NÄHE UND FERNE
Aber die Sterne sind ja nur Teilchen
Und Staub im Leeren
Winken wir auch mit dem Staubtuch
Als wollten wir die Welt so säubern
Da wir durch die Räume ziehn
Und in der Tür stehn
Sind wir auf Erden
Eines Fußbodens kühl
Ja ganz auf Abstand bedacht
Doch ist All das wirklich so weit
In diesem Raum?
Wie wäre es sonst möglich
Daß nun als Lampe Mond
Und Sonne brennt
Rund ist
Was in der Ferne uns noch schien
Ein Staub im Leeren
Dam wir schon mit dem Staubtuch winkten
Als wollten wir gleich säubern
1
In seinen autobiographischen Aufzeichnungen schreibt Uwe Greßmann: „Ich wurde am 1.5.1933 zu Berlin geboren. Den Vater sah ich nie, die Mutter etwa drei Wochen; sonst lebte ich unter Fremden.“ Der Vater war Autosattler, die Mutter Dienstmädchen. Die Kindheit erlebt Greßmann in Waisenhäusern und bei Pflegeeltern. Nach dem Abschluß der Volksschule beginnt er eine Lehre als Elektro-Installateur, die er bereits nach einem halben Jahr abbrechen muß: Eine schwere Tbc verlangt eine fünfjährige Bettruhe. Von 1949 bis 1954 versucht Greßmann, sich in Krankenhäusern und Heilstätten kurieren zu lassen. Danach gestattet ihm sein angegriffener Gesundheitszustand weder die Fortsetzung seiner Lehre noch die beabsichtigte Aufnahme eines Studiums an der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät. Seit 1954 ist er in einer Privatfirma in Berlin als Montierer tätig, 1958 geht er ein Arbeitsverhältnis mit den HO-Gaststätten Berlin Mitte ein, wo er zunächst als Bote, später als Postabfertiger beschäftigt ist.
Erste Gedichte schrieb Uwe Greßmann als Vierzehnjähriger, z.B. „Zaunkönig“, das in veränderter Fassung im Vogel Frühling zu finden ist. Den Weg zur Literatur erschloß er sich durch autodidaktisches Studium. Zudem war er ein begabter Zeichner. 1961 stellt sich der Lyriker in der Neuen Deutschen Literatur erstmals dem Publikum. In den Jahren darauf folgen weitere Veröffentlichungen in dieser Zeitschrift, in Sinn und Form und im Sonntag. Seine Gedichte finden Aufnahme in Anthologien: Auftakt 63 (Verlag Neues Leben); Sonnenpferde und Astronauten (1964) sowie In diesem besseren Land (1966): beide herausgegeben im Mitteldeutschen Verlag.
2
1966 gelingt in der DDR-Lyrik die Entdeckung eines Naturtalents: Der Mitteldeutsche Verlag veröffentlicht Uwe Greßmanns Gedichtband Der Vogel Frühling. Diese Gedichte zeichnen sich durch ihre großartige Metaphorik ebenso aus wie durch ihr Naturell. Hier wird die Welt mit den Augen eines Kindes entdeckt. Allein damit wird man Greßmanns Poesie noch nicht gerecht, denn in gleichem Maße vollzieht sich die Inbezugsetzung des Dichters zur Tradition: zur Klassik, zu Hölderlin, zur Romantik, zu Rilke. Tradition und Gegenwart münden in einer unmittelbaren Dichtung, die ein harmonisch empfundenes Sein kündet. Weltanschauungsdichtung steht neben dem Gelegenheitsgedicht. Dort, wo sich der Autor dem kleinen Gegenstand zuwendet, gleitet er niemals in eine unverbindliche Ding-Dichtung ab. Dabei gilt den Dingen durchaus seine Aufmerksamkeit („Fülle“ / „Der Eimer“ / „Die Seife“).
Der intensive Bezug aber zwischen Mensch und Ding schließt den Prozeß der Verdinglichung aus:
Die Dinge haben einen Sinn,
Weil sie uns so erfreuen.
