Urs Allemann: Zu Peter Waterhouse′ Gedicht „Das sogenannte Richtungsei“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Peter Waterhouse’ Gedicht „Das sogenannte Richtungsei“ –

 

 

 

 

PETER WATERHOUSE

Das sogenannte Richtungsei

Wenn sich der Baum dreht: Aum, Aum (B entfällt).
Wenn sich der Tag dreht: Ag, Ag, (Regel: Das T entfällt).
Nach der erwarteten kurzen Stille drehen wir uns:

Tille.
Tille entsteht so: Man ließ das S fallen. Wenn
alles gedreht ist und gelassen ist fallen, was ist gemeint? Gemeint ist
die erwartete kurze Stille (Rückkehr des großen S, Andacht
an eine große Welt, Aum, Aum, Descartes beginnt wieder zu denken
Lichtenberg stellt die Uhr, das 20. Huhn des Jahrhunderts
legt das sogenannte Richtungsei. Bestimmung des Eis: Nicht eßbar, aber
drehbar. Das Eßbare gedreht (erschlossene Variante) meint
nacht der erwarteten Regel: ßbar, ßbar, ßbar. So lautet
nach der Regel des Entfalls die Stille (erschlossen
entfallen, gedreht). Wir holen jedes Jahrhundert
in das entfallende Jahrhundert, wir erwarten die fernste Stille
im kurzen Wort: Aum; Ag. Die Details werden historisch
mitverwandelt (Tisch ist erschlossen kein Tisch, Blume
ist erwartet keine Blume, alle Birnen fallen einmal
durch die eigene Geschichte, wir sind regelmäßig
still, still, still, Lichtenberg macht einen Tageswalzer
mit Descartes, 19 gedreht heißt 18, 18
dreht sich weiter, 17 fällt in den sechzehnten Sinn
fünfzehnte Stille: Rene wird geboren auf der eigenen Hand, die Drehung
bringt eins ums andere.

1.
„Wie bitte?“ „Ich sagte: Drehen Sie doch die Bäume zurück.“
2.
„Wie bitte?“ „Die Hühner sind fertig. Sammeln Sie doch endlich die Eier ein.“
3.
„Wie bitte?“ „Die Macht sitzt in den Zentren. Bitte Revolution.“ –

 

Versuch über „Das sogenannte Richtungsei“ von Peter Waterhouse

Gehen Sie zum Eisschrank. Nehmen Sie ein Ei heraus. Holen Sie einen Bleistift. Schreiben Sie mit dem Bleistift das Wort BAUM auf das Ei. Legen Sie das Ei vor sich auf den Tisch. Drehen Sie das Ei langsam im Uhrzeigersinn, bis der Buchstabe B verschwunden ist. Auf dem Ei steht jetzt AUM. Durch Drehen ist aus dem Wort BAUM das Wort AUM geworden. Indem Sie auf ein zweites Ei das Wort TAG schreiben, können Sie, die gleiche Methode anwendend, das Wort AG erzeugen. Sollten Sie, nachdem Sie auf ein drittes Ei das Wort STILLE geschrieben haben, eine unüberwindliche Unlust empfinden, auch dieses Ei wieder zu drehen, so steht es Ihnen frei bzw. ist es Ihnen vorgeschrieben, stattdessen im Uhrzeigersinn sich langsam um sich selber zu drehen, bis der Buchstabe S aus Ihrem Blickfeld – also überhaupt – verschwunden ist. Auf dem Ei steht jetzt TILLE und die Augen tun Ihnen weh. Es scheint einfacher und weniger schmerzhaft zu sein, DAS SOGENANNTE RICHTUNGSEI zu drehen als sich selber.

Der Unterschied zwischen dem Baum und dem Wort BAUM. Der Unterschied zwischen dem Wort BAUM und dem Wort AUM. Der Unterschied zwischen der Beziehung des Worts BAUM zum Baum und der Beziehung des Worts AUM zu etwas anderem als dem Wort AUM, das wir, das Gedicht beweist es oder auch nicht, AUM nennen können.

WENN SICH DER BAUM DREHT. Die Regel ist vielmehr, daß der Baum sich nicht dreht. Er wächst bloß – von unten nach oben, in eine Richtung. Für das Auge, das unfähig ist, ihn wachsen zu sehen, steht er sogar bloß in der Gegend. Auf Drehen ist er nicht programmiert. Ebensowenig wie auf Gehen. „Wenn Bäume anfangen zu laufen, stimmt etwas nicht“, denkt Kater Mog im Kinderbuch Mog feiert Weihnachten von Judith Kerr. Die gleiche Erfahrung macht Macbeth: Wenn „Birnans Wald anrückt auf Dunsinan“, hört die Verdrängung der Angst auf zu funktionieren. In der gleichen Szene erinnert sich Macbeth:

Es gab ’ne Zeit, wo kalter Schau’r mich faßte,
Wenn der Nachtvogel schrie; das ganze Haupthaar
Bei einer schrecklichen Geschicht’ empor
Sich richtete, als wäre Leben drin.

