DREISSIGSTES JAHR
Da kommt ein Mensch im Schmuck der langen Haare
und führt sein Lächeln, das berühmte, mit,
Fontänen springen auf vor seinem Schritt,
der Asphalt schwingt – er hat noch viele Jahre.
So weit so gut. Doch über ihm, zur Linken,
klirrt was, die Zeit. Er schüttelt seine Locken
und schwenkt den Arm, denn ein geheimes Stocken
befällt den Fuß. Ein unmerkliches Hinken
geht mit ihm mit. – Sieh an, der kommt nicht weit,
denk ich, da ich ihm lässig winke
und, so vergessend, daß ich selber hinke,
auf ihn zugeh mit großer Leichtigkeit,
als ließ’ ich hinter mir den, der ich bin,
und bin doch er. Hinkfüßig geh ich hin.
Rosenlöchers großartige Dichtkunst kommt aus dem Fabulieren, aus dem Zusammenbringenkönnen von Ichlust und Echtwelt… Es macht ungeheure Lust, in den Fluß seiner Sprache einzutauchen, die uns sprudelnd mitnimmt und erfrischt, was Alltag und Routinen uns verebben ließen: perlende Augenblicke kindlichen Spiels mit der Wahrheit und ihrem Erscheinen.
Frank Milautzcki
Die Sehnsucht nach einer unversehrten, erhabenen Natur wird in Rosenlöchers Elegien emphatisch aufgerufen wie auch ironisch konterkariert… In burlesker Manier, in schlemischen, gelegentlich auch kalauernden Tonarten besingt er augenzwinkernd kleine und kleinste Dinge.
Jury des Hölty-Preises
Rosenlöchers Gedichte sind poetisch in einem so radikalen Sinn, daß Katastrophenmeldungen und apokalyptische Diskurse sich in ihnen verfangen, sie aber nicht durchdringen.
Alexander von Bormann
Vielmehr baut seine Weltbetrachtung auf die natürliche Spanne von Leben und Tod und alle was an Vitalität und Sterblichkeit darin beschlossen sein kann… Er hat sich die Fähigkeit bewahrt, unbändig staunen zu können, etwa über einen blühenden Kirschbaum, an dem jede Blüte die „Summe der Seligpreisungen“ birgt.
Wulf Kirsten
Weil Thomas Rosenlöcher ein Vanitas-Mahner ist, deshalb ist er ein Dichter irdischen Glücks.
Heinrich Detering
Erst wenn er seine sächsischen Weltsorgen auf die Spaßspitze treiben kann, ist der seiner Elbader Treugebliebene im Dichtungselement. Sein weicher Redefluß folgt ihren Mäandern, wie er sich in ihren stillen Gründen ergeht. Daß er nicht im Schlick erstickt, bannt er die Daseinsschrecken mit dem Wanderstecken. Seit der Wende beäugt er die Welt von ihrem marktgängigen Ende, drang sein bärtiger Schalk bis ins Sauer-, ins Gallierland vor.
MärkischerVerlag Wilhelmshorst, Klappentext, 2010
Birgit Rosenlöcher hat sich Mühe gegeben, Stille einkehren zu lassen im Haus. Über dem Wohnzimmer liegt der Arbeitsraum ihres Mannes. Der singt durch alle Wände hindurch. Singen heißt: Thomas Rosenlöcher schreibt auf diese Weise seine Gedichte. Er spürt dem Klang der Worte so lange nach, bis sie ihm ihre Melodie anvertrauen. Das kann stundenlang dauern. Mit einer Dämmschicht, die Ehefrau Birgit in die Decke einzog, glaubte sie sich gesichert zu haben gegen die Melodiefindungsanläufe des Dichters. „Doch es schwingt und singt noch immer“, sagt sie.
Die Holzbalken leiten seine Stimme weiter, Gottseidank nicht jedes Wort.
Keiner sonst als Thomas Rosenlöcher schafft am Ende des Jahrhunderts in Deutschland so schön diese Spiralbewegung vom Leben zur Literatur und von der Literatur zum Leben. Ein Leben, das ihn seit drei Jahrzehnten mit dieser Frau verbindet, die ihm jene Geborgenheit gibt, der wir Rosenlöchers ganz unvergleichliche Gedichte des Beisichwohnenkönnens verdanken. Im Schutzgebiet längst vertrieben geglaubter Engel, die ihm aus der Kindheit wieder zugelaufen sind und in sein Werk drängen.
Da es endlich Abend wird
Engelchen mich rings umschwirrt,
als Insekt sakraler Art,
flechte ich aus meinen Händen,
es zu schützen vor den Fallen
meiner fürchterlichen Krallen,
Atems Dickicht, Kinnes Bart,
ihm ein Dach mit schrägen Wänden,
sage leise: Komm.
Siehe, ich bin fromm.
Säßest du im Bethaus drin,
hätte Beten einen Sinn.
Thomas Rosenlöcher, Jahrgang 1947, aus der Zerstörung Dresdens hervorgegangen, nimmt am Zertrümmerungsprozeß der Moderne nicht teil. Er löst nicht auf, er löst eine Geschichte ein, die von Walther von der Vogelweide über Barthold Hinrich Brockes, Friedrich Gottlieb Klopstock, Joseph Freiherr von Eichendorff, Heinrich Heine, Rainer Maria Rilke bis hin zu Jakob van Hoddis reicht. Thomas Rosenlöcher erfüllt. Die Erfüllung sammelt die Vergangenheit zu einer „Heimkunft“, wie sie Hölderlin beschrieben hat und wie sie in der Zeitenversammlung Rosenlöchers durchschimmert:
Freilich wohl! das Geburtsland ists, der Boden der Heimat,
Was du suchest, es ist nahe, begegnet dir schon…
Thomas Rosenlöcher schreibt in seinem ersten Gedichtband:
Im Garten wuchs schon Krokus, eine Insel
sehr österlicher Blüten, buntgeschippert.
Doch über Nacht war auf die flachen Dächer
und Wege Schnee gefallen. Im Gesträuch
und an dem Zaun das erste bißchen Grün
schmolz schnell dahin. Auch warn die Apfelbäume,
die jeder anders schief vor Alter standen,
von oben bis unten überstäupt
und Ast für Ast mit Stille schwer beladen,
daß alles nur noch weiße Wirrnis war.
Da dachte ich: Das ist ein später Engel,
der reiner ist und weißer als die andern
und spät die Erde deckte, um zu sterben,
und schrieb das auf. Ich saß im warmen Zimmer
am Fenster, trank Kaffee, erwähnte auch
winzige Spuren wie von Vogelkrallen
im lochen Schnee auf ungebrochnen Beeten
und wollte leben, als ob nichts geschehe,
nur endlich nackt sein also dich berühren
aus aller Kraft und lauter Zartheit Schnee.
In der Wilhelm-Weiding-Straße 4 in Kleinzschachwitz am südöstlichen Rand von Dresden entwickelt Thomas Rosenlöcher Ende der siebziger Jahre seine Poetologie. Hier hat er im zweiten Stock einer Villa aus der Jahrhundertwende seine Wohnung. Der zu dem Haus gehörende verwilderte Garten wird immer wieder in seinen Gedichten auftauchen. Von hier geht der Lyriker seinen Weg zur Elbe, von hier aus erkundet er seine Lebenslandschaft. Von ihren Rändern kommend, an ihren Rändern bleibend.
Auf der anderen Elbseite liegt Pillnitz mit seinem Schloß am Wasser, das Theodor Däubler zu seinem ins Mediterrane ausufernden Gedichtband Die Treppe zum Nordlicht inspirierte:
Die Möglichkeit zu leben ist unmöglich klein,
und dennoch fügt sich alles in das Ganze ein!
