Volker Braun: Training des aufrechten Gangs

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Volker Braun: Training des aufrechten Gangs

Braun-Training des aufrechten Gangs

ZU BRECHT, DIE WAHRHEIT EINIGT

Mit seiner dünnsten Stimme, um uns nicht
Sehr zu verstören, riet er noch beizeiten
Wir sollten einfach sagen wos uns sticht
So das Organ zu heilen oder schneiden.

Ein kräftiges: das ist es, und es kracht
Wenn nicht – (wie bei den Klassikern, die es halt gab)
Ein Eingeständnis, das uns Beine macht.
Das war sein Vorschlag blickend auf sein Grab.

So was ist noch auf dem Papier zu haben.
Wir haben ihn nicht angenommen, nur
Gewisse Termini und die Frisur.

Jetzt trägt man auch die Haare wieder länger.
Das Fleisch ist dicker, und der Geist enger.
So wurde er Klassiker und ist begraben.

 

 

 

Training des aufrechten Gangs

Volker Brauns vorerst letzter Gedichtband Training des aufrechten Gangs erschien 1979 in der DDR und in der Bundesrepublik. Ein Vergleich mit der früheren Lyrikproduktion – vor allem mit Gegen die symmetrische Welt – zeigt, daß die unter dem beziehungsreichen Titel gesammelten Verse und Prosagedichte sowohl bereits eingeschlagene Wege weitergehen als auch poetisches Neuland betreten. Zu den (seit den späten sechziger Jahren) charakteristischen Merkmalen gehören u.a.: die Suche nach dem ,Eigentlichen‘, die Rezeption der Klassik sowie der sozialistischen Lyrik, das Aufspüren von Geschichte in der Gegenwart, die ,Zerrissenheit‘ des lyrischen Ichs und die sehr persönliche Standortbestimmung des Dichters. Die wichtigsten neuen Aspekte sind eine Beschäftigung mit der sog. ,spätbürgerlichen Moderne‘, das fast völlige Fehlen der industriellen Arbeitswelt bzw. der Arbeiter, ein Zurückschrauben der sonst stark ausgeprägten Zuversicht des ,aktivistischen‘ Lyrikers, eine Auseinandersetzung mit dem westlichen Ausland und Überlegungen zum ,Exil-Phänomen‘, d.h. zur Ausbürgerung bzw. Übersiedlung von manchen DDR-Schreibkollegen Brauns seit 1976. Im Rahmen dieser äußerst anspruchsvollen poetischen Landschaft dient das Gedicht „Statut meiner Dauer“ als eine Art Wegweiser.
Dieses programmatische Gedicht – das in der DDR-Ausgabe am Anfang steht – liefert eine Momentaufnahme des Dichters in der Mitte der siebziger Jahre: es hat damit eine ähnliche Funktion wie die früheren Gedichte „Anspruch“, „Gebrauchsanweisung zu einem Protokoll“, „Um sinnloses Wutvergießen zu vermeiden“, „Freiwillige Aussage“ und „Der Lebenswandel Volker Brauns“. Anders als in „einstimmig beschlossenen“ Parteistatuten meldet sich hier eine Stimme zu Wort, die vor allem das Recht auf Widersprüche für sich in Anspruch nimmt:

… Nicht die Einheit und Reinheit findet ihr bei mir
Sondern die Gemeinsamkeit
Von Wasser und Schmutz…

Nicht vorgegebene Weisheiten, sondern die tastenden Schritte eines ständig Suchenden stünden auf der Tagesordnung:

… Seht ihr, ich kann nicht reden von dem
Was ich schon weiß: nur von dem was ich entdecke
Es handelt sich um einen Verein
Von Abenteuern und gewagten Vergleichen…

An die Stelle der früher artikulierten Angst angesichts der Brisanz solcher Aussagen (in „Der Lebenswandel Volker Brauns“ fragte sich der Dichter noch, „ob er zuviel nicht rede für unsern Kopf und Kragen“) tritt nun eine fast heitere Entschlossenheit, die weder „Protokoll“ noch „Chefs“ dulden kann. Dabei wird die reale Gefahr nicht bagatellisiert: Die Verse „… Ich konstituiere mich / Für eine Verschwörung der Gleichen…“ sind ein Hinweis des stets historisch denkenden Braun, er sei sich dessen durchaus bewußt, daß das Schicksal von François Babeuf und seiner ,conspiration des Egaux‘ im Laufe der Geschichte eher die Regel als die Ausnahme gewesen ist. Die Gedichte in Training des aufrechten Gangs sind Anschauungsmaterial für diejenigen, die erfahren möchten, was für Früchte die im „Statut“ verkündete Radikalität des Denkens – und Fühlens – tragen könnte.
Der Band besteht aus zwei Gedichtzyklen, nämlich „Ist es zu früh. Ist es zu spät“ und „Der Stoff zum Leben“. Dem zweiten Zyklus hat Braun ein Motto vorausgeschickt, was aus zwei Gründen auffällt: zum einen, weil es in den früheren Lyrikbänden keine Mottos gab; zum anderen, weil die zitierten Verse nicht etwa von Hölderlin, Majakowski oder Brecht stammen, sondern von dem aus den USA eingewanderten Engländer Thomas Stearns Eliot, der mit Demokratie bzw. Sozialismus wenig im Sinn hatte. Der konservative Eliot ist allerdings für seine revolutionäre poetische Methode bekannt: er setzte den Bewußtseinsstrom seines Zeitgenossen Joyce in der Lyrik ein. Brauns Entschluß, aus dem Langgedicht The Waste Land zu zitieren, das eine hoffnungslose Welt darstellt („I sat upon the shore / Fishing, with the arid plain behind me / Shall I at least set my lands in order?“), bedeutet allerdings keine Annäherung an das Weltbild Eliots; vielmehr gesellt er sich damit zu seinem marxistischen Vorgänger Brecht, der in der berühmten ,Debatte‘ mit Georg Lukács auf dem Recht des Dichters bestand, die gesamte Weltliteratur nach Brauchbarem zu durchsuchen. In mehreren Gedichten ist es Braun gelungen, Eliots Montage- und Assoziationstechnik, die Vergangenes in die Gegenwart hineinbringt bzw. entdeckt, für die eigene Arbeit fruchtbar zu machen.
In „Material I: Wie herrlich leuchtet mir die Natur“ geht Braun zunächst von der Frage aus, wie der „Stoff zum Leben“ (bzw. Schreiben) aus der sommerlichen Landschaft zu gewinnen wäre. Eine ungetrübte Freude an der Natur stellt sich nicht mehr ein, und Zitate aus früheren Versuchen in dieser Richtung (Shakespeare, Goethe, Paul Gerhardt) machen die Kluft zur einstigen Naivität deutlich:

…Lalala
und
wie herrlich leuchtet mir überhaupt
Und so weiter…

Die Verzweiflung des Suchenden („… Woher nehmen / und nicht stehlen / Was mich leben läßt / Ich weiß nicht wovon ich rede…“) führt in der Hitze zu grotesken Phantasiebildern:

… o Mangel an
Blutlosen kalten Lebewesen mit denen man ficken
Könnte ohne zu lächeln zu denken oder auch nur
Gedankenlos zu reden…

Es steigen auch Kindheitserinnerungen herauf: das unterernährte Kind ißt Zeitungspapier. Später liest der „Jüngling“, während die Mutter den Anblick der Bäume auf der Museumsinsel genießt. Der Sohn, der im Geschriebenen seinen Lebensstoff erblickt, ist, anders als die Mutter, der Natur entfremdet („… Sie lebt die köstlichen letzten Stunden, sie lächelt, er / liest…“). Es folgt dann die Schilderung einer anderen, schlimmeren Art der Entfremdung, nämlich der Menschen voneinander: ein Engländer ertrinkt im Schwimmbad eines „volkseigenen first-class-Hotel(s)“, weil die anderen Gäste seine „help“-Rufe nicht beachten:

… Man kennt sich nicht, man muß die Ausrüstung schonen
Das neuaufgetragene Öl, er ist weiß und dick…

Dieses Verhalten läßt den Dichter an „Haie“ in der Adria denken, und es wird klar, daß naive Naturfreude angesichts der gestörten zwischenmenschlichen Beziehungen undenkbar wäre:

… Was fällt mir ein
Mir zu Gefallen und euch, was haben wir denn
Miteinander?…

Diese Frage bleibt unbeantwortet, wird aber in „Material II: Brennende Fragen“ weiter untersucht. Diesmal ist es das schwierige Verhältnis zwischen Mann und Frau, das im Mittelpunkt steht:

… So vieles geschieht
zu zweit
Ist die Welt am deutlichsten, unausweichlich…

Die voyeuristische Beobachtung eines Liebespaars im Zug von Marseille nach Lyon („… Der Mann und die Frau, seine Hand an ihrem Leib. / … Ihre Körper gleiten auf den Schienen nebeneinander / Und berühren sich auf dem Schotter rasche Masten / Plastikmüll quietschende Bremsen…“) bleibt an der Oberfläche, also kommt man „zur Sache“ daheim in der DDR:

… Bleiben wir auf dem Teppich
In den engen Wänden, der billige Schlager
Aus dem Luftschacht…

Der Streit der Liebenden – durch Verse aus Schillers Kabale und Liebe kommentiert – ist auf mangelnde Kommunikation zurückzuführen, was den Dichter zu sprachkritischen Betrachtungen veranlaßt:

… Die Worte Schwanz, Brust etc.
Überhaupt Worte… haben mehr Wirkung
Als die Dinge
warum? weil sie verdecken
Verallgemeinern, vervielfältigen
weil sie verdecken, was fehlt…

Dieses Fehlende, das ,Eigentliche‘ bleibt unbekannt, und das ironische Zitieren vom Lenin-Titel „Die brennenden Fragen unserer Bewegung“ weist darauf hin, daß heute andere Fragen gestellt werden müßten als vor sechzig Jahren.
Die poetische Aussagekraft des Bewußtseinsstroms wird auch in anderen Gedichten zur Schau gestellt (vgl. „Italienische Nacht“ und „Avignon“), und in „Der Teutoburger Wald“ läßt die sichere Handhabung dieser Technik besonders einprägsame Bilder entstehen. Beim Spaziergang durch den nebligen Wald („… der Wanderweg / Empfiehlt sich in das Nichts…“) stößt der DDR-Bürger Braun auf gesamtdeutsche Geschichte, die alles andere als abstrakt ist:

… In meinem Alter mein Herr Vater fröhlich
Im Eilmarsch von Sachsen bis Niedersachsen
Verschossen in den Krieg…
Freiwillig meldet der sich, englische
In dem Gestrüppe: Tanks anschleichen, das
Am letzten Schlachttag…

Der sinnlose Tod des Vaters wird mit dem Sieg der Germanen über die Römer kontrastiert: Braun geht auf römischen Gräbern und schlüpft in die Ausrüstung des germanischen Kriegers:

… Die andre Schlacht wie gestern. Aus dem Laub
Im Hünenring die Freunde stochre ich
Auf in die Schilifte, Armins Haubolde
(In Rochwitz unser Fleischer: Haubold, ja)
Drei Nächte sind wir, ausnahmsweise, einig…

Die ephemere deutsche Einheit, die nur unter militärischem Vorzeichen aufrechtzuerhalten war, ist allerdings nicht das einzige schwierige Erbe, das Braun beklagt: das traurige Dahinsiechen des Dichters Christian Dietrich Grabbe („… Soff sich tot im Gasthof zur Stadt Frankfurt / Nicht ohne daß er, die erfolgt war, die / Freiheit des Vaterlands für seine Fürsten… besang…“) erinnert an die nicht gerade rühmliche Behandlung der deutschen ,Freiheitssänger‘ durch die Jahrhunderte. Am Ende kommt schließlich ein schwacher Trost: in der Bundesrepublik werden die alten Schlachtmythen nicht mehr zur Kriegshetze verwendet, sondern zu ganz anderen Zwecken ausgeschlachtet:

… In diesem Detmold
Im Pornofilm Thusnelda, sah ich, kaut
An Hermanns Schwert und war nicht seine Braut.

Statt der notwendigen Bewältigung der Vergangenheit erfolgt also deren kommerziell motiviertes Bagatellisieren. Dem DDR-Leser überläßt es der Dichter, die in diesen Versen angestellten Überlegungen auf die eigene sozialistische deutsche Heimat zu beziehen.
Die Reisen ins westliche Ausland, die Volker Braun in den siebzig er Jahren unternahm (nach Frankreich, Italien, Kuba und Peru), erweiterten sein poetisches Blickfeld, und die davon inspirierten Gedichte zeugen von der sinnlichen Entdeckung bisher unbekannter Landschaften. Braun gibt sich der überwältigenden Fülle der Sinneseindrücke hin, und seine Verwendung fremdsprachiger Brocken läßt eine fast kindliche Entdeckerfreude erkennen. In Gedichten wie „Italienische Nacht“ wird das kritische Organ nicht zu Hause gelassen („… das Grabtuch des Herrn / Präpariert für die Blöden…“), doch die Faszination des Neuartigen steht im Vordergrund:

Pappelschnee auf der Piazza
aus den Straßen Getöse…
TORINO, GRANDE TORINO, die Schreie
Der begeisterten Fans…
die Suppen unter den Bäumen
Spargel, Tomaten und Fisch mit den Genossen…

In „Avignon“ erlebt der betrunkene Dichter nach einem Sturz von der alten Brücke wundersame Dinge: unter dem Wasser begegnet er seltsamen Wesen, die ihre Lebensfreude auf keinen Fall sublimieren wollen:

… Uns kann keiner
… Töten, noch zu Unbeliebtem nötigen
… O Mann
Wir leben nicht für morgen sondern heute
… nicht die reine Fahne
Über den Köpfen, unsre Haut
Ist das Banner, mit dem wir marschieren:…

Da es vielleicht doch zu brisant wäre, diese so unpreußische Lebenshaltung als real existierende Alternative hinzustellen, müssen die geschilderten Zustände ins Reich, der Phantasie verbannt werden, ohne daß die Hoffnung auf derartiges gänzlich aufgegeben wird:

… Ach wären wir an eurem Platz, im Offnen
In der Luft: wie würden wir verkehren
Totes in Leben. Ich schlug auf den Strand.

Auch der Gang durch das römische Forum („Das Forum“) ist sowohl Augenweide als auch Anlaß zur Besinnung: der rollenspielende Beobachter (vgl. „Der Teutoburger Wald“) steht als „Cäsar“ auf der Rostra und denkt über Größe und Verfall der von Menschen erbauten Reiche nach:

Das war der Mittelpunkt der Welt. Ein Sumpf
Vorher und ein Kuhfeld nachher…
Krieg/Brand/Arbeit/Tod/Geschwätz:
Dann die Wanderung der Völker blutig
Durch diese Straße
diesen Trampelpfad
Vandalen/Touristen…

Anders als Goethe, der das Forum als „einzigste Gegend der Welt“ bezeichnete, sieht Braun darin ein Sinnbild für die erbitterten Kämpfe, die sich durch die Geschichte ziehen („… Das Alte / Neue in fester Umarmung / Der Lebende voll Toten tötend, ich / Meinen Tod im Leben…“); anders als Becher, der sein Augenmerk auf Künftiges richtete, erblickt Braun Relikte vergangener Zeiten in den heutigen Umwälzungen:

… Ich Römer / Bourgeois / Arbeiterundbauer…
In meinem Fleisch zerfleischt der Sieger strahlend
In welchen Sieg freigleichbrü…

Die Betrachtung verfallender Ruinen führt allerdings nicht zum Fatalismus, sondern zur Zuversicht: schöne Fassaden zerbröckeln zwangsläufig, die wahren Verhältnisse sind auf die Dauer nicht zu verschleiern. Oben auf der alten Inka-Festung ,Machu Picchú“ wird eine „goldne Zeit“ beschrieben, die fatale Ähnlichkeiten mit gegenwärtigen Zuständen aufweist:

… alles war bedacht
Von Staats wegen in ausgesuchten Köpfen.
Keiner litt Hunger Jeder gab sein Bestes
Angesichts der Meinung über ihn
Die man ihn wissen ließ…
Die wissenschaftlichen Zentren ausgelastet
Mit Routinearbeit an den Mörsern…
Sie hockten abends noch
In schönen Steinen, kulturell umrahmt
Von Flöten oder zugelaßnen Witzen
Über die Allesseher im besetzten Freundesland…

Das, was heute unüberwindbar erscheint, wird sich nur halten können, insofern es dem Wohl des Menschen dient:

… nicht Zyklopenmauern
Halten das Leben, das den Tod in sich hat…

Der Kreis schließt sich also: das Auge schweift in die Fremde, um dann bei höchst heimatlichen Belangen anzukommen.
Neben langen experimentellen Gedichten findet man in Training des aufrechten Gangs auch kürzere, die die bisherige Erkundung der Möglichkeiten des politischen Gedichts in der Nachfolge Brechts fortsetzen. Sehr charakteristisch für das Gesamtwerk Brauns sind die vier aufeinanderfolgenden Gedichte, die sich mit der Wahrheitssuche befassen: jenseits von Schwarz-Weiß-Malerei wird dargelegt, wie kompliziert die Wahrheit in der heutigen Welt geworden ist. Im Sonett „Zu Hermlin, Die einen und die anderen“ erfährt man, daß die klaren Fronten, die der Antifaschist Hermlin am Ende der vierziger Jahre zu sehen glaubte („… Für die Meinen kommt die Morgenröte, / Und die andern verzehrt der Brand…“), der gegenwärtigen Realität nicht mehr gerecht werden:

… Wir werden vergehn vor unserem Fleisch
… Wenn wir uns immer nicht zu andern machen
Und wieder andern, die das andre wollen
Als was die einen sehn, die andre waren

Zu ihrer Zeit, die aber ist im Rollen. …

Reicht Hermlins damalige Sichtweise nicht mehr aus, so hat der Rat Brechts an die Kämpfenden, der wahren Lage gefaßt ins Auge zu sehen („… Freunde, ein kräftiges Eingeständnis / Und ein kräftiges WENN NICHT:“), anscheinend noch kein Gehör gefunden:

… Wir haben ihn nicht angenommen, nur
Gewisse Termini und die Frisur,

Jetzt trägt man auch die Haare wieder länger.
Das Fleisch ist dicker, und der Geist enger.
So wurde er Klassiker und ist begraben.
(„Zu Brecht, Die Wahrheit einigt“)

Damit die Diskussion um die Wahrheit nicht zu theoretisch wird, wendet sich Braun zwei Fällen aus der Geschichte zu, die die sehr konkreten Konsequenzen der ,Wahrheitssucht‘ veranschaulichen. Der Physiker Galilei hält dem Druck der Mächtigen nicht stand; er überlebt zwar, doch nur als ein Gebrochener:

… Ging gebückt ins Licht in den Gassen mit seinem
Gespickten Leib, ein so großer Verräter
Daß genug Hände auf ihn zeigen würden.

