Uwe Grüning: Zu Gedichten von Afanassi Fet und Thomas Hardy

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Gedichten von Afanassi Fet und Thomas Hardy. –

 

 

 

 

AFANASSI FET

Am Kamin 

Die Glut erlischt. Schon halb im Dunkel
Sieht man ein dünnes Flämmchen lohn.
So schlägt mit den lasurnen Flügeln
Ein Falter auf dem Purpurmohn.

Verwirrend bunte Wesen treiben,
Den müden Blick sie lockend narrn;
Gesichter, die ein Rätsel bleiben,
Fremd aus der grauen Asche starrn.

Vergangnes Glück, vergangne Trauer
Vereint und zärtlich wiederkehrt,
Die Seele lügt, daß ihr nichts gölte,
Was sie am schmerzlichsten entbehrt.

 

 

Die Nebel der Erinnerung geben
Ein Bild nur meinen Blicken frei:
Du – einsam, eingehüllt von Schweigen
Am lodernden Kamin… Verzeih!

Ich schaute in die Flammen nieder,
Vergaß mich durch des Zaubers Zwang,
Und etwas Bittres hallte wider
Aus meines Glückes Überschwang.

Muß Zweifel denn am Ziel sich türmen?
Wohin entführte Wahnwitz mich?
Und welcher Wildnis, welchen Stürmen
Aus Eis gab deine Wärme ich?

Wo bist du ? Wag ich, nichts mehr sehend,
Vor mir und vor Erschütterung stumm,
Erstarrt und weiß im Schneesturm stehend,
Dein Herz zu fragen wiederum?… 

 

 

THOMAS HARDY

Sich selbst nicht sehend

Die alte Diele ist hier,
Gehöhlt und abgetreten wie Stein,
Und auch die frühere Tür,
Tote Füße traten herein.

In die Flamme lächelte sie,
Den Sessel ans Feuer gezogen;
Er stand dort und spielte, wie
Strich so wild er den Bogen.

Im Traum sprang ich kindlich im Tanz;
Und der Tag lag im Zauberlicht;
Alle Dinge strahlten im Glanz;
Doch wir, wir sahen es nicht.

 

 

Holz auf dem Herd
Erinnerung an eine Schwester

Das Feuer kriecht langsam den Baumstamm entlang,
Den wir fällten; er trug
Streifige Äpfel in Fülle und blühte so lang,
Bis das Totenglöckchen der Fruchtbarkeit
schlug.

Die Gabel, auf der zuerst meine Hand
Halt fand und dann mein Fuß,
Als ich emporstieg von Ast zu Ast,
Liegt zersägt und schwärzt sich im Ruß.

Wo die Borke sich krümmt, dort hat ihn ein
Jahr Verschnitten; wie blutete er! –
Doch die Wunde vernarbte. Jetzt aber wächst
Kein Ast und kein Zweiglein mehr.

Meine Klettergefährtin erhebt sich sacht
Aus dem Grab; wie sie damals stand,
Steht sie mit mir auf dem Hauptast und lacht
Und winkt mit der jungen Hand.

Dezember 1915 

(Alle 4 Gedichte übersetzt von Uwe Grüning)

 

Das Feuer als Stätte schöpferischer Erinnerung

– Zu Gedichten von Afanassi Fet und Thomas Hardy. –

Es gab keine Kamine in Deutschland. Schon Michel de Montaigne klagte im 16. Jahrhundert über die dortigen Kachelöfen. Wollte man in Deutschland vor offenem Feuer träumen, so mußte man es im Freien oder an französischen Kaminen tun. Selbst ein so berühmtes Gedicht wie „Die Füße im Feuer“ bedurfte eines französischen Hintergrundes. Wie sollte das ohne Einfluß auf die Poesie bleiben? Von den vier Grund- und Urelementen der Alten, von Erde, Wasser, Feuer und Luft, ist das Feuer das lebendigste, es ist unheil- und segenbringend: und vor dem Kamin werden alle fünf Sinne gefesselt – auch das Ohr, wenn das Holz knistert und die Flamme flattert und singt, selbst der Geschmackssinn, wenn der Rauch, von einem plötzlichen Windstoß getrieben, ins Zimmer schlägt und ein beißender Bittergeschmack auf der Zunge zurückbleibt.
Feuer besitzt magnetische Kraft; es ist ein Ort der feineren Geister; die Kabbala kennt die Engel des Feuers; und da die Flamme auch Licht bringt, war der Herr des Höllenfeuers einst der strahlendste Engel.
Das Feuer ist heilig. Daß es Prometheus dem Menschen schenkt, wird von den Göttern als eine Freveltat gedeutet. Doch überall, wo den Himmlischen geopfert wird, muß das reine und unerbittliche Feuer, gewissermaßen in Stellvertretung der Götter, die menschlichen Gaben entgegennehmen. 