Über dem Schloß rechts der Hang mit den Weinrebenspalieren, an dem entlang Caspar David Friedrich wanderte und zeichnete. Links über dem Schloß in Hosterwitz das Sommerhaus Carl Maria von Webers. Und über allem der Friedrichsgrund mit seinem Bach, Spaziergebiet aus Rosenlöchers Kindheitstagen:
Schon glaubte ich, durch Erlenlaubgesprenkel
die Mühle blinken sehn zu dürfen, hörte
im Mühlengraben noch das Mühlenrad,
das längst zerfiel, sich klopfend drehend, als
den Weg entlang langsam mein Vater kam,
zwölf Jahre tot. Er sah starr gradeaus,
das Haar wie früher schütter, doch ganz weiß,
und ging vorbei, und sah mich nicht mal an,
weil ich vergaß und nie zu denken wage,
wie er daliegt, zerfallen in der Erde,
in seinem Hemd aus Nylon und im Schlips.
So schritt ich eilig über eine Brücke
aus Stein, den Bach, der nun nicht mehr zur Rechten,
sondern zur Linken rauschte, überquerend…
Thomas Rosenlöcher im Jahre 1980: sich atheistisch von seinem Vater absetzender Sohn eines, wie er formuliert, „Kleinkapitalisten“, eines „Kommunistenhassers, der den Untergang der DDR prophezeite“. Eine Vaterprojektion ist in diesem Gedichtausschnitt festgehalten. Nicht der Vater sieht am Sohn vorbei, sondern der Sohn am Vater. Erster Versuch Thomas Rosenlöchers in der Begegnung mit seinem Versagen, sich des väterlichen Grundes zu versichern, von dem aus und aus dem heraus er schreibt. Thomas Rosenlöchers Lyrik spricht von der kleinen Bewegung in der Seßhaftigkeit. Geburt, Taufe, Konfirmation, keine Jugendweihe, Heirat, Geburt der drei Kinder, deren Taufe, deren Schulbesuch: alles Kleinzschachwitz. Erst die Wende vertreibt ihn dreißig Kilometer weiter, aus dem warmen Elbklima ins rauhe Erzgebirge nach Beerwalde. In einem Häuschen, in dem einmal Flachs gelagert wurde, das dann Datsche für Dresdner war und nun dem Dichter über dem Wohnzimmer einen Ausblick gibt, der benannt sein will. Oder Einblick in jenen „Nickmechanismus“, der aus Feigheit, Gleichgültigkeit, Gewohnheit oder Naivität funktionierte und das SED-System so lange an der Macht hielt.
Dreh- und Angelpunkt dieser Geschichte, die Thomas Rosenlöcher einen „Selbstbefragungsversuch“ nennt, ist sein Vater Kurt. Wenn Thomas Rosenlöcher im Rückblick auf die DDR-Zeit auf die „Würde des Hierbleibens“ pocht und dem Beharren einen Widerstandswert beimißt, dann weiß er inzwischen, daß solche Feststellungen erst einmal seinem Vater geschuldet sind. Dieser Mann war alles durch eigener Hände Arbeit. Selbst Arbeiterkind, zog er einen Handel auf. Mit dem Fahrrad fuhr er über Land und verkaufte den Bauern Schmierseife. Aus dem kleinen Gewinn baute er in Kleinzschachwitz ein Futtermittelunternehmen mit mehr als dreißig Angestellten auf.
Thomas Rosenlöchers Vater hatte nie vergessen, woher er gekommen war. Aus einem Umfeld, in dem unumstößlich das Gleichgewicht der Werte galt: Gott und Welt, Mensch und Natur als verbindendes Denken. Daran hielt der Vater fest. Vor 1945 und nach 1945. Mag der Totalitarismus zerstören, zertrümmern, zerstreuen, der Mann setzte auf Induktion: vom Zerstreuten zurück zum Einen, in dem die unsichtbare universelle Struktur unseres Daseins geborgen ist. Der Mann gab dem Sohn einen Sinn für Erde und Himmel, für Transzendenz, Religio. Doch der wechselte zum Gott, der keiner war.
Thomas Rosenlöcher erinnert sich:
Mein Vater besaß zwei kleinere Betriebe, beschäftigte in seinem Garten ständig Rentner zum Umgraben und Einbringen von Schweinemist, pflanzte und wässerte selbst Hunderte von Koniferen, sang einmal im Jahr vor Publikum die „Schöne Müllerin“ oder die „Winterreise“, ging dienstags in die Sauna und donnerstags in den Wald.
Ein Mann, der sich nie zu alt fühlte, um seinen Sehnsuchtshorizont abzuschreiten. Seiner Liebe zur Musik näherte er sich autodidaktisch, bis er sich einen Begleiter zum Üben am Klavier leisten konnte. „Sonntags hat mein Vater drei Stunden geübt“, sagt der Sohn.
Da mußten wir mucksmäuschenstill sein.
In seiner Geschichte „Der Nickmechanismus“ schreibt er über den Vater:
Wenn er mich, was selten vorkam, im Pionierhalstuch sah, rastete er aus. Und einmal, als ich als ganz kleiner Knirps mit einem mir soeben von der Nachbarin geschenkten roten 1. Mai Fähnchen angerannt kam, riß er es mir aus der Hand und zertrampelte es. Ich schrie die halbe Nachbarschaft zusammen, neben mir das ins Erdreich hineingestampfte Papierfähnchen. Bis mir jemand ein eilig zusammengebasteltes Fähnchen aus garantiert neutralem, vollkommen weißem Papier überreichte.
Die „DDR-Wut“ seines Vater empfand Thomas Rosenlöcher als so rechthaberisch, daß er ihm auch dessen Wissen, wonach die Russen das KZ Buchenwald einfach nach 1945 mit anderen Opfern weitergeführt hätten, nicht mehr abnehmen mochte. Das war gegen Ende der Grundschulzeit. Am Anfang sagte Sohn Thomas noch:
Die Stalinallee ist auch bloß zu Propagandazwecken erbaut.
Sein erster ihm erinnerlicher oppositioneller Satz, der ihn noch ganz auf der Seite des Vaters zeigte.
Wo hast du das her?
Seine Antwort auf die bedrohliche Frage des Neulehrers hat er vergessen:
War aber wohl in diesen fünfziger Jahren, wo Leute fürs Erzählen politischer Witze schon ins Gefängnis kamen, gewiß gewitzt genug, nicht meinen Vater zu nennen.
Thomas Rosenlöcher erinnert sich an eine Kindheit, in der er häufig in die Kirche gegangen ist. „Ganz begeistert“, sagt er, der auch eine Liebe zum Katholischen entwickelte:
Wenn ich mich verirre, dann gefällt mir schon der Ritus, der verstärkte Ritus.
Der Vater vermittelte mit seinem Talent dem Sohn, daß Natur nicht nur in der Bedeutung von Produktionsmitteln besteht. Und er gab ihm auf Spaziergängen jenen Sinn für den Augenblick mit, der gesteigerte Aufmerksamkeit verlangt und den Thomas Rosenlöcher so beschreibt:
Die Transzendenz des Jetzt wahrnehmen!
Thomas Rosenlöcher hat drei Gedichtbände und drei Prosabücher geschrieben. Seine Prosa ist immer auf dem Wege in die Vollendung des Gedichts. Seine Gedichte sind Ausformungen eines Lebens auf engstem Raum bei ausschweifender Formulierung. Das private Dasein zeigt er als Exempel, wie es im anderen Teil Deutschlands Herbert Achternbusch getan hat und tut. Auch Rosenlöcher trifft den Nerv der Kausalität, so daß Nacheinander in Gleichzeitigkeit umspringt, hat aber nicht die Sprunghaftigkeit Achternbuschs.