Ebenfalls in dieser Szene meditiert er, den Tod der Lady Macbeth kommentierend, über das Leben:

ein Märchen ist’s, erzählt
Von einem Blöden, voller Klang und Wut,
Das nichts bedeutet

(„it is a tale / Told by an idiot, full of sound and fury, / Signifying nothing“).

Möglich ist, auf eine Geschichte, allgemeiner: auf eine Konstellation von Wörtern, sich einzulassen, „als wäre Leben drin“; nach diesem Prinzip funktioniert, in traditioneller Literatur, der ästhetische Schein. Möglich ist, andererseits, das Leben in Analogie zur Literatur als eine Konstellation von Signifikanten zu interpretieren, zu denen die Signifikate fehlen. Das setzt Trauer voraus und ein ziemlich modernes Bewußtsein. Möglich ist, drittens – und damit stellen wir den Schüttelspeer in die Rüstungskammer zurück und betreten das Wasserhaus –, beide Einstellungen spielerisch zu kombinieren und wechselseitig durcheinander zu reflektieren.
1. Wir können WENN SICH DER BAUM DREHT als Anwendung des traditionellen Prinzips der Literatur (Schein) auf einen nichttraditionellen Gegenstand (ein Baum dreht sich) lesen. In diesem Fall müssen wir uns vorstellen, daß nicht das Wort BAUM, sondern ein wirklicher Baum sich dreht. Die Zeichen bezeichnen etwas Wirkliches, allerdings etwas Wirkliches, das es in der Wirklichkeit nicht gibt.
Stellen Sie sich vor einen Baum. Stellen Sie sich vor, der Baum beginne sich langsam im Uhrzeigersinn um seinen Mittelpunkt (Punkt in der Mitte zwischen Wurzel und Wipfel) zu drehen. Oben neigt sich der Baum langsam nach rechts. Unten links wird nach einiger Zeit die Wurzel sichtbar. Sie fährt so schnell aus der Erde, wie der Wipfel des Baums sich erdwärts senkt. Über die Gesetze der Schwerkraft brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen, da es lediglich der Raum Ihrer Einbildungskraft ist, in dem der Baum sich dreht; Sie tun nur so, als ob, Sie Glückspilz. Wenn sich der Baum um 90 Grad gedreht hat, liegt er, auf der Höhe seines Mittelpunkts, waagerecht in der Luft; nach weiteren 90 Grad steht die Wurzel im Zenith und der Wipfel ruht unter der Erde. Falls Ihnen die Sache zu unheimlich wird, brauchen Sie bloß weiterzudrehen: nochmals 180 Grad und alles ist wieder in Ordnung.
Das Gedicht DAS SOGENANNTE RICHTUNGSEI schließt allerdings mit den Worten BITTE REVOLUTION. Revolution heißt: Umdrehung, Umwälzung. Es dürfte nicht in der Absicht des Gedichts liegen, die freigelegten Wurzeln des Baums wieder in der Erde verschwinden zu lassen. Karl Marx sagt:

Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst.

Hier fehlt uns ein Zwischenglied. Im Gedicht ist anfangs nicht vom Menschen die Rede, sondern vom Baum. WENN SICH DER BAUM DREHT heißt es, nicht: WENN SICH DER MENSCH DREHT. Am Ende der dritten Zeile allerdings ist es soweit: Jetzt DREHEN WIR UNS. Mit WIR dürften Menschen gemeint sein, wie verkrüppelte auch immer. Aufschlußreich für die Beziehung von (gefällten) Bäumen und (modernen) Menschen und insofern für die Schwierigkeiten, mit denen die gewünschte REVOLUTION zu rechnen hat, ist die Betrachtung „Die Bäume“ von Franz Kafka:

Denn wir sind wie Baumstämme im Schnee. Scheinbar liegen sie glatt auf, und mit kleinem Anstoß sollte man sie wegschieben können. Nein, das kann man nicht, denn sie sind fest mit dem Boden verbunden. Aber sieh, sogar das ist nur scheinbar.