Ich brachte reines Feuer vom Altar
was ich entzündet, ist nicht reine Flamme

dichtet der junge Goethe.
Feuer lockt, wenn es dunkelt, die Schatten herbei und läßt sie flackern und tanzen. Mit den Schatten kommen allerlei Gespenster und Gestalten. Furcht stellt sich ein und wird zu lustvollem Schauer oder zum Schreckensgefühl. Zu Recht meint Ernst Bloch, wirksamer als vom Licht der Aufklärung seien die Gespenster durch die Einführung der Straßenbeleuchtung vertrieben worden.
Im düsteren, vom Feuer flüchtig erleuchteten Raum mischen sich unter die Gespenster und Schattengestalten auch Tote. Es muß Nacht sein, wenn sie hervortreten sollen. Um Odysseus Rede und Antwort zu stehen, müssen sie Blut trinken: Blut, den Inbegriff des leiblichen Lebens: es schenkt den Verstorbenen ihre Stimme zurück. Auch die Flamme gewährt dem Toten für flüchtige Stunden Leben. Sie weckt die Erinnerung.
Das Feuer schafft eine Grenze zwischen Helle und Finster. Wer sich erinnern will, muß ins Dunkel schauen und es durchdringen. Erinnern ist Grenzüberschreitung, ist Totenbeschwörung.
Glückswillige meiden die Erinnerung, Glückliche erinnern sich nicht.
Wer glücklich war, der wiederholt sein Glück im Schmerz, heißt es in Goethes „Pandora“. Der russische Dichter Afanassi Fet (1820–1892) war nicht glücklich; und ein anderer Sich-Erinnernder war einer der großen Pessimisten der Weltliteratur: Thomas Hardy (1840–1928), nur zwanzig Jahre jünger als Fet, doch von ihm durch öst- und westliches Gelände geschieden. Es ist aufschlußreich, zwei Kamingedichte des bedeutenden Engländers neben zwei Gedichte von Fet zu stellen, das heißt eines Dichters, der Russe mit Leib und Seele war und in dessen Adern wohl nicht ein Tropfen russischen Blutes floß. Im Vergleich erweist sich, wie der Archetypus Feuer teils zur individuellen Erinnerung führt, teils wiederum zu einem archetypischen, fast individualitätslosen Gattungsbild wird: eine schöne, dem Betrachter einst nahe Frau erscheint, eine jung Verstorbene, in die das Leben noch nicht mit unverwechselbarer Schicksalsschrift geschrieben hat und die deshalb noch alle Lebensmöglichkeiten in sich vereint. (Darin beruht das Idealbild Jugend, daß das Leben noch scheinbar keine der Möglichkeiten zurückgenommen hat, die Menschen verkörpern können. Möglicherweise sterben diese Möglichkeiten ab, weil wir sie nicht sehen, weil wir wie Parzifal oder wie K. in Kafkas Schloß im entscheidenden, nicht wiederkehrenden Augenblick die Schlüsselfrage vergessen, oder weil wir für Stunden, manchmal für Jahre blind gegen uns selbst und unser künftiges Leben sind, wie es der Titel des Hardy-Gedichts nahelegt.)
Thomas Hardy ist wie sein Widerpart Henry James, in dessen Nähe er wohnte, ein Fanatiker der Unlebbarkeit eines sinnerfüllten Lebens: Blindheit, Charakter und Schicksal führen uns unweigerlich an den Erscheinungsformen von Glück und Erfüllung vorbei, ohne daß wir diese ergreifen. Englische Herrensitze und englische Landhäuser haben eine lange Geschichte, das zeichnet sie vor den russischen aus, die das vergängliche Holz zum bevorzugten Baumaterial wählten: Und die Arglist der Dinge, zu verfallen, ist nicht nur auf Oblomowo, dem Stammgut der Nachlässigen und Träumer, allgegenwärtig.
Anders bei Hardy. Abnutzung und Altern sind unentfremdet; sie sind Geschichtszeugen und dem Werdegang der Menschen und ihrer Dinge wesenhaft verbunden. Sie beschwören nicht die lebendige Vergangenheit, sie sind diese Vergangenheit. Da reden die vertraute Tür und die alte abgetretene Diele, welche die Füße, die seit langem sehr leicht und anderen unkenntlich geworden sind, noch kennt. Interessanterweise bleibt Hardy nicht beim eindrucksvollen Bild des Kaminfeuers. Er läßt es eher marginal werden, und zwar in der zweiten Strophe, und verzichtet nicht auf den Tag und sein Zauberlicht.