Thomas Rosenlöcher schlägt nicht um sich, um sich zu befreien. Er sucht die Befreiung in der Metamorphose. Sich als Gestalt finden nicht nur in bezug zu den Dingen und der übrigen Kreatur, sondern auch in ihr. Und wie der klassische Anarchismus eine Ordnungsvorstellung ist, so schließt sich in Rosenlöchers Gedichten immer wieder die Form um das Zerstückelte, um die Zerstörungszeichen seiner Welt. In der Form des Blankverses, der Elegie, des Sonetts. Grotesk, wie dem lyrischen Ich der Boden unter den Füßen brennt, den er nicht verlieren will, verfolgt von entwurzelten Bäumen.
Die Befreiung in der Metamorphose mit der Kirche „Realexistierender Sozialismus“, mit der er sich der Selbstsicherheit des Vaters widersetzte, ist ihm mißglückt. Der Vater hat 1989, wie er eingesteht, „in allen Punkten gesiegt und in jeder Hinsicht recht gehabt“. Im Gedicht nimmt Thomas Rosenlöcher das Schuldbewußtsein von Büchners Lenz auf. Büchners Schlußsatz über Lenz, „So lebte er hin…“ erfährt bei Rosenlöcher eine Brechung, die einer Liebeserklärung für den Vater gleichkommt:
So lebte ich. Kein Mensch kam mir entgegen.
Nichtmal mein Vater, viel zu lange tot.
Nur noch ein Knochenbündel in der Erde
Da es mir nun ja doch gelungen war,
ihn zu vergessen, denn ich ging und ging,
nichtahnend, daß ich längst wie er
im Gehn die Arme hinter mir verschränkte.
Und daß vor lauter Frost und Schnee
mir Bart und Haare weiß geworden waren,
als käme er in mir mir selbst entgegen
und keiner stürbe…
Thomas Rosenlöcher in der DDR bis zum Erscheinen seines ersten Buches – das ist ein unauffälliges Leben: Grundschulabschluß 1963, Lehre im Holzhandel, 1966 bis 1968 Wehrdienst, 1968 Heirat, Besuch der Arbeiter- und Bauernfakultät, 1970 Abitur, Ökonomiestudium in Dresden, Arbeitsökonom im Holzhandel bis 1976, Besuch des Leipziger Literaturinstituts bis 1979, Assistent am Kindertheater Dresden bis 1982, Debüt 1983 beim Mitteldeutschen Verlag mit dem Gedichtband Ich lag im Garten bei Kleinzschachwitz.
Wenn Thomas Rosenlöcher heute die Anpassung der Menschen in der DDR – seine eingeschlossen – in Beziehung setzt zu einem von ihm geschaffenen Katalog, der von Naivitätsnicken bis hin zum Einnicken reicht, dann weiß er von einer Kraft in sich, die ihn vor dem Opportunismus gerettet hat. Religiosität, so zitiert er einen Satz Thomas Müntzers, die nichts anderes ist ist als ein großes Verwundern, das sich in der Kindheit auf einen niedersenke.
Der Schriftsteller Jürgen Fuchs, Freund Robert Havemanns und Wolf Biermanns, vor seiner Abschiebung 1977 nach Westberlin vom SED-Regime inhaftiert, hat einen kindlich-jungenhaften Menschen in Erinnerung, der sich von allen unterschied:
Er strahlte von innen. Ich habe erlebt, wie sie solche Gesichter in der DDR zertrümmert haben.
Thomas Rosenlöcher kam durch, ist wie das Weltkind in der Mitten durch die DDR gegangen, so daß er heute verwundert sagt:
Ich habe sicherlich mehrere Schutzengel gehabt, von denen einer sicher meine Frau gewesen ist.
Ewig besingen Lyriker die Anfänge der Liebe, Thomas Rosenlöcher hat ihre Schönheit in der Dauer besungen:
Ewig leben Ehepaare
Thomas Rosenlöcher erinnert sich heute („da unsere Eltern noch wußten, was ein Sonntag war“) an die Gottesdienstbesuche:
Wenn oben die Orgel einsetzte, uns auch der Pfarrer was sagte und draußen vor dem Kirchenfenster sich im schweren dunklen Licht das Grün auf und nieder bewegte, habe ich wie nie mehr wieder eine Anrührung verspürt, eine Art Transzendenzschauer.
Im Gedicht heißt das heute bei ihm – noch immer: „Wer glaubt, darf kostenlos ins Paradies eintreten…“
Für den Glauben gibt es keine günstigen oder ungünstigen Zeiten. Und doch glaubte er zu ungünstiger Zeit. Alte Kindheitsängste mußten besiegt werden:
Ich erinnere mich gedämpfter Stimmen der Erwachsenen am 17. Juni, und daß ich einen Nachmittag bei der Nachbarin bleiben mußte. Schon damals war eines meiner Traumgrundmotive das Bild meines Vaters, der, in ein Gestell geklemmt, sich gequält nach oben krümmte. Dann die ungarische Stimme im Radio: „Helft uns doch, helft uns doch.“ Damals war ich sechs Jahre alt.
„Ich wurde Atheist“, sagt Thomas Rosenlöcher und datiert die Konversion auf das Ende der Grundschulzeit. Schlechtes Abgangszeugnis. Der Vater hat Schwierigkeiten, den Sohn als Lehrling unterzubringen. Einen Sohn, der sich allenfalls für Karl May interessiert und für sonst nichts. Ungeschicklichkeit macht Thomas Rosenlöcher zu schaffen. Er macht aus ihr eine Kunsthaltung, um sich von seinem bürgerlichen Vater abzusetzen, abzugrenzen. Daß er komisch wirkt und schließlich mit dieser Komik zu spielen versteht, verhilft ihm immer wieder aus schwierigen Situationen, wie 1968, als der Soldat Rosenlöcher damit rechnet, in die Tschechoslowakei einmaschieren zu müssen:
So konnte es geschehen, daß ich einmal, anläßlich eines nächtlichen Sirenengeheuls, in dem es darauf ankam, binnen weniger Minuten aus dem Bett zu fahren und kampfbereit auf dem Hof zu stehen, mich im Dunkeln vor dem Spind im allgemeinen Gebrüll in eine furchtbare Auseinandersetzung mit Teilen meiner Ausrüstung verwickelte und als allerletzter aus dem Zimmer trat; doch unter dem Eisenhelm immerhin ordnungsgemäß grüßend an dem Major vorbeischritt, der, glaube ich, Sturmeid hieß, gleichwohl aber seltsam erstarrte und mit seinem Mund einen Schrei zu formulieren versuchte, der mich allerdings erst rücklings erreichte, da ich schon vor den anderen in der Reihe stand, durchaus vorschriftsmäßig mit allem Überlebensgeschlenker behangen, doch leider in Unterhosen.
Schwejk auf deutscher Seite: Die Geschichte ist verbürgt, und sie hatte keine Folgen. „Wohl zum erstenmal überstiegen 1968 meine Ängste die der Kinderzeit“, erinnert sich Thomas Rosenlöcher.
Und ich habe, wie erst 1989 wieder, nachts unentwegt mit dem Ohr am Transistorradio gehangen und nach dem Westen gelauscht. Angst und Wut auf gleicher Höhe. Darunter das Wort Sozialismus verschwand und einzig und allein ,diese Schweine‘ auftauchte.
In der Armeezeit war Thomas Rosenlöcher gerade dabeigewesen, seinen Weg anzutreten in den Sozialismus und in die Literatur. Er las Volker Braun, Günter Kunert und Biermanntexte auf Schreibmaschinenpapier. Er schrieb seine ersten Gedichte. Sein Hunger nach Transzendenz erschien ihm auf dem Weltverbesserungweg stillbar. Und nun dies: die Zerstörung des Prager Frühlings, die Zerstörung eines demokratischen Sozialismus.