(„Prozeß Galilei“)

Der Philosoph Giordano Bruno, der seine Lehre nicht widerrufen will („Schwieriger Umgang mit dem Abweichler“), bringt seine Quäler in große Verwirrung:

… Wohin mit ihm? die Hölle nimmt ihn nicht auf
Verbrennen wäre die Lösung, doch die ist nicht neu

(„Bruno“)

Diese Lösung ist in der Tat nicht neu, und schlimmer noch: sie wird heute noch allzuoft angewendet. Sah sich Brecht einst mit fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit konfrontiert, so hat der Nachgeborene Braun noch viel mehr. Seine Verse schreibend, hat er ständig vor Augen, wie man seit eh und je mit Ketzern bzw. Abweichlern fertig geworden ist. Beim Anblick der Standhaften (wie Bruno) schöpft man Mut: es wird immer Menschen geben, die die Folgen der großen Weigerung auf sich nehmen werden, die die schlichten Worte Thomas Müntzers zu ihren eigenen machen werden: „Ich kann es nicht anders machen.“ („Ist es zu früh. Ist es zu spät“)
Es ist allerdings interessant, daß in diesem Band fast nur von mutigen Individuen die Rede ist. Die in früheren Sammlungen immer wieder anzutreffenden Aufforderungen an die Massen, ihre Sache selbst zu betreiben, sind den eher persönlichen Empfindungen und Erlebnissen des Dichters gewichen. (Der einzige Arbeiter ist ein gewiefter Selbstdarsteller und Anti-Held. Vgl. „Material III: Die Gummikneteranlage“) Statt des ehemals charakteristischen Aktivismus macht sich ein gewisser Rückzug aus der ,großen Welt‘ bemerkbar: die sehr reale Bedrohung der Menschheit im Atomzeitalter und die stets fortschreitende Entpolitisierung der Bürger machen es immer schwerer, Depressionen, wenn nicht gar Pessimismus zu bekämpfen. In Abwandlung eines Brecht-Wortes: es ist anstrengend, Widerstand zu leisten. Diese Anstrengung ist um so schwieriger, wenn es einem an einer solidarischen Gemeinschaft mangelt, und vor einigen Jahren mußte Braun den Weggang mancher Freunde und Kollegen erleben. Dieser Verlust ist das Thema des erschütternden Gedichts „Der Müggelsee“, das 1977 in Zürich entstand. Schmerzhaft ist der Gedanke, daß der Vorgänger Klopstock vor mehr als zwei Jahrhunderten in „Der Zürchersee“ seine „süße Freude“ unter den Freunden besingen konnte, während Braun das nur in seiner Phantasie („… Gedacht / Mit Freunden voll das Schiff…“) erleben kann:

… und auf den Bänken Bernd
Still lächelnd, Reiner, geblecktes Gebiß
Wolf schreiend ein freches Lied
Und wir säßen im selben Boot

Auf der selben Welle noch, vor welchem Ufer
Ist mir egal und sei es getrockneter
Mist in Preußen, du kämest Freude…

Klopstock lobte einst die Pracht der Natur, „auf die Fluren verstreut“, doch Braun muß beklagen, daß ihm die Freunde „in der Zeit Wirre … verstreut roh / Vom Herzen“ sind. Der „Ältere“ leistete sich noch Gedanken an die Unsterblichkeit seiner Verse („des Schweißes der Edeln wert!“), doch dem DDR-Lyriker sind solche Gedanken fern: er „knurrt“ einen „bitteren“ Text, „ein Gram / Nicht des Schweißes wert“. Jentzsch, Kunze, Biermann und Sarah Kirsch „kippen“ aus dem Kahn („… die der Kurs fremd / Ankommt, oder von sturen / Schlägen gewippt in die Brühe…“), und der Übriggebliebene muß sich mit der – früher undenkbaren – Vorstellung vertraut machen, ihm könnte ähnliches widerfahren. Das tut er in dem gleich nach „Der Müggelsee“ abgedruckten Gedicht:

SPIEGELGASSE

Sieh hinein. Der krumme Weg ins Freie
Auf steilem Pflaster mit gradem Gang
Die Flüchtlinge. Büchner in heiler Haut
Im toten Winkel der Geschichte lebend
Lenin im Nebenhaus, logischer Zufall
Wann wird er blind. Unendliches
Abbild in allen Worten in allen Zeiten.
Dein Zimmer leer: wirst du es brauchen

Die düstere Stimmung erhellt sich etwas in „Schwester des Prometheus“ („… Kuan Yin, den Fuß schon halb, melden / Die Bücher, im süßen Nichts, aber / Hörte den Schrei der Welt und stürzte / Zurück in die Menge“), doch die Erfahrungen dieser schwierigen Jahre hinterlassen Wunden, die nur langsam vernarben. Brauns ,Zerrissenheit‘ äußert sich einerseits in einer Wut, die an den frühen Biermann erinnert („… Ich fühle mich leben / Weit entfernt von den vorgedruckten / Versammlungen und vollsynchronisierten Berichten / Da bin ich gestorben, das ist die Wahrheit / Und ihr seid es für mich / In den unterwürfigen Tänzen / Die das Fleisch gefrieren lassen…“ – „Der Mittag“), andererseits in einem zeitweiligen Gefühl von Ohnmacht, das Kafkasche Alpträume heraufbeschwört. Die persönliche Betroffenheit, die diesen Gedichtband prägt, macht ihn zu einem wichtigen Dokument sowohl der Braunschen Entwicklung als auch der siebziger Jahre überhaupt.

Jay Rosellini, aus Jay Rosellini: Volker Braun, Verlag C.H. Beck & Verlag edition text + kritik, 1983

Der Stoff aus dem das Leben ist

Später, aus gehöriger Entfernung, wird man unbefangener und sicherer bestimmen können, wie erheblich der Schritt wirklich ist, den Volker Braun mit seinem neuen Gedichtband vollzieht; mir will er vorerst, nach vielfacher kritischer Lektüre, groß erscheinen. Nicht daß ich meinte, hier sei ein schlechthin Gewandelter oder ganz und gar Verwandelter zu hören. Im Gegenteil: Die unverkennbare Stimme dieses Dichters klingt einem schon längst vertraut, man vernimmt sie aus jeder Zeile, und sie wird gewiß auch in aller Zukunft stets wiederzuerkennen sein. Ja, je eingehender ich, vom vorliegenden Buch angeregt, in seinen Gedichtbänden zurückblättere, desto auffälliger wird mir (wie sollte es anders sein?) die ausgeprägte Kontinuität der Braunschen Poesie, also auch der Charakter seines neuen Versbuchs als einer folgerechten Fortsetzung von früh Angelegtem und lange Entwickeltem. Nur habe ich, bei aller vorsätzlichen Vorsicht der Urteilsbildung, den deutlichen Eindruck gewonnen, daß es dem Dichter nach dem Band Gegen die symmetrische Welt gelungen ist, seine Möglichkeiten auf bemerkenswert neue Weise zu verwirklichen; und in diesem Sinne eben, finde ich, präsentiert Training des aufrechten Gangs einen neuen Volker Braun. Das Buch greift über gegebene Erwartungshorizonte hinaus, auch über die vom Dichter selbst geschaffenen; das ist viel und darf wohl endlich als ein zuverlässiges Anzeichen für dichterisches Fortschreiten, als ein sicheres Merkmal poetischen Neuerns gelten.
Man mag das Weitergehen des Lyrikers Braun, wenn man will, auch negativ fassen und kann feststellen, daß er nun manche Erwartung enttäuscht, die er noch wenige Jahre zuvor selbst erregt hat. Was damals als neuer Ansatz erschien, läßt sich heute nicht unbedingt fortgeführt sehen. Zum Beispiel: Da gab es doch im vorletzten Band Volker Brauns eine ganze und sehr differenzierte Gruppe von Gedichten, die den konfliktreichen Prozeß der Annäherung zwischen den sozialistischen Bruderländern poetisch erkundete. Gleichzeitig, nämlich im gleichen Gedichtband, gab Volker Braun die verheißungsvolle Erklärung ab:

An ein Land nur verschwend ich mich länger nicht.

Doch die dichterische Analyse der weiteren Annäherung, scheinbar versprochen, ist nun ausgeblieben. Andererseits aber wird auch die poetische Definition der „Engeren Heimat“ (so hieß bekanntlich ein Gedicht aus Gegen die symmetrische Welt) überhaupt nicht, weitergeführt. Landschaft, Natur, Liebe, oben noch bestimmende Themen des einzelnen Braunschen Gedichts, behaupten ihre Selbständigkeit nicht mehr, sondern erscheinen fast nur noch als untergeordnete Motivik. Ja sogar die seit je für den Dichter charakteristische Reflexion der Arbeitswelt, der gravierenden Bedingungen und Anforderungen materiellen Produzierens, ist neuerdings verhältnismäßig eingeschränkt. Schließlich erscheint auch, zumindest auf den ersten Blick, die Vielfalt der Sprechweisen vermindert; jedenfalls gibt es nun kein Lied mehr, kein echtes Rollengedicht, nichts ausgeprägt Balladenhaftes, keine kräftige chorische Äußerung gewohnter Art mehr. Die schöne Heiterkeit und drastisch einfache Komik, die den Gedichtband von 1974 bereichert hatten, bleiben nahezu völlig aus; der Ton des jüngsten Bandes ist vorwiegend bitter ernst, was übrigens auch heißt: ernst und bitter.
Und was ist nun also das positiv Neue? Eine erste Ahnung davon vermittelt bereits das Einleitungsgedicht „Statut meiner Dauer“. Anregungen Nerudas souverän nutzend, hebt es frühere Dichtungsprogramme Volker Brauns auf und stellt seinen Leser sehr genau auf das Angebot des Bandes ein. Das sprechende Ich erklärt sich metaphorisch zur öffentlichen Organisation. Immanent weist es die beschränkte Rolle eines allzu bestimmten politischen oder sozialen Sprechers ab. Es gibt sich deutlich als einen ganzen, unteilbaren Menschen zu verstehen. Der Anspruch auf allgemeine Repräsentanz und das Bekenntnis zur eigenen individuellen Existenz in ihrer Differenziertheit schließen einander nicht aus, sondern ein. Das lyrische Ich wendet sich an jeden und doch nicht an jeden: Als Partner wird der grundsätzlich Gleichgesinnte vorausgesetzt, der den Kommunismus als einzige menschheitliche Zukunftsmöglichkeit begriffen hat und sich um ihre Verwirklichung sorgt. Von diesem Partner wird der gleiche volle Einsatz erwartet, den das lyrische Subjekt von sich selbst fordert und den es sozusagen experimentell vorführt:

Seht ihr, ich kann nicht reden von dem
Was ich schon weiß: nur von dem was ich entdecke
Es handelt sich um einen Verein
Von Abenteuern und gewagten Vergleichen.

Man möchte das ganze Gedicht zitieren, um seine Angemessenheit als Eingang in den Band anschaulich zu machen und zu zeigen, inwiefern es die Neuheit des ganzen Buches ankündigt; denn dies tut es vor allem durch seine gestalterische Gesamtqualität, durch Dichte und Disziplin, Intensität und Konsequenz, Besonnenheit und Eindringlichkeit, schließlich aber und nicht zuletzt durch die Reife, mit der die Redesituation sprachlich genau vergegenständlicht (und nicht nur rhetorisch skizziert) wird. Daß ich das erste Gedicht gleich ausgiebig als pars pro toto gewürdigt habe, darf nicht zu dem Mißverständnis führen, ich hielte es für das beste. Wie der Band schwächere Gedichte bietet als dieses, so bietet er auch stärkere. Oder besser, wenngleich nicht viel weniger platt gesagt: Nahezu jedes ist wesentlich anders als das andere. Das umfangreiche, aufwendige Gedicht „Larvenzustand“ etwa wirkt viel konzentrierter und schlüssiger als das kürzere, übersichtliche „La Rampa, Habana“. Und die anspruchsvollen Prosagedichte (spezielle Neuerungen bei Braun!) sind hochgradige Poesie, während der wichtige Verstext „Neuer Zweck der Armee Hadrians“ kaum noch als ein Gedicht zählen kann. Aber wohlgemerkt: Ihren legitimen Platz in Volker Brauns neuem Buch haben alle Texte.
Der Band ist die zwingende Einheit zweier streng komponierter Zyklen. Er hat seinen überzeugenden Gang und erhöht die Bedeutung des einzelnen Gedichts durch dessen Einordnung und Zuordnung. Der letzte Grund für die erstaunliche Integrität des Ganzen ist freilich die reich entwickelte dialektische Identität des lyrischen Subjekts. Von Gedicht zu Gedicht entwickelt und wandelt es sich, um sich in der eingangs behaupteten Repräsentanz zu entfalten.

Ich vereinige die wirkliche Sehnsucht
Und die unwirklichen Küsse
Die Verzweiflung und die Detonationen
Der Sinne