2. Wir können WENN SICH DER BAUM DREHT auch als signifikatfreie Sequenz von Signifikanten lesen: signifying nothing. In diesem Fall bezeichnen die Zeichen nur sich selbst, nichts Wirkliches jenseits der Zeichen. BAUM ist eine sinnfreie Kombination von vier Buchstaben; entfällt der erste, so bleibt eine sinnfreie Kombination von drei Buchstaben übrig: AUM. „Aber sieh, sogar das ist nur scheinbar.“ Wir haben dabei nicht den ganzen Temporal- oder Konditionalsatz WENN SICH DER BAUM DREHT entsignifikatisiert, sondern lediglich das Subjekt dieses Satzes: DER BAUM. (Genau genommen sogar bloß den nominalen Bestandteil dieses Subjekts: BAUM. Würde DER BAUM inklusive Artikel gedreht, so würden wir der Transformationsregel gemäß, die das Gedicht angibt, nicht AUM erhalten, sondern ER AUM.) Das DREHEN dagegen fassen wir durchaus als ein wirkliches Drehen auf, sonst könnten wir das B des BAUMS gar nicht zum Verschwinden kriegen. Wir können das eine Zeichen, BAUM, nur als einen signifikatfreien Signifikanten – als ein Zeichen, das, statt ein Wirkliches zu bezeichnen, vielmehr unmittelbar ein Wirkliches ist – behandeln, indem wir den anderen Zeichen, WENN SICH DREHT, das in der Wirklichkeit ihnen korrespondierende Signifikat belassen. Wir brauchen sogar ein zusätzliches, sehr reales Hilfsmittel, um an dem signifikatfreien Signifikanten die gewünschte Operation in Raum und Zeit, das Drehen, vornehmen zu können: ein drehbares Medium nämlich, auf das der BAUM (die vier Buchstaben B, A, U, M) sich auftragen läßt. Erst ein so verorteter, gewissermaßen mit Wurzeln zweiter Natur neuerlich in der Wirklichkeit verankerter BAUM ist als ,res extensa‘, wenn auch zweiter Potenz, als Ding unter Dingen, wieder manipulierbar. Dieses Medium, NICHT ESSBAR, ABER DREHBAR, ist DAS SOGENANNTE RICHTUNGSEI.
3. Beide Lesearten einander gegenüberstellend können wir festhalten: Während, wenn sich der wirkliche Baum dreht, dessen sonst unsichtbarer Anfang, die Wurzel, erscheint, wird, wenn der BAUM aus Buchstaben sich dreht, dessen sonst sichtbarer Anfang, der erste Buchstabe, unsichtbar. „Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht“ (Musil).

AUM, AUM. Während wir den BAUM wahlweise als holzige Pflanzenart oder als vierbuchstabigen Wortkörper auffassen können, scheint bei dem durch Drehen des SOGENANNTEN RICHTUNGSEIS aus dem BAUM hervorgegangenen Wort AUM eine solche doppelte Betrachtungsweise nicht möglich zu sein. In keinem Lexikon werden wir unterm Stichwort AUM analog zum Stichwort BAUM ein Verzeichnis der Bedeutungen finden, die das Wort je nach Kontext annehmen kann. AUM bezeichnet nicht entweder dieses oder jenes oder nichts, sondern ausschließlich nichts.
„Aber sieh, sogar das ist nur scheinbar.“ Denn während AUM in der Tat kein Zeichen ist, dem ein Korrelat in der Dingwelt entspräche, kann die Buchstabenfolge doch als artikulierbarer Laut aufgefaßt werden, der einen Ausdruckswert hat, also auf etwas anderes verweist, als er selbst ist. AUM, AUM (und ebenso AG, AG) klingt nach Kindergestammel aus einer ontogenetisch frühen Phase des Erwerbs sprachlicher Kompetenz bzw. nach infantilem Erwachsenengestammel aus einer phylogenetisch späten Phase des Verlusts sprachlicher Kompetenz, der der Regression auf den Entenjargon. AUM, AUM und AG, AG sind Klagelaute aus zwei sprachlichen Übergangszeiten: der des Lauts vorwärts ins begrifflich zupackende Wort und der des erschöpften Worts zurück in den Laut. WIR ERWARTEN DIE FERNSTE STILLE / IM KURZEN WORT: AUM; AG. Hiermit scheint freilich ein utopisches Drittes anvisiert: ein Wort-Zustand, in dem der während der Sprachsozialisation mit dem eisernen Begriffsbesen ausgekehrte, nichtbegriffliche, leibexpressive Gehalt des Kinderlauts aufbewahrt wäre, ohne daß die Sprache, ans kommerziell exploitierte Blubbern verraten, kindisch würde.
Dieser Wort-Zustand ist erreichbar aber nur, sofern der Laut, der den Begriff hinter sich läßt, nicht mit dem Schein der Unmittelbarkeit auftritt, sondern als vermittelter – als konstruierter – sich zu erkennen gibt. Diesem Zweck der Zerstörung des Scheins von Unmittelbarkeit dient die methodisch strikt nach Regeln verfahrende Ableitung des expressiven KURZEN WORTS aus vorausgesetzten Buchstabengebilden mittels Drehen des SOGENANNTEN RICHTUNGSEIS: In den Wortstümpfen AUM, AG und TILLE schlägt Konstruktion in Ausdruck um, gemäß der „subjektiven Paradoxie von Kunst“, von der Adorno in der Ästhetischen Theorie spricht: „Blindes – den Ausdruck – aus Reflexion – durch Form – zu produzieren; das Blinde nicht zu rationalisieren, sondern ästhetisch überhaupt erst herzustellen.“