Den Sozialismus zu retten, wie es Christa Wolf in ihrer verbalen Verbeugung vor den Okkupanten Prags im Neuen Deutschland tat, war seine Sache nicht. „Volker Braun war es“, sagt er, „der mich überzeugt hat, doch den Weg des Sozialismus weiterzuverfolgen. Auch wenn dieser Sozialismus niedergeschlagen worden war, war er ja dagewesen. Ein Beweis mehr für die Wirkungskraft der Utopie. Ich dachte, man muß es noch einmal versuchen.“
Der Vater starb 1968 im Alter von nur 59 Jahren. Der Kapitalistensohn bewarb sich um einen Platz in der Kaderschmiede des Proletariats, um sein Abitur nachzuholen, und er bekam den Platz in der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät. Ein Stipendium noch dazu, obwohl er nicht verheimlichte, daß er durch den Tod des Vaters eine für DDR-Verhältnisse große Summe Geldes aus dessen Betriebsvermögen bekommen hatte. Doch als er nach dem Abitur Germanistik studieren wollte, bekam er lediglich einen Platz für Ökonomie.
„Der Weg des Sozialismus war da“, schreibt Rosenlöcher über sein ökonomisches Studium, „eine ansteigende Grade im Koordinatensystem, die Zuwachsraten hyperbelten ins Unendliche: Formalisierung bis ins Letzte, die mit dem Denken auch die Auflehnung ausschloß.“ Daß er damals „wie verrückt“ Gedichte geschrieben habe, erklärt er sich im nachhinein als Reaktion auf jene tote Sprache, die ihm jeden Tag aufgezwungen wurde.
Thomas Rosenlöcher entwickelte Widerstand als Flucht in die Tiefe der Geschichte, der Literaturgeschichte. Er las Johannes Bobrowski, Mörike, Eichendorff, Rilke, Hölderlin. „Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst“, sagte ihm Mörike, und Rosenlöcher behauptet mit diesem Satz sein eigenes Leben. Nach der Wende wird er schreiben:
Was aber untergeht, scheint zukunftszugewandt.
Keine nostalgische Reminiszenz ist das, vielmehr die Rückkehr der Prophetie des Juden Karl Marx in das Buch der Bücher, aus der sie immer wieder hervorgehen wird. „Giftfabrik“ nennt Rosenlöcher den Sozialismus, wie er ihn erlebt hat:
Doch blinkert da oben noch einmal ein Stern
tief unten im Wasser samt Fenster und Schlot
Als würde in eisiger Klarheit die Lüge
zur Wahrheit, zur Schönheit das Gift. –
Im Kreml brennt noch Licht.
Noch während seines Studiums an der Technischen Universität Dresden tauchte Thomas Rosenlöcher 1972 auf dem Poeten-Seminar in Schwerin auf – und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Im Ton Rudi Dutschkes nannte hier ein drei Jahre Jüngerer, der wie er noch kein Gedicht veröffentlicht hatte, die Zustände in der DDR faschistoid: Jürgen Fuchs, Kandidat der SED, desillusioniert von seiner Armee-Zeit, auf den Parteiaustritt Reiner Kunzes von 1968 mit dem Versuch reagierend, die SED von innen aufzurollen.
„Das Ziel war“, so erinnert sich Rosenlöcher, „eine wirkliche Demokratie im Sozialismus und nicht, den Westen in der DDR einzuführen.“ Jürgen Fuchs sagt heute:
Es war ein Kampf der Jungen gegen die Alten. Und zu den Alten gehörte auch Christa Wolf. Die war uns viel zu lasch.
Zu den Wortführern der Jungen gehörten in Schwerin neben Fuchs Richard Pietraß, Gabriele Eckart und Gerulf Pannach, der als Funktionär kam, sich als Sänger entpuppte und vor den Versammelten Wolf Biermanns „Ermutigung“ sang.
Thomas Rosenlöcher wußte nun, was er zu tun hatte. Er fuhr zurück, stellte seinen Antrag auf Aufnahme in die SED:
Ich war natürlich nicht so hochpolitisch wie Fuchs. Aber ich fand mich dieser kritischen Richtung zugehörig. Bei Fuchs habe ich gespürt, wie man kritisch sein kann. Das hat mich elektrisiert.
Als er 1976 zum Leipziger Literaturinstitut kam, traf er auf jenen Mann, der auf dem VI. Schriftstellerkongress der DDR Reiner Kunze öffentlich zum Staatsfeind gestempelt hatte. Max Walter Schulz war Chef des Hauses, in dem mit Rosenlöcher auch Angela Krauss studierte. Und Schulz organisierte gegen die Solidarisierung mit dem ausgebürgerten Biermann eine Unterschriftenaktion, die den Rausschmiß guthieß.
Der Verrat Rosenlöchers an Biermann war ein Verrat an sich selbst. Und er sitzt so tief, daß er nicht nur in zwei seiner Bücher, sondern auch sonst immer wieder darauf zurückkommt: Rosenlöcher wollte sich vor einer Unterschrift drücken und wurde krank. Als er nach ein Paar Wochen zurückkam, war die Aktion gegen Biermann erst recht in vollem Gange. Wieso er dem Professor Max Walter Schulz derart in den Rücken fiele, wurde er gefragt. Es gehe um den Sozialismus, reagierte er. Darum gehe es Schulz auch, war die Antwort:
Gerade wer Veränderungen will, muß unterschreiben.
Rosenlöcher unterschrieb.
„Ein absoluter Tiefpunkt in meiner Biographie“, sagt er.
Leider kann ich nicht einmal in Anspruch nehmen, den Spruch von den Veränderungen nicht durchschaut zu haben. Was ich glaubte, war, daß es jetzt noch nicht so darauf ankäme. Daß ich noch jung wäre und folglich Zeit hätte. Infantilität als Maske: sich vor der Macht zu schützen und vor ihr zu verbergen.
Am 19. September 1989 notierte Rosenlöcher in seinem Tagebuch, wie sein vierzehnjähriger Sohn Moritz die Hausaufgabe des Lehrers – Thema: „Begründe die Notwendigkeit eines immer stärkeren sozialistischen Staates“ – bewältigt:
Moritz macht Schularbeiten. Schreibt seine Lügen rasch hin, „nur ehm ma“, aber so fängt es an, und so geht es weiter, und dann bist du vierzig und hast es schon zur Hälfte verpaßt, einmal in deinem Leben geradegestanden zu haben.
Thomas Rosenlöcher war knapp dreißig Jahre, als er gegen Biermann unterschrieb. Er hatte sich, wie er sagt, „unschuldig“ um die Parteimitgliedschaft in der SED beworben, nun nach seiner Unterschrift wurde er belohnt, wurde er „schuldig“ aufgenommen. „Ich hätte spätestens jetzt nein sagen müssen“, sagt er heute.
Unter seinen Schriftstellerfreunden Wolfgang Hegewald und Uwe Kolbe versuchte Rosenlöcher seine SED-Mitgliedschaft geheimzuhalten. „Es kam natürlich raus“, sagt er.
Die haben mich für blöd gehalten, ich mich auch.
Elf Jahre dauerte es, bis Rosenlöcher mit Hilfe der Mutmacher Kolbe und Hegewald, die dann in den Westen gingen, nein sagte. Der Vierzigjährige ging zum Parteibüro und erklärte seinen Austritt. „Das war selbst 1987 noch ein ganz mutiger Schritt“, sagt Jürgen Fuchs, der in der DDR seinen Weg so rigoros gegangen war, daß ihm die Partei die Aufnahme verweigert hatte. So wie die Ängste von 1968, als sich Thomas Rosenlöcher das Leben nehmen wollte, falls er hätte in die Tschechoslowakei einmaschieren sollen, die Ängste der Kindheit überstiegen, so überstieg nun die Angst diejenige von 1968.
