Sylvia Geist: Zu Tom Schulz’ Gedicht „an der Gustav Mahler Treppe“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Tom Schulz’ Gedicht „an der Gustav Mahler Treppe“ aus Tom Schulz: Innere Musik. −

 

 

 

 

TOM SCHULZ

an der Gustav Mahler Treppe

Amsel, Amsel
pick mein Herz, eine rote Beere
an Tagen, hell
schickt es sich aufzufliegen

zähle bis zehn, zähl
nicht bis elf, ich muss
gehn, ich muss gehn
lange bevor

durch die Eichen, die Erlen
in einem bestickten Gewand
voll von Perlen, die Steine
die weichen, meine Hand

fällt keinen Stamm, tränkt
das Gefieder, die Furt, weiter
fort, kehrst du immer wieder
ein in den Baum

Nacht ward zersungen
die Frühe, windschief
wie hat sie geklungen
Amsel, Amsel

mein Herz ohne Schwere
hell, und bis zehn
ich zähl nicht, ich muss
tief ans Wasser gehen

 

„zähl nicht bis elf“: Ein Countdown bis lange davor

(10)
Was müsste das für ein Gedicht sein: ein bewundertes, ein mich beeinflussendes, ein wahlverwandtes? Es werden viele bewunderungswürdige Gedichte geschrieben, entsprechend oft habe ich Anlass zu Bewunderung. Mal ist es eine große – ein Gefühl, dessen Annehmlichkeiten man nicht unterschätzen sollte, denn es wirkt erhebend und rückt seinen Gegenstand doch in eine Distanz, die den Umgang damit erleichtert – mal eine etwas kleinere, aber umso produktivere Bewunderung, die den eigenen Nacheifer erlaubt und gewisse Ähnlichkeiten mit serieller Monogamie aufweist. Die Bewunderung bleibt, das Bewunderte wechselt.

(9)
Wenn ich nicht nach meinem poetischen Sternbild aus der langen Reihe schöner und wichtiger Lektüreerfahrungen gefragt bin, nicht nach Wahlverwandtschaften oder lyrischen Vorbildern, sondern nach dem Gedicht, dann müsste es um eines gehen, das mich die Dinge auf eine Weise sehen ließe, die meinen Standpunkt verändert, oder meinen Ort. Um ein in diesem Sinne epiphanisches Gedicht.

(8)
„Wie wenn man in Wälder verstoßen würde, von allen Menschen weg“, schrieb Kafka an Oscar Pollack über die Werke, „die wir brauchen“, und mir fällt der Scherz über jenen Zeitgenossen ein, der zum Zigarettenholen ging und nicht wiederkam. Nach dem gefragt, was ihn „in Wälder verstoßen“ habe, würde er die Achseln zucken und sagen, er habe eben gehen müssen. Diese Zurückhaltung wäre aber keine Geheimnistuerei, sondern entspränge dem Eindruck, unmöglich benennen zu können, was ihn fortgetrieben hat. Möglicherweise würde er die Verse des jungen Hegel zitieren, der 1796 in seinem dem Freund Hölderlin gewidmeten Gedicht „Eleusis“ schrieb: „Wer gar davon zu andern sprechen wollte, / Spräch’ er mit Engelzungen, fühlt’ er der Worte Armut“. Es kann das Amalgam gewesen sein, das die Straße vorm Haus mit gewissen Lichtverhältnissen und dem Lied einer Amsel in seinem Bewusstsein einging und ihm das Gefühl vermittelte, das Leben sei jahrelang an ihm vorbeigegegangen, oder etwas anderes, das einen Grund zu nennen er sich scheuen würde. Was immer es war, in einem bestimmten Moment war es wirkmächtig, aus Gründen, die nicht in der Besonderheit des Anlasses liegen, vielmehr in einer recht verbreiteten Anfälligkeit, im Verlangen nach was immer, das zu allem Möglichen führen kann und nicht unbedingt zu etwas Glückhaftem. Dagegen ist es ein Glück, einem Gedicht zu begegnen, das von diesem Verlangen spricht.

(7)
„Amsel, Amsel / pick mein Herz, eine rote Beere“ lautet der liedhafte Auftakt des Gedichts von Tom Schulz. Das Doloröse und Gefährliche jeder Hingabe klingt an in dem vertrauten Bild, und der Mut, sich dennoch angehen, sich nahegehen zu lassen bis ans „Herz“, weil man sonst leer zurückbleibt, ohne das Gefühl, wirklich am Leben zu sein.