Über den Bereich des Alltags hinaus dringt Greßmann über die Eroberung von natürlicher Landschaft und Stadtlandschaft bis zum Kosmos vor. Die Errungenschaften der Technik und Zivilisation, die unserer Welt zu eigen sind, werden für das lyrische Ich als selbstverständliche Bestandteile unseres Seins erlebt, aber dennoch als Wunder gefeiert. Als romantisches Erlebnis. Poetische Momente des Märchens und der Sage werden in die Realität einbezogen. Geniale Personifizierungen und Allegorien erstehen, Idyllen und hymnische Dichtungen des großen Gegenstands. „Die Sage vom Vogel Frühling“ ist ebenso der Folklore verbunden wie die „Volksmund“-Gedichte eine Besinnung auf das volkstümliche Lied erkennen lassen: „Der Mund in Volkes Mitte“. Aus dieser Position heraus ergibt sich für das urpoetische Talent des Uwe Greßmann in logischer Konsequenz eine Antiposition gegenüber Dekadenz und Moderne.
Die Lyrik Greßmanns vereint einfallsreiche Bildschöpfungen mit unkonventioneller Farbgebung. Seine Gedichte sind zu einem großen Teil dem Empirischen und Meditativen verpflichtet. Darin zeichnen sich ab: Größe und Grenzen seiner Kunst.
Und ich sehe zu euch zurück,
Die ihr in den Jahrhunderten steht.
Denn ich werde euch singen und mich, die
kommende Zeit.
Dieser Positionsbestimmung seiner Dichtung entspricht ein Bild vom schöpferischen Menschen.
3
Als Uwe Greßmann die Vorbereitungen für die Veröffentlichung des Sonnenautos traf, war er bereits freischaffend. Er besorgte Nachdichtungen. Seine Lyrik wurde von Rezensenten gewürdigt. Rundfunklesungen folgten. Im Lyrik-Club Pankow vermittelte der Poet nun seine Erfahrungen an junge Autoren wie er einst selbst in Zirkeln und Seminaren des Deutschen Kulturbunds Zugang suchte zur Welt der Literatur. Während seines fünfjährigen Aufenthalts in Krankenhäusern und Heilstätten wandte sich Greßmann der Philosophie und Literatur zu. Hier entstand eine Vielzahl von Zeichnungen: Milieustudien seiner Umwelt und Porträtskizzen von Patienten. Hier kann sich Greßmann erstmals auf sich selbst besinnen. Endlich ist die Zeit fragwürdiger Erziehungsmethoden vorbei. Vorbei auch der aufreibende Wechsel von Waisenhaus zu Waisenhaus.
Bedingt durch einen völlig zerrütteten Gesundheitszustand stirbt Uwe Greßmann im Alter von 36 Jahren am 30.10.1969 in Berlin. Die Arbeit am Sonnenauto war noch nicht abgeschlossen. Die endgültige Auswahl und Zusammenstellung der Gedichte wurde vom Herausgeber besorgt. Bei Gedichten, die in unterschiedlicher Textfassung vorliegen, wurde die vom Autor für die Publikation vorgesehene Fassung gewählt. Eigenheiten seiner Rechtschreibung wurden beibehalten. Der bisher unveröffentlichte Beitrag Greßmanns „Wie entsteht ein Gedicht?“ zeugt von den essayistischen Bemühungen seines Verfassers. Im Nachlaß, der in den Literaturarchiven der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin aufbewahrt wird, finden sich noch zahlreiche poetische Zeugnisse, deren zukünftiges Erschließen eine dankenswerte Aufgabe ist.