Ich dachte, meine Grenzüberschreitung – und das war der Austritt aus der Partei – endet mit dem Auszug in den Westen.
Er hatte gerade Fuß gefaßt als Schriftsteller, im Westen allerdings nur erkannt von dem Amsterdamer Germanistikprofessor Alexander von Bormann. In der DDR war Rosenlöchers erster Gedichtband Ich lag im Garten bei Kleinzschachwitz 1983 wohlwollend aufgenommen worden. Allein schon die Tatsache, daß dieser Band die Zensur passiert hatte, grenzte an ein Wunder, weil es in dem Band geradezu von Fluchtgedichten wimmelte. Gleich das erste Gedicht ist ja nicht nur ein Spiel mit der Pose Walther von der Vogelweides um das Jahr 1200, sondern in der Technik der Rosenlöcherschen Zeitenversammlung ein Analogieschluß auf die politischen Verhältnisse im behaupteten Sozialismus der DDR.
Im Garten sitze ich, am runden Tisch,
und hab den Ellenbogen aufgestützt,
daß er, wie eines Zirkels Spitze,
den Mittelpunkt der Welt markiert.
Ein Baum umgibt mich mit vielfachem Grün,
und langsam steigt das blütenreiche Meer
des frühen Jahrs. Die Vögel brülln wie irr.
Über mich hin spazieren schöne Schatten,
und Blütenblätter fallen auf den Tisch
und schmelzen, Schnee! Die Äste triefen schwarz,
und von der Straße her kommt ein Geräusch,
das war mein Leben. Plötzlich bin ich Luft
und sitz noch hier und rede zu dem Baum,
ob er nicht doch die Länder wechseln könne,
sein unerhörtes Blühen aufzuführen,
wo einer noch mit seinem Ellenbogen
den Mittelpunkt der Welt markiert.
Walther von der Vogelweide in den Zersetzungs- und Verformungserscheinungen seiner Zeit, in der die Liturgien des alten Reiches, der alten Kirche, der alten Gesellschaft heillos geworden sind, sich als Selbstbetrug, Lüge und Fiktion enthüllen. Thomas Rosenlöscher in den Zersetzungs- und Verformungserscheinungen seiner Zeit, in der die Liturgien des neuen Reiches Kommunismus, der neuen Kirche, der neuen Gesellschaft in ihrer Lüge untergehen. Thomas Rosenlöchers Lyrik nimmt bereits in seinem ersten Gedichtband seismographisch eine Weltenwende vorweg. Als sie geschehen ist, finden wir ihn wieder in seinem Garten, den er verlassen soll, um das Neue kennenzulernen:
Ich saß in meinem Garten. Ein Baum stand neben mir,
da wir im Wechsel knarrten, ich bleibe hier bei dir.
Bis um das Haus ein Auto kam und quäkend hupend rief:
Ans Meer, ans Meer, nach Frankreich. Ich tat als ob ich schlief.
Doch auf klappten die Türen. Zum Baum sprach ich: bis bald.
Auf heulten die Motoren. Schon war ich angeschnallt.
Und tiefer neigte sich der Baum herab im Schwefellicht
und wackelte mit jedem Blatt. Ich wendete mich nicht.
Schloß abermals die Augen im Straßenrandgegrins
der herrschenden Reklamen für Bier und Pfefferminz.
Und als ich wieder aufsah, kam andrer Baumbestand,
einer hinter dem andern, armfuchtelnd angerannt,
und bäumte sich groß vor mir auf, eh er am Rand entlang
ohnmächtig auf der Stelle trat und hinterrücks verschwand
samt Weinberg und Gebirge und großer Städte Rauch,
der Tachometer zeigte den Horizontverbrauch.
Denn sich im Überwinden und Fahren-lassen-hin
selbst immer vorzufinden: Das war des Fahrens Sinn.
Bis eine Stadt Dijon hieß. Ich saß und trank Kaffee,
den eine Frau mir brachte, die nannte mich Monsieur.
Ob ich das Meer sah? Weiß ich nicht. Es wich vor mir zurück.
Ein riesenhaftes Gähnen im Büchsen-Flaschen-Schlick.
Doch schlug im Schlaf am Rande aufbrandend der Verkehr
mir nachts noch an die Schläfe. So hörte ich das Meer.
Und sah in Stein die Sünder mit eingeknickten Knien,
nackten Beinlein und Brüstlein, staunend zur Hölle ziehn.
Stand, schattenlos im grellen Licht, Buch unterm Arm, davor.
12 Millionen Engel verbrannt im Auspuffrohr.
Für den Besitz der Ferne. Dafür sah hinterm Haus
der Baum, kaum fuhrn wir hupend vor, wie jeder andre aus.
Die Geschichten des Lyrikers Rosenlöcher spielen auf kleinstem Raum, so als folge er einer Intention Beethovens, der am Ende seines Lebens die große Form verließ, weil er allein in der Unendlichkeit des Kleinen das Geheimnis des Lebens verborgen sah. Thomas Rosenlöcher hatte nicht rausgewollt aus der DDR. So, wie in einer schlimmeren Diktatur Oskar Loerke, Rudolf Alexander Schröder, Reinhold Schneider, Felix Hartlaub, Friedo Lampe und Eugen Gottlob Winkler nicht herausgewollt hatten. „Alle Wurzeln waren hier in Kleinzschachwitz“, sagt er.
Ich dachte, im Westen fällt mir nichts ein.
So wiederum stimmte es nicht, wie das Gedicht „Frankreichfahrt“ zeigt. Aber alle Westerfahrung in seiner Lyrik weist wie die „Frankreichfahrt“ immer auf die Geburtslandschaft zurück.
Ich habe mir wiederholt gesagt, Leute wie Jean Paul haben in ihren Krähwinkeldörfern gesessen und haben immer ihres gemacht. Zu ihrer Zeit wurde in Paris schon ganz anderes geschrieben. Die deutsche Leistung damals war der Rückzug. Aber dafür wurden die Dinge noch angeschaut.
Also:
Ich lag in meinem Garten bei Kleinzschachwitz
in einem Grün von niegesehenem Ausmaß
und sah, nachdenkend über die Belange
der unerhörten Rose und des Staats
hoch über mir den großen Tröster Himmel,
als ich, kam das vom heftigen Nachdenken,
ein sanftes Ziehn in meinen Beinen spürte…
Auf groteske Weise wachsen dem lyrischen Ich die Beine aus dem Garten heraus – bis hin zum Brandenburger Tor. Der barocke Gestus nimmt das „Weltende“ von Jakob van Hoddis auf:
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei…
Bei Rosenlöcher, der die Beine seines lyrischen Ichs denn doch noch rechtzeitig zum Stillstand kommen läßt („Man muß bescheiden sein.“), heißt es angesichts dieser Bedrohung:
… Der Staat war in Gefahr.
Denn meines Leibes Doppelröhre nahm,
kaum, daß sie aufgetaucht war aus den Fluten,
Kurs auf die Hauptstadt. Die Regierung tagte,
kein Wort kommt in die Zeitung. Helikopter
erhoben sich, der Lage Herr zu werden,
die Straßen füllten sich mit Dynamit…
Grenzgänger Rosenlöcher nach dem Austritt aus der SED in der Erwartung des für ihn Schlimmsten. „Aber es geschah nichts“, sagt er.
Erleichtert, war ich enttäuscht.