(6)
Im Zusammenspiel mit dem Titel vermessen diese Eingangsverse das mentale und emotionale Kraftfeld des Gedichts. Überall könnte einem die Amsel begegnen, dass sie an der Gustav-Mahler-Treppe verortet wird, ruft die Erinnerung an den Komponisten wach, der einmal sein gesamtes Werk als „Antizipando“ bezeichnete und mit seiner unvollendeten Zehnten Symphonie an der Schwelle zur Moderne stand, dort, wo die Harmonik der Kirchentonarten an ihre Ausdrucksgrenze hinsichtlich der Verfasstheit des Menschen im Industriezeitalter stieß, an den Liedkomponisten auch, dessen Schüler Schönberg in seiner Prager Rede sagte, vielleicht wären „die Rätsel dieser Welt gelöst, wenn einer (…) die Zehnte schriebe“, doch „das soll wohl nicht so sein“. Auch wenn man die zum deutschen Geniekult des 19. Jahrhunderts gehörende Legendenbildung um die Zehnte als einer geradezu mystischen Grenze als romantizistischen Schwulst ad acta legt, sich daran erinnert, dass Mahler die Zehnte sehr wohl geschrieben, seine Neunte aus Aberglauben aber „Lied von der Erde“ genannt hat, und man sich im Übrigen lieber an jemanden wie Schostakowitsch mit seinen fünfzehn Symphonien hält, stellt die Erwähnung der Gustav-Mahler-Treppe mehr als eine geographische Verortung dar. Der Name wirkt wie ein Brotkrumen, hingestreut für die Amsel, und lenkt den Blick auf die Route des Gedichts.

(5)
„an Tagen, hell / schickt es sich aufzufliegen“: Die Bewegung des Vogels – und der aufzupickenden Herzbeere – bleibt in der Schwebe, es ist ein Sich-Anschicken, ein Moment, der das Auffliegen (oder Fortgehen) vorwegnimmt, in Antizipando. Die Vorwegnahme aber erhält das Zwingende einer Taktvorabe und damit eines vorgezeichneten Ablaufs: „zähle bis zehn, zähl / nicht bis 11“. Es ist ein Countdown in die einem Start entgegengesetzte Richtung, dessen Dringlichkeit dem von vornherein gesetzten Limit entspricht, denn: „ich muss / gehn, ich muss gehen“, und zwar „lange bevor“.
Mit dieser Zeitangabe endet nicht nur die zweite Strophe, der ganze Satz nimmt gleichsam eine Kurve ins Entschwinden, jedenfalls fort vom vorhersehbaren. Auch „ich“ scheint schon von der Bildfläche der Treppe verschwunden, es geht nun „durch die Eichen, die Erlen / in einem bestickten Gewand / voll von Perlen“. Oder doch nicht? Die Bezüge werden beweglich im Versgefüge. Es heißt eben nicht: „ich muss gehen / durch die Eichen, die Erlen / in einem bestickten Gewand“, zwischen dem Ich und den Erlen steht ja immer noch dieses „lange bevor“ – nur: wovor? Bevor „die Steine / die weichen, meine Hand“ – was: sie berührt, aufhebt, hält? Und wieder nein, diese Hand ist frei oder mit anderem befasst, sie „fällt keinen Stamm, tränkt / das Gefieder, die Furt, weiter“ geht es…

(4)
… nämlich „fort“.
An dieser Stelle ist es höchste Zeit für Bewunderung (schon um ein wenig Abstand zur Amsel zu gewinnen) dafür, wie die grammatikalische Offenheit des Gedichts die Bilder einander überlagern lässt, sie in Bewegung und ins Räumliche setzt. Die Aufkündigung des Verhältnisses, das ein Hauptsatz für gewöhnlich zu einem Relativsatz einnimmt – eine elegante Aufkündigung unter Einhaltung der Form, doch eben beidseitig offen −, lässt die Gleichzeitigkeit alles im Gedicht Angesprochenen aufscheinen und widerspricht der strengen, wenn auch nahezu verschwiegenen Chronologie des Endlichkeits-Countdowns in der zweiten Strophe („zähl nicht bis elf“, weil das nämlich zu spät sein wird, weil die Amsel dann fort ist, einfach, weil du dann fort bist), während die Wortarten, selbst wie „die Steine / die weichen“, ihre Funktionsgrenzen überschreiten, ein Adjektiv sich zum Verb verflüssigt, ein Verb sich im Adjektiv spiegelt und die Interpunktion ein Übriges tut, die Gegenstände in jener was immer antizipierenden Schwebe zu halten, die schon Bild und Duktus der ersten Strophe ankündigten. Steinern geglaubte Formfossilien offenbaren ihre Durchlässigkeit, während „ich“ im Gewand der Erlen geht, das ebenso seines ist, sein wird, wenn „du immer wieder / ein (kehrst) in den Baum“.
Es ist eine neue Möglichkeitsform, die Tom Schulz hier findet, ganz ohne Konjunktiv, und zugleich eine Sprachgestalt für das aufs Unbestimmte gerichtete Verlangen, das tatsächlich ein unerfüllbares ist: Ich muss gehen, lange bevor es eingetreten ist – das, wofür der scheinbar fehlende Satzteil steht.