heißt es in „Statut meiner Dauer“. Also thematisiert der Sprecher nun auch seine eigene Befindlichkeit, fragt er sich wiederholt, ob er denn bei sich ist, begegnet er sich auf verschiedenerlei Weise selbst, reflektiert er seine schmerzhafte Zerrissenheit, beklagt er andernorts wiederum seine unbefriedigende Einheit. Die pauschale Feststellung „Ich lebe nicht oft wirklich“, die man im vorangegangenen Band Volker Brauns zu lesen bekam, wird hier gleichsam durch eine ganze Untersuchungsreihe ersetzt, in deren Rahmen sich das Ich auf der Suche nach dem wirklichen Leben selbst beobachtet. Das bedeutet keine Reduktion des Menschen auf eine abstrakte Individualität, keine Konstruktion eines privaten Ichs; es ist vielmehr umgekehrt: Eine zeitgeschichtliche Ortsbestimmung durch den realistischen Dichter schließt auch die rückhaltlose Befragung des Individuums ein, und das Krisengefühl des betroffenen Zeitgenossen ist als ein geschichtlicher Faktor zu begreifen und dementsprechend auch poetisch-analytisch zu bewältigen. Kein Wunder, daß sich ein Autor wie Volker Braun auch dieser Aufgabe stellt; ebensowenig ein Wunder allerdings, daß er dabei nun gleich anderen, mit denen er sich methodisch gar nicht verbünden will, dem kathartischen Prinzip als einem möglichen poetischen Prinzip huldigen muß. Die genaue Selbstbeobachtung und eindringliche Selbstbefragung des lyrischen Subjekts, seine Sensibilisierung sich selber gegenüber (die nichts mit Wehleidigkeit oder gar Narzißmus zu tun haben), seine dabei vorgeführten Verwandlungen und angestrengten Reflexionen stehen durchweg im Dienst unserer Selbstverständigung über unser aller Lebensarten und Lebensmöglichkeiten.
Der Dichter erweist sich als produktiv, indem er einfallsreich gewohnte Denk- und Sehweisen durchbricht. Um wenigstens Andeutungen der gebotenen Vielfalt und Problemsicht zu geben: Hier entwirft das lyrische Subjekt den Moment einer normalen Entrückung aus den normalen Lebenszusammenhängen („Der Mittag“), dort macht es wieder in einem weitgreifenden Bildkomplex die ganze Fatalität einer arbeitsteiligen, in sich vielfach gestuften Gesellschaft herausfordernd erlebbar („Die Stufen“). Hier findet der Dichter im kubanischen Alltag glückliche Augenblicke, die die mögliche menschheitliche „Verwerfung der Farben und Schichten“ sinnlich glaubhaft machen („La Rampa, Habana“); dort wieder geht der Sprecher in einer kühnen Umdeutung von Platons Höhlengleichnis auf, in der Tragik und groteske Komik mischenden Vision einer Menschheit, die sich aus geglaubten und wirklichen Behinderungen unsäglich mühsam herausarbeitet und erst dabei ist, den Anfang eines ihr angemessenen Lebens zu finden („Höhlengleichnis“). Hier nutzt Volker Braun einen fragmentarischen Aufsatz Lenins, um in einem auffällig gereimten Gedicht die Ungereimtheiten unserer – mit Braun zu reden – langsamen Revolution herausfordernd zu versammeln „Vom Besteigen hoher Berge“); dort hingegen deutet er die heutige Ernteschlacht in den Mühlhäuser (Gefilden als den endlichen Sieg der vierhundert Jahre zuvor vernichtend geschlagenen aufständischen Bauern („Richtplatz bei Mühlhausen“). Hier zeigt der Dichter einen Arbeiter an seinem Arbeitsplatz, doch nicht um ein Analogon zu „Haltung einer Arbeiterin“ zu schaffen (dieses Gedicht bot noch betont ein Verhaltensmuster an), sondern um auf wesentlich höherer Stufe landläufigen Vereinfachungen von Realität durch entschiedene Problematisierung zu begegnen: um das dicke Bündel vielfach verdrängter Widersprüche zwischen erwünschtem, erlerntem und wirklichkeitsgerechtem Bewußtsein, zwischen faktischer Gewöhnung und wahrem Interesse, zwischen frag-würdigem Selbstverständnis und wirklich erreichtem Freiheitsgrad aufzureißen (und auf den Vorrang des Problemkomplexes vor der dargestellten Figur weist schon der vielsagende Titel des Gedichts: „Die Gummikneteranlage“). Dort endlich, andererseits, führt das lyrische Subjekt, fasziniert von dem längst legendär gewordenen Heros unserer Tage, das außerordentliche Beispiel Che Guevaras vor, doch auch dies nicht etwa als ein einfach nachzuvollziehendes oder nachzuahmendes Muster oder gar als einen Gegenstand passiver Pietät, sondern durchweg und angestrengt als große Provokation für sich selbst wie für den Leser; als Herausforderung, die eigenen Möglichkeiten, den Platz und Weg in der geschichtlichen Welt von heute nüchtern und von Grund auf neu zu durchdenken („Guevara“). Notwendig kommt dabei auch eines der zentralen politisch-praktischen und philosophischen Motive des Buchs zu pointiertem Ausdruck: das Motiv der sozialen Ungleichheit. Als Hölderlin-Marxscher Geist der Unruhe stiftet es, nach wie vor, die Jugendlichkeit Braunscher Poesie.
Der wichtigste neue Zug des lyrischen Subjekts, das sich in diesem Gedichtband entfaltet, scheint mir, daß es seine Welt in ganz großen geschichtlichen Dimensionen zu nehmen versteht. In Volker Brauns Versbuch von 1974 fielen neben anderen solche bei ihm neuen Gedichte wie „Prag“, „Gdańsk“ und „Beschreibung von Paris“ auf. Durch sie drang prägnant gefaßte Geschichte ins lyrische Gebilde und gab ihm neue Qualität. Insbesondere „Gdańsk“ bestach durch seine neue Art, erlebte Gegenwart und geschichtliche Erfahrung, politisches Thema und persönliches Bekenntnis, Reiseeindruck und weltanschauliche Reflexion zu vereinigen. Training des aufrechten Gangs aber zeigt nun die wesentlich weiter entwickelte, gesteigerte Fähigkeit des Dichters, Topographisches und Historisches voll und ganz als persönliche poetische Gelegenheiten wahrzunehmen. Mit dem vielen Reisen ist auch üblich geworden, Reiseeindrücke zu sammeln und weiterzugeben, und so hat sich bei uns in den siebziger Jahren sozusagen eine Sammlung lyrischer Ansichtskarten ergeben. Vom Üblichen aber weit entfernt, vermag Volker Braun, auf seinen Reisen fündiges „Material“ zu gewinnen und es fruchtbringend zu verarbeiten. Die vordergründige Beschreibung und die beliebige Vermittlung von Impressionen ist seine Sache nicht. Für seinen Umgang mit dem Reiseeindruck bezeichnend ist bei aller Genauigkeit der Beobachtung, bei aller Sinnlichkeit der Wahrnehmung, bei allem Gespür für das entsprechende Detail die ungewöhnliche Produktivität, die er als tätiges Subjekt in die Begegnung mit dem Objekt einbringt. Das Paris-Gedicht mochte noch mit Gründen „Beschreibung von Paris“ heißen; aber seine poetischen Reaktionen etwa auf den Teutoburger Wald, auf das peruanische Machu Picchú oder auf das Forum Romanum ähnlich zu betiteln, das käme nun wirklich nicht mehr in Betracht. Denn dieser Dichter hat inzwischen bis zur Perfektion gelernt, die geographischen und historischen Gegebenheiten restlos als Gelegenheiten seiner poetischen Aktion zu nutzen; er beraubt die Objekte nicht ihrer Objektivität, aber er nutzt sie zur vollen Entfaltung seiner Subjektivität, und er holt sie ganz in den Vorgang des vielschichtigen Gedichts. Ohne etwa das bedeutsame „Avignon“ herabsetzen zu wollen, hebe ich als Beispiel hohen Ranges den „Teutoburger Wald“ heraus, für mich bewundernswert durch die große Kunst, mit der darin Familiengeschichte und Literaturgeschichte und politische Geschichte ganz unterschiedlicher Epochen, Geschichtsbewußtsein und Alltagsbewußtsein, Großes und Kleines, Lebensernst und poetisches Spiel ineinanderwirken. Vielleicht durch meine alte Liebe zu strengen Formen verführt, schätze ich allerdings ein anderes Gedicht noch mehr: die Turiner Elegie „Italienische Nacht“. Sie gilt mir schlechthin als eine Meisterleistung. (Die beiden Sonette, die freilich nach ihrem inhaltlichen und formalen Anspruch ebenfalls schwer wiegen und die Position Brauns als die eines Marxisten und Leninisten unmißverständlich bekunden, erreichen den dichterischen Standard der acht Distichen keineswegs.) Die geschichtliche Dimension der Turiner Elegie ist nicht über die Stadt selbst, sondern über die christlich-religiöse Tradition gewonnen, die eben auch in ihr noch am Werke ist. Dem poetischen Reflex auf diese Tradition entspricht in schöner Dialektik das originelle Anbinden Brauns an die heidnische Tradition des klassischen Goethe und seiner Römischen Elegien. Politisches, weltanschauliches und moralisches Emanzipationsbewußtsein (gerade der Frau!), Eros und Sexus, Genußfähigkeit und Sinnenfreude als historische Errungenschaften des Menschen, aber auch antikes Versmaß, expressionistische Simultanität, moderne Collage und funktionstüchtige Jargonanleihe – das alles zusammen wird in diesem höchst ökonomischen Gedicht „Italienische Nächte“ zum überzeugenden poetischen Ereignis. Daß der Autor mit den sechzehn Zeilen einen stichhaltigen Beweis seiner Fähigkeit erbringt, den Gesetzen strenger metrisch-rhythmischer Gestaltung zu genügen, muß ich in schulmeisterlicher Art noch eigens herausheben, da es doch inzwischen allzu weithin an Einsicht in die Notwendigkeit solcher Kunstfertigkeit mangelt; Goethes weises Wort, wonach sich erst in der Beschränkung der Meister zeige und uns nur das Gesetz die Freiheit geben könne, ist heute bei unseren Dichtern beiderlei Geschlechts in der Regel ebensowenig beliebt und vertraut wie sein Urheber.
Unser Durchblicksversuch galt dem ganzen Buch. Daß es aus zwei Zyklen besteht, wurde schon angemerkt; über den zweiten Zyklus aber bleibt ein spezielles Wort zu sagen. Der Dichter hat ihn nicht nur durch die Überschrift („Der Stoff zum Leben“) auffällig gemacht, nicht nur durch ein Eliot-Motto, sondern auch durch die Betonung des Zyklus-Charakters (viermal erscheint die Über-Überschrift „Material“, und die so markierten Gedichte werden numeriert). Wer den vorangegangenen Gedichtband Brauns noch einmal aufmerksam durchsieht, wird erstaunliche Vorankündigungen des Zyklus „Der Stoff zum Leben“ finden. So las man in „Beschreibung von Paris“ die Zeilen „Der Dichter sucht verzweifelt nach der Form des Lebens“. Und am Ende des Bandes, in dem langen, etwas diffusen Gedicht „Leichter, ungeheurer“, das sich dort einigermaßen abseitig oder vorläufig ausnahm, gab sich Volker Braun schon wiederholt das motivische Stichwort „Material“, das er nun voll aufgenommen und ausführlich thematisiert hat. Der Zyklus „Der Stoff zum Leben“ läßt den Leser an den Schwierigkeiten des Dichters teilnehmen, und diese Teilnahme erleichtert er ihm, indem er die Schwierigkeiten des Dichters als die Schwierigkeiten des Lebens zu verstehen gibt. Auf solchem Neuland experimentiert Braun nun auch mit neuen Formen. Die Vorstellung, das Gedicht müsse sich auch heute noch immer mündlich verbreiten und wirksam machen lassen, wird jetzt bewußt preisgegeben. Die von Majakowski früh übernommene Stückelung der Zeile konnte grundsätzlich noch als Vorleseanleitung verstanden werden, als ein Signal für den Vortragenden. Hier nun unternimmt Braun Formgebungsversuche, die eine optische Einstellung auf den Text voraussetzen und eine restlose akustische Reproduktion ausschließen. Das ist eine Äußerlichkeit, aber gewiß keine belanglose und vor allem keine grundlose: sie ergibt sich aus der strikten strukturellen Entfaltung des Themas. Sie erfolgt, man möge sich nicht durch den äußeren Anschein der Willkürlichkeit täuschen lassen, wiederum mit großer künstlerischer Genauigkeit, Disziplin und Konsequenz. Die Frage nach dem Stoff zum Leben und zum Dichten wird als strukturbildende Aufgabe angenommen und in erstaunlicher Komplexität durchgeführt. Dabei ergeben sich vielschichtige Versgebilde, neuartige Verschränkungen, wechselseitige Spiegelungen von gelebtem und gedichtetem Leben, von Material und Arbeit, paarige Versuche über Macht und Ohnmacht des Dichters. Ist es nötig, noch ausdrücklich zu sagen, daß dem lyrischen Subjekt auf seiner Suche nach dem wirklichen Leben mit Selbstverständlichkeit das Motiv des Todes in vielerlei Gestalt unterläuft? Muß erwähnt werden, daß die Freude ein leitmotivisches Stichwort bleibt? Es ist zu viel, was alles hier nicht vorgetragen werden kann…
Der „Anhang“, seit je (nach dem Muster von Brechts Hauspostille) ein obligater Bestandteil von Brauns Lyrikbüchern, ist, diesem Band gemäß, neuartig ausgefallen: Er besteht aus einem Zyklus von sieben gereimten Vierzeilern. (Strenggenommen müßte also von „drei“ Zyklen des Buches gesprochen werden.) Wie die Anmerkungen sicherheitshalber mitteilen, stammen sie „Aus dem Umkreis des Guevara-Stücks“, kommen sie also aus einem Zentrum von Denken und Dichten des Volker Braun der mittsiebziger Jahre. Zwei der schönsten seien hier als Proben zitiert, denn sie können summierend verdeutlichen, welche brennenden Fragen der Dichter dem Leser als Stoff zum Nachdenken und zum Mitdenken anbietet. Leben und Tod Guevaras geben Anlaß und Grundlage für die philosophische Besinnung auf die Notwendigkeit, uns unerschrocken den offenen Fragen der Geschichte zu stellen und die Maße unseres Handelns immer wieder neu aus der Wirklichkeit selbst zu gewinnen:

Du hast geirrt. Gesteh den Fehler ein
Eh ihn dein Tod nennt. Nenn ihn deinen Tod.
Dein Fehler ist, was heut zählt. Morgen schon
Du weißt’s, zählt deine Tat allein.

Und der letzte der sieben Sprüche, dem großen „Höhlengleichnis“ eng verwandt, ist wiederum auf die Gestalt des Guevara zu beziehen und zugleich als ein Wort zu lesen, das sich die Vorhut der heutigen Menschheit selber zuspricht:

Geh jetzt ins Dunkle: werde selbst das Licht.
Du mußt das tun, was keiner kann. Entzweie
Dich von dem toten Leben. Sorge dich nicht.
Wenn du fällst, wachsen die Schreie.

Wer nicht weiß, daß Gedichte ohnedies von den wenigsten Lesern gelesen werden, könnte angesichts des neuen Gedichtbuchs von Volker Braun beklagen, daß dieser Dichter es seinem Leser nun im ganzen noch weit schwerer macht als irgendwann zuvor. Aber könnte denn ein Schriftsteller, ehrlicherweise, es dem Leser leichter machen, als er es selber hat? Ich glaube, und – obwohl es ein fast ungehöriges Lob ist – ich sage es auch: die neuen Gedichte Volker Brauns sind gerade so schwierig und so gut wie das Leben, das wir zu leben haben, wenn wir es verstehen.

Hans Richter, neue deutsche literatur, Heft 10, 1980

Die gebrochene Ode

oder: Training des aufrechten Gangs

– Zur Lyrik Volker Brauns. –

RECHTERTIGUNG DES PHILOSOPHEN

Aber Marx wußte was er sagte, was weiß ich?
In diesem neunzehnten Jahrhundert, voll
Von nackten Tatsachen, und keine Kunst
Die sie auffraß, sah man noch durch
Auf den Tag, an dem die Ketten reißen.
Was immer kommen mußte, schrecklicher
So rettender wars. Das hätte schwächeres Fleisch
Befeuert fortzudenken. Die große
Gewißheit der Klassiker und die langen
Gesichter der Nachwelt. Wohin soll ich denken?
Nach vorn immer durch den Vorhang von Blut
Der Blick auf die Kulissen und nicht hinter.
So viele Kunst und hat nichts zu bedeuten.
In der Vorstellung verbrauchen sich die Köpfe.
Was immer kommt ist besserschlechter oder als.
Was mir die Augen, öffnet nicht die Lippen.

Die sichtbaren Veränderungen, die nicht nur im Tonfall der Gedichte: sondern im Denken der Dichter vor sich gegangen sind – eine grassierende Desillusionierung der Vorstellung von Wirklichkeit und Geschichte in den Köpfen der Zeitgenossen – Volker Brauns Gedichte aus den letzten Jahren zeigen sie wie eine transparente Folie: Verse disparater Gedanken, Verse gebrochener Gefühle und betroffener Zäsuren: „Was mir die Augen, öffnet nicht die Lippen“. – Suchten andere Autoren das allgemeine gesellschaftliche Dilemma in der Parabel zu treffen, Metaphern der Bitterkeit, berechtigter Enttäuschungen, demonstrativer Aversion oder resignativer Mahnung, ging Braun das Übel konkret an: stellte sich, stellte sich in Frage, streitbar und damit angreifbar. Sagten andere: „Nein“, sagte er „Ja, aber“. Einseitigkeiten sollten seine Sache nicht sein, zumindest möchte er sie, soweit es von ihm abhängt, zu seiner Sache nicht machen, selbst nicht in einer Zeit, die außer schwarz und weiß keine Farben gelten lassen will:

Womöglich war es mein Fehler
daß ich mich nicht entschloß
in Schwarz zu gehn oder ganz in Weiß
zu den vorgeschriebenen Stunden.

Weder Resignation noch Ressentiment scheinen ihm jetzt angemessen, weder lange genug geübte Zusage noch trotzige Absage, wie wir sie nicht selten lesen. Nur der Vers geht ihm nicht mehr glatt von der Zunge, der fällt sich selbst unterbrechend, ständig mit wenn und aber ins gültige, Wort; schwierige Selbstbehauptung hält ihn lebendig, Leben, das durch Widerrede und Zweifel sein tägliches Recht fordert. Er liest wieder in den Briefen Georg Büchners: „Der Gedanke, daß für die meisten Menschen auch die armseligsten Genüsse und Freuden unerreichbare Kostbarkeiten sind machte mich sehr bitter“, und er kommentiert: „Wie wenig in dieser engagierten Gesellschaft Geborgenheit, gemeinsame Freude…“
Der jugendliche Elan, den man emotional-ungestüm und messianisch die Versperioden vorantreiben sah, dieser Elan ist längst einer nachdenklich-stockenden Nüchternheit gewichen, die nur Stufen der Erfahrung gelten läßt:

Um nicht zu stolpern, falln den Hals zu brechen
Hinab und hinauf, die Knochen schneller
Als der Verstand, oder viel verstehend
Hocke ich da, lachend über die Gangart
Der Mitbürger auf demselben Terrain
Das sie trickreich bewohnen. Was zum Teufel
Kratzt mich untern Sohlen auf dem Marsch
Ins Morgen. Gestern wußt ichs aber heute
Muß ichs lernen. Stufen…

Diese „Stufen“ gehts mühsam, manchmal holpernd hinauf oder auch wieder hinab wie im Gleichnis vom Besteigen hoher Berge, und die einstige Verheißung ist nur noch ein geflügelter Satz:

Wir, die wir einst nichts zu verlieren hatten
Als unsere Ketten, aber eine Welt zu gewinnen
Fragen uns nun erbittert:
Was haben wir gewonnen?
Was ist das für eine Welt?

Solche Fragen grundsätzlich gestellt, nicht Äußerungen gekränkten zeitweiligen Unmuts oder achselzuckender Abkehr, können so absolut nicht mehr beantwortet werden, schon gar nicht mit formelhaften Argumenten, ideologischen Sprüchen, selbstermutigenden Slogans, wie sie auch Braun einst gern hatte. Das selbstgefällige „Wir“ früherer Gewißheit spricht sich in monologisch abwägenden oder den Dialog mit einem Adressaten suchenden Vers vorsichtiger als „ich“ aus, ein Ich, das sich allerdings nicht außerhalb von Gesellschaft sieht, im Gegenteil. Je mehr es sich zur Gesellschaft kritisch stellt, ihr nur um so peinigender verbunden und verkettet ist es:

Ich den alles trifft und der alles vergißt
Ich begegnete mir in der erregten Menge

Ich der alles trifft und den alles vergißt
Mit dieser offenen Wunde in den Gedanken.