Der Unterschied zwischen der Art von Veränderung, die sich ergibt, indem aus AUM durch Wiederholung AUM, AUM wird, und der Art von Veränderung, die stattfindet, indem aus einem einmaligen Vorgang (B ENTFÄLLT = ein Buchstabe verschwindet) durch Wiederholung ein REGELMÄSSIGER Vorgang wird (REGEL: DAS T ENTFÄLLT = nicht irgendein, sondern ein ganz bestimmter, nämlich immer der erste Buchstabe verschwindet). Der Unterschied zwischen Wiederholung als Ausdrucksform des mimetischen Impulses und Wiederholung als Vehikel quasiwissenschaftlichen Verfahrens. Der Unterschied zwischen Expression und Methode als der zwischen zwei im Text sich durchdringenden Reaktionsweisen auf Angst.

DESCARTES sagt: „Zur wissenschaftlichen Forschung ist Methode notwendig.“ Das Neue an der Lyrik von Peter Waterhouse ist, daß er die zwanghafte Bewegung des methodischen Denkens ins Gedicht einführt und zu seinem Motor macht. Auf diesem Weg wird „das Denken aus einem Werkzeug zum Thema, und mit dem Denken dessen Medium, die Sprache“ – wie Franz H. Mautner im Hinblick nicht auf die Gedichte von Waterhouse, sondern die Aphorismen von LICHTENBERG formuliert hat.
Das Thema „Denken nach Regeln“ wird im lyrischen Gebilde aber ad absurdum geführt, insofern einerseits der „Sinn“ mancher Stellen in der Tat ERSCHLOSSEN, regelrecht deduziert werden muß (und kann), andererseits der erschlossene Sinn alsbald als Unsinn, als Nonsens sich entpuppt. In Umkehrung des Satzes aus „Hamlet“ läßt sich sagen:

Ist dies gleich Methode, hat es doch Tollheit.

Daß DAS ESSBARE GEDREHT… NACH DER ERWARTETEN, weil oben angegebenen REGEL: SSBAR ergibt (REGEL: DAS E ENTFÄLLT), ist dabei noch eine schlichte ERSCHLOSSENE VARIANTE, weil hier nur nochmals aufzuschließen ist, was schon eröffnet war. Größere Mühe bereitet der folgende Übergang: SSBAR, SSBAR, SSBAR. SO LAUTET / NACH DER REGEL DES ENTFALLS DIE STILLE (ERSCHLOSSEN / ENTFALLEN, GEDREHT). Hier wird über die STILLE ausgesagt, daß sie, sofern die REGEL DES ENTFALLS in Kraft ist, SSBAR lautet.
Diese zunächst dunkel erscheinende Stelle läßt sich jedoch, wenn wir nur methodisch vorgehen, d.h. der REGEL des DESCARTES folgen, „sorgfältig die Übereilung und das Vorurteil zu vermelden und in unseren Urteilen nur soviel zu begreifen, wie sich unserem Geist so klar und deutlich (clare et distincte) darstellt, daß wir gar keine Möglichkeit haben, daran zu zweifeln“, sowie „jede der Schwierigkeiten, die wir untersuchen, in so viele Teile zu zerlegen als möglich und zur besseren Lösung wünschenswert“ ist, sicher und einleuchtend erkennen (certo et evidenter cognoscere). Wie nämlich lautet NACH DER REGEL DES ENTFALLS die STILLE? Sie lautet nach dieser Regel TILLE (TILLE ENTSTEHT SO: MAN LIESS DAS S FALLEN). Mit anderen Worten: TILLE ist NICHT ESSBAR, wohl aber S-BAR, bar des S, eine STILLE ohne S. Wir haben also ERSCHLOSSEN, daß, da das S der Stille ENTFALLEN ist, als das sogenannte Richtungsei sich GEDREHT hat (bzw. wir uns gedreht haben), die STILLE (S)SBAR, nämlich TILLE lautet. Was zu beweisen war.

