Uwe Grüning: Zu Paul Flemings Gedicht „An den Abend=Stern. Daß er Ihn balde zu Ihr bringen wolle.“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Paul Flemings Gedicht „An den Abend=Stern. Daß er Ihn balde zu Ihr bringen wolle.“ aus dem Band Ich bin ein schwaches Both ans große Schiff gehangen. –

 

 

 

 

PAUL FLEMING

An den Abend=Stern.
Daß er Ihn balde zu Ihr bringen wolle.

Geh auff doch / geh doch auff / du hellester der Sterne!
Der Klytemnestern Sohn / der müde sieht nach dir /
Komm / Ruh=freund / löß ihn ab. Diana scheint dir für /
daß ihr Volck seinen Gang von deinem lauffen lerne.
Tritt / Hesperus / tritt auff / und stelle dich ins ferne.
Die mir um deine Zeit geruffen hat zu ihr /
steht vor dem Fenster schon / und wünschet sehr nach mir.
Komm / führe mich zu ihr / bey der ich bin so gerne.
Der sinkend Abend fleugt. Die dunckle Nacht fährt aus.
Der finstre Schatten schleicht ümm Thetis blindes Hauß.
Die müde Welt schläfft ein. Die muntern Lüffte wachen.
Wo bleibst du? Ja / du kömmst. So leite mich denn hin.
Ich werde nicht eh froh / als biß ich bey ihr bin /
die auch die Traurigkeit selb=selbst kann frölich machen.

 

Eine seltsame Aurora

Warum die Sonne Klytämnestras Sohn sei, weiß ich nicht; und auch Karl Kerenyi konnte es mir nicht sagen, obwohl er so lange forschte, bis ihm der Kulttempel der griechischen Mythologie in bizarre Trümmer zerfiel, deren jedes aus einer anderen Bauepoche und aus den unterschiedlichsten Kultstätten stammte.
Dem Barockdichter ist der antike Götterhimmel noch unzerrissen. Er beschwört ihn nicht als ein durch den Mythos zugleich erhelltes und umschleiertes Symbol für Natur, Zeit oder menschliches Leben. Er ruft ihn an, um dem, was er denkt, sieht, empfindet, eine dichterische Form zu geben, zuweilen auch, um seine Verse mit dem Wohllaut von Götternamen zu schmücken. Wie wohlklingend regiert Diana den Alexandriner nach der Zäsur und bleibt – im Gegensatz zur lieblichen und häufiger genannten Luna – geheimnisvoll und bedeutend.
Denn jeden Gott umschließt wie die Mandorla den Heiligen die Geschichte seiner Taten und Leiden vor dem Hintergrund der gesamten antiken Welt, die der barocke Gebildete als eine Einheit von Leben, Vorstellung, Kultur deutete. Zudem gehören Götter seit jeher dem höchsten Stand an: Wer in ihren Kreisen verkehrt, wer es wert ist, von ihnen empfangen zu werden, gewinnt Ansehen und Würde. Dafür ist die barocke Standesgesellschaft durchaus empfänglich. Auch das Gedicht empfängt, wenn ihm die Götter gewogen sind, durch ihre Gunst einen Reichtum, den es durch den bloßen Vers nicht gewönne. Denn große Dichtung kann nur auf dem Nähr- und Deutungsgrund einer großen Kultur entstehen.
Die antike Mythologie zu kennen und sich mit ihr zu schmücken ist dem Barockdichter so selbstverständlich, daß ihm die Götterworte wie von selbst aus der Feder fließen. Geläufigkeit und Manier rauben ihnen nur allzuoft jeden Sinn und lassen sie zu Füllwort und Wortgeklingel werden: So unecht wie die Schäferdichtung des Rokoko.
Da Zeus sich vielfach verwandelt, vor allem, wenn es darum geht, Frauen zu verführen oder zu verfolgen, da Verwandlung also ein Grundelement der griechischen Mythologie wird, ist es wohl gestattet, mit ihr zu spielen und die Sonne zu Klytämnestras Sohn zu machen, obwohl sie dabei an Strahlkraft verliert. Da sie in Paul Flemings Gedicht, vom Taglauf müde, zu sinken beginnt, mag es ihr zukommen.
Feierlich göttlich beginnt das Gedicht und leitet zu einer Lebensbeziehung, so schlicht und uneigentümlich, daß sie zum Topos geworden ist: Ein Liebender, den sein Schicksal in die Ferne geführt hat, sieht den Dämmerhimmel und weiß, daß seine Freundin zur selben Stunde auf den Abendstern schaut, daß dieser gleiche Blick sie einander gegenwärtig macht und die Stärke des Gefühls leibliche Anwesenheit imaginiert.
All das ist sehr kunstvoll: Das streng gereimte Sonett, der gravitätische Alexandriner, die hohe Götterwelt, der Topos der fernen Liebenden, die ein göttlicher Bote einander zuführt. Ja, es ist so kunstvoll, daß es Gefahr läuft, nicht mehr ursprünglich und eigenmündig zu sein.
Vor diesem Verhängnis bewahrten es weder der bewundernswerte antithetische Parallelismus:

Die müde Welt schläft ein, die muntren Lüfte wachen

noch die kraftvolle metaphorische Wendung

aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaDie Nacht fährt aus.
Der finstre Schatten schleicht um Thetis’ blindes Haus,

durchwaltete es nicht ein wahrhaftes, keineswegs aus der Zeitgepflogenheit erborgtes Gefühl, erwachte nicht die Gewißheit, daß der aus der Ferne Rufende ein wirklicher Mensch und die Geliebte keine blasse lyrische Vorstellung sei.
Fast scheint es, als müsse die Göttin der Romantiker, die Sehnsucht, ihr Füllhorn ausschütten. Denn ein beispielhaftes Bild der Sehnsucht ersteht vor unserem Auge:

Es schienen so golden die Sterne,
Am Fenster ich einsam stand.

Aber es wäre keine ,immer ins Ungebundene‘ gehende Sehnsucht, nicht die ,wahre Sehnsucht‘, die ,gegen ein Unerreichbares gerichtet sein‘ muß, nicht die Sehnsucht ins Unendliche, nicht die ,selige Sehnsucht‘, die aus Liebesnächten ,zu höherer Begattung‘ reißt, sondern zugleich seelische wie leibliche Sehnsucht nach der Geliebten.
Doch wenn wir das Gedicht ein zweites Mal lesen, fühlen wir mit Erstaunen, daß daraus keinerlei Sehnsucht spricht, außer bei ihr, die vor dem Fenster schon lange wartet; besser, daß ein Verlangen den Tag über wach ist, jetzt aber vor den Aufgang des Abendsterns ihrer freudigen Schwester Zuversicht weichen muß und daß diese ihre Verwandtschaft mit dem protestantischen Gottvertrauen nicht leugnen will: Kein Konjunktiv, kein Zweifel, kein Wunschbild, vielmehr Gewißheit, daß jetzt die Stunde sei, zur Geliebten zu reisen. Der leisen Ungeduld in der Frage Wo bleibst du? Folgt die jubelnde Bestätigung Ja, du kömmst.
Ein kraftvolles Drängen spiegelt schon die Anapher der ersten Halbzeile: Geh auf doch, geh doch auf mit ihrer einprägsamen Umkehrung zweier Worte. Aber es ist nicht Hast, nicht die zerfahrene Eile eines Umgetriebenen, sondern das Wunschgebot eines, der die Gunststunde kennt und sie nutzen wird.
Mit dieser ersten glücklichen Zeile ist der Ton des Gedichtes gefunden: Männliche Zuversicht und ein festes Gefühl ohne Selbstüberhebung, ohne Sentimentalität. Der Abendstern soll keine Botschaft bringen, keinen Strahl als Vorboten senden, wie es hernach bei Keller geschieht:

Schon hat die Nacht den Silberschrein
Des Himmels aufgetan;
Nun spült der See den Widerschein
Zu dir, zu dir hinan!

Der Abendstern soll den Dichter ohne Aufschub zur Geliebten führen. Diese wird nicht durch alle Schönheitsattribute wie sonst in der Barockdichtung, auch bei Fleming, gepriesen; es ist Lob genug, daß sie geliebt und ersehnt wird. Nur die zweite Halbzeile du hellester der Sterne, die sich eindeutig auf Hesperus bezieht, wird von Strophe zu Strophe mehr und mehr zum Sinnbild der Geliebten. Nun da des Tages falsche geschäftige Helligkeit den Blick nicht mehr blendet, kann ihr strahlender Stern aufgehen.
Wir könnten befremdet sein, daß einer seiner selbst und seiner Geliebten so sicher ist, daß kein Schatten seinen Tag und seine Seele zu trüben scheint und daß die Freundin schon länger vor dem Fenster wartet, er aber den rechten Augenblick unzweifelhaft kennt, ja ihn herbeigebietet: Wir könnten befremdet sein, hieße es nicht von ihr:

die auch die Traurigkeit selbselbst kann fröhlich machen.

Auch die Niedergeschlagenheit schwindet in ihrer Nähe. Es ist ein Meisterzug des Gedichtes, daß Melancholie und Freude nicht benannt oder gar lehrhaft beschrieben werden, daß sie sich zeigen und in der Negation der Schlußzeile desto heller aufleuchten.
So rechtfertigt sich auch in einem männlich-zarten Liebesgedicht die hohe strenge Form des Sonetts und des Alexandriners: Sie bändigt, was allzu jäh ausbrechen will; sie erhöht Gefühl und Sinn, indem sie beide den zu gierigen Blicken entzieht.

Uwe Grüning, aus Ich bin ein schwaches Both ans große Schiff gehangen. Die Lebensreise des Paul Fleming in seinen schönsten Gedichten. Herausgegeben von Richard Pietraß unter Mitarbeit von Peter Gosse, Projekte-Verlag Cornelius, 2009

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