Dieses Ich verleiht sich selbst ein Statut seiner Dauer und Hinfälligkeit, und das Statut gleicht allen, zeitlich beschränkten Statuten von Organisationen oder Parteien – es vergeht mit ihren Zwecken. Brauns Gedichte sind jetzt weder aufrufend noch meditierend, weder traurig noch optimistisch, weder linientreu noch revisionistisch – sie stehen jenseits solcher beschränkten Kategorien.
Manche werden über den Autor den Kopf schütteln, daß er sich noch immer oder noch immer wieder mit den „brennnenden Fragen unsrer Bewegung“ (Lenin) herumschlägt, andere, werden ihn – wie immer – verdächtigen, daß er es auf diese freimütige, direkte Weise tut. Daß er für seine Vorstöße Rückschläge in Kauf nimmt, taktische Rücksichten, Rückzüge, die nicht elegant aussehen, wenn er noch eben radikal vorgebrachte Schlüsse wiederum zur Position stellt – wer wirft auf ihn den ersten Stein?
Brauns Gedicht entsagt der geschlossenen Form, sein Sprecher verweigert sich der Lockung ins metaphorische Alibi „er kann sich aus den anstehenden Konflikten nicht heraushalten bei Strafe seines Talents, das Gedicht ist ihm „Material“ für den „Stoff zum Leben“ – so nennt er einen Zyklus, geschrieben 1975/76, in welchem die Verse selbst in die erregte Debatte eintreten: in lyrische Prosa, in den dramatischen Dialog; es ist vielleicht das elementarste Stück seiner Dichtung überhaupt, ein mit bohrender Selbstbefragung vehement vorgetragener Text, der eben aus den bisher geübten Formen gerät. Klassische Zitate sind dem Text einmontiert, aber auf sie wird mit tatsächlicher Erfahrung allergisch reagiert.

MATERIAL II: BRENNENDE FRAGEN

Früh um fünf im Train Bleu
Zwischen den schwarzen leeren europäischen Hügeln
Der Mann und die Frau, seine Hand an ihrem Leib.
Die Dämmerung rollt in die nassen Wiesen
Ihre Körper gleiten auf den Schienen nebeneinander
Und berühren sich auf dem Schotter rasche Masten
Plastikmüll quietschende Bremsen (was brauche ich
An Stoff für dies
berührende Gedicht?)
Fahl ein Streif fließt in ihren Augen und wächst
Nach oben, sie wirft sich zurück
Ins Polster gepreßt, seine Hand noch immer
Oder ein Bach aus der Landschaft springt über Geröll

Mit zuen Augen, die
schöne Bourgogne:
Durch die Scheiben fällt Wasser durchsichtig grau
Mit Muscheln und Kies, ein sinnliches Meer
Von Dächern und Fensterflügeln, in die Sonne bricht
Unvermutet. Die Bäume und Stangen
Greifen in ihre Brüste in ihren Schoß
Während Frankreich verschwimmt, oder wie hieß das Land?
Felder von durchdringendem Licht und sieben Himmel
Vor den Augen nichts, aber das alles in ihr
Rast durch sie, sie krümmt sich, sie schluchzt
Sie öffnet die Augen um acht auf die fremde
Stadt: unter den Gleisen rasselnd. Was hat sie gesehn
Von der Landschaft? nichts (aber was sah sie denn?
Was ist ein Gedicht: auf dem weißen internationalen
Papier, ein Stoff
Zum Leben?) sie lächelt hinaus…
Was fühlst du
aaaaaaaaaaaaain der Umarmung?

Die nackten Tatsachen Für einen Kuß
in der „Stunde der Politik“ („des Werkleiters“, „der Klassik“)
Die Intensivschicht
aaaaaaaaaaaaaaaaain der Mundhöhle, die
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaStellungnahme
(Du bist blaß Luise?
Es ist nichts. Du bist ja da. Es ist vorüber.)

Mit der Zunge
aaaaaaaaaaaadas Geschlecht streicheln, die
aaaaaaaaaaaaBerichte
Das Kollektiv
aaaaaaaaaaaeine bleibende Empfindung
„Du bist nicht bei der Sache“ – „Wo du dauernd quatschst“

(Willst du mir ein Glas Limonade zurechtmachen.)

EVP –,53, Flaschenpfand, Plandiskussion
Im offenen Fenster die Abgase, die
brennenden
Fragen
aaaaaain deinen Augen, und die Fernsehscheiße!
„Mußtn immer was aussetzen.“ – „Hatn angefang!“
„Ich habs satt wenns kein Spaß macht.“ – „Denkst. wohl mir.“
„Wenn du mir nie zuhörst.“ – „Immer dein Mist.“
„Du liebst mich nicht.“
aaaaaaaaaaaaaaaaaaes folgen die Spätnachrichten.

(Die Limonade ist matt wie deine Seele – Versuche!
Wendet sich, sobald sie das Glas an den Mund setzt, mit einer plötzlichen Erblassung weg und eilt nach dem hintersten Winkel des Zimmers.)

,Dann gehch ebn fremd.‘ – ,Ich halt dich nicht!‘

(Die Limonade ist gut.)
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaDie Worte Schwanz, Brust etc.
Überhaupt Worte (Reizwörter, Sprach-
Regelungen, Memoranden zwischen den Zeilen
Zu entziffern) haben mehr Wirkung
Als die Dinge
aaaaaaaaaaawarum? weil sie verdecken
Verallgemeinern, vervielfältigen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaweil sie verdecken was fehlt

Was fühlst du? So vieles geschieht
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaazu zweit
lst die Welt am deutlichsten, unausweichlich
(Wenn du weißt was ich meine.) (So meine ich es doch nicht.)


Schluß! sage ich, um bei der Sache zu bleiben
In diesem Gedicht                                                  im kühlen Abend
aaaaaaaaaaaaaaruhen, auf den Rückenwirbeln
Auf dem Bett, in der Mundhöhle

In den Möglichkeiten
aaaaaaaaaaaaaaaaaim offenen Fenster

so vieles geschieht!
aaaaaaaaaaaaaaaSchluß!
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaund das
Einundalles
Ist nichts ohne das andere,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaKannst du nicht schweigen?
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadas fehlt, das Ganze
Das zwischen uns liegt (was fühlst du jetzt?
Ich kann es nicht sagen.)

aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadas Gerücht der Gedichte

Im offenen Fenster
aaaaaaaaaaaaaaarußig, undeutlich
Erheben sich die Fragen
In Zeitungspapier gewickelt, namenlos
Ist das die Möglichkeit?

aaaaaaaaaaaaaaaaaaadie brennenden Fragen

Unsrer Bewegung
aaaaaaaaaaaaaaaauf dem Bett, auf dem Materialsektor
Undeutlich, unglänzend durch Anwesenheit
In deinen Augen                                                  in den Worten
aaaaaaaaaaaaadie ich darüber verliere.

Diesem Zyklus sind als Motto Verse aus T.S. Eliots The Wast Land vorangestellt – nach den in der DDR üblichen Attacken gegen diesen als dekadent verschrienen Apologeten des Spätbürgertums allein schon eine Blasphemie. Und blasphemisch geht Braun hier generell seinem Stoff zu Leibe, travestiert in Material I Goethes berühmte Zeile „Wie herrlich leuchtet mir die Natur“ nicht nur durch poetische Brechungen, sondern indem er sie strikt durch die eigene Daseinssituation in Frage stellt: Wie im Zeitraffer wechseln Szenen, Gespräche, Kommentar und Zitat, sinnlicher Akt mit abstrakter Reflektion, um die brennenden Fragen der Zeit in ihrer Bewegung zu erfassen.
Solchen Situationslyrismen werden historische Begebenheiten entgegengesetzt. Material IV gibt am Beispiel Che Guevaras die tödliche Problematik aktueller Historie: „Die Suche nach dem Stoff (zum Schreiben, zum Leben), um gegebenenfalls den Tod zu finden“ – sie wird selbst Struktur dieser Texte, um die „Mechanismen des Zeitalters auseinanderzuschrauben, die Beziehungen zu zerfasern nach dem geheimen Blut der Geschichte.“ Wir können hier nur Fragment-Zitate für einen großen Zusammenhang geben. – Im prosaischen „Höhlengleichnis“ schließlich stoßen wir im Schlußsatz auf das Motiv, das seinem neuen Gedichtband den Titel gibt:

Aber in dieser Zeit begann ein neues, härteres Training den schmerzhaften und wunderbaren aufrechten Gangs.

Dieser Satz zielt auf einen wichtigen kritischen Aspekt. Ernst Bloch, bei dem Bild und Begriff vom aufrechten Gang philosophisch interpretiert werden – er erscheint schon in Herders „Ideen zur Philosophie der Geschichte“ –, entwickelt ihn bei Betrachtung des Naturrechts und gibt ihm eine utopische Größe: Bloch sagte 1965 in einem Interview dazu:

… daß das Naturrecht, das Recht auf menschliche Würde, vom Bürgertum in der Aufklärung ausgebildet, nicht in den Marxismus hineingekommen ist. Die sozialen Utopien betrachtet Engels als Vorstufen zum wissenschaftlichen Sozialismus, das Naturrecht dagegen, das… die kämpferische Ideologie für die Herbeiführung und Ermöglichung von aufrechtem Gang ist, das ist nicht aufgenommen worden… Die Abschaffung des Zustandes, in dem es Mühselige und Beladene gibt, das ist das Thema der sozialen Utopien gewesen, dann das Thema des wissenschaftlichen Sozialismus. Dagegen die Abschaffung des Zustandes, in dem es Erniedrigte und Beleidigte gibt (was eine ganz andere, nicht ursächlich getrennte, aber doch andere Sphäre darstellt), diese Art Abschaffung ist nicht theoretisch vom Marxismus durchdacht worden. Infolgedessen haben wir heute praktischen Anschaungsunterricht schrecklicher Art, daß die bloße Vergesellschaftung der Produktionsmittel nicht die Springquellen des gesellschaftlichen Reichtums in Gang setzt… die staatskritischen Prämissen… dieses: Wie rette ich den einzelnen Menschen vor dem Staat? sind nicht zu Ende gedacht worden… Also das Subjektive nicht als ein Ersatz für die materiellen gesellschaftlichen Kräfte, sondern als der zweite Akt, der zugleich im ersten Akt, in der ökonomischen Bewegung mit enthalten ist, damit das Leben gesellschaftlich in Ordnung kommt und es nicht zwei Arten von Menschen gibt, Herren und Knechte…

IST ES ZU FRÜH. IST ES ZU SPÄT
(Für Thomas Müntzer)

Der Sommer ist vor der Tür.
Die hellere Zeit. Und starr noch
Blüht alles, die Gedanken. Wie wenig frei
Gehn wir aus uns, und hängen
In unsern Häusern. Und was sind das für Genossen
Ungleich selbst, und dulden die Räubereien
Hinter den Meeren
Oder Preußens Pfützen.

Ist es zu früh. Ist es zu spät.

Ein Loch brechen in die Reden
Und sehn, wie wir uns selbst
Zu gemalten Männlein machen. Unter die alten
Töpfe schmeißen, aus denen wir ewig
Fressen, daß wir nicht reif sein
Uns zu genießen. Das Freudigste
Im Zorn sagen
Um bei Sinnen zu bleiben.

Ich kann es nicht anders machen.

Braun hat diese selbstkritischen Erwägungen Thomas Müntzer gewidmet, weil ihm die Historie ständig Muster für die eigene prekäre Lage zu bieten scheint. Er notiert beim Lesen der Briefe Georg Büchners:

Wir ehren Müntzer, wir ehren Heine, wir ehren Lenin und wissen kaum, von wem wir reden. Diese Leute, gestehn wirs nur ein, sind noch immer kaum zitierbar… Müntzer: Sein Prager Manifest ist nicht so gänzlich verjährt, wie unsere Umarmung glauben machen will; man stelle den Mann nur auf die Bühne mit seiner „ausgedrückten Entblößung“, und er wird abgesetzt werden vor der ersten Vorstellung. Lenin: Das bloße Hersagen seiner Aprilthesen eine Provokation, das Aufzählen der Mitglieder seines Politbüros ein diplomatischer Skandal. Und das schreibe ich im sozialistischen Preußen und Sachsen; im kapitalistischen Hessen oder Bayern sind das noch Unpersonen… Wahrlich, die Losung der Ulbrichtzeit hat ihren Sinn: wir haben diese Leute überholt, ohne sie einzuholen.

Wer so spricht, weiß, daß eine deckungsgleiche Identität des Verses mit der wirklichen Gefühls- und Bewußtseinslage nur annäherungsweise zu erreichen ist, wenn Alternativen in der Realität fehlen.

Welche Verwüstung, welche Erbauung
in meinem beliebigen Kopf

Und dieser Kopf, ist durchaus nicht beliebig, sondern nur wie jeder andere den oft sich selbst widersprechenden Widersprüchen ausgesetzt, auf denen er eigenwillig beharrt gegen die übliche verbreitete herrschende „im Kopf wohlgeordnete Welt“.

Wie mich dieses beliebige Jahr
Getötet hat und belebt
Und entwaffnet bis an die Zähne…

Wie sie verkommen ist, meine Freude
Erstochen von blanken Worten
Und wie sie überlebt wie eine zähe Katze
Überlebt und vor die Hunde geht
Und immer noch in mir zappelt…

Womöglich war es mein Fehler
Daß ich mich nicht entschloß
In Schwarz zu gehn oder ganz in Weiß
Zu den vorgeschriebenen Stunden.

Ich denke, wir gehören zu einer aussterbenden Art
Die es verlernt hat, sich gelten zu lassen
Und fröhlich fröhlich zu sein
Oder traurig

Und ich bin ein beliebiger Mensch und nicht zwei
Und dies zerreißt mich
Und das ist mein Fehler…

Sicher: Dieser beliebige Mensch ist nicht auswechselbar, wie ein beliebiges Jahr kein x-beliebiges ist, sondern wie die Vorkommnisse konkret; Vorkommnisse, die sich allerdings mit ihren harten Konflikten zwischen denkendem lndividuum und funktionaler Gewalt auch in der sozialistischen Geschichte zäh wiederholen: Der Mangel an real existierender Freude. Volker Brauns Gedicht „Der Müggelsee“ jedenfalls, das ein bekanntes Muster aufnimmt und gleichzeitig zerstört, ist unschwer nach den Ereignissen vom November 1976 zu datieren, die nicht nur Freunde auseinangerrissen:

Aber am schönsten ist
Von des schimmernden Sees Traubengestaden her

aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaain der Zeit Wirre
Die die Freunde verstreut roh
Vom Herzen mir, eins zu sein
Mit seinem Land, und

aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaGedacht
Mit Freunden voll das Schiff, fahre ich
Fort in dem Text, den der Ältere
Verlauten ließ, an einem anderen Punkt.

aaaaaaaaund auf den Bänken Bernd
Still lächelnd, Reiner; geblecktes Gebiß
Wolf schreind ein freches Lied
und wir säßen im selben Boot

Auf der selben Welle noch, vor welchem Ufer
Ist mir egal, und sei es getrockneter
Mist in Preußen, du kämest, Freude

Volles Maß auf uns herab!

Aber ich fahre hin, an den dunkleren Punkt
Der Geschichte, der ein froh Gesicht
Verzieht zur Fresse; und die beschämend
Schöne Natur geschenkt
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaund Sarah vom siebzehnten Stock

Stürzt über die Mauer, ihr Liebes-
lied voll Raben! Raben!
Schwarz, unter Wasser.

Geblähte Fahnen. Aber aus dem Kahn
Kippen sie, die der Kurs fremd
Ankommt, oder von sturen
Schlägen gewippt in die Brühe.

Fröhliches Wasser

aaaaaaaaaaaaaaaaUnd sie gehen unter
Aus dem freudigen Text in den bitteren hier
Den ich knurre, ein Gram
Nicht des Schweißes wert.

Klopstocks Ode „Der Zürchersee“ von 1750 gilt als Beispiel der Hymne auf Natur und Freundschaft, mit der sich einst bürgerliches Selbstbewußtsein im Vorfeld künftiger Revolution im Gesange freispricht, der „Freude volles Maß“ in neuer Sprache zu feiern. „Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht…“: Die Zeile steht am Beginn einer Epoche deutscher Lyrik. Klopstock beschreibt eine Fahrt auf dem Zürichsee, im Boot die Freunde, die beim Namen genannt werden, die Lieder der nicht anwesenden Freunde singend, und die Göttin Freude selbst ist mit ihnen – Freude, die Schwester der Menschlichkeit. Unsterblichkeit aber ist die Sehnsucht der Fahrenden – ein großer Gedanke, des Schweißes der Edlen wert, wenn ihre Lieder wie es ja nun eingetroffen ist – noch von den Enkeln gekannt werden:

O so bauten wir hier Hütten der Freundschaft uns!
Ewig wohnten wir hier…

Braun, den Nachgeborenen am märkischen Müggelsee, der sich der Ode Klopstocks erinnert, sind freilich solche wohlgefügten Zeilen heute verwehrt. Die Fahrt mit den Freunden im Boot – er nennt sie, wie Klopstock einst, beim Namen – ist nur noch eine Fahrt, gedacht in der Phantasie. Nah sind sie ihm nur noch in diesem bitteren Text, der oft mitten in der Zeile jäh abbricht – „verstreut roh vom Herzen mir“, die Freunde Bernd Jentzsch, Reiner Kunze, Wolf Biermann – von gemeinsamer Fahrt und Freude ausgeschlossen. Brauns Verse, von Klopstock vorgegeben, vorgegeben ihr harmonisches Maß, stocken mitten im Takt:

Aber im schönsten ist
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaeins zu sein
Mit seinem Land, und

Der Hymnus auf die schöne Natur ist nicht möglich. Harmonie von Umwelt und Bewohnern gestört, Freundschaft nicht realisierbar mehr, sondern Vision. Gesang bitterer Text, nicht des Schweißes wert. Und aus der Unmöglichkeit der vollkommenen Ode, aus der schroffen Absage, entsteht ein anderes Gedicht, das uns nun durch diese Verstörung berührt: Freundschaft dauert im gebrochenen Vers.
Wie hieß es doch:

Was mir die Augen, öffnet nicht die Lippen.