Gehen Sie wieder zum Eisschrank. Nehmen Sie ein weiteres Ei heraus. Einen neuen Bleistift brauchen Sie nicht zu holen, Sie dürfen den von vorhin benützen. Ein neues Experiment – die alten Instrumente! Schreiben Sie auf das Ei die Zahl 19. Drehen Sie das Ei langsam im Uhrzeigersinn, bis die Zahl 18 erscheint.
Doch sie erscheint nicht! Es verschwindet vielmehr bloß die Zahl 1, so daß jetzt die Zahl 9 auf dem Ei steht. Es steht aber geschrieben: 19 GEDREHT HEISST 18. Nun wissen Sie nicht weiter, wünschen DAS SOGENANNTE RICHTUNGSEI zum Teufel und werfen dem 20. HUHN DES JAHRHUNDERTS wütend vor, es habe ein Windei gelegt.
Narr! Statt des HUHNS antwortet Ihnen LICHTENBERG und STELLT zum ersten mal DIE UHR:

Nimm dich in acht, daß meine Geduld nicht über deiner Langsamkeit abläuft. Auf meine Ehre, ich ziehe sie deinetwegen nicht noch einmal auf. (Sudelbücher).

Beeilen Sie sich also. Holen Sie ein neues Ei aus dem Eisschrank. Machen Sie 19 Bleistiftstriche darauf, hintereinander, auf der Seite des Eis, die Sie anblickt. Dünne Striche müssen es sein, um Himmels willen, sonst kriegen Sie nicht alle unter und das mangelhaft präparierte Erkenntnismittel verpfuscht Ihnen wieder mal die Erkenntnis. Drehen Sie nun das Ei langsam im Uhrzeigersinn, bis der erste Strich verschwunden ist. Jetzt sind es noch 18 Striche, denn 19 GEDREHT HEISST 18. Undsofort. Sie können weiterdrehend die Zahl der Striche nunmehr nach Belieben reduzieren: 18 / DREHT SICH WEITER, 17 usw. Bitte entschuldigen Sie sich beim 20. HUHN DES JAHRHUNDERTS, Sie haben ihm Unrecht getan. Aber natürlich ist es einfacher und weniger schmerzhaft, DAS SOGENANNTE RICHTUNGSEI zu schmähen als sich selber. Stellvertretend für das HUHN nimmt LICHTENBERG ihre Entschuldigung an und STELLT zur Belohnung zum zweitenmal DIE UHR:

Eine Uhr, die ihrem Besitzer immer um Viertel zuruft Du… um halb Du bist – –um 3/4 Du bist ein und wenn es voll schlägt: Du bist ein Mensch.