Kein konkretes Detail wird beschrieben: Diele, Tür, tote Füße, sie, Feuer, Sessel, Geige, Traum, Tag – wie allgemein begrifflich ist das. Es lohnt, in diesem Zusammenhang einen Blick auf das zweite Hardy-Gedicht zu werfen. Hier bleibt eine archetypische Situation erhalten, aber das einzelne Bild ist wesentlich konkreter: kein beliebiges Feuer mehr, sondern ein Herdfeuer. Kein anonymes Holz, sondern das eines Apfelbaums mit Früchten, die zu ihrem Vorteil nicht der EG-Norm entsprochen haben; eine bestimmte Astgabel, eine Verletzung in der Rinde werden erkannt und einem erinnerten Jahr zugeordnet.
Kommen wir zu Fet. Er wählt seinen Titel sehr direkt, nicht deutungsoffen wie Hardy: „Am Kamin“ daran ist nichts zu deuteln. Fet betrachtet das Feuer nicht, wenn die Flammen emporlodern: Sein Feuer verglimmt. Auch ist es nicht Holz, sondern Kohle, was da verglutet – im Deutschen ein eher prosaisches Material, der sich die gehobene Stimmungslage der Fetschen Gedichte nicht fügen will.
Hardy erlaubt sich keine Abschweifung. Die Flammen sind bei ihm in beiden Gedichten Katalysatoren: ohne sie träte die Erinnerung nicht so bildhaft und trauerschön hervor. Fet schreibt anders. Er schaut wirklich und ist von der kleinen, dünnen, bläulichen hin- und herlaufenden Flamme fasziniert: Das Bild, das ihm dabei in den Sinn kommt, ist sommerlich: ein blauer Falter über dem Klatschmohn, der hierzulande im Juni blüht.
Beim Wort Kamin denken wir allerdings unwillkürlich an die strenge Jahreszeit. War Fet von seinem Bild so überzeugt, daß ihm der Gegensatz der Jahreszeiten gleichgültig wurde, obwohl doch jede eine andere Stimmungslage und damit eine andere Gefühlserwartung hervorruft? Oder gehört dieser Gegensatz zum Kompositionsprinzip, in dem auch die Erinnerung als widersetzlich erscheint?
Bei Hardy stehen Stimmungslage und Sinnrichtung von vornherein fest. Von dort aus komponiert er seine Gedichte. Auch Fet ist eine bloße Spontaneität, die Gelegenheitsgedichte im besten Sinne entstehen läßt, fremd. Doch der Komponist behält in ihm nicht in allen Phasen die Oberhand. Wenn ihm ein Bild sehr stark und lebendig scheint, nimmt er es auf und variiert danach die Komposition. Vom Schmetterling über der Mohnblüte bis zu den verwirrend bunten Wesen des fünften Verses ist es nur ein kleiner Schritt.
Hardys Geister sind strenger, wir wissen nicht einmal, ob sie bunt sind: das Schattenreich liebt keine Farbe; und viele Menschen träumen nicht farbig. Das Halbdüster hinter dem glühenden Feuer legt eher eine Schwarz-Weiß-Zeichnung nahe, doch mag es sein, daß gerade das faszinierende In-die-Glut-Starren die bunten Wesen hervorbringt. Fets Erinnerungsinstinkt weiß noch nicht, wohin er ihn führen will – denn er wählt einen Umweg: die lockenden Wesen sind ihm anscheinend ebensowenig vertraut wie die Gesichter, die aus der Asche schauen. Vielleicht will er sie auch nicht kennen und erkennen. Denn im Gegensatz zu Hardy, der sein verlorenes Glück im Schmerz der Erinnerung wiederholt und kein anderes Ziel hat als diese höchst beglückende Wiederholung, wehrt sich Fet gegen die Wiedererweckung des Vergangenen: Die Seele gibt vor, daß sie nicht bedauere, daß er für immer verloren ist: Sie lügt.
Das gesamte Gedicht gewinnt, wie auch bei Hardy, Sinn und Gewicht erst aus der letzten Strophe. Hier schließt sich der Kreis: Aber anders als in der Naturwissenschaft, wo das Letztgewonnene das Allein-Gültige ist und alles davor Liegende belanglos macht, ist der durch die letzte Strophe gewonnene Sinn des Gedichts nur gültig, wenn die vorangegangene Strophen in Melodie, Bild in Sinnrichtung erhalten bleiben.