Im vorliegenden Manuskript knüpft Greßmann an die volkstümlichen Motive des Vogel Frühling an und fixiert seinen Standpunkt vom Leben des Menschen: sei es in Gedichten, die alltägliche Situationen widerspiegeln oder als poetische Bekenntnisse geprägt sind. Bei diesem Poeten blieb die Fähigkeit des Kindes erhalten, Situationen elementar naiv zu empfinden. Greßmann nähert sich all seinen Gegenständen unmittelbar. Er bringt sie dem Leser nahe, indem er das, worüber er schreibt, beim Wort nimmt. Es ist kein Wunder, wenn Greßmanns Welt sich wiederholt dem Märchen, der Legende und der Sage öffnet. In eben dieser für ihn typischen Haltung werden wesentliche Realitätssegmente entdeckt. Eine märchenhafte Naturdichtung rückt vermenschlichte Natur ins Bild. Diese Gedichte sind gleichsam poetische „Erzählungen“: Erde, Luft, Licht, Sturm usw. fungieren als Erzähler, werden also personifiziert und erzählen von einer personifizierten Natur: die Rede ist von „Waldes dunklem Mund“, von „Ober- und Unterkiefer des Waldes“, und Baumstämme sind Zähne. Sonnenstrahlen werden als Weltraumfahrer begriffen, die bereits auf den Flugplätzen des Mondes gelandet sind: Vorwegnahme menschlicher Tat. „Trage die Menschen / Und sei gut zu ihnen“ – diese Antwort des Mondes an die Erde ist durchaus humanistischer Appell. Schönheit und Wahrhaftigkeit erstehen aus einer Autorenhaltung des Zu-sich-selbstgekommen-Seins. Am Modell Schildas wird menschlicher Unzulänglichkeit scherzhaft-derb begegnet. Das „Volksmund“-Motiv aus dem Vogel Frühling taucht auf. In den Minnesang-Gedichten rücken Vergangenheit und Gegenwart einander nahe, und Münchhausen wird ganz auf eine Alltagssituation (heute und hier) bezogen. Der kosmische Raum wird zur Erde wie zum Alltag in Bezug gesetzt. Ob sich der Poet wissenschaftlicher Termini bedient oder sich der abzubildenden Objekte mit einem ungewöhnlichen Spieltrieb bemächtigt, unverkennbar bleibt: So haben wir die Dinge bisher nicht gesehen. Da bedarf es schon dieses naiven Dichters, der alles, was er abbildet, erlebt und mit geübtem Griff Alltägliches und Historisches, kleine Gegenstände und große Sachverhalte einander zuordnet. Da erstehen erstaunliche Zusammenhänge, die zu Offenbarungen einer originellen Sicht werden.
Greßmann arbeitet mit Witz und Phantasie. Er ist ein Optimist, der sich zur Harmonie zwischenmenschlicher Beziehungen bekennt. Er richtet das „verloren gewesene Ideal“ neu auf und weist ihm den Weg in die Zukunft. Die rote Nelke wird zur „politischen Blume“, die eine Haltung „demonstriert“. Die Alltagsgedichte spüren am kleinen Gegenstand wesentliche Erscheinungen auf. Das Erlebnis der Stadt und der Arbeit eröffnen Greßmann neue Gegenstände, die interessant verarbeitet werden. Die heitere Akzentsetzung spricht von der Freude, die der Alltag trotz mancher Mühen zu geben vermag. Ob es eine Blume ist (die „arbeitet als Lesezeichen“), ob in „Ständchen“ von der „Feier im Alltag“ die Rede ist (ein „Vogel-Frühling“-Motiv), ob Urlaub oder der Weg zur Arbeit (in der Straßenbahn etwa) betrachtet werden oder Momente der Arbeit selbst, überall steht der Poet mitten unter uns und spricht von den täglichen Problemen mit einer nicht alltäglichen, freundlichen Phantasie.
Da entsteht ein Mosaik des Alltags (heiter und ernst), das den Leser bewegt, zur Identifizierung auch, das Freude auslöst und aktiviert.
Holger J. Schubert, Nachwort, April 1971
hieß Uwe Greßmanns erster Lyrikband, der Aufsehen erregte, weil da ein ursprünglicher Dichter seine Umwelt beim Wort nahm, so daß man sie mit seinem Blick verwandelt und neu sah.
„Von all seinen Altersgenossen“, schrieb der sowjetische Literaturkritiker Ratgaus, „empfindet nur er die Natur so stark, nur bei ihm spürt man diese innige Verbundenheit mit dem nächtlichen Himmel, mit den Bäumen, mit der feuchten Erde des Stadtparks oder der Äcker… Eine so natürliche und kühne Annäherung von Himmlischem und Irdischem, daß diese Verse ein modernes Weltempfinden ausdrücken – der Himmel ist keine kalte planetarische Weite mehr. Der Mensch geht durch den Sternenhimmel so frei wie über die Erde.“
Greßmann wurde bald über die Grenzen der DDR hinaus bekannt, wurde übersetzt; er selbst schuf Nachdichtungen aus dem Russischen und Ungarischen. Er starb 1969 an einem Lungenleiden, das ihn schon seit seiner Jugend quälte. Er hinterließ uns seine seltsam-farbige Welt in Gedichten, aus denen diese Auswahl getroffen wurde. Gedichte die Alltag und Kosmos gleichberechtigt in scheinbar ganz einfachen Bildern vor uns entwerfen: „Sonnenstrahlen sprachen, da sie mit ihren Quanten durch Räume, Fenster, Leere rannten…“
Es sind Verse aus unserer nächsten Umwelt, Verse die dem „verloren gewesenen Ideal“ auf der Spur sind und eine Blume zum Symbol machen: die rote Nelke. „Da demonstriert die politische Blume.“
Mitteldeutscher Verlag Halle (Saale), Klappentext, 1972
− Gedichte von Uwe Greßmann aus dem Nachlaß. −
Die kleinen Freuden begleiten dich
In der Bahn; des Lebens Fahrender,
Du siehst sie oft gar nicht sitzen,
Die einander geneigt sind, Kopf an Kopf,
Sich in Worten widerspiegeln,
Schwarzen Fensterscheiben
Eines Tunnels,
Wo sie nicht merken,
Wie man ihre Schönheit bewundern kann.