„18 / DREHT SICH WEITER, 17 usw.“ Von wegen. „Undsoweiter“ ist, wie meist so auch hier, bloß ein fauler Trick. Nicht so, sondern anders geht es weiter. Statt 17 GEDREHT HEISST 16, 16 DREHT SICH WEITER, 15 heißt es: 17 FÄLLT IN DEN SECHZEHNTEN SINN / FÜNFZEHNTE STILLE. Was heißt das? WAS IST GEMEINT? GEMEINT IST, daß wir ein paar Gleichungen aufstellen, ableiten, ERSCHLIESSEN dürfen. 16. = SECHZEHNTER SINN; FÜNFZEHNTE STILLE = 15; 15 = fünfzehnter Sinn; sechzehnte Stille = 16; SINN = STILLE. Wie Sie mit der letzten Gleichung weiterarbeiten wollen, ist Ihre Sache. Sie könnten z.B. versuchen, als Kulturkritiker Karriere zu machen: „Alles heute ist so laut und sinnlos. O daß es still und sinnvoll wäre!“ Oder Sie könnten in Ihrem Kopf Kritische Theorie und Mystik kopulieren lassen: „Stille ist Sinn, negativ.“ Sie könnten auch die Gelegenheit nutzen, Ihrer Lieblingsbeschäftigung nachzuhängen und besinnlich vor sich hin zu schwiemeln: „Aus der Stille kommen wir, in die Stille gehen wir; ja, ja, quak quak, AG, AG, das ist der Sinn.“ Sie könnten schließlich, die Möglichkeiten nutzend, die DAS SOGENANNTE RICHTUNGSEI bietet, beide Seiten der Gleichung im Uhrzeigersinn drehen und so die neue Gleichung INN = TILLE gewinnen. Daß ein Gasthaus, selbst ein englisches, in letzter Instanz nichts anderes ist als die Verdichtung von Schnuller und Titte, erhellt ohne weiteres.
Niemand übrigens kann Sie daran hindern, das Drehen des Eis im Raum als Zurückdrehen der Zeit zu interpretieren. (DREHEN SIE DOCH DIE BÄUME ZURÜCK.) Ohnehin werden Sie glauben, im 20. HUHN DES JAHRHUNDERTS ein HUHN DES 20. JAHRHUNDERTS erkannt zu haben. Begreiflich daher, wenn Sie auch 19, 18, 17, 16, 15 jeweils mit einem Jahrhundert in Zusammenhang bringen, so daß jeder der neunzehn Striche, die Sie vorhin so vorbildlich auf DAS SOGENANNTE RICHTUNGSEI gemalt haben, ein Jahrhundert verträte und der jeweils durch Drehen gerade verschwindende Strich demnach DAS ENTFALLENDE JAHRHUNDERT. Für diese Leseart spricht, daß in der FÜNFZEHNTEN STILLE, nämlich fünfzehnhundertsowieso, genauer gesagt: 1596, in der Tat RENE GEBOREN wurde, RENE DESCARTES nämlich.
Einspruch: Handelt es sich bei RENE nicht vielmehr um eine Frau namens IRENE, die lediglich durch Drehen des Eis ihren Anfangsbuchstaben – und infolge dieser sprachlichen Operation Geschlecht und Identität – verloren hat (REGEL: DAS I ENTFÄLLT)? Einspruch abgelehnt. Wer so argumentiert, beweist bloß, daß er das Problem von Genesis und Geltung nicht hinreichend durchdacht hat. Auch ein wie immer, sei’s durch Drehen, sei’s durch leibliche Geburt aus IRENE entstandener RENE ist ein vollgültiger RENE, wie die unmittelbare Abstammung der IRENE von einer SIRENE zwar zur Folge hätte, daß wir in Zukunft in RENE DESCARTES den Enkel der SIRENEN zu würdigen hätten, was zu gewissen philosophiegeschichtlichen Umdispositionen nötigen würde, aber nichts daran ändern könnte, daß IRENE IRENE, und RENE RENE ist. Oder wären etwa Sie, wie immer Sie heißen mögen, bereit, einer Argumentation zu folgen, die darauf hinausliefe, daß Sie, weil Sie von Ihrer Mutter, wie immer sie heißen mag, geboren worden sind, in Wahrheit Ihre Mutter sind und nicht Sie selber? Es heißt zwar: RENE WIRD GEBOREN AUF DER EIGENEN HAND (indem er nämlich eigenhändig in sein Manuskript schreibt: „Ich denke, also bin ich“ – VARIANTE: „Ich schreibe ,Ich denke, also bin ich‘, also bin ich“), aber glauben Sie mir: Wer der Idee der Selbstzeugung verfällt, statt sie gelassen fallenzulassen, der verfällt.

DIE DREHUNG BRINGT EINS UMS ANDERE. 1. Die Drehung bringt eins nach dem andern. Zuerst war bloß eine SIRENE da, dann die SIRENE und IRENE, dann die SIRENE und IRENE und RENE. Generation um Generation. 2. Die Drehung bringt das eine um das andere. Die SIRENE wird, IRENE gebärend, um IRENE, IRENE wird, RENE gebärend, um RENE gebracht. Trennung um Trennung. 3. Die Drehung bringt das eine um das andere herum. Die Punkte auf der Peripherie umkreisen die ZENTREN, in denen DIE MACHT SITZT. REVOLUTION um REVOLUTION.

Im zweiten Kapitel von DESCARTES’ „Discours“ wird abfällig die „Lullische Kunst“ zitiert als ein Beispiel für die Untugend der Logiker, „ohne Urteil über Dinge, die man nicht weiß, zu reden.“ (LICHTENBERG sagt in einem ähnlichen Zusammenhang: „Wenn man, wie die Metaphysiker oft verfahren, glaubt, man verstehe etwas, das man nicht versteht, so kann man dies nennen affirmative nescire.“) Die deutschen Herausgeber der DESCARTESschen Schrift geben dazu folgende Anmerkung:

Raymundus Lullus (1235–1315) hatte eine ,Denkmaschine‘ konstruiert, die aus konzentrischen Scheiben bestand, auf denen Begriffe bezeichnet waren, die sowohl miteinander wie durch DREHEN der Scheiben in die mannigfaltigsten Beziehungen gesetzt werden konnten. In seiner ,Ars magna‘ lehrte er die Kunst, durch solche mechanische Kombinatorik zu immer neuen Begriffen zu gelangen.