(3)
Wie spät mag es inzwischen sein? „Nacht ward zersungen“, heißt es in der fünften Strophe, aber auch „die Frühe / windschief“ der nächsten Zeile ist vorüber, kaum erinnert man sich an sie – „wie hat sie geklungen“ – in dem Augenblick, in dem Vogel und rote Beere durch den Beginn der letzten Strophe voneinander abgesetzt, syntaktisch aber einander beigeordnet werden: „Amsel, Amsel // mein Herz ohne Schwere / hell“.
Wieder wird gezählt, „und bis zehn“, was die Klammer zur Anfangspassage des Gedichts, aber außerdem eine Tageszeit markiert, bis zu der es „hell“ bleibt, die Uhrzeit vor Einbruch der Nacht, und nun wird klar: Es ist immer noch das Jetzt, in dem „ich“ bereit ist für die Näherung – und Nährung – der Amsel. Nacht wie Frühe wirken wie Zeiger einer Uhr, doch einer kaputten, „zersungen“ und „windschief“ wie sie sind, das Gedicht löst seine eigene Forderung ein, es wird nicht elf, nicht dunkel darin. Und es soll auch nicht länger gemessen und gezählt werden, wenigstens nicht vom lyrischen Ich, das nun hinter sich zurück- und eintritt in die der ewigen Sekunden- und Stundenzählerei enthobene Gegenwart: „ich zähl nicht“.

(2)
„ich muss / tief ans Wasser gehen“: Vielleicht findet Glück zu dieser Zeit statt, wenn das Ich zu zählen aufhört und unvermittelt weiß, was es bedeutet, jetzt da zu sein, gleichzeitig mit Amsel, Erlen, Abend an der Treppe, die nach Gustav Mahler benannt ist und mich daran erinnert, dass die Gegenwart ein Antizipando der Zukunft ist, in der ich nicht mehr sein werde. Vielleicht erreicht das Lebendigsein um diese Zeit seinen Höhepunkt, in der ich weiß, es wird dunkel und ich muss gehen, aber jetzt noch nicht. „Jetzt“ ist die unzählbare, eigentlich unmessbar feine Schnittstelle zwischen „nicht mehr“ und „noch nicht“, der Moment des Zutagetretens der Gleichzeitigkeit von beidem, das, wovon Hegel lange nach „Eleusis“ schrieb, es habe „schon aufgehört zu sein, indem es gezeigt wird“.

(1)
Bemerkenswert, wie dieses Dilemma in „an der Gustav Mahler Treppe“ in die Form der Ellipse übersetzt wird. Jetzt ist „lange bevor“. Der Moment ist ein Antizipando der Erinnerung an ihn, er beginnt sich schon in Erinnertes zu verwandeln, sobald ich ihn als „den Moment“ denke, lange bevor es eintritt, dem ich vielleicht am nächsten komme, indem ich es ersehne. Insofern ist das Gedicht auch eine kleine, nicht unironische Einführung ins Wesen des Unerfüllbaren, denn was immer geschieht, kann es allein durch sein Eintreten ja nicht mehr sein. Das Schönste aber ist, dass der Leser auf dieses unzureichende Jetzt „lange bevor“ verpflichtet wird: „hell / schickt es sich aufzufliegen“. Sich zu schicken, zu fügen, ist immer noch die würdigste Haltung, die man dem Unvermeidlichen gegenüber einnehmen kann, und doch fordert das Gedicht nicht Resignation, im Gegenteil, es schickt sich, vor Einbruch der Dunkelheit hell zu werden, die Menschen und die Dinge zählen, sind es wert, dass man vom Zigaretten holen wiederkommt, was immer es gewesen sein mag, das einen fort gelockt oder verstoßen hat, epiphanisch oder nicht. Das ist die andere, die Gegen-Epiphanie des Gedichts: Dass „fort“ gegangen wird, um „immer wieder ein(zukehren)“.

(0)
PS: Dass Mahler fünfzigjährig in Folge einer Streptokokken-Infektion starb, während er die Zehnte schrieb, ist ein Zufall. Trotz gesundheitlicher Probleme hatte er in Amerika achtundvierzig Konzerte dirigiert, war überarbeitet und daher anfällig. Er selbst hätte die Koinzidenz seiner Erkrankung und der Arbeit an der Symphonie, die eigentlich seine Elfte war, aber wohl als symbolisch betrachtet, als eine Art Muster, in dem die Benennung des Unterfangens mit dessen Scheitern zusammenfiel und es so verunmöglichte, wie das Benennen dessen, was man bei „Eleusis“ „gesehen, gehört, gefühlt“ hat, dem jungen Hegel unmöglich schien. Ins erste Kapitel der Phänomenologie nahm er das Gedicht jedoch auf. Dort ist vom Sprechen die Rede, das die Natur habe, „die Meinung unmittelbar zu verkehren, zu etwas anderem zu machen und so sie gar nicht zum Worte kommen zu lassen“. Gerade aufgrund ihrer Eigenschaft, nicht auszusprechen, was wir meinen, schien ihm die Sprache nun auch das einzuschließen, was sie nicht benennt, das Jetzt eingekehrt ins „lange bevor“.

