Undine Gruenter: Zu Rolf Dieter Brinkmanns Gedicht „Trauer auf dem Wäschedraht im Januar“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rolf Dieter Brinkmanns Gedicht „Trauer auf dem Wäschedraht im Januar“ aus Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1 & 2. –

 

 

 

 

ROLF DIETER BRINKMANN

Trauer auf dem Wäschedraht im Januar

Ein Stück Draht, krumm
ausgespannt, zwischen zwei
kahlen Bäumen, die

bald wieder Blätter
treiben, früh am Morgen
hängt daran eine

frisch gewaschene
schwarze Strumpfhose
aus den verwickelten

langen Beinen tropft
das Wasser in dem hellen
frühen Licht auf die Steine.

 

Elegie mit Strumpfhose

Es gibt ein deutsches Wort, sagte vor Jahren ein Ausländer, ein Wort für das Wörterbuch des Unmenschen, das Wort heißt Strumpfhose. Mit Strumpfhose ist alles gesagt. Sie tauchte auf, als Erotik, die jahrhundertelang verstanden wurde als Erfahrung von Passion, umschlug in hygienische Gymnastik aufgeklärter Sexualität. Strumpfhose war ein Fanal der Emanzipation, und die Frauen streiften gern ihre Strümpfe und Strapse ab, die sie zu Objekten gemacht hatten. Die Strumpfhose war so praktisch wie ein Pappbecher. Strumpfhose markiert den Zeitpunkt, seit dem über Liebe als Passion nur noch anachronistisch zu sprechen war, abgeschoben in die höheren Regionen der Kunst und in die archäologischen Verfahren einer Kulturkritik zwischen Bataille und Roland Barthes.
Brinkmanns Trauer hat zwei Beine. Sie gehen nicht, sie baumeln wie die Beine von Gehenkten – auf einem Wäschedraht. Gibt es Wäschedraht? Eher Wäscheleinen. Diese Trauer ist gehängt und wie erdrosselt. Sie erinnert an ein Bild von Tapies, das aus demselben Jahr stammt wie Brinkmanns Gedichtzyklus: 1974. Zwei Füße baumeln ins Bild, an den Gelenken gefesselt und in Höhe der Waden, unter dem oberen Bildrand, durch ein Nummernschild gekennzeichnet.
Was bei Tapies ein pathetisches Signal ist, ist bei Brinkmann ein lakonisches. Fesselung, Gefangenschaft ist ersetzt durch banale Wäsche. Denn genau besehen ist es zunächst nicht die Trauer, die bei Brinkmann (Tränen) Wasser läßt, sondern ein Sauberkeits-Idol. Was ausgewaschen ist, ist das Unmögliche der Liebe, der Dreck der Passion. Die ganze falsche Hoffnungs- und Gesundbeterei, die im Motiv des Frisch-Gewaschenen, des Jahresanfangs, des frühen Morgens, der bald wieder blühenden Bäume angelegt ist, baumelt dort. Hinterrücks erst schleicht sich durch die Bezeichnung „Trauer“ im Titel ein Aufblinken jener aussichtslosen Lage ein, das die Endgültigkeit des Verlustes wieder relativiert. Anders ausgedrückt: Trauer, die ein Bewußtseinszustand und die Verfaßtheit des Schriftstellers Brinkmann ist, hat die Eindeutigkeit des Entweder-Oder ausgewaschen.
Der Bindestrich ist auf ein
und ergänzt. Im Entweder liegt der Abschied von der Vorstellung leidenschaftlicher Liebe, im Oder eine negative Utopie der Liebe, die sich nicht mehr auf zukunftsträchtige Liebesseligkeit beruft, sondern auf die Erfahrung ihrer Gegenwart, im Schwarz zum Beispiel. Zwischen dem Wissen, daß Wäsche und der Banalisierungsprozeß, den sie vorantreibt, nicht rückgängig zu machen sind, und dem Setzen auf einen unausgewaschenen Fleck gerade in diesem Prozeß bewegt sich das Bewußtsein dieses lyrischen Ich wie ein Transvestit – er hängt in der Ambivalenz, im Paradox.
Brinkmann, der fünfunddreißigjährig 1975 an einer Londoner Straßenecke von einem Lastwagen überfahren wurde, hat Technik und Bilder des Comic strips in seine Lyrik geholt. „Ein neuer Realismus entstand, er stand rum“, heißt es in
„London, Flat 6“. Sein „Realismus“ war die Tarnung eines fanatischen Sammlers, der Worte wie Zigarettenschachtel, Konservendose, Bloody Mary in unendlichen Ketten aneinanderreihte wie Fetische einer Selbstvergewisserung im Alltagsabfall. Die „Kunstlosigkeit“, mit der er das tat, ähnelt den Bildern der Verrückten aus Dubuffets Sammlung.
Seine Gedichte sind monströs überfüllte Environments, in denen der
horror vacui jede wohlgesetzte Versstruktur unterläuft. Daß seine Lakonie sich in manchen Gedichten dieses Zyklus liest als pathetische Beschwörung von Generationssymbolen zwischen Leonard Cohen und Velvet Underground, zeigt einmal mehr, daß auch Anti-Kunst Patina ansetzt.

Undine Gruenteraus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechzehnter Band, Insel Verlag, 1993

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