Die avancierte ästhetische Technik des Lullus überrascht. Wir vermuten in seinen Begriffsdrehscheiben eine Vorform des Waterhouseschen SOGENANNTEN RICHTUNGSEIS. Nicht nur verändern, auf dem Ei sich drehend, einzelne Wörter ihre Gestalt (TAG – AG). Sondern die Wörter werden auch in immer neue Kombinationen, Kontexte, Assoziationszusammenhänge, sprachliche Erscheinungsformen hineingedreht.
Zum Beispiel FALLEN. Ein B ENTFÄLLT, dabei schwingt mit: Vergessen (was ich vergessen habe, ist mir ENTFALLEN); ferner, da ein sich drehender Baum im Spiel ist: FÄLLEN. Aus MAN LlESS FALLEN (= auch: man entzog die bisher gewährte Unterstützung) wird eine Zeile später ein intransitives FALLEN („Tous ceux qui tombent“), das offenbar stattfindet, WENN / ALLES… GELASSEN IST, wobei GELASSEN, aus dem LIESS der vorigen Zeile entwickelt, einen Doppelsinn annimmt, so daß wir sowohl lesen können (müssen) WENN MAN ALLES… GELASSEN HAT als auch WENN ALLES… ENTSPANNT, ENTKRAMPFT IST. Nach der dritten Person Singular Präsens Indikativ ENTFÄLLT und dem Infinitiv FALLEN wird das Wort in eine nominale Position (DES ENTFALLS) sowie in eine passive (ENTFALLEN) und aktive (DAS ENTFALLENDE JAHRHUNDERT) Partizipialposition gedreht; im letzteren Fall taucht die unERWARTETE Vorstellung eines AUSFALLENDEN und daher durch jedes beliebige andere ersetzbaren JAHRHUNDERTS auf. Dann FALLEN BIRNEN, was deshalb ein merkwürdiger FALL, wenn nicht eine FALLE ist, weil sie nicht, wie sich’s gehört, einfach vom BirnBAUM ins Gras, sondern DURCH DIE EIGENE GESCHICHTE FALLEN; schließlich FÄLLT 17 IN DEN SECHZEHNTEN SINN (einen potenteren Verwandten des sechsten Sinns?): 17 hin, 16 im Sinn, und was einem IN DEN SINN kommt, das FÄLLT einem EIN.
Was einem aber auf keinen FALL EINFALLEN sollte: Lullus als einen toten Hund zu behandeln!

KURZE STILLE. Nach der Zeile NACH DER ERWARTETEN KURZEN STILLE DREHEN WIR UNS tritt, bevor der Autor das Resultat des Drehens (TILLE) nennt, die KURZE STILLE in der Tat ein: in Form einer Leerzeile. Wir brauchten sie bloß zu erWARTEN. Inwiefern ist die STILLE noch eine ERWARTETE? Ist es die (Unverständnis? Nachdenken? Ärger? kurzes Atemholen? signalisierende) STILLE, in die der Leser, der Erwartung des Autors zufolge, nach dem unerwarteten Anfang des Gedichts sich zurückziehen wird? Also die – noch sprachlose – Antizipation des dreifachen „WIE BITTE?“ in den drei Anfangszeilen korrespondierenden Schlußzeilen?

LICHTENBERG MACHT EINEN TAGESWALZER / MIT DESCARTES. Wir dürfen uns mit der BESTIMMUNG DES TAGESWALZERS (Tagesdrehers, vgl. Zeile 2) als des 1440fachen Vielfachen des Chopinschen Minutenwalzers vermutlich nicht zufrieden geben.
Doch sie ist wichtig. Nicht zuletzt, weil sich seit Chopins Zeit die Schwierigkeit, authentische Kunst zu machen, ungefähr ver1440facht haben dürfte. Ferner, weil in dem widersprüchlichen, Bund von DESCARTES (17. Jahrhundert) und LICHTENBERG (18. Jahrhundert) Chopin (19. Jahrhundert) der fehlende Dritte ist. DESCARTES sagt:

Jene langen Ketten ganz einfacher und leichter Folgerungen, wie sie die Geometer zu brauchen pflegen, um die schwierigsten Beweisführungen zustande zu bringen, hatten in mir die Vorstellung erweckt, daß alle möglichen Objekte der menschlichen Erkenntnis auf ähnliche Weise einander folgen, Und wenn man nur keine Sache für wahr gelten lasse, die es nicht sei, und stets die notwendige Ordnung beobachte, um das eine aus dem andern abzuleiten, so könne nichts so ENTFERNT sein, daß man es nicht zu erreichen, und nichts so verborgen, daß man es nicht zu entdecken vermöchte. („Discours“)

LICHTENBERG bringt diese Art Denken zum Tanzen, indem er sagt:

Denn wenn wir unsere Wörter mit den Sachen vergleichen, so werden wir finden daß die letzteren in einer ganz andern Reihe fortgehen als die erstern. Die Eigenschaften die wir an unserer Seele bemerken hängen so zusammen, daß sich wohl nicht leicht eine Grenze wird angeben lassen, die zwischen zweien wäre, die Wörter, womit wir sie ausdrücken, sind nicht so beschaffen, und zwei aufeinander folgende und verwandte Eigenschaften werden durch Zeichen ausgedrückt, die uns keine Verwandtschaft zu erkennen geben. Man sollte die Wörter philosophisch deklinieren können…