Sylvia Geist

Zeit als Form des inneren Sinns

Die Zeit ist nichts anderes als die Form des innern Sinnes,
d.i, des Anschauens unserer selbst und unsers innern Zustandes.

Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft I

Sylvia Geists schöner und hellsichtiger Aufsatz verweist indirekt auf die „Zeit als Form des innern Sinnes“ – und ihr Titel: „Countdown bis lange bevor“ betont das Nichtlineare von Zeit. Der Takt, an dem wir Zeit ermessen, am Ausschlag des Metronoms oder der Messung des Ruhepulses; Zeit geschieht, indem wir sie zu unserer sinnlichen Wahrnehmung machen, oder wie Kant sagt zu einer „wirklichen Form der innern Anschauung“.
Zeit hat keinen Verlauf im Sinne von Anfang und Ende. Sie löscht ihre Spur, indem sie sie selbst bespricht. Und: sie läuft nicht ab. Die Zeit mehrt und schmälert nicht, sie bildet Erinnerung, bindet Vergangenheit und schafft Vergessen.
So ist das In-der-Welt-Sein ein Weiterzählen im Sinne des Kinderspiels:
Wir zählen bis zehn, die Hände vor Augen, und suchen alsdann die zaubrische Stelle. Nämlich diese, eine. Jedenfalls die, woraus sie für uns besteht: aus einem Baum vielleicht, einer Blume, Gras. Einem Fluss und dem Ufer. Das Wasser ist nicht zu tief. Doch wir müssen tief ans Wasser gehen. Bis zu der Stelle einer Wiederkehr.
Gibt es noch Menschen? Ja, und „es sind / noch Lieder zu singen / jenseits der Menschen“ (Paul Celan).

Wir singen vom Baum, von der Blume. Vom Gras.

Das Gedicht „an der Gustav Mahler Treppe [Gustav Mahler Treppe, am Friedrichsplatz in Kassel.] hat überdies noch einen anderen Aspekt, den Sylvia Geist streift: den eines romantischen Sinns.
Nun ist die Romantik kein Laubengang mehr, kein Wäldchen, sondern eine Gefühls- und Geisteshaltung, die im Innersten (der Zeit) trotz aller Beschädigungen einen unzerstörbaren Kern besitzt. Sie ist gespeicherte Erfahrung der Sinne. Gespeichertes kulturelles Wissen. Sie ist beim Wort genommen „eine rote Beere im Schnabel der Amsel“. Und das Herz? Schlägt, wie Sylvia Geist schreibt: „weil man sonst leer zurückbleibt, ohne das Gefühl, wirklich am Leben zu sein.“
Wie Heine sagte, hat die Romantische Kunst das Unendliche darzustellen; sie bezieht sich nicht auf die Gegenwart. Gleichermaßen ist ihre Sehnsucht immer nur als etwas Transzendentes zu begreifen; sie ist nicht wirklich oder gebunden.

Und das Gedicht? Immer wieder entfernt es sich von der äußeren Welt, tritt hinter die Erscheinungen und Dinge zurück, taucht in andere Zusammenhänge. Als eine Art Musik, als sprachmusikalische Komposition, auf deren Resonanzboden der Dichter/die Dichterin zuweilen Erschütterungen ausgesetzt ist. Und sich einer Fallhöhe gewahr wird, auch jenem dünnen Eis eines brüchigen Pathos’. Über das einer der Wege zu den klaren und versöhnlichen Fügungen reiner Sprache führt. Dies meint Dichtung, die sich der Traditionen als Material bewusst wird, um noch einmal auf den Grund des Sagens hinab zu steigen: mit dem Willen zu Form und Gesang, mit der Idee von Bildern, Farben und Figuren.
Und das Gedicht; es liest uns auf? Vor lauter Hermetik, die ihm nachgesagt wird, liegt es vor uns: vollkommen offen. Es hat geklungen und immer wieder kehren wir zu ihm ein. An jenen Ort der Zeit als Form des inneren Sinns.

Tom Schulz        

Die Texte wurden entnommen aus: die horen, Heft 246, Wallstein Verlag, 2. Quartal 2012

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