Aber wer achtet schon darauf,
Wenn er so in Fahrt ist
Und seines Lebens Abteil besetzt hält.
Der Dichter Uwe Greßmann hat in der kurzen Spanne seines Lebens darauf geachtet, und er hat uns in Versen den Alltag erschlossen mit seinen täglichen Problemen in einer nicht alltäglichen Poesie. Der zweite Band seiner Lyrik, an dessen Vorbereitung der 1969 im Alter von nur 36 Jahren Verstorbene noch teilhatte, besticht — ebenso wie die 1966 im gleichen Verlag erschienene Sammlung Der Vogel Frühling — durch die farbig-heitere Metaphorik. Wieder werden poetische Momente des Märchens und der Sage in die von Errungenschaften der Technik und Zivilisation geprägte Realität einbezogen.
Der von Holger J. Schubert herausgegebene und mit einem Nachwort versehene Band Das Sonnenauto (Mitteldeutscher Verlag Halle, 106 Seiten, 6, — Mark) gewinnt nicht zuletzt auch an Wert durch einen bisher unveröffentlichten Essay des Dichters.
-der, Neue Zeit, 15.7.1973
Jürgen Engler: Idyllen
Ich schreibe, Heft 2, 1974
Rulo Melchert: „Weil sie die Feier im Alltag nicht sehen…“
Junge Welt, 6.7.1973
Manfred Wolter:
Sonntag, 27.8.1972
Harry Riedel: Unsere Welt im Bild spielerischer Lust
Neues Deutschland, 12.7.1972
Gehe ich in die Jerusalem-Bibliothek vor der Haustür meiner Wohnung und gebe den Namen Uwe Greßmann in das Kataloggerät, so erscheint auf dem Bildschirm die triste Auskunft: „Greßmann – keine Eintragung / übergangen Verfasser mit Greßmann, Uwe nicht vorhanden / Leider hatte Ihre Anfrage keinen Erfolg.“
Die Anfrage an mich nach meinem Bild, meiner Erinnerung an Uwe Greßmann hatte auch keinen großen Erfolg: es ist fast dreissig Jahre her, dass ich ihn zum letzten Mal sah. Das Bild ist verblasst und die Erinnerung will nicht sprechen. Meine Mutter, die ihn ja oft und stundenlang in ihrer Küche und in ihrem kleinen Biedermeier-Salon zu Gast hatte, konnte viel präziser und warmherzig-besorgt über ihn erzählen. Man kann es in dem Reclam-Band Lebenskünstler nachlesen. Ich höre in dem Text ihre Stimme und kann versichern, dass er ihre wahrhaftige Meinung wiedergibt.
Woran ich mich erinnere: Da sitzt auf dem grünen Sofa meiner Mutter kerzengerade Uwe Greßmann. Da muss man nicht so gerade drauf sitzen, es lädt ein zum Lümmeln, man kann sich in die Ecke verdrücken, die Beine anziehen oder ausstrecken, sich gehen lassen und ausruhen im wahrsten Sinne des Wortes. Aber nein, der sitzt da wie auf Achse ausgerichtet: in der Mitte des Sofas und gerade am Tisch.
Vor sich auf dem Tisch ein Teegedeck und ein Teller mit belegten Broten, Schnittchen. Zu wenig eher für einen normalen Esser. Aber liebevoll arrangiert, geachtelte Tomaten, Radieschen, ein geschälter Apfel vielleicht und Weintrauben.