Gottfried Benn urteilt über Chopin: „Ansichten waren nicht seine Stärke“.
Im Wasserhaus stellen die Dinge sich so dar: Es wird auch getanzt, aber in Ketten: den eisernen und durchaus nicht „leichten“, vielmehr schwer das Traumfleisch niederdrückenden Ketten der DESCARTESschen Folgerungen. Das Denken wird in seinen methodischen Fesseln vorgeführt und muß SICH DREHEN, im allerschleppendsten Dreivierteltakt, wie ein armer Tanzbär oder wie Lucky, wenn er tanzen bzw. denken muß in „Warten auf Godot“.
Die Wörter werden, die Idee LICHTENBERGS aufgreifend, auch philosophisch dekliniert; nur daß hinzukommt, erschwerend, daß die philosophische Grammatik, in der die Flexionsregeln verbindlich angegeben wären, nicht existiert bzw. daß sie so viele Kasus enthält, wie es Fallbeispiele gibt, und insofern keine Regeln. Während wir über die Regeln, die das Drehen des SOGENANNTEN RICHTUNGSEIS regulieren, genaue Auskunft erhalten, handelt es sich bei den folgenden philosophischen Deklinationsproben um durchaus unregelmäßige Einzelfälle, um Beispiele, die nichts exemplifizieren: Tille-entSTEHT, wenn das S entFÄLLT; Lichtenberg STELLT die Uhr, während das 20. Huhn des Jahrhunderts das sogenannte Richtungsei LEGT.
Ob es auch umgekehrt ginge; ob Tille entFällt, wenn das S entSTEHT; ob Lichtenberg die Uhr hinLEGEN könnte, statt sie zu STELLEN (sie würde dann nicht mehr stehn, allerdings auch nicht gehen, sondern liegen), bzw. das 20. Huhn des Jahrhunderts das sogenannte Richtungsei hinSTELLEN, statt es zu LEGEN (dann würde es zum SOGENANNTEN RICHTUNGSEI des Kolumbus) – diese Fragen wären eine gesonderte Untersuchung wert.
Ansichten, schließlich, sind zwar dann die Stärke von Peter Waterhouse so wenig wie von Chopin, wenn wir unter Stärke abstrakt das Gegenteil von Schwäche verstehen – wohl aber dann, wenn wir Stärke konkret als Polysaccharid und insofern als wichtigen Nährstoff und Küchenhilfsstoff auffassen: Ansichten – wie z.B. die, daß ALLE BIRNEN… EINMAL / DURCH DIE EIGENE GESCHICHTE (FALLEN), wobei offenbleibt, ob DURCH als kausale Präposition gemeint ist („daß alle Birnen einmal fallen, hat seinen Grund in ihrer eigenen Geschichte, deren Telos es ist“) oder als lokale („der Raum, genauer: der Zeitraum, durch den alle Birnen hindurchfallen, wenn sie einmal fallen, ist ihre eigene Geschichte“) – Ansichten also dienen Waterhouse dazu, den poetischen Text einzudicken, ihn zähflüssig zu machen, um ihn durch diese planmäßige Veränderung seiner Viskosität erstens der Denkqual ähnlicher zu machen, die ihn vor sich herwälzt und in ihm sich betätigt, und zweitens der Sphäre des Kunstscheins, des luftig-lyrischen Tanderadeis durchs, Schwermachen seiner (Denk-)Stofflichkeit desillusionierend zu entrücken. Das Gedicht wird zum Medium von Gedanken, die sich im Aggregatzustand des Nichtgedachtwerdenkönnens befinden, oder anders: von Gedanken, die von Augenblick zu Augenblick an den Stoff, aus dem sie sind, die Sprache, sich verlieren.
Dies ist, wenn Gedankenlyrik, dann eine, die sich im Augenblick ihrer Selbstaufhebung selber zuhört. Das Gedicht als Nekrolog aufs Denken, auf die in der ,res extensa‘ der Wörter steckenbleibende, erstickende ,res cogitans‘? DIE MACHT SITZT IN DEN ZENTREN. Oder das Gedicht als Vorgriff auf ein Denken, in dem Produzent und Produktionsmittel, Sprache und Sprecher nicht mehr getrennt wären, Wortgeist und Wortkörper sich wiedervereinigen dürften? BITTE REVOLUTION.
LICHTENBERG sagt:

Sehr viele und vielleicht die meisten Menschen müssen um etwas zu finden, erst wissen, daß es da ist.

Peter Waterhouse – einen Schlußsatz BITTE – gehört zu denen, auf die das nicht zutrifft.

Urs Allemann, Schreibheft, Heft 27, April 1986

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