Ich neige nicht dazu, literarische Gebilde schlüssig aus dem Leben eines Autors deuten zu wollen. Schopenhauer vergleicht diese Methode mit einem Kunstkenner, der sich statt mit dem Gemälde mit dem dazugehörigen Bilderrahmen befaßt. Auch glaube ich nicht, daß literarische Texte eine Bedeutung besitzen, vielmehr wird ihnen nur ein Deutungsfeld, das heißt eine Gruppe von Deutungsmöglichkeiten gerecht. Doch um das Deutungsfeld des Gedichtes zu finden, scheint mir ein Blick auf das Leben legitim. Maria Lasitsch, die Liebe seiner frühen Jahre, die ihn mit hoffnungsloser Gegenliebe verehrt, kommt bei einem, vermutlich selbst gelegten Zimmerbrand ums Leben. Sie ist jung, begabt, schön – die einstige Liebe zu ihr wird durch keine Erfüllung getrübt oder vollendet. Sie besitzt die gleichen Vorzüge wie das Fragment der Romantiker: sie bleibt unwiderlegt durch das Leben. Deshalb kann sie sich in der Erinnerung in ein Ideal verwandeln. Doch sie symbolisiert auch das nie endende Wechselspiel zwischen Schicksal und Schuld. Sie wird zu einem Leitthema der Fetschen Gedichte. Unwillkürlich denken wir bei der Wendung „Vergangnes Glück, vergangne Trauer“ an sie.
Der Abschied, den der Tod erzwingt, zeichnet sich vor allen anderen Abschieden aus: er ist unwiderruflich; und er vertieft das letztgesehene Bild. Es bedarf Jahre der Erinnerungsarbeit, es zu verwandeln. Schuldig oder schuldlos schuldig – wer will es entscheiden? Zurück bleibt das, was wir heute eine Obsession nennen würden: ein Gefesseltsein an einen entscheidenden Punkt unseres Daseins, an dem gewissermaßen das Leben eine zuvor offenstehende Tür für immer ins Schloß warf. Wir brauchen keine Hand mehr an die Klinke zu legen: wir könnten sie ohnehin nicht öffnen; und gelänge es dem Starrsinn wider alle Vernunft dennoch, so wäre es vergebens. Die Pforte erwiese sich als eine Blendtür, hinter der nichts als Mauerwerk liegt. Es wäre falsch zu sagen, daß der Tod von Maria Lasitsch den Dichter Fet erst geschaffen habe. Denn sie hätte den Menschen Fet ohne den Dichter Fet, den sie verehrte und den sie eins mit dem Menschen glaubte, nicht in gleicher Weise geliebt. Aber ihr Tod gehört zu den Prägepunkten, die ein Leben bestimmen. Es gibt derer selbst in den reichsten Existenzen nur wenige; und viele Menschen besitzen nur einen: ihre Geburt. Fet hat Maria Lasitsch zur dunklen Muse seiner Dichtung erhoben – und stilisiert. Wo ihre Gestalt beschworen wird, ist sie keineswegs an das Feuer gebunden. Doch Fet verdrängt das Bild seiner dunklen Muse auch nicht aus dem Flammenmotiv. Wir wissen nicht einmal, ob die Erinnerung an Maria die Schwermut, zu der Fet neigte, gefördert hat, denn seine Schwermut war zumeist mit dem Gefühl der Langeweile, der Nichtigkeit, des prinzipiellen Unwerts aller Dinge verbunden und wenig mit der Verzweiflung des Depressiven über sich selbst und die Welt.
Wir wollen ein weiteres Kamin-Gedicht betrachten. Vier Jahre vor Fets Tod ist es entstanden; es trägt keinen Titel. So werden wir nicht, bevor wir das Gedicht gelesen haben, in eine bestimmte Deutungsrichtung gelenkt. Im Russischen beginnt es mit dem Imperativ: prosti! Welch ungewöhnlicher Anfang! Dieses Wort kann beides heißen: leb wohl! oder vergib!
Jeder Abschied erscheint als Schuld, ebenso wie das Zuvor-Gelebte der Vergebung bedarf. Ruft hier eine einsame Kaminstunde die Assoziation und damit die Erinnerung an die Freundin herbei? Es wird nicht ausdrücklich gesagt. Aber die Möglichkeit dazu deutet Fet an, denn der Abend, an dem das Gedicht spielt, ist gemeinhin die Stunde der Kamine. Auch ist das Präteritum der zweiten Strophe nicht eindeutig: schaut das Ich des Gedichts, während es sich erinnert, in das Feuer, oder tritt dieses Ich in einem früheren Lebensstadium selbst in das Erinnerungsbild ein? Lassen wir es bei dieser leisen Doppeldeutigkeit. Im Gegensatz zu Hardy verschmilzt das erinnerte Bild nicht gänzlich mit der ihm zugehörigen Stimmung. Das Ich reflektiert darüber und über den eigenen Weg. Hinter allen vier Gedichten steht mehr oder minder deutlich die bekannte Quintessenz:

Ich besaß es doch einmal,
Was so köstlich ist,
Daß man doch zu seiner Qual
Nimmer es vergißt.

Nur müßte der erste Vers variiert werden: „Ich hätte besitzen können“ oder „Vielleicht hätte ich besitzen können“ oder „Hätte ich besitzen können?“ Das heißt, dem Goetheschen Schmerz um das Verlorene gesellt sich das Baudelairsche Leid: daß etwas uns Liebes, ja Einzigartiges vorübergeht, ohne daß wir es ergriffen hätten.
Diese doppelt gebrochene Erinnerung, dies Zeugnis des Verwehrt- und Versagtseins ist ein Zeichen der Moderne, auch wenn es mittlerweile unzeitgemäß ist. Die „Wonne der Wehmut“ suchen die heutigen Zeitempfinder, bei denen alles direkt, prompt und mit der gehörigen Potenz geschehen muß, nicht. Orgiastisch in ihrer Lebensforderung, reagieren sie frigid gegenüber der „Wonne der Wehmut“ und ernten die Unwonne der Depression. All das charakterisiert die Nachmoderne. Die Moderne in ihrer Zerrissenheit will um jeden Preis besitzen. Aber sie weiß auch, daß es unmöglich ist; und so wird ihr die Unmöglichkeit, zu besitzen, zum wichtigen Thema. Nicht nur in dieser Hinsicht sind Hardy und Fet wichtige Vorläufer der Moderne.
Alle vier Gedichte sind einem spätromantischen Empfinden entsprungen. Die Romantik brachte die Gespenster nicht hervor; sie spukten seit Jahrhunderten durch den Volksglauben; aber sie schenkte ihnen, die zuvor recht hand- und bildfeste Holde und Unholde waren, eine vieldeutige Unbestimmtheit und Verfeinerung. Ob es gute oder böse Geister sind oder beides, wird unentscheidbar. Auch werden die Grenzen zwischen Toten und Lebenden um so undeutlicher, je mehr wir uns der Moderne nähern. Eine Gestalt Henry James’ begegnet dem Gespenst ihrer selbst, das heißt derjenigen, die sie nach der Schicksalsformung ihrer Jugend hätte werden sollen, jedoch nicht geworden war.
Das Feuer wie das von ihm hervorgerufene Halbdunkel sind die idealen Stätten schöpferischer Erinnerung. Es weckt Bewußtes wie Unbewußtes und erschafft, mit dem Augenblick im Bunde, ein authentisches obgleich nie gelebtes Leben. Nirgendwo anders gehen das, was wir nicht wurden, und das, was wir zu sein glauben, eine so enge, wenn auch unbeständige Bindung ein wie am verglimmenden Feuer. Daß wir uns selbst dabei nicht erkennen, ist der Vieldeutigkeit seines Wesens geschuldet. Es spricht, ehe es erlischt, ein Lebwohl und ein Verzeih.
Es gab in Deutschland keine Kamine. Solange der Raum von Kienspan, Kerze oder Öllämpchen mehr gedüstert als erhellt wurde, tat das der Poesie wenig Abbruch. Unerfahren aber blieb die Körperlichkeit des Feuers und damit die visionäre Dringlichkeit der Erinnerung. Als der junge Goethe nach Leipzig fuhr, kam er an einem Pandämonium irrlichtender Wesen vorüber. Er weicht ihnen zeitlebens aus: er will die Klarheit. Seine Nachfolger, die eher die Unklarheit wollten, saßen nur auf Reisen an Kaminen. Diese gehörten nicht zur Kindheitswelt und riefen somit keine Jugendbilder zurück.
Heute gibt es in Deutschland bei den neuen Reichen Kamine. Doch sie haben längst aufgehört, Stätten schöpferischer Erinnerung zu sein. 

Uwe Grüning, Ostragehege, Heft 1, 1994

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