Was ihn sprechen läßt, ist mit Händen nicht mehr zu greifen, das Gedicht ist Instrument der Utopie; Einer Utopie freilich, die nicht frei in der Luft schwebt, sondern sich auf die Kenntnis historischer Entwicklungen beruft: Braun notiert bei der Lektüre von Briefen Georg Büchners:

Ich studierte die Geschichte, der Oktoberrevolution und watete durch das Blut der dreißiger Jahre. Ich sah mich gegen eine Wand von Bajonetten wandern. Ich spürte die Tinte der Lügen brennend auf meiner Haut… Die Fragen zu fragen, gestern tödlich, heute ein Schnee. Der Gesamtplan der Wirtschaft, das Tempo der Industrialisierung, der Sozialismus in einem Land: „die Partei ist kein Debattierklub“ – aber die Geschichte diskutiert die Fragen zuende. Viele Verräter von einst wortlos rehabilitiert durch den Gang der Dinge; Ein Gang blutig, hart, irrational: solange wir geduckt gehn, blind, unserer Schritte nicht mächtig. Die sinnlosen Opfer, weil wir die Gangart nicht beherrschen (es gibt notwendige Opfer), „Personenkult“, die feige Ausrede, die alles erklären soll, ein Augenauswischen. Statt einzuhalten im fahrlässigen Marsch, das Gelände wahrzunehmen, die Bewegung zu trainieren. Das Training des aufrechten Gangs.

Aus solchen Erwägungen beziehen Brauns neue Verse ihre unbequeme Dialektik – Dialektik, von der man so viel redet, und die doch so schnell ideologisch-positivistisch-pragmatisch-dogmatisch-realitätsfremd und beiseite kritisiert wird, ihr Sprecher ein Abweichler, auf den man mit Fingern zeigt, wie auf den Ketzer Giordano Bruno:

Schwieriger Umgang mit dem Abweichler
Es hilft nicht, die Instrumente zu zeigen:
Er hat sie beschrieben
Er beharrt auf seinem feindlichen Standpunkt
Daß sich die Erde bewegt
Die Vernehmer glauben sich zu verhören
Im Knast agitiert er die Mönche
Als wüßten sie nicht wo Gott wohnt
Die Folter verfängt nicht: er singt ein Tedeum
Wohin mit ihm? die Hölle nimmt ihn nicht auf
Verbrennen wäre die Lösung, doch die ist nicht neu.

Brauns Gedichte sprechen eine deutliche Sprache, die aber unsere Deutung verlangt, das heißt unsere Mitsprache, denn darauf ist er aus. Er, den alles trifft und der es ablehnt, die verordnete Miene zu tragen zu den vorgeschriebenen Stunden, er, der auf die Geräusche seines Landes hört wie auf den eigenen Schrei in die eigene Stille, ein beliebiger Mensch, mit uns vertrauten Ängsten und Hoffnungen, ein Dichter; der gesteht:

Ich sehe alles ein. Ich lebe gern.
Arbeite esse rede. Aber was
Ist das woran mein Kopf stößt…

Ein beliebiger Mensch, der sich selbst eine Satzung zu geben sucht, seine Irrtümer zu begründen, diese Arbeit, die ihn zerreißt. Der Prozeß dauert an.

STATUT MEINER DAUER

Ich bewege mich auf dem Boden der Gesetze
Gewiß doch, ihr Lieben!
Meines Herzens, das in jedem Körper schlägt
Legal und zerstörerisch, unzüchtig und sanft.

Ich vereinige die wirkliche Sehnsucht,
Und die unwirklichen Küsse
Die Verzweiflung und die Detonationen
Der Sinne.

Vor allem aber, entgegen dem äußeren Anschein
Versammle ich in mir
Die Freude, den unbedenklichen Stolz
Das Aufatmen bei der Ankunft
Der Wahrheit.

Seht ihr, ich kann nicht reden von dem
Was ich schon weiß: nur von dem, was ich entdecke…

Wie heißt es doch in Ernst Blochs Schrift „Naturrecht und menschliche Würde“ am Schluß:

Der rote Glaube war immer mehr als Privatsache, es gibt ein Grundrecht auf Gemeinde, auf Humanismus, auch politisch und im Zweck. Dazu war das fordernde Recht unterwegs. Die Eunomie des aufrechten Gangs in Gemeinsamkeit; nicht nur der Kunst ist der Menschheit Würde in die Hand gegeben.

Auch davon sprechen die Gedichte Volker Brauns.

Gerhard Wolf 1979, aus: Gerhard Wolf: Wortlaut-Wortbruch-Wortlust. Dialog mit Dichtung, Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig, 1988

„Denk-Dichtung“

– Zur Lyrik Volker Brauns. –

Der Dichter Volker Braun hat eine eigene Stellung in der DDR, unter den Autoren und in der an der Literatur interessierten Öffentlichkeit. Spricht man mit zornigen Intellektuellen, die die derzeitige Kulturpolitik der SED und/oder darüber hinaus, mehr oder minder entschieden, das System des realen Sozialismus überhaupt ablehnen, und fragt, wer von den zur Partei stehenden Autoren noch ernst genommen, als Partner eines Dialogs akzeptiert werde, dann nennt die Antwort fast immer Volker Braun. Spricht man mit parteikonformen Intellektuellen oder mit Kulturfunktionären und beklagt den Rückgang von Freiheiten und der Toleranz seit Biermanns Ausbürgerung, also seit 1976, dann werden sie widersprechen, und wahrscheinlich werden sie den 1979 erschienenen Gedichtband Volker Brauns zum Beweis zitieren: Training des aufrechten Gangs.1 In einem Staat, in dem solche kühnen und provozierenden Gedichte im Druck erscheinen, so werden sie sagen, da kann von Mangel an Freiheit und Toleranz nicht die Rede sein.
Training des aufrechten Gangs ist im folgenden Hauptthema. Ein knapper Überblick über die Wege des Lyrikers Volker Braun von 1960 bis 1980 schließt sich an.

DER TEUTOBURGER WALD

Die Hügel nahe sind entfernt vom Wetter
Naß die Fichten, keine drei Schritt vor mir
Wegtretend im Nebel, der Wanderweg
Empfiehlt sich in das Nichts. Glitschig am Fuß
Und waldursprünglich aus dem Hinterhalt
Geschichte, die Gräber im letzten Dickicht
Wie kauernde, in Reih und Glied, Soldaten
In Schlamm versinkend offnen Augs blind:
In meinem Alter mein Herr Vater fröhlich
Im Eilmarsch von Sachsen bis Niedersachsen
Verschossen in den Krieg, die Fahnenjunker-
Anwärter (auf dem Grab: Anwärter), er
Freiwillig meldet der sich, englische
In dem Gestrüppe! Tanks anschleichen, das
Am letzten Schlachttag, war sein Oster-
Denn Ostern wars, Spaziergang in den Tod.
Die Vöglein schweigen im Walde, warte nur.
Was soll ich sagen, bald könnte ich sein Vater
Sein, und war einst vor was weiß ich viel Jahren
Mit vielen Brüdern um den Urmensch, eine
Idylle mit geladenem Gewehr
Auf der Veranda, das er uns erklärt
Vorweg, den äußerlichsten Mechanismus
Seines Ablebens. Und der Wald steht stur
Über den Gräbern, die auf Gräbern ruhn
Sinds Wurzeln oder Beine fleischlos kalt
Die mir ein Bein stelln und worauf ich geh
Mit meinem deutschen Bauch auf römischen Zehn
Die in Legionen knirschen unterm Schuh:
Die andre Schlacht wie gestern. Aus dem Laub
Im Hünenring die Freunde stochre ich
Auf in die Schlüfte, Armins Haubolde
(In Rochwitz unser Fleischer: Haubold, ja)
Drei Nächte sind wir, ausnahmsweise, einig
Aus Hängen sausend, und die Schlägertrupps
Aus Rom liegen ein Jahr den Krähen.
Von da bis heute alles Nebel hier
Das Denkmal selbst, Hermann mit Preußens Kraft
Unsichtbar in der Suppe. Das beweist nichts
Und nichts beweist was, Grabbe nebenan
Soff sich tot im Gasthof Zur Stadt Frankfurt
Nicht ohne daß er, die erfolgt war, die
Freiheit des Vaterlands für seine Fürsten
Und ihm blieb nur ein kaltes Weib, ein Giftzahn
Lorbeer auf sein Leichenhaupt und lebend
ihn anpissen! besang. Das
Alles noch tief im Wald. In diesem Detmold
Im Pornofilm Thusnelda, sah ich, kaut
An Hermanns Schwert und war nicht seine Braut
.
(S. 128f.)

Zählen wir nur einige in Auge und Ohr fallende Merkmale dieses Textes auf: antithetische Fügungen, Gegensatzpaare, Paradoxa: die Hügel sind nahe und entfernt… die Soldaten sind offnen Auges blind… eine Idylle mit geladenem Gewehr. Das ist ein durchgängiges Charakteristikum der Sprache Volker Brauns; das Paradox ist ihm die liebste, die ihm recht eigentümliche rhetorische Figur. Sie artikuliert, worauf sein Denken vornehmlich gerichtet ist: die Widersprüche der Wirklichkeit; vor allem, aber keineswegs ausschließlich, die Widersprüche in seiner Gesellschaft, in der Gesellschaft des realen Sozialismus.
Wir haben einen Text vor uns, der von sich behauptet, er sei ein Gedicht. Er behauptet das durch die Druckform, durch nichts sonst, zunächst. Es gibt keinen Reim, mit der einen Ausnahme der gereimten Schlußpointe; es gibt kein Versmaß. Rhythmus herzustellen ist dem Leser aufgegeben. Sinneinheiten und grammatische Einheiten fallen meist nicht zusammen. Überdeutlich ist die manieristische Stiltradition.
Es erfordert einige Aufmerksamkeit und Nachdenken, das verschiedene Möglichkeiten ausprobiert, bis eine Sinn-ergebende Lesart gefunden ist. Es ist übrigens leichter, den Text hörend aufzunehmen, wenn er entsprechend gelesen wird, als ihn lesend sogleich zu verstehen. Auch das kennzeichnet viele Texte Brauns, der zunehmend den Leser fordert, der den Text aktiv ausprobiert, fast mit ihm experimentiert. Vorläufiges ist der Titel einer frühen Gedichtsammlung Brauns.2 Er läßt sich auch auf die Form der Texte beziehen, die sich oft nicht definitiv geben. Fast laden sie ein, daß der Leser/Hörer sie weiterschreibt oder umschreibt. Braun selbst ändert häufig. In neuen Auflagen erscheinen Gedichte erweitert, gekürzt usw. Er betont das Machen: fabricare, montieren. Das Gedicht soll offen sein. Solcher Offenheit entspricht zuweilen freilich eine gewisse Beliebigkeit. Die Details, also Vergleiche, Bilder, Pointen verblüffen und leuchten ein; Teile des Textes, einzelne Passagen überzeugen bei Braun oft mehr als der ganze Text. Der ist, gerade in diesem letzten Gedichtband, oft nicht Sprachgebilde im Sinne von Kunstwerk, zu dem man nichts hinzutun kann, von dem man nichts wegnehmen kann, ohne es zu zerstören. Meist kann man herumbasteln.
Ins Auge, ins Ohr springen die Verstöße gegen die Normen der Grammatik. Der normale Satz, Subjekt, Prädikat, Objekt; die Satzfolge. Anfang und Ende, wohl überschaubar: das liebt dieser Dichter nicht. Er hat entschiedene Lust an der Mißhandlung der Grammatik, durch Umstellungen, Einschübe u.a.m. In unserem Beispiel etwa: „Wie kauernde, in Reih und Glied, Soldaten“ anstatt: wie in Reih und Glied kauernde Soldaten. Die Umstellung entfernt den Text von der Normalität der Prosa, gibt dem Leser/Hörer das Verstehen als Aufgabe auf. Der Text wird widerständig; kann nicht einfach konsumiert werden.
Brauns besondere Manier sind Verschachtelungen durch Einschübe. Ein Beispiel, das durch betontes Lesen noch deutlich gemacht werden kann:

Freiwillig meldet der sich, englische
In dem Gestrüppe! Tanks anschleichen, das
Am letzten Schlachttag, war sein Oster-
Denn Ostern wars, Spaziergang in den Tod.

Ein weiteres Beispiel ist lesend kaum mehr deutlich zu machen:

Grabbe nebenan
Soff sich tot im Gasthof Zur Stadt Frankfurt
Nicht ohne daß er, die erfolgt war, die
Freiheit des Vaterlands für seine Fürsten

und jetzt müßte folgert: besang. Das Verb aber kommt erst drei Zeilen später. Eingeschoben ist:

Und ihm blieb nur ein kaltes Weib, ein Giftzahn
Lorbeer auf sein Leichenhaupt und lebend
Ihn anpissen! besang.

Das Gedicht „Der Teutoburger Wald“ beginnt mit genau gesehener Landschaft und knapper Andeutung der Situation – Wanderung im Nebel –, die in einer witzigen und hintersinnigen Pointe mündet:

der Wanderweg empfiehlt sich in das Nichts.

Es ist eine geschichtsträchtige Landschaft; trächtig von böser Geschichte, die lauert: Geschichte vom Vater an, der 1945 als „Fahnenjunkeranwärter“ hier fiel, bis zurück zu den erschlagenen „Schlägertrupps“ der römischen Legionen des Varus. Zum „Vater“: Es ist der Vater Volker Brauns. Das lyrische Ich ist der Autor. Auch die „Idylle mit geladenem Gewehr“ – eine Terrasse. Kinder um einen Vater, der ein Gewehr erklärt – gehört zur Lebensgeschichte des Autors. Es ist eine Erinnerung Volker Brauns, angeregt durch ein Photo aus einem Familienalbum. Also Geschichte, von den römischen Legionen bis zum eigenen Vater im Zweiten Weltkrieg.
Im Nebel bleibt das Denkmal solcher Geschichte, das Momument der nationalen, kleindeutsch-preußischen Geschichtslegende: Hermann der Cherusker als Vorkämpfer des Wilhelminischen Reiches. Erinnert wird an den Dichter Grabbe, der sich in eben jenem Detmold zu Tode trank, in dem der Dichter dieses Textes sich in einen Pornofilm flüchtet. Die Gegenwart hat keinen Trost für die böse Geschichte. Der Nebel wird zum dominierenden Symbol. Dieser Text ist eine besondere Art von Landschafts-, Heimat- und Geschichtsdichtung. Goethe wird gegen den Sinn zitiert; nicht beglücktes Ja zu Leben und Tod, sondern unbestimmte, aber bösartige Drohung in den gleichen Worten: „warte nur“.3
In Training des aufrechten Gangs gibt es auffallend viele Texte, die sich an bestimmten Orten festmachen. „Weltgefühl“ bekundet sich da und „Geschichtsbewußtsein“; so wird es auch erklärend und programmatisch gesagt. Welt und Geschichte trägt der Dichter in Kopf und Herz und bewegt sie: nicht bloß die eigene problematische Individualität und auch nicht nur das eigene Land.4
In Rom ist „Das Forum“ (S. 130) Ort und Anlaß groß angelegten Überblicks über europäische Geschichte, perspektivlos ausmündend in die Venus cloacina, die in der Jauche baden geht; – ähnlich zukunftslos wie „Der Teutoburger Wald“.
„Machu Picchú“ (S. 134), die versunkene Indiostadt hoch: in den westlichen Anden, fordert Nachdenken über Geschichte, aus dem dann allerdings Erkenntnis, Warnung und Mahnung resultiert: auch der wohleingerichtete Staat zerfällt, wenn er nicht die „Weisheit der Massen“ zu mobilisieren vermag.
„Avignon“ (S. 115) ist der Ort einer Traumvision oder auch eines Diskurses über das Glück:

nicht die reine Fahne
Über den Köpfen, unsere Haut
Ist das Banner, mit dem wir marschieren!

Die Toten mahnen zum befreiten Leben:

Ach wären wir an eurem Platz, im Offnen
In der Luft! wie würden wir verkehren
Totes in Leben…

„La Rampa, Habana“, die große Straße der kubanischen Hauptstadt, läßt den Dichter Zukunft spüren; es ist der Ort, den er behalten will, „genagelt an meine Sohlen“ – eine kühne Umkehr des geläufigen Bildes.