Sitzt da und sieht einen an. Was soll man da so sagen? Tach Uwe. Guten Tag. Wartest du auf meinen Vater? – Hm. Stimmt, der wartet gar nicht und unbedingt auf meinen Vater. Sitzt da und lässt es sich gut gehen. Meine Mutter taucht aus der Küche – dem Sozialfall, wie jemand später doppelsinnig diesen zu selten renovierten Raum nannte – auf und überprüft, ob gegessen wurde und ob noch Tee da ist. Setzt sich für einen Augenblick und – man muss gar nicht darauf warten, es ist fast immer so: s i e erklärt mir, wie es Uwe geht, was die Ärzte gesagt haben und dass man darüber fast verzweifeln möchte. Uwe Greßmann hört zu, trinkt Tee; die Augen weit aufgerissen und der große Adamsapfel geht auf und nieder, die Halshaut beträchtlich beutelnd.
Also, da sitzen drei am Tisch: der 35-jährige Dichter, die 50jährige Mutter und der 27-jährige Sohn. Sieht alles nett aus, stimmt aber nicht. Erst viel später habe ich verstanden, dass ich da fehl am Platze war mit meinen unangemeldeten Besuchen, dass ich Störung war bei etwas, was man sicherlich nicht Gespräch oder Dialog nennen konnte, denn da sprach ein Mann lange Kompliziert-Unverständliches zu einer Frau, die eine Eigenschaft hatte, an der es mir sehr mangelte: Engelsgeduld.
An einem nasskalten Wintertag des Jahres 1969 verabschiedeten sich etwa ein halbes Dutzend Menschen auf dem städtischen pankower Friedhof II in der Gaillardstraße von den kremierten Überresten des Dichters: sprachlos. Die Grabstelle befindet sich in der Abt. B 2 und hat wahrscheinlich die Nummer 203. Eine Plakette fehlt und man kann die Nummer des Grabes nur durch Abzählen bestimmen. Der etwa 40 x 70 Zentimeter große Grabstein wird durch eine zwei Meter hohe, blau-grüne Konifere (sagt man immer, wenn man nicht genau weiß, um was für einen Nadelbaum es sich handelt) fast vollständig verdeckt. Die geschliffene Granitplatte, die aufrecht steht, trägt die Namen und Lebensdaten von zwei Menschen: Man liest: Uwe Greßmann (1933–1969) und Bruno Hopp (1905–1975). Nimmt man mal an, die Mutter Greßmanns hätte ihren verstorbenen Mann Bruno Hopp sechs Jahre nach dem Tod ihres Sohnes deshalb hier bestattet, um die Liege- oder Ruhezeit des Greßmannschen Grabes um sechs Jahre zu verlängern, so ist die übliche zwanzigjährige Ruhe auch längst vorbei.
Jan Laessig, verfasst am 9. Juli 1998, aktualisiert im Februar 2013 aus dem Katalog Vogel Frühling. Hommage an Uwe Greßmann, Galerie Pankow, 2013
ist mir bei meinen eigenen Stadtwanderungen, durch das geteilte Berlin, irgendwann aufgefallen. Seine große hagere Gestalt, fast immer in einem langen Mantel, war nicht zu übersehen. Persönlich habe ich ihn nicht kennen gelernt. Benutzte man die U-Bahn oder Straßenbahn zwischen Pnakow und Friedrichstraße, was ich oft tat, musste man unweigerlich seinen Weg kreuzen. Seine Erwerbstätigkeit als Bote zwang ihn täglich, diese und andere Wege abzuschreiten. Hier sah ich ihn, seine Erscheinung fiel ins Auge und aus der Zeit. Ein Flaneur war nicht, eher schien er immer in Eile. Er hatte Botschaften zu überbringen, von Amts wegen, keine Verse. Auf Dienstfahrt, die Orte wechselnd, zwischen den Stationen und dem „Auf“ und „Ab“, fand er vielleicht die fehlende Zeile zu einem seiner Gedichte.
Heute scheint es mir, als schritte er durch die Stadt wie „Lenz durchs Gebirg“, und es war ihm wohl „unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehen konnte.“ Seine Gedichte, die ich erst später kennen lernte, sind mir nahe und berühren mich. Ich empfinde sie wie einen Widerklang vergangener Stadtansichten.
Wolfgang Leber, Februar 2013, aus dem Katalog Vogel Frühling. Hommage an Uwe Greßmann, Galerie Pankow, 2013
an eine schmale Gestalt mit einem langen Mantel, eine etwas gespenstische Erscheinung mit einem nach innen gerichteten Blick. Die Flucht nach innen war damals nichts Ungewöhnliches.