Sein Kinderbuch Herr STOCK geht über Stock und Stein. Eine Geschichte in Versen, in dem es um den Wiedergewinn einer nichtfunktionalen Sprache geht, erscheint. Der Mitteldeutsche Verlag meldete sich mit einem sofortigen Stipendium für die Fertigstellung des zweiten Gedichtbandes. Schneebier erschien 1988 und beginnt mit den Worten:
Der Ausschank war geöffnet in das Dunkel
und leuchtete warm in den tiefen
von ferner Kindheit überglänzten Schnee.
Da ich mein Bier vom Brett nahm. Unten ging
riesig die Elbe, endlich als ein Strom
in Richtung Nacht…
Schnee – das ist auch die Metapher des von Rosenlöcher geliebten mährischen Dichters Jan Skácel (1922–1969) gewesen, auch eines Sitzenbleibers am Ort seiner Kindheit, in der komprimierten Art zu schreiben völlig anders als Rosenlöcher, aber in der Sehnsucht verwandt, wenn es bei Skácel heißt:
Die weiße Reinheit auf den Feldern, wir sterben mal alle wegen des Schnees.
Diese Sehnsucht nach Anfänglichkeit, nach Natürlichkeit, nach Ursprünglichkeit im Wissen um das Wunder inmitten aller Vergeblichkeit verbindet Rosenlöcher mit Skácel.
Der Sarkasmus, mit dem der Lyriker Rosenlöcher in dem Gedichtband Schneebier des „Fortschritts ersten Sekretär“ die „gelbe Molke“ in der Elbe genießen läßt – eine Benennung, die er in „Fortschrittssachverwalter“ umändern muß –, löst nichts auf. Und auch die Beschwörung bei der Anschauung der Dinge drückt ihn nieder:
Ich komme gleich. Ich ging nur mal hinunter
längs des sich selbst noch durch den sterbenden
Garten geschlängelt fortschleichenden Wegs,
als da der Apfelbaum im frühen Licht
zwar noch an seiner alten Stelle stand,
doch seltsam schief, ein schwarzes Bild des Todes,
und sich, als ich hinzutrat: Halte aus,
langsam vornüber neigte übers Gras
und seinen Stamm auf meine Schulter legte,
daß ich fast umsank unter seiner Last…
Thomas Rosenlöcher sah, wie immer mehr Freunde in den Westen gingen. Er sah den „Diebstahl der Jahre im Namen einer sich verflüchtigenden Zukunft“. Er sah, wie fast unmerklich Überzeugung in Selbstbeschwichtigung überging:
Je mehr gehen, desto wichtiger ist es zu bleiben.
Wolfgang Hegewald, der keine Chance hatte, in der DDR zu publizieren, hat die Situation 1984 im Westen in seinem Buch Das Gegenteil der Fotografie. Fragmente einer empfindsamen Reise im Ausschank an der Elbfährstation von Kleinzschachwitz beschrieben, in dem Rosenlöcher Stammgast ist: Elbidyll hieß die Kneipe und heißt sie noch heute. Das Elbidyll war ein ehemaliger Zirkuswagen und ist auch ein wiederkehrender Ort in Rosenlöchers Gedichten.
Bei Hegewald, der seinem Freund als Namen das Initial D. gibt, heißt es:
Unser Blick fiel durch das Fenster auf Wiesen, die der Sturm zauste, den Strom, der nun mit Wellen seine Ufer berannte; jenseits der Elbe war durch Regenschleier eine Kirche zu erkennen, Maria am Wasser, sie mutete fremdländisch an, eine entführte Schönheit, und wurde von einer Schar alter Bäume würdevoll behütet. Dahinter schwangen sich Hügel, die ihre Inspirationskraft bereits an romantischen Komponisten und Baumeistern künstlicher Ruinen erprobt hatten.
Heute war dunkle Tinte über den Hügeln ausgelaufen, und die Blitze zuckten malerisch.
Der Sturm wuchs und rüttelte am ELBIDYLL. Wir tranken Bier und gelegentlich einen Weißen. Insgeheim hoffte ich, daß wir in diesem mobilen Wirtshaus bald abfahren würden. Splitter von Geschichten schlugen an unsere Ohren.
Der Wirt sei bei der Fremdenlegion gewesen und nenne sich gern: Der Teufel von Kleinzschachwitz, hieß es.
Während er uns freundlich bediente, hatte der Teufel also die Elemente entfesselt, und eine Höllenfahrt würde es werden im Innern des ELBIDYLL.
Wir fühlten uns wohl, D. und ich, eingekeilt zwischen den Trinkenden und Schwatzenden, und, kurz bevor es losging, so erinnere ich mich, kamen wir überein, daß wenigstens zweierlei zu tun sei: unermüdlich Utopien aufzurichten und sie, schon im Moment ihres Entstehens, zu denunzieren.
Nach dem Gewitter waren wir betrunken und liefen barfuß durchs nasse Gras.
„In wirrer Nacht, unter vielfachen Zweigen“, antwortet der Lyriker Rosenlöcher dem Prosaisten Hegewald, „wir sprachen, wie die Welt zu retten sei…“ Die Dinge seiner Anschauung werden so dunkel, daß er seiner Sehnsucht nur noch Aufschwung zu geben weiß mit den Engeln der Kindheit. Sind sie zu Anfang des Jahrhunderts bei Rilke im unablässigen Übergang vom Sichtbaren zum Unsichtbaren, so holt Rosenlöcher – „Himmelsleitern, lichtgeknüpfte!“ – sie am Ende des Jahrhunderts wieder ins Sichtbare zurück, erdnah an seine Seite.
Heinz Czechowski sitzt bei Rosenlöcher in Kleinzschachwitz:
Wir sahn an der Tanne im Zimmer vorbei
auf den Schornstein des Holzschnitzers Dyrlich,
aus dem sorglos der Rauch stieg…
Rosenlöcher und Czechowski wissen, daß der Holzschnitzer in den Westen gehen wird. Was macht er in seiner Werkstatt? Er verbrennt die Engel. Bei Czechowski gewinnt der Rauch wieder Engelsgestalt:
Damit der Dichter
den letzten Paukenton
Mozarts vernimmt oder
Das nächtlich knirschende Eis auf der Elbe
Und die Schritte der Engel im Schnee seines Gartens.
„Benedikt verbrennt die Engel“ heißt des Gedicht Rosenlöchers, das aus demselben Anlaß entstand. Es blieb unvollendet liegen, weil er keinen Schluß fand. „Der Weggang des Holzschnitzers mit seiner Familie in den Westen war für mich eine Katastrophe“, erinnert sich Rosenlöcher.
Der Zusammenhalt im Haus brach auseinander.
Alois Dyrlich, der für seine Familie den Ausreiseantrag 1983 gestellt, ihn 1988 erhalten hatte und seitdem im schwäbischen Oberstenfeld lebt, sagt im Rückblick auf die Jahre in Kleinzschachwitz:
Das, was wir dort hatten, kommt nie wieder. Auch, wenn ich zurückgekehrt wäre nach 1989, es war vorbei. Die Freunde zerstreut. Und von denjenigen, die geblieben sind, haben viele eine Stasi-Vergangenheit. Wir waren ja im vom Thomas besungenen Garten von Kleinzschachwitz umstellt von Spitzeln, nicht nur, wenn wir dort unsere Feste feierten, wenn Kolbe und Hegewald kamen, wenn man sich Gedichte vorlas. Ohne Birgit hätte Thomas es nicht geschafft, durch die DDR zu kommen. Immer haben wir uns gefragt: „Wie macht die denn das?“
Thomas Rosenlöcher sagt über den Augenblick des Abschieds auf dem Neustädter Bahnhof in Dresden:
Das Furchtbare war, daß nicht die Davonfahrenden die Verabschiedeten waren, sondern wir.