Die Zukunft ist eine Mulattin.
Eine Verwerfung der Farben und Schichten
In der Landschaft knirschend vor Eröffnungen
Von denen ich zehre
Magnetischer Boden für das blinde
Eisen meiner Gedanken.
5

Training des aufrechten Gangs. Der Titel ist ein Bloch-Zitat; eine Referenz vor dem großen Philosophen, der von 1948 bis 1957 in Leipzig lehrte, bis ihm die Lehrerlaubnis genommen wurde mit der schönen, höchst ehrenvollen Begründung, er, der Philosoph, verführe die Jugend. Genau die gleiche Anklage ist gegen Sokrates erhoben worden. „Marx, aufrechter Gang, konkrete Utopie“ überschrieb Bloch eine Rede auf Karl Marx, gehalten im Mai 1968 in Trier zur Feier des 150. Geburtstages von Marx.
Marx und Bloch, das ist eine Verbindung, die in der DDR eine eigene Brisanz hat. Braun beruft Gottvater (Marx) über den Ketzer (Bloch). In einem Prosatext „Höhlengleichnis“ wird der Titel des Gedichtbandes erklärt. Braun unternimmt nichts weniger, als eine Deutung der Weltgeschichte in Form eines Gleichnisses vorzutragen. Das Gleichnis knüpft an Platons „Höhlengleichnis“ an, das er gründlich verändert. Seit 5000 Jahren, so erzählt Braun, sind wir Menschen in unserer „berühmten Höhle“. Jetzt erst „seit den Detonationen der letzten sagenhaften Kriege“ gewahren wir das grelle Licht am Ausgang. Aber, und hier beginnt die Platonkorrektur, es gibt gar keinen Ausgang und kein Licht hinter ihm: das Licht kommt aus uns selbst. Und es gibt auch keine Höhle; wir haben uns 5000 Jahre hindurch grausam geirrt; es gibt nur unsere Vorstellungen von einer Höhle und die Verhältnisse, die zu ihnen führten: sich von beiden zu befreien ist der Prozeß, der gegenwärtig erst beginnt; ein schmerzhafter, höchst dramatischer Prozeß, der lange dauern wird. Genauer, unabsehbar lange. Von einem Ende ist nämlich nicht die Rede. Die Zukunft kommt nicht vor, jedenfalls nicht als Ziel, das erreicht wird, irgendeinmal. Braun bleibt beim Prozeß, beim Training des aufrechten Gangs.

Bei den ersten Versuchen, uns eilig und entschlossen hochzureißen, fühlten wir uns alsbald wie mit Ketten an den schleimigen Schutt gebunden und zurückgerissen, zumal sich die meisten nicht ruckten auf ihren Erdteilen, und standen schwitzend und, um den schneidenden Schmerz zu lindern, geduckt in den Kontaktzonen. Überleitungsphasen, Ausfallzeiten, bei der rechnergestützten Ermittlung abrechenbarer Verpflichtungen. Die aber den Schmerz nicht scheuten und sich lieber den Kopf einrannten an den herumragenden rostigen Verhältnissen und Stillhaltepraktiken als wieder in die Hocke zu gehn, richtete sich ganz auf und leuchteten für Momente grell, besonders ihr Großhirn wie eine phosphoreszierende Masse, und unsere stummen und halbherzigen Bewegungen waren schwarz und beschämend deutlich auf das ganze Inventar zurückgeworfen, bis die Körper dieser Jünglinge von Stricken quer durchschnitten und verbrannt zwischen unsere Nagelscheren, Tabellen und Nabelschnüre rollten. Darüber begannen wieder Jahrhunderte zu vergehn voll neuem Schutt, geplanten Kosten, Kunstersatz und normativen Gespeichel. Aber in dieser Zeit begann ein neues, härteres Training, des schmerzhaften und wunderbaren aufrechten Gangs. (S. 101)

Geläufig ist die Bestimmung der Gegenwart als Zeit des Übergangs hin zum Kommunismus. Ungewöhnlich ist zunächst Brauns Dehnung: „Jahrhunderte“. Gegenwart wird zu einem schrecklich weiten Begriff. Das stimmt melancholisch:

Die große Gewißheit der Klassiker und die langen Gesichter der Nachwelt. (S. 138)

Die Gewißheiten kommen abhanden.
Die auffallenden Vokabeln des Textes „Kontaktzonen, Überleitungsphasen, Ausfallzeiten, … abrechenbare Verpflichtungen“ sind Fachtermini aus Technik und Ökonomie in der DDR – von Bahro und Biermann als EDV-Stalinismus verhöhnt. Braun bezeichnet mit diesen besonderen Wörtern, die der Kundige als Zitate liest bzw. hört, den realen Sozialismus und dessen Versuche, die Ökonomie in den Griff zu bekommen. Diese Gesellschaftsformation ist anders als frühere, aber erfreulich ist sie nicht, ganz und gar nicht. Fortschritt, die Vokabel wäre fehl am Platz. Die Helden werden als Märtyrer skizziert, in erkennbarer ikonographischer Tradition, verfremdet durch modernen Kontext:

Jünglinge von Stricken quer durchschnitten und verbrannt zwischen unsere Nagelscheren, Tabellen und Nabelschnüre.

Das schöne Bild der Zukunft als bald zu erreichendes Ziel ist weg, ist abhanden gekommen. Aber/Und, es bleibt das „Training des aufrechten Gangs“.
Brauns jüngster Gedichtband ist keine einfache Lektüre: sie ist mühevoll und, wenn überhaupt, dann erst spät freudenreich. Es ist ein philosophischer Diskurs über gegenwärtige Wirklichkeit. Der Dichter verfügt über Welt und Geschichte, und er arbeitet sich ab, in Gedanken – und er mutet dem Leser zu, diesen Prozeß mitzuvollziehen. Denkdichtung: Es ist eine Dichtung, in der Bewegungen des Denkens vorgeführt werden.
Beim ersten Lesen will es scheinen, als ließen sich die Texte nicht mehr direkt ein mit dem, was ihrem Autor zunächst gegeben und somit auch aufgegeben ist: mit der Realität in der DDR. Es stellen sich Verdacht und Frage ein, ob Training des aufrechten Gangs nicht eine Fluchtbewegung des engagierten Dichters Volker Braun in Sprache darstellt, ja ausstellt; eine Flucht in die Weite von Zeit und Raum, eine Flucht vor der konkreten DDR-Realität in das Reich der Ideen, wo man nicht anstößt. Ohne die aufgeworfene Frage rundweg verneinen zu wollen, sei hingewiesen auf Einsichten, die „zweites Lesen“ gewährt. Man muß sich auf Brauns Dialektik einlassen. Dialektik ist freilich auch ein Mittel, ja eine Kunst, Unerträgliches doch ertragbar zu machen.
Das Element des Diskursiven in Brauns Dichtung zwingt den Interpreten, Bezüge nachzuvollziehen; sie erst einmal deutlich zu machen, bevor Textdeutung einsetzen kann. Diese Texte stehen nicht für sich allein; sie beziehen sich, oft auf vielerlei, und zuweilen auf vertrackte Weise. Der gemeinte Sinn eines Textes ist in der Interpretation erst herstellbar oder vermutbar, wenn das Was und Wie der Beziehungen geklärt ist. Dafür einige Beispiele:

ZU BRECHT, DIE WAHRHEIT EINIGT

Mit seiner dünnsten Stimme, um uns nicht
Sehr zu verstören, riet er noch beizeiten
Wir sollten einfach sagen wos uns sticht
So das Organ zu heilen oder schneiden.

Ein kräftiges: das ist es, und es kracht
Wenn nicht – (wie bei den Klassikern, die es halt gab)
Ein Eingeständnis, das uns Beine macht.
Das war sein Vorschlag blickend auf sein Grab.

So was ist noch auf dem Papier zu haben.
Wir haben ihn nicht angenommen, nur
Gewisse Termini und die Frisur.

Jetzt trägt man auch die Haare wieder länger.
Das Fleisch ist dicker, und der Geist enger.
So wurde er Klassiker und ist begraben.
(S. 125)

Die Form des Gedichtes fällt auf; ein Sonett. Eines von zweien im ganzen Band. Ist die Wahl der Sonettform eine ironische Huldigung an den Klassiker wider Willen und zugleich eine Verhöhnung der Gegenwart, die keinen besseren Gebrauch von Brecht zu machen versteht, als ihn zum Klassiker zu machen und daranzugehen, ihn zu beerben und die die Bedeutung seiner Vorschläge noch nicht einmal mehr erkennt? So sehr ist der Klassiker verkannt und der Erbe hinter das Erbe zurückgefallen.
Das Wort „Klassiker“ kommt in Brauns Gedicht zweimal vor und meint jeweils Verschiedenes. Einmal den klassischen Dichter, zu dem, so Brauns Feststellung, der „arme Bert Brecht“ in der DDR gemacht wurde; zum anderen die Klassiker der Revolution, gedeutet wird auf Lenin, deren Vorbild ohne Nachfolge bleibt.
Brechts „Vorschlag“, die „große Aussprache“6 zwischen Führungseliten und Volk kam, so Braun, „noch beizeiten“. Das stößt im Leser die Frage an, ob es jetzt schon zu spät dafür sei.
„So was ist noch auf dem Papier zu haben“, also, ist der Leser angestoßen zu ergänzen, nur noch auf dem Papier. Der nicht angenommene Vorschlag deutet auch auf Brechts Entwurf für seine Grabinschrift:

Er hat Vorschläge gemacht
Wir haben sie angenommen.
Durch eine solche Inschrift wären
Wir alle geehrt.
7

Bertolt Brecht: Gesammelte Werke, a.a.O. Band 10, S. 1029

Daraus also ist nichts geworden, und an die Stelle von „Ehre“ tritt, so ist zu assoziieren, die „Schande“ der Gesellschaft. „Wir haben ihn nicht angenommen.“ Das Wort „ihn“ hat doppelten Inhalt. Einmal ist es der „Vorschlag“, so will es die Grammatik. Die Folge des Textes macht aber deutlich, daß, weit darüber hinaus, Brecht überhaupt gemeint ist, womit eine Vielzahl von Assoziationsreihen gegeben sind: Brecht und das Theater in der DDR, Brecht als Dialektiker, Brecht als politischer Künstler u.a.m.
Brechts Text „Die Wahrheit einigt“ hat einen sehr besonderen Kontext.8

Brecht: Gesammelte Werke, a.aO. Band 10, S. 1011f.
Das Gedicht spricht über die Situation nach den Aufständen vom 17. Juni 1953. Brecht hat es im Sommer 1953 Paul Wandel „zum inneren Gebrauch“ zugeschickt. Wandel war nach dem 17. Juni zum „Sekretär für Kultur und Erziehung im ZK der SED“ ernannt worden. Brechts Gedicht ist ein Wort des kommunistischen Dichters an die leitenden Funktionäre der Partei in einer Krisensituation. Brecht beruft das Beispiel Lenins im russischen Bürgerkrieg, er fordert von der SED Offenheit und Mut zur Wahrheit, er will „die Mobilisierung der Weisheit der Massen durch die Partei“.9 Brauns Brecht-Ehrung ist voller Trauer – und Zorn:

Wir haben ihn nicht angenommen.

„Bruno“ ist ein Text überschrieben. Gewiß nicht historisch zu lesen als Rede über den 1600 von der Inquisition in Rom verbrannten Philosophen Giordano Bruno, sondern aktuell: wie geht die Partei um mit dem „Abweichler“ – ein Wort aus der Parteisprache –, der beharrt auf seiner abweichenden Meinung und sie vertritt. Der Leser mag Robert Havemann assoziieren oder Rudolf Bahro oder andere.

BRUNO

Schwieriger Umgang mit dem Abweichler
Es hilft nicht, die Instrumente zu zeigen:
Er hat sie beschrieben
Er beharrt auf seinem feindlichen Standpunkt
Daß sich die Erde bewegt
Die Vernehmer glauben sich zu verhören
Im Knast agitiert er die Mönche
Als wüßten sie nicht wo Gott wohnt
Die Folter verfängt nicht: er singt ein Tedeum
Wohin mit ihm? die Hölle nimmt ihn nicht auf
Verbrennen wäre die Lösung, doch die ist nicht neu
(S. 127)

Volker Braun hat 1976 den „Protestbrief“ gegen die Ausbürgerung Biermanns mit unterzeichnet. Freilich hat er hinterher bedauert, daß dieser Brief in der Bundesrepublik veröffentlicht wurde und daß „Feinde“ der DDR mit ihm operieren konnten. Zwar hat Braun seine Unterschrift nicht zurückgezogen, doch er hat einige ,wenn‘ und ,aber‘ angebracht, und so kam er glimpflicher davon als andere – er erhielt eine Parteirüge. Als recht unmittelbare Antworten auf die Situation nach jenem Protestbrief sind zwei Texte zu lesen: „Mein Fehler der mich nicht reut“ und „Statut meiner Dauer“ (S. 113, 109). Schon der Titel ist Replik: es war Braun und den anderen Verstoß gegen die „Statuten“ von Partei und Schriftstellerverband vorgeworfen worden.
Brauns Technik der Anzüglichkeit, die Vielzahl der expliziten und halb oder ganz verborgenen Anspielungen fordern eine eigene Lesekunst, die auf viel und vielerlei Kenntnis basieren muß. Ein Beispiel.

LUSTGARTEN, PREUSSEN

Das Gras gepflastert.
O Schweiß der Ämter, die Weisheit
Des Volks demselben, eh sie
Zitiert wird, einzu-
Rammen in das Gemüte.
(S. 119)

„Die Weisheit des Volks“, eine schöne Wendung voller Tradition; – Brecht wurde schon genannt. In Brauns bösem Text wird sie, vollendet paradox, dem Volk von den Ämtern eingerammt, um dann zitiert zu werden. Bitterer kann man über das Verhältnis Bürokratie und Volk im realen Sozialismus nicht reden. Aber erst der Titel bringt die Aussage auf den Punkt von hier und heute, auf den realen Sozialismus in der DDR; – wenn man ihn lesen kann. „Lustgarten“, das ist der alte Name jenes Platzes, der heute Marx-Engels-Platz heißt und Repräsentations-Zentrum des neuen, des sozialistischen Berlin ist. „Lustgarten, Preußen“, dem entspricht: „Marx-Engels-Platz, DDR“.
Auslegung der Wirklichkeit, Realitätsdeutung ist das große Thema im philosophisch-poetischen Diskurs des Volker Braun. „Larvenzustand“ heißt der letzte Text von Training des aufrechten Gangs; ein Zwiegespräch zwischen dem Dichter und seinem alter ego, das eine Selbstauslegung des Dichters und eine Deutung der Zeit und der Situation seines Staates vorträgt.

LARVENZUSTAND

Ich nehme mir was ich brauche
sagte der Mann, der mir glich

Ich helfe mir, sagte er
Aus meinem trockenen Mund: mit den möglichen
Augenblicken, in denen sie sich berühren
In ihrem medaillenverdächtigen Einsatz
In der gelungenen Umarmung, selten genug!
Ich nehme es wo ich es kriege
In ihrem bescheidenen Sträuben, sich gut zu sein
Ich behelfe mich so und nicht anders

Rief er (und es waren meine Worte:)

Notfalls reiße ich es
Aus ihren Gurgeln

Ziehe ich, was ich brauche…
Aus jemandes Zukunft, der erst noch geboren wird
… ein zartfüßiges Wesen…

Das uns noch ähnelt, aus Anhänglichkeit
Wie der Falter der Larve:

Du Larve, schrie er, in deinem Larvenstaat
Daher nehme ich es, aus allem und nichts
Das erst etwas werden soll, das höchstens beginnt
Aus dir zum Beispiel, aus deinem grinsenden Grimm
Deinem Entsetzen über den täglichen Einbruch der Nacht
Deinem politischen Schweiß, deinem eingenähten Verhängnis
Ein Mensch zu sein von Morgen bis übermorgen
Verstehst Du? dem geholfen werden muß
Damit er am Leben hängt und nicht am Strick

Daß er herauskommt aus seiner Larve, mit allen heraus
Und ich ihn nehmen kann, wen sonst?
An meine Brust, um mir zu helfen, um mich zu retten!

Sagte der Mann, der mir aus dem Herzen sprach

Und verschwand in meiner Zirbeldrüse
In meinem Überdruß, in meinem Schweigen

In meinem Hilfeschrei

In meiner Larve.
(S. 102)

Der Titel ist doppeldeutig. Verlarvt, im Sinne von maskiert, geht, wer sich nicht zeigen will als der, der er ist. Deshalb muß er entlarvt werden, als Parteifeind, als Klassenfeind z.B. Die Larve ist gleichzeitig ein altehrwürdiges Symbol: aus dem häßlichen Kokon kommt der schöne Schmetterling, so aus dem kranken Leib des Frommen die reine Seele usw. Auf dieser Bedeutung baut Brauns Text auf – ohne daß die verschwiegene andere Bedeutung damit abgetan wäre.
Der Titel „Larvenzustand“ hat auch einen aktuellen und brisanten Bezug, der erhellend genug ist. Rudolf Bahro beschreibt in Die Alternative den „real existierenden Sozialismus“ als „Sozialismus im Larvenzustand“10. Wer ihn zitiert, beruft einen Ketzer, viel schlimmer als Bloch, einen lebenden Ketzer. Er beruft implizit auch die These, daß es der Sprengung der Hülle bedarf, einer Revolution also, daß harmonisch-evolutionärer Übergang nicht zu erhoffen ist.
„Larvenzustand“ gibt auch eine recht genaue Selbstbeschreibung. Er spricht von dem „eingenähten Verhängnis / Ein Mensch zu sein von Morgen bis übermorgen“ und, so darf ergänzt werden, in einem Heute zu leben, das so viel und so wenig mit der erhofften Zukunft zu tun hat, wie eben die Larve mit dem Schmetterling.
Daß Volker Braun mit trotziger Verbissenheit festhält an dem Glauben an die Verwandlung, das unterscheidet ihn von vielen Autoren, die die DDR in den letzten Jahren verlassen haben. Daß diesem Glauben Wut, Zweifel und auch Verzweiflung beigegeben sind, das unterscheidet ihn von den Ja-Sagern unter den Autoren in der DDR.
„Vom Besteigen hoher Berge“ ist der Titel eines Textes, der fast nur aus Paradoxa besteht, der ohne Zuversicht schließt, aber sehr mit Verachtung derer, die abseits stehen.