Später erfuhr ich, dass es ein Dichter war, der von anderen Dichtern sehr geschätzt wurde, da sich in dieser konsequenten Antibürgerlichkeit im künstlerischen Sinne oft etwas Eigentliches verbirgt. Denke ich heute über Uwe Greßmann nach, erscheint er mir wie ein Symbol einer bleiernen Zeit.
Lothar Böhme, Februar 2013, aus dem Katalog Vogel Frühling. Hommage an Uwe Greßmann, Galerie Pankow, 2013
Herrmann
Intensive Momente, Geschichte dahinter, erkenne Dich selbst
Reliquie Mensch, Weggang von mir selbst
Mit Axel Brumma aus Pankow über den Friedhof in der Gaillardstraße gesprochen und den Bauschutt darauf, von dem Baugemeinschaftsprojekt des Grundstücks daneben,
daß der Grabstein-Gedenkstein von Uwe Greßmann weg ist und nur noch ein Loch zu sehen ist und wie er hofft, dass der Stein zum Greßmann-Jubiläum renoviert wird und
über die, die Uwe Greßmann gekannt haben – es waren sehr viele, auch viele Schriftsteller, ihre eindrucksvollen Beschreibungen seines Zimmers, seiner Gestalt und seines Leidens dem er seine Dichtung abgekämpft hat
Mich so zu erwischen, dass mir die Tränen kommen, im Restaurant am Ecktisch – zum Glück… Muß es immer wieder dieses Extrem sein, welches Respekt und Beachtung verdient?
Es sind einige konventionell gezeichnete Selbstbildnisse abgebildet und plötzlich, einzeln, ist da ein abstraktes Blatt, in dem ich das markante Profil des Dichters erkenne…
Beschriftet ist es mit; Bildsüden: Besuch – Bildnorden: Tante Anna – Bildosten: Der Neffe – Bildwesten: Keine Feier ohne Meier
Daneben dieses Statement zur modernen Malerei: … das Bild als Welt…
Greßmann hier: naiv, unwissend, überheblich und unglaublich,
Dann der letzte Satz: Sein Malername: Herrmann
Großartiger Zufall!
Habe alle meine Zeichnungen und farbigen Blätter zu Uwe Greßmann, in seinem Zimmer, in der Berliner Straße, mit den beiden alten Damen, die ihm Grießbrei kochen, und in dem die unglaublichsten und naivsten und schönsten Gedichte in ganz Pankow und darüber hinaus entstanden sind, mit „HM“ unterschrieben und hoffe das ist ok – Herr Greßmann?
Aber wussten Sie schon, dass Bäume eine Ausstellung ins Leben rufen und nicht der Kulturbund?
Sabine Herrmann, Februar 2013 aus dem Katalog Vogel Frühling. Hommage an Uwe Greßmann, Galerie Pankow, 2013
Franz Liebig über den Dichter Uwe Gressmann (1933–1969), dessen lyrisches Werk und Existenz in der Berliner Nachkriegszeit.
Und so empfingen [uns] Schildas Witze
Die Autoren Andreas Koziol und Richard Pietraß im Gespräch über Uwe Greßmann
(Kurzer Ausschnitt der Veranstaltung vom 18.4.2013 in der Galerie Pankow)
Moderation: Martin Jankowski (Berliner Literarische Aktion)
UWE GRESSMANN
Abgesang
Leider tritt mich mein Gemütwolf
mit rohen Füssen wenn mir
Leid geschieht Jäger lass ich grüßen
Peter Wawerzinek
SCHATTEN DES KARL VALENTIN*
Mit seiner fast schon unglaublichen feinheit
des vorwärtsgehens auf rückwärts gewachsenen füssen
hat er ein glückhaftes ungeschick aus seiner zeit destilliert
und im zuschauerraum eine höllische angst erzeugt
– ähnlich den trollen des volkes der Dogon
* Es handelt sich in Wahrheit um eine schaukelnde Verneigung vor dem Berliner Dichter Uwe Greßmann und dem Schweizer Psychoanalytiker und Ethnologen Paul Parin.
Ulrich Zieger
Hans-Dieter Schütt: Straßenbahns Geige
nd, 30.4.2013
Peter Will: Der Bote des Frühlings – Uwe Greßmann
Das Blättchen, 13.5.2013
„Vogel Frühling“ – Uwe Greßmann zum 80. Geburtstag
Galerie Pankow, 10.4.2013–2.6.2013
Michael Mäde-Murray: Die Welt umdeuten
junge Welt, 30.4.2023
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