedicht geht – nicht nur was seine Formsprache betrifft – eine historische Zäsur. Die „Makler“ – Ungeziefer in den Augen des Textes – lassen vermuten, dass es die des Jahres 1989 ist, mit dem das Schreiben seine hier geradezu mythische Autorität verliert. Es unterliegt den Regeln des Kommerzes. Diese Zäsur betrifft ein Kollektiv – das Ich sagt Wir – die Ostdeutschen oder die Dichter oder die ostdeutschen Dichter. Diesem Kollektiv widerfuhr historisch Leid, ein solches aber, das das Gedicht etwas verklärt mit dem Kontrast zur degenerierten Neuzeit der Makler. Die Verklärung des Kollektivs ist wohl die faule Stelle des Gedichts, die nicht verschwiegen werden soll.

Stephan Pabstaus Jens Kirsten und Christoph Schmitz-Scholemann (Hrsg.): Thüringer Anthologie. Weimarer Verlagsgesellschaft, 2018

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