VOM BESTEIGEN HOHER BERGE

Jetzt sind wir höher als die Baumgrenze geklommen
Aber der Wald hat zugenommen
Jetzt haben wir das Lager errichtet
Unter dem Gipfel: den keiner mehr sichtet.

Ist das überhaupt der Berg, den wir beehren
Oder eine ägyptische Pyramide.
Warum sind wir so müde.

Müssen wir nicht längst umkehren
Tagelang arbeiten, um einen Zoll zurückzugehen
Verschwinden, um zu bestehn.
Aufstieg gleich Abstieg, heiß kalt.
Und den Gipfel in wieder erreichbarer Ferne zu sehn.

Um nun schrein die Arschlöcher, die nie einen Schritt wagen.
Was hat das zu sagen
.
(S. 136f.)

„Nach Lenin“, so notiert Braun unter dem Titel. Vergleicht man Lenins Text „Notizen eines Publizisten“11 mit Brauns Gedicht, dann wird Brauns verzweifelte Skepsis deutlich. Lenin spricht von unvermeidlichen Rückschlägen im Prozeß der Revolution. Ein Bergsteiger, der einen unbekannten Gipfel ersteigt, kann nicht umhin, zuweilen auch umzukehren und andere Wege zu suchen, auch Umwege zu machen. Das decouragiert, es gibt „Minuten des Verzagens“ – aber der Aufstieg selbst, das Erreichen des Gipfels werden nicht in Frage gestellt. Da mögen die heuchlerischen Zuschauer Kommentare geben, wie sie wollen. Braun schreibt „nach Lenin“ und verändert radikal den Sinn: Alle Gewißheit ist abhanden gekommen. Es bleibt die offene Frage.
Der heute etwas über vierzigjährige Volker Braun ist zu Beginn der sechziger Jahre aufgetreten als junger Dichter und als Sprecher der Jungen; selbstbewußt, auch angestrengt selbstbewußt, provozierend, aber mit gutem Gewissen und voller Optimismus „nach vorwärts“ provozierend gegen die höchst ärgerlichen, aber nicht wirklich ernst, nicht todernst zu nehmenden „Muttermale der alten Gesellschaft“ – für mehr und schnelleren Sozialismus heute und hier in der DDR.
Es war eine besondere Art zorniger junger Männer, die damals in der DDR auftrat; Unruhe stiftend gewiß, aber doch Unruhe im guten Sinn. Es sprach da, und es sollte auch sprechen „revolutionäre Ungeduld“. Viel Kritik an Verhaltensweisen und Zuständen in der DDR war unter diesen Vorzeichen möglich, wenn auch nicht immer leicht zu akzeptieren. Es fanden Auseinandersetzungen statt, öffentliche Debatten. Der aufmüpfige Habitus, das gerade bei Braun überdeutliche kraftgenialische Gehabe war nicht leicht zu verkraften, und einige gingen entschieden zu weit. Unter ihnen ist Wolf Biermann am bekanntesten geworden. Ihm brachte 1965 eine öffentliche Lesung den Maulkorb ein, und dem Veranstalter Stephan Hermlin kostete sie den Posten als Sekretär der Akademie der Künste.
Man spricht von einer Lyrik-Welle Anfang der sechziger Jahre in der DDR. Es gab viele öffentliche Lesungen mit jungen unbekannten Autoren, viele Gedichte in Zeitungen und Zeitschriften, zahlreiche Anthologien usw. Das ist das Klima, in dem Volker Braun als Dichter begann.
Der Lebenslauf des Volker Braun hat viele DDR-typische Züge. Er gehört zur ersten Generation der DDR-Bürger in dem engeren Sinne, daß die prägenden Erfahrungen in der DDR selbst gemacht wurden, nicht im nationalsozialistischen Deutschland und im Zweiten Weltkrieg. Braun ist 1939 geboren, war also bei Kriegsende sechs, bei Gründung der DDR zehn Jahre alt. Mit 21 Jahren ist er Student der Philosophie und ein junger Dichter. Zwischen Abitur und Studium liegen drei Jahre Tätigkeit in der Produktion, als Druckereiarbeiter in Dresden, als Tiefbauarbeiter im Kombinat Schwarze Pumpe, als Maschinist im Tagebau Burghammer.
1965 holt ihn Helene Weigel ans Berliner Ensemble, dann war er fünf Jahre freischaffend, dann Mitarbeiter am Leipziger Theater, am Deutschen Theater in Berlin, und seit 1977 ist er wieder am Berliner Ensemble.
Hier, im Kontext der Vita Brauns, ist die Stelle wenigstens für einen Hinweis auf einen Prosaband Brauns: Das ungezwungene Leben Kasts.12 Er enthält vier Erzählungen, 1959, 1964, 1968 und 1974 geschrieben. Sie heißen „Der Schlamm“, „Der Hörsaal“, „Die Bühne“, „Die Tribüne“. Gewiß keine Autobiographie, aber doch hat Braun aus dem Material des eigenen Lebens sehr viel und manches auch sehr direkt in seine Erzählerfigur Kast, in deren Tun, Erleben und Nachdenken übertragen. Die Erzählungen sind eine besondere Art von Kommentar zum Leben des DDR-Dichters Braun. In der letzten Geschichte bringt Braun sein alter ego zu Tode, weil der die Widersprüche in der Existenz im Realen Sozialismus nicht mehr aushält.
Braun gehört zu den Dichtern, die in der DDR und in der Bundesrepublik Deutschland Leser und Aufmerksamkeit gefunden haben, hier und dort Achtung genießen. Seine Bücher sind fast alle und fast gleichzeitig in beiden deutschen Staaten erschienen. Es gibt auch Texte, die nur in den bundesrepublikanischen Ausgaben veröffentlicht sind, zum Beispiel die Gedichte „Der Müggelsee“ und „Hinlängliche Erfahrung“ in der von Braun 1979 selbst zusammengestellten Lyrikauswahl bei Suhrkamp. Auch in dem Band der Notate Es genügt nicht die einfache Wahrheit13 gibt es einen Text „Auf andre Art Hoffnung“, der nur in der bundesrepublikanischen Ausgabe steht. Daß Braun innerhalb seiner Texte zuweilen Veränderungen vornimmt, so daß man in der Bundesrepublik es ein wenig anders liest als in der DDR, ist ein besonderes Kapitel, über das gesondert zu sprechen wäre. Ein eher lustiges Beispiel: in dem Gedicht Empfang wird aus der „Maus“ in der DDR-Ausgabe in der Bundesrepublik eine „Laus“, und zwar jene Laus, die schon in Brauns Manuskript stand und in dem langwierigen Prüfungsprozeß, der in der DDR vor der Druckgenehmigung steht, in eine Maus hat verwandelt werden müssen. Inzwischen aber steht in der Leipziger Reclam-Ausgabe auch „Laus“, weil Braun das „L“ hineinkorrigiert hat. Die alten Gedichte, die schon genehmigt sind, werden nicht neu geprüft, wenn neue Sammlungen gemacht werden.
Braun ist ein DDR-Dichter, der reisen darf und Gelegenheit hat, viel zu reisen. Er liest in West-Berlin und in der Bundesrepublik. er reist in Frankreich, Italien und England, er war in der Sowjetunion und in Sibirien, in Kuba und in Peru.
Die Wege des Lyrikers Volker Braun von 1960 bis 1980 will ich am Beispiel einiger weniger Texte und kurzer Hinweise mehr andeuten als wirklich beschreiben.
1965 erschien im Mitteldeutschen Verlag Halle das erste Lyrikbändchen Provokation für mich.14 Sturm und Drang auf DDR-Art. Ein Text mit dem doppelt adressierten Titel „Anspruch“ eröffnet den Band.15

Kommt uns nicht mit Fertigem! Wir brauchen Halbfabrikate.
Weg mit dem faden Braten – her mit dem Wald und dem Messer!
Hier herrscht das Experiment und keine steife Routine.
Hier schreit eure Wünsche aus: Empfang beim Leben

Alles Alte prüft: her, Kontrollposten Jugend!
Hier wird Neuland gegraben und Neuhimmel angeschnitten
Hier ist der Staat für Anfänger, Halbfabrikat auf Lebenszeit.
Hier schreit eure Wünsche aus: an alle Ufer
Trommelt die Flut eurer Erwartungen!
Was da an deine Waden knallt, Mensch, die tosende Brandung:
Das sind unsere kleinen Finger, die schießen nur
Bißchen Zukunft vor, Spielerei.

Zukunftsgewißheit und Selbstbewußtsein einer jungen Generation, die den Alten und dem Veralteten mit Spott und Zorn, aber voller Siegesgewißheit gegenübertritt und durchaus ohne bitterböse Feindschaft.

Nicht so feierlich, Genossen, das Denken will heitere Stirnen!
Wer sehnt sich hier nach Wilhelminischem Schulterputz?
Unsere Schultern tragen einen Himmel voll Sternen.

„Mitteilung an die reifere Jugend“ heißt ein Text, der das Gespräch zwischen den Generationen mit der Heiterkeit derer fordert, denen die Zukunft gehört.

Nein, die Bäume unserer Lust könnt ihr nicht konstruieren.
Zirkel und Lineal geben ein Plakat ab, nicht das Leben.
Unsere Vergnügungen sind zu groß, um sie in Serien zu produzieren.
Unser Glück ist total: es läßt sich nicht ausrechnen.
Unsere Vorsicht vor uns ist vergeblich: wir sind maßlos.

Ach, verlernt es, an uns zu zweifeln: ihr zweifelt an Ausgestorbenen!
Laßt die Zweige den Himmel ausspähn: dann ist der Baum jung!
Malt nicht länger das Bild unserer Anstrengung: strengt euch an!
Kreidet uns nicht länger unsere Freiheiten an: seid frei!
Sprecht nicht länger über uns: sprecht mit uns!
16

In der Bundesrepublik hieß Brauns erster Gedichtband, größtenteils identisch mit Provokation für mich, Vorläufiges. Im Titelgedicht geht es um Poesie und Revolution, um Platz und Funktion des Dichters im Prozeß der Revolution. Er spricht zu denen, die nach ihm kommen:

Doch wir nehmen es auf uns: vergessen zu sein am Mittag!
Denn auch ihr werdet das Feuer der Revolution in euch tragen und den Wind Widerspruch:
Daß das Feuer zur Flamme aufsprüh, bedarf es des Windes.
Und auch ihr werdet für die Befreiung der Menschheit schreiben und für ihre Qual:
Weil sie nur vorläufig ist, werdet ihr Vorläufige sein.
17

Wichtig für die frühen Publikationen Brauns sind Gedichte, die über ganz konkrete Themen und Ereignisse sprechen, die dem Dichter und seinem Publikum vertraut waren. Für uns sind es fremde, sind es DDR-spezifische Themen, die mit Pathos, Spott und Ironie ausgeführt werden. „Flüche in Krummensee“ redet vom Ernteeinsatz der Studenten, von Arbeitenden, die nicht auf der Höhe der Zeit sind, nicht begriffen haben, daß ihre Stunde gekommen ist, in der sie von Objekten der Geschichte zu deren Subjekten werden sollen – vielmehr schauen sie nach alter Sklavengewohnheit auf die Uhr, um den Feierabend nicht zu verpassen:

… Als aber der Feierabend
Sichtbar wird, doch nicht das Ende des Feldes, und einige
Bauern gehen zum individuellen Getier und und zum Bier und
Mehrere Erntehelfer haben nun ähnliches vor: erst da
Werden die Flüche unsäglich. Vielstimmig brichts los, gewaltiger
Eindruck für zeitfremde Leute, Chor aus Spott und Empörung über
Gelüstlose Gestalten, die nicht das Ende des Ackers
Kennenzulernen wünschen und auf die Uhr schaun, als wäre nicht
Ihre Stunde gekommen in diesem
Lärmgewohnten Jahrhundert.
18

Im gleichen Kontext ist die „Schlacht bei Fehrbellin“ zu nennen. Es geht um Prügeleien zwischen Erntestudenten und eingesessenen Bauern. Auch „Jugendobjekt“ u.a.m. gehören in diesem Bereich.19
In den sechziger Jahren war die Jazz-Musik in der DDR noch heftig umstritten; sie stand unter der Anklage, dekadent und kosmopolitisch und ein Vehikel ideologischer Subversion zu sein.
Volker Braun macht nun 1965 gerade die Jazz-Musik zum Sinnbild des zu erstrebenden neuen Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft; die Musik wird zu einer Art Vor-Schein der kommunistischen Gesellschaft der Zukunft, in der nach Marxens Formel die freie Entfaltung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist:

… bewegliche Einheit –
Jeder spielt sein Bestes aus zum gemeinsamen Thema.
Das ist die Musik der Zukunft: jeder ist ein Schöpfer!
Du hast das Recht, du zu sein, und ich bin ich:
Und mit keinem verbünden wir uns, der nicht er selber ist
Unverwechselbar er im Haß, im Lieben, im Kampf.
20

Der prominente Literaturwissenschaftler und Kritiker Hans Koch hat gegen diesen und andere Texte Brauns polemisiert. Es werde „dirigentenlosem Drauflosspielen“ das Wort geredet und letztendlich „Anarchie“ proklamiert.
1967 erschien Kriegserklärung21, Fotogramme nach dem Vorbild von Bertolt Brechts Kriegsfibel. Thema ist Amerikas Krieg in Vietnam. Schreibanlaß war eine Vietnam-Matinee des Berliner Ensembles. Wir belassen es bei dem bloßen Hinweis. Ein weiterer Gedichtband Brauns erschien 1970 in der DDR und in der Bundesrepublik gleichzeitig: Wir und nicht sie22
Das Titelgedicht ist eine Umkehrung von Klopstocks Ode „Sie, und nicht wir“.23 Klopstock begrüßt die große Revolution in Frankreich als Morgenröte der Menschheit und trauert zugleich, daß nicht die Deutschen es sind, die sie heraufführen.
Braun, ganz im gleichen Versmaß, gibt die Umkehrung:

Eins könnte mich trösten: wir haben das halbe
Land frei für den Frieden…
Das ist mein Land…
klein und lebendig…
Mein bebautes Land, zufrieden, nicht schön
Das ein Trost ist, das verletzbare, friedliche
Frei vor den Ufern der Länder! aber es tröstet mich nicht
.24

Ein gelungenes Paradoxon, der Trost, der nicht tröstet, weil, so darf man hinzufügen, über dem Teil das Ganze nicht vergessen werden kann. „Doppelter Befund“25 heißt ein anderer Text.

Kein halbes Fürstentum: zwei Länder
kleben mir an den Sohlen…
Hier wächst das Salz, dort der Pfeffer
Für mein offenes Herz.

Zwei Themen sind herauszuheben, wenn man nur kurz über den Band Wir und nicht sie spricht. Das eine ist die Bundesrepublik Deutschland und die Auseinandersetzung mit ihr, das zweite ist die Forderung, die in vielerlei Variationen wiederholte Aufforderung, Sozialismus wirklich zu machen, hier und jetzt in der DDR. Die Art des Sprechens hat sich in vielen dieser Texte verändert; der Dichter sagt jetzt gerne „wir“ anstelle des bloßen „ich“. Er liebt es, sich als Sprecher von Kollektiven zu verstehen, Kollektiven unterschiedlicher Art, vom Staat DDR an bis zu undeutlichen Gruppen Gleichgesinnter.
„Wir und ihr“26 ist ein Gedicht überschrieben. Da heißt es von der DDR und der Bundesrepublik:
„Und vieles ist möglich / Euch ist nichts möglich“ – als, so ist fortzufahren, als böse Wiederholung böser Geschichte.
Auf den Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik Deutschland antwortet Braun mit dem bös ironisch überschriebenen Gedicht „Verständigung“. Es beginnt: „In der schönen Höhle der Räuber“ und schließt:

Sie wollen wieder
Das ist gewagt, zupacken
Mit der abgehackten Hand.
Ohnmächtig vor Gier, aber bereit
Zum letzten, anmaßend
Mit blindem Auge: allein vertreten
Will der Dorn das Fleisch, erpressen
Will die Zitrone die Faust.
27

Herzensthema Brauns ist die Herstellung von Sozialismus als „ständige Aktion / Der Massen, die ihre Macht ausbaun / Wie Wohnungen auf großem Grundriß“.28 Diesen Prozeß will er in seiner Deutschen Demokratischen Republik sehen und vorantreiben. Den Repräsentanten des Status quo, den Bürokraten aller Art gilt Zorn und Spott; endlich und jetzt sollen die Werktätigen Geschichte machen und nicht mehr erleiden. „Regierungserlaß“ ist ironischerweise ein Gedicht überschrieben, das eben jene Selbsttätigkeit der Massen thematisiert.

Du bist nicht nur gut für die Drehbank, den Dumper
Den Platzkartenschalter: dein Name ist nötig
Auf den Dekreten, deine Stimme erst
Leiht den Gesetzen Kraft
… Wer wenn nicht Du…
reinigt vom Unrat
Die Maschine des Staats? du bist gut
Deine Sache zu treiben, vor aller Augen
Wie den Stahl auf der Drehbank, den Pflug
Ins verschlossene Feld.
29

Es geschah Braun, daß er sich auf besondere Weise mißverstanden sah. Dann nämlich, wenn er Präsens schrieb, aber Futur meinte, wenn er, in provozierender Absicht, die Gegenwart pries, solcher Preis aber wörtlich genommen und vergnügt hingenommen wurde. Zwei Texte dieser Art seien, der eine unvollständig, zitiert. Den 1970 erschienenen Lyrikband Wir und nicht sie eröffnet das Gedicht „Lagebericht“.

Zufriedne Helden schanzen sich in den Ebenen ein
Auf die Schminktöpfe trommeln die Heilskünstler. Lob
Trieft aus den Blättern, jeder Furz klingt als Fanfare
Revolutionäre bitten, den Status bald zu bestätigen
Die permanente Feier verkünden Schaumschlägertrupps –

In den Hallen prüft der Plan die Kraft
Der Brigaden, stärker greifen sie in die Debatten
Über ihren Köpfen. Die Kinder lernen fragen. Forschungsgruppen
Kalkulieren kühl die laufende Zukunft. Armeen
Formieren sich in den Taktstraßen zum allmählichen Schlag
Ins Kontor der Geschichte.
30

Was in „Lagebericht“ sich ankündigt, wird im „Schauspiel“ als gegenwärtiges Ereignis gefeiert – so scheint es.

Das ist kein Geheimnis mehr:
Wir lassen uns nichts mehr vormachen.
Wir sitzen nicht stumm mit glotzenden Augen.
Wir trommeln nicht Beifall auf die Folterbänke.
Wir zahlen nicht grölend das Spiel der Großen.
Das Schlachten der Körper oder wenigstens Seelen.
Der Auftritt der Massen hat begonnen
Auf der grellbeleuchteten Szene:
Überall finden Proben statt ohne Netz

Jeder sagt was er denkt – wir spielen das Stück
Unsres Lebens. Es kann nicht mehr abgesetzt werden.
(Das Banjo wartet auf seinen Einsatz.)
Verständlich wie eine Losung, leicht wie ein Gewand
Das jedem paßt, führn wir sie langsam herauf:
Die Freiheit
31

Provokateure oder: Die Schwäche meiner Arbeit überschreibt Braun eine der „Notate“32. Allzu ungeduldig mit der trägen Wirklichkeit verliere er zuweilen „die literarischen Nerven“ und „setze ein ziemlich spätes, utopisches Resultat aufs Papier.“ Als Beispiel zitiert Braun unseren letzten Text und fährt fort. „Solche Behauptungen also. Die werden aber gern und ungeniert für bare Münze des Tages genommen, und die Provokation stürzt ab in die Idylle. Die neue Gesellschaft, ich müßte es mal wissen, kompensiert Literatur noch in der selbstgefälligen Weise, die die zuläßt. Sie läßt sich nicht Utopie als Kritik anbieten; sie mißversteht sie, in ihrem neuen verschwollenen Selbstgefühl, als Gegenwart, nämlich als belobte.“
Gegen die symmetrische Welt nennt Braun den 1974 in der DDR und in der Bundesrepublik gleichzeitig erschienenen Gedichtband.33 Der Titel ist ein Hölderlin-Zitat.34 Die symmetrische Welt, das ist die mit dem Kopf geordnete Welt, aber noch nicht die „Menschenharmonie“, so sagt es Hölderlin, „Menschenheimat“ nennt es Bloch. Hölderlin ist der Dichter, den Braun, neben Klopsrock. am häufigsten beruft, gerne dann, wenn es um revolutionäre Hoffnung geht.

AN FRIEDRICH HÖLDERLIN

Dein Eigentum auch, Bodenloser
Dein Asyl, das du bebautest
Mit schattenden Bäumen und Wein
Ist volkseigen;

Nicht träge
Sind wir geboren, Mann, dein ,Gott in Stahl gehüllt‘
Geht unter den Werktätigen:
Bis doch zu eingeborenem Brauch
Wird, was uns guttut, und
Brust an Brust weitet sich so, daß sie aufsprengt diese
eiserne
Scheu voreinander!
35

Hölderlins „Gott in Stahl gehüllt“ steht für den Geist der Revolution. Diesen Geist also sieht Braun unter den Werktätigen in der DDR gehen: das ist nun allerdings gar nicht beruhigend, und es ist auch offen, wohin und gegen wen der sich wendet. Gewiß freilich ist auch bei diesem Text an die futurische Bedeutung des Präsens zu denken und auch daran, daß die Utopie als Provokation der Gegenwart gemeint ist, gemeint sein kann.

Heinrich Mohr, aus Lothar Jordan, Axel Marquardt, Winfried Woesler (Hrsg.): Lyrik – Blick über die Grenzen. Gedichte und Aufsätze des zweiten Lyrikertreffens in Münster, Fischer Taschenbuch Verlag, 1984

„Damals, als ich aber ganz unters Eis sollte“

– Volker Braun im Visier der Zensur. –

Seit Volker Braun Ende der 50er Jahre als Dichter in Erscheinung trat, hatte er hart mit der DDR-Zensur zu kämpfen, die euphemistisch „Druckgenehmigungspraxis“ genannt wurde. Achtzehn Jahre nach der Fertigstellung seines Stücks Lenins Tod (1970) durfte er die Uraufführung dieses Frühwerks erleben. Vor der Gorbatschow-Ära hatte die sowjetische Botschaft kein Interesse daran, dass sich ein Autor auf so kritische Weise mit der Russischen Revolution auseinandersetzt.
Von vielfältigen Schikanen, die bis zur angedrohten Exmatrikulation des Leipziger Philosophiestudenten reichten, ist hier zu reden. Die zehn Jahre ältere Christa Wolf war es, die dem Kollegen in dieser Angelegenheit am 1. Mai 1963 mit einem Brief an Siegfried Wagner, den Leiter der Kulturabteilung des SED- Zentralkomitees, zur Seite stand.
Mitunter wurden Theaterpremieren „nicht genehmigt“ – so bei dem Parabelstück Großer Frieden, 1978 am Berliner Ensemble. Oder: Der literarisch Interessierte erfuhr durch die Verbreitung von Gerüchten im November 1987 – bei der Hallenser Buchpremiere des Lyrikbandes Langsamer knirschender Morgen – in einer „verbotenen Veranstaltung“ zu sitzen. Trotz der fehlenden Genehmigung bzw. des Verbots fanden diese Veranstaltungen statt. Dies zeigt, wie verunsichert die staatlichen Behörden im Umgang mit dem Dichter reagierten.
Von Anfang an sind Zensureingriffe in Brauns lyrischen, dramatischen, erzählerischen und essayistischen Texten belegbar. Braun musste über Jahrzehnte mit erheblichem Gegenwind leben, obgleich er sich von Anfang an als sozialistischer Autor positioniert hatte. Provokativ wirkte oft bereits die Tatsache, dass er Losungen der Partei und des Staates wie „die führende Rolle der Arbeiterklasse“ hinterfragte. Seine Erfahrungen in der „Schwarzen Pumpe“ bei Hoyerswerda, im „real existierenden Sozialismus“, boten Anlass genug, Floskeln als solche zu entlarven. Auch eckte der junge Poet an, wenn er dem Volk aufs Maul schaute und dessen Sprache dem offiziellen Parteijargon entgegensetzte. Der Zensor war zur Stelle, als Braun den „antifaschistischen Schutzwall“ eine „Mauer“ nannte. So heißt ein frühes Gedicht dann „Die Grenze“ (Reclam, 1972). Gerade in der Lyrik sieht man, wie der Dichter darum kämpfte, den Lesern nach und nach die Urfassungen seiner Texte zugänglich zu machen.
Als Theaterdichter debütierte Braun 1966 im Forum, einer Wochenzeitung des Jugendverbandes, mit dem Stück Die Kipper. Dieses Schauspiel erlebte sechs Jahre später seine Uraufführung. Am Ende der dritten Szene konfrontiert Paul Bauch vielzitierte propagandistische Sentenzen („die beste Welt“, „eine Epoche voraus“…) mit der Arbeit im Schlamm. Nach Brauns Regiebemerkung „provoziert“ lässt er seinen Helden sagen:

Das ist das langweiligste Land der Erde. – Das ist der dümmste Betriebsleiter der Erde.

Vor allem die erste Aussage rief höchste Parteistellen auf den Plan. Die Figurenrede zur Stückaussage erhebend, wurde der Satz verboten. Noch Jahre später, bei Aufführungen in Berlin, machte der Darsteller des Paul Bauch an besagter Stelle eine lange Pause, in der es tosenden Beifall gab. Ein Großteil des Publikums wusste, welcher Satz nun hätte folgen müssen.
Ähnliche staatliche Eingriffe lassen sich an den langwierigen Publikationsgeschichten seiner besten Prosaarbeiten zeigen: Nur durch glückliche Umstände in der Sommerpause gelang es 1975 der Redaktion von Sinn und Form, die Unvollendete Geschichte zu publizieren. Erst 1989 konnte die Novelle die Leser in Buchform erreichen. In seinem Text hatte Braun gezeigt, zu welch fatalen Folgen es führen kann, wenn staatliche und geheimdienstliche Zwänge in das Leben junger Menschen eingreifen.
Der satirische Hinze-Kunze-Roman (1985) lag etwa vier Jahre ohne Druckgenehmigung im Mitteldeutschen Verlag. Eine „Schöngeistige Lesehilfe“ Dieter Schlenstedts trug zur Drucklegung des Buches bei. Im Falles seines ersten Romans ließ der Autor Zensur faktisch nicht zu:

In den vier Jahren versuchter Streichungen ist praktisch nichts am Text verändert worden. Außer ein paar stilistischen Dingen, die ich selbst vornahm (für den plumpen Begriff Repression das elegante Wort Gängelband. Ein Gewinn.) (Braun 2019) 

In dem Roman hatte Braun eines seiner zentralen Themen aufgegriffen: Die bereits durch Diderot und Hegel philosophisch reflektierte Dialektik zwischen Herr und Knecht. Dies musste schon deshalb provokant wirken, da es in der „sozialistischen Menschengemeinschaft“ ein Oben und Unten vermeintlich gar nicht gab.
Eine besondere Gabe Volker Brauns besteht darin, dass er das literarische Erbe niemals museal, sondern stets aktuell-eingreifend rezipiert.

Wir (die Vertreter der Sächsischen Dichterschule – U. K.) berieten uns zugleich mit den Toten, die die Worte genau und hart fügten, Klopstock, Hölderlin, Büchner; sie waren die überlebenden und trugen enorm zur Geselligkeit bei. (Schriften und Reden, 2019) 

Im Streit um Brauns Essay „Büchners Briefe“ (1978), zunächst als Nachwort für ein schmales Brief-Bändchen gedacht, kulminierte sein Kampf mit der Zensurbehörde. Braun hatte Sequenzen aus Büchners Briefen mit Kommentaren versehen. An einer Stelle heißt es:

Büchner blickte in ein Nichts.
Wohin denn blicken wir?

Wenig später lässt er den Dichter des Woyzeck zu Wort kommen:

Daß übrigens noch die ungünstigsten Kritiken erscheinen werden, versteht sich von selbst; denn die Regierenden müssen doch durch ihre bezahlten Schreiber beweisen lassen, daß ihre Gegner Dummköpfe oder unsittliche Menschen sind.
Kein Kommentar.

1978, nach der Biermann-Krise, ging Braun aufs Ganze: In seinem Tagebuch, das zwei Jahrzehnte nach dem Umbruch zugänglich wurde, notiert er am 7. März 1979:

des gemunkels wegen, meine bücher seien aufs eis gelegt, ließ ich mich gestern bei höpcke (dem Stellvertreter des Kulturministers und von 1973 bis 1989 Leiter der Hauptabteilung Verlage – U. K.) melden. zu meinem schreck bestätigt er alles schlankweg. der aufsatz (über Büchner – U. K.) sei eine interpretationshilfe.

Gleich drei zur Leipziger Messe geplante Bücher Brauns waren gestrichen.

ich erklärte eisig, ich sehe mich als feind behandelt, wenn das die antwort auf den büchner-text sei, wären alle fragen offen. (Werktage I, S. 189)

Höpcke, der sich gern als „Bücherminister“ im „Leseland“ feiern ließ, spürte, dass einer seiner besten Autoren „gleichsam die koffer gepackt“ hatte. Noch am gleichen Tag ruderte er etwas zurück.
Der Essay „Büchners Briefe“ erschien 1978 in Frankreich und 1981 in der Bundesrepublik. Für Forscher der DDR war der Text bis 1988 nicht zitierbar, da er im offiziellen Verständnis des Staates gar nicht existierte. Im gleichen Jahr versuchte die Zensur, den Film Lieb Georg zu unterdrücken, in dem Ulrich Mühe an den Lebensstationen des Dichters dessen Texte las. In dem Streifen hatten sich Dürrenmatt, Müller und Braun zu Büchner geäußert. Die Proteste vieler Künstler gegen diesen Zensureingriff waren so massiv, dass die Behörden den bereits angekündigten Dokumentarfilm Tage später stillschweigend zu mitternächtlicher Stunde im DDR-Fernsehen senden ließen.
Nach einer Lesung in Zürich, dem Sterbeort Büchners und der Exilstation Lenins, entstand Brauns Gedicht „Spiegelgasse“. Wie Peter Weiss in seiner Ästhetik des Widerstands sieht auch Braun die Spiegelgasse als Sinnbild dafür, dass die künstlerische und politische Avantgarde hier zwar nebeneinander existierte, nicht aber miteinander kommuniziert. Der russische Exilant war – zeitversetzt – nicht nur Nachbar des Dichters und Revolutionärs Büchner, sondern zeitgleich lebte Lenin mit dem dadaistischen Cabaret Voltaire in dieser Gasse. Für Braun, der Büchner im „toten Winkel der Geschichte“ sah, bot das Gedicht zugleich Anlass, im Schlussvers über seinen eigenen Platz nachzudenken:

Dein Zimmer leer: wirst du es brauchen.

So zu lesen in einer Auswahlausgabe des Suhrkamp Verlages von 1979. In der DDR-Fassung – in Brauns zeitgleich erschienen Band Training des aufrechten Gangs – heißt der abschließende Vers:

Dein Zimmer leer: wer wird es brauchen. 

Die Reihung solcher „kleinen“ Eingriffe, die die Aussagen deutlich veränderten, ließe sich fortführen. Mitunter wurde ein Wort ausgetauscht, manchmal ein Buchstabe ersetzt. In dem Gedicht „Empfang“ schildert das lyrische Ich eine – oberflächlich betrachtet – fast freundschaftliche Begegnung mit einem hochrangigen Parteifunktionär. Die letzte Verszeile, entstanden Mitte der siebziger Jahre, lautet:

Als ich auf die Straße trete, schrumpfe ich auf die Größe einer Laus.

Das letzte Wort der DDR-Fassung war „Maus“.

Natürlich war die Metamorphose der Laus ein Kompromiß, damit der Band nicht weiter liegen blieb. (Braun, 2019) 

Jahre zuvor tilgte die Zensur gar einen ganzen Vers: Brauns zweiter Lyrikband Wir und nicht sie (1970) setzt mit dem Gedicht „Lagebericht ein“. Die ersten vier Verse lauten: 

Zufriedne Helden schanzen sich in den Ebenen ein
Auf die Schminktöpfe trommeln die Heilskünstler, Lob
Trieft aus den Blättern, jeder Furz klingt als Fanfare
Die permanente Feier verkünden Schaumschlägertrupps –

In der zweiten Auflage (von 1976) heißt das Gedicht des geborenen Dresdners „Lagebericht: Sachsen“. Die Eingangsstrophe hat nunmehr einen Vers mehr:

Revolutionäre bitten, den Status bald zu bestätigen.

Der Dichter, der sein Land zunehmend in einer „stehenden Zeit“ erlebte, schrieb mir im April 1980 in das ostpolnische Lublin: Die unterdrückte Zeile habe „immer dazugehört“ und konnte erst später „geöffnet“ werden.
Braun spielte vor, in und unmittelbar nach dem Umbruch 1989 als Dichter und Denker eine herausragende Rolle. Stellvertretend sei an das Drama Die Übergangsgesellschaft und an sein Gedicht „Das Eigentum“ erinnert, das Kultstatus erlangte.
Doch das begann sich nach der Wende zu ändern. Der viel gelesene Autor erfuhr nun eine andere Zensur: die des Marktes, der Unterhaltungsbedürfnissen frönt und den Wert von Literatur nach Verkaufszahlen misst: Die Übergangsgesellschaft wurde nach 1989 am Berliner Maxim-Gorki-Theater – dem Ort der fulminanten Uraufführung vom März 1988 – derart verhackstückt, dass weder die Fabel noch der Braun-Text erkennbar blieben. Selbst in „seinem“ Theater, dem Berliner Ensemble, an das ihn Jahrzehnte zuvor Helene Weigel geholt hatte, kam er, namentlich in der „Peymann-Ära“, nicht auf die Bretter: Doch, am Ende der letzten Spielzeit des Theatergurus, durfte Brauns Stück Die Griechen gespielt werden.
Auch nachdem der Büchnerianer Braun im Jahre 2000 den Büchner-Preis erhielt, tauchten seine Titel auf keiner Bestseller-Liste auf. Braun bedient nicht das Leserinteresse nach eingängigen dickleibigen Romanen. Seine schmalen, gewichtigen und hochartifiziellen Bände erreichten weit weniger Leser. Brauns opulente Tagebuchbände sind notwendige Angebote für Spezialisten. Einen populären Querschnittsband mit lyrischen, epischen und dramatischen Texten Brauns – den es zu DDR-Zeiten wenigstens unter dem Ladentisch gab – sucht man heute vergebens. Den Hörfunk ließen Brauns Angebote mehrheitlich kalt. Es gibt kein Hörbuch Brauns, auch keines, das er selbst liest. Er