In seinem Gedicht „Benedikt verbrennt die Engel“ heißt es:
Und wir rannten – ja der letzte
macht das Licht aus – fünf sechs Schritte –
mit dem Zug mit – Sehn uns doch
dereinst wieder, wo die Engel
freudig mit den angekohlten
Flügeln klappern – Und fort warn sie.
Und wir standen ganz allein
mit den Spitzeln auf dem Bahnsteig,
die mit uns ins Leere winkten.
Nach dem Ende der Teilung Deutschlands schrieb Rosenlöcher diesen Schluß:
Aber eh der Mond hangüber
zwölfmal in die vollen ging,
steht mir bei, ihr blassen Bierchen –
überm Fluß ein tausendfaches
schluchzend singendes Geschrei:
Deutschland, Deutschland war vereint.
Mann, daß wir uns noch mal sahn,
ehe wir gestorben waren.
Golden färbten sich die Biere.
Und wir standen an der Klappe,
nippten je an jeweils Einem.
Mußten heute ja noch weiter,
teils ins Ausland, teils nach Hamburg.
„Warst du etwa auch ein Spitzel?
Warum bis du hiergeblieben? –
Meine Engel sind verbrannt.
Das Ende des „Dreibuchstabenlandes“ beschrieb Rosenlöcher in einem Tagebuch, das er am 8. September 1989 begann und das er mit der ersten freien Wahl für die Volkskammer am 19. März 1990 abschloß. Für den Abdruck dieses Tagebuchs, mit dem die Dresdner Tageszeitung Die Union im Oktober 1989 begann, verschob sie ihren Fortsetzungsroman. Nicht mit seinen Gedichten wurde Rosenlöcher in der alten Bundesrepublik bekannt, sondern mit diesem Tagebuch, das unter dem Titel Die verkauften Pflastersteine 1990 in der edition suhrkamp erschien. Der Gedichtband Schneebier, 1989 bei Residenz in Wien in Lizenz noch erschienen und Rosenlöchers erster Band im Westen, ging im Getöse der Wende unter. Im Gegensatz zum barocken Gestus als Lyriker ist Rosenlöcher in seiner Prosa auf eine Knappheit aus, die dem großen Geschehen seinen Kern abringt. Beim Bürgerforum dabei, weiß er zugleich:
Das Ausmaß deiner Isolierung noch nie so deutlich wie jetzt.
Und:
Die, mit denen du jetzt unterwegs wärest, sind im Westen.
Wolfgang Hegewald kommt nach Dresden, und Rosenlöcher notiert:
Reden die halbe Nacht über Infantilität und Unterwürfigkeit der hier Aufgewachsenen. Selbst Wolfgang, er ist nun schon fünf Jahre weg, wäre dergleichen fortwährend anzumerken. Zerknirschungsgesichter. Blatternarbige Häuser…
Von Hegewald hört er aber auch:
Reisen bedeutet auch, Stück um Stück Utopie vernichten.
1986 hatte Rosenlöcher das erste Mal in den Westen gedurft – nach Amsterdam als Stipendiat zu seinem unermüdlichen Förderer Bormann.
In der Wende macht sich Rosenlöcher auf Reisen, auf Utopievernichtung. Heidelberg ist nicht das Heidelberg seiner Vorstellungen und Eichendorff dort nicht zu finden. Tübingen ist als Enttäuschung nicht ganz so groß. Aber mit Hölderlin hat die Stadt nichts mehr zu tun. In Bayern:
Wie sie ihre Kirchlein weißleuchten.
Sie halten den Herrgott im Dunkeln nicht aus.
In Wien fehlt Mozart. Allein in Kleinzschachwitz sind sie alle versammelt, die er auf Reisen nicht fand. Er hätte es wissen müssen. Und er weiß es ja eigentlich auch. „Methode: Augen zu“, schreibt Rosenlöcher in seinem Gedichtband Die Dresdner Kunstausübung aus dem Jahre 1996:
Aufheben das Gesicht, die flatternden
Lider: Ins hin und her durch die schwarzen Äste
stürzende, jeden Zwischenraum
mit Augenblicken voller Leichtigkeit
füllende Weiß, bis oben durch die Höhlung
gefrorner Explosionen, baß erstaunt,
der Himmel sah und zwölf Millionen Bienen
stehenden Fußes auf und niedergingen,
daß ich im Sog, wenn auch nur einen halben
Millimeter, über den Berg entrückt,
aufschwebte und, die Arme angelegt,
im Blütensausen und Insektengedonner,
verharrte, bis ich, abermals die Augen
schließend, zur Landung ansetzte und ging,
als lichtgesalbter für ein ganzes Jahr.
So diesmal auch. Nur standen meine
Füße wie angestemmt…
Thomas Rosenlöcher auf dem Weg von Kleinzschachwitz nach Beerwalde ins neue Heim – bei Niederbobritsch angesichts von Baumkrüppeln am Ackerrand, die die „Idee gebenedeiten Blühens“ aufrechterhalten:
Wer glaubt schon noch, was, da wo keiner glaubt,
zu glauben Pflicht wäre: Ans Unmögliche?
„Hirngefunkel“ eines Dichters („Im Augenblick wird die Ewigkeit knapp“), für den es gilt, „dem Tod die Arbeit möglichst schwer zu machen“. Immer den Blick auf Kleinigkeiten bei der Wiedereinlösung der großen Wörter, die verlorengegeben sind. In seinem Protokoll der Wende notierte er:
Um die Gaslaternen in Kleinzschachwitz, die auch in den Westen verscheuert werden sollen, sind Zettelchen gebunden: „Ich möchte hier weiterleuchten“ – Großer Himmel, ich auch.
Die Pflastersteine der Pirnaer Landstraße waren noch kurz zuvor in den Westen gewandert – gegen Devisen für das SED-System.
Nach der Wende, als die Gedichte nicht fließen wollten, erhoffte sich Rosenlöcher Inspiration auf einer Harzreise:
Auf die Berge will ich steigen…
Mit Goethe im Ohr und Heine im Herzen machte er sich auf die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern, wie der Titel seines zweiten Prosabandes heißen sollte. In Wernigerode, so berichtet er, ging er zum Münzfernsprecher und telefonierte mit seiner Frau:
„Ich habe aufgegeben.“
„Das kommt doch gar nicht in Frage.“
„Andauernd regnet es.“
„Es hört auch wieder auf.“
„Du sollst mich mal hinken sehn.“
„Lieber nicht.“
„Aber ich liebe dich.“
„Du bist doch erst zwei Tage fort.“
Birgit Rosenlöcher, die der Dichter seit Schulzeiten kennt, hat sich nach mehr als drei Jahrzehnten Ehe das Staunen über das Staunen ihres Mannes erhalten, weiß um die Weltnähe seiner Weltfremdheit. Sie hat mit ihrer Arbeit als Museumspädagogin am Dresdner Zwinger wesentlich den Unterhalt der Familie ermöglicht. Zwei Söhne und eine Tochter hat sie großgezogen. Der älteste Sohn, gehirnoperiert in der frühen Kindheit, nach der Wende entlassen aus seiner Stellung in einer Schiffswerft, geriet in eine psychotische Situation. Bei der Suche nach Hilfe für den 21jährigen Johannes glaubte sie an die besseren Möglichkeiten im Westen und wurde enttäuscht:
Ich hatte den Eindruck, daß dort der Patient für das therapeutische Personal da ist und nicht umgekehrt das Personal für den Patienten.
Heute hat der Sohn auf einem sächsischen Bauernhof, auf dem psychisch Kranke arbeiten, zu sich gefunden.
Die Enttäuschung hat den Namen Sauerland. Ausgezeichnet mit dem Märkischen Stipendium für Literatur, lebte Rosenlöcher von 1991 bis 1993 mit seiner Familie im Amtshaus von Letmathe (Kreis Iserlohn). Birgit Rosenlöcher erinnert sich:
Mein jüngster Sohn Moritz kam in Iserlohn in die neunte Klasse, und er bekam zu spüren, daß er aus dem Osten war. In der Rangliste der Abneigung kamen zuerst die Türken, dann die Italiener, und als dritter kam er. Er war ein aufmüpfiger Junge in einer angepaßten Schule.
Moritz Rosenlöcher machte dann im sozialen System der dänischen Tvindschulen-Bewegung mühelos sein Abitur. Tochter Ulrike, Erzieherin, blieb im Sauerland, heiratete einen Westfalen. Der Dichter Rosenlöcher über das Sauerland:
Und dann die Spaziergänge abends im Dunkeln.
Türen mit Myrte und Posthorn geschmückt.
Ein Schritt – und ertappt von aufgleißenden Lampen
blieb dein erschrockener Schatten zurück.
Und der Weg in die Kneipe führte ins Schweigen
von Männern, hier auch im Exil.
So daß du sie ansprachst. Doch keiner verstand dich
im Sauerlandradiogebrüll.
Noch immer geht der Schriftsteller seinen Sachsen nach – also sich selbst:
Sächsisch durften wir schon als Kinder nicht reden. „Sprich anständig, Domas“, sagte die Mutter, die auch sächsisch sprach. „Sprich ordentlich, Domas“, sagte der Lehrer, der auch sächsisch sprach. Sächsisch sei kein Dialekt, sondern eine Maulfaulheit… „Das heißt nicht heeßt, das heeßt heißt.“ Welche Deformationen mag dieses fortwährende: „Sprich ordentlich, Domas“ in einem Menschen bewirken? Dieses ständige Klopfen auf den Schnabel, bis ihm der Schnabel selbst im Wege ist? Bis er verstummt oder anfängt mit frisierter Schnauze zu sprechen. Haben wir hier eine Ursache für die oft konstatierte, in Residenzdresden stärker als in Messeleipzig ausgeprägte sächsischen Unterwürfigkeit?
Aber was ist mit dem Opportunismus der Menschen aus dem Westen Deutschlands. „Wir haben unseren eigenen hier zumindest problematisiert“, sagt Rosenlöcher. Wer aber problematisiere seine Anpassung in der alten Bundesrepublik, wer nehme sie wahr, die „neuere Gaunersprache“, wie sie in Managementschulen geübt werde? Und wer wehre sich dort dagegen?
Den einfältigen Bildern der erfahrenen Ideologie hatte Rosenlöcher sich mit seiner Lyrik widersetzt. Jetzt setzt er seine Existenz gegen die vielfältigen Bilder aus dem Produktions-Konsum-Rendite-System, die auch nur Kopien sind:
Jedes will alles sein und alles ein anderes.
Was kann der Verurteilte anderes tun,
als aufstehn, in die Küche gehn,
ein Schluck Wasser nehmen,
beim Blick in die Zeitung das Urteil
nochmals bestätigt finden,
hinaus aus dem Fenster sehn,
wo oben über die Kreuzung
bei Rot ein Fahrzeug herangeprescht kommt,
genau vor der Tür hält. Ein Kerl
herausspringt und aufgeregt winkt.
Aufschub bis ans Lebensende.
Thomas Rosenlöcher im Krähwinkel Beerwalde schaut auf Jean Paul, der innere und äußere Gegebenheiten in einer Woge von Musik aufzulösen suchte. Er schaut auf Eichendorff, also auf den Augen-Blick des Entzückens, eines Entzückens, das nie nach, sondern immer vor der Vertreibung liegt. Thomas Rosenlöcher schaut auf eine Literaturtradition, in der sich, wie er sagt, „eine Sehnsucht nach Zusammenhalt“ ausdrückt.
Rosenlöcher sagt:
Wir wohnten ja zu DDR-Zeiten nicht einmal in Sachsen. Wir wohnten ja im Bezirk Dresden. Saßen wir vor der Glotze, wenn wir mal aus Dresden herauskamen, und wir sahen in die Fußballweltmeisterschaft, dann hörten wir, Deutschland greift an, und wir waren nie damit gemeint. Das war ein eigentümliches Gefühl, weil man immer wieder auf diese Dinge stieß. Im Grunde lebten wir in einem Deutschland, das kein Deutschland war. Ich habe immer das Deutschland-Sehnsuchtsgedicht schreiben wollen. Es ging bloß nicht. Es wäre die Quadratur des Kreises gewesen.
Es geht noch immer nicht.
„Diese neuere Methode, auf die alte Art Deutschland zu rufen, steckt mir noch immer in den Knochen“, schrieb Rosenlöcher nach dem Zusammenbruch der DDR. Rosenlöchers alte Art, Geschichte hervorzuholen, unterscheidet sich von der seines alten und seines neuen Staates. Der Kommunist und der Kapitalist sind ihm Karikaturen des Lebens. Nach der Vereinigung Deutschlands sieht Rosenlöcher beide gemeinsam in der Entropiegeschichte. Kein Schnee, dessen Weiß nicht verfinstert würde.
„Daß alles Schaun ein Abschied ist“, hat Rosenlöcher geschrieben. Noch läuft der alte Mietvertrag für die Wohnung in der Wilhelm-Weitling-Straße 4 in Kleinzschachwitz, in der sein jüngster Sohn noch lebt. Im Garten entstand ein Einfamilienhaus. Noch steht Rosenlöchers alter Apfelbaum, den seine Phantasie stützte. Der Dichter kommt von seinem Ort nicht los, kommt immer wieder vorbei, schlendert zur Elbfähre hin.
„Nuu, Roschenlöcher. Dichtest de wieder?“
„Ach was. Spaziern geh ich.“
„Klar dusde dichden. De Vöchel singen im Gezweich.“
Jürgen Serke, aus Jürgen Serke: Zu Hause im Exil. Dichter, die eigenmächtig blieben in der DDR, Piper Verlag, 1998
Renatus Deckert: Flußpferd und Engel
Diesseits der Idylle: Schriftsteller Thomas Rosenlöcher mit Katrin Wenzel in einem Gespräch aus dem Jahr 2017
Allein ein Kichern ändert schon die Welt – Ahmad Mesgarha liest in Hoppes Hoftheater Lyrik und Prosa von Thomas Rosenlöcher
AN ROSENLÖCHERN
„Ach, alles Schauen ist Abschied“, so hör ich Dich sagen. Ungläubig
Oder doch zweifelnd hörst Du selber Dir, ahne ich, zu.
Wundre Dich nicht. Denn drinnen in Dir, Du Daseiens Günstling,
Hartnäckig wird es gewußt: Ankunft ist all unser Schaun.
Peter Gosse
Jan Wagner: Lob des Spreewals
Der Tagesspiegel, 11.6.2016
Stefan Sprenger: Dass der Mensch der Stil sein möge
Sprache im technischen Zeitalter, Heft 218, Juni 2016
Richard Pietraß liest am 4.5.2018 für planetlyrik.de die 3 Gedichte „Hundewiese“, „Klausur“ und „Amok“.
Dichter und Wende-Chronist
Bayerischer Rundfunk, 19.7.2017
Friedrich Dieckmann: Weltfremdling in der Zeitenmühle
Süddeutsche Zeitung, 27.7.2017
Karin Großmann: Ein kleiner Jubel Glück und ein Hieb auf den Kopf
Sächsische Zeitung, 29.7.2017
Dirk Pilz: Engel hat sich der Dichter abgewöhnt
Frankfurter Rundschau, 28.7.2017
Thomas Rosenlöcher liest am 11.5.2021 in der Textilrestaurierungswerkstatt der Museen der Stadt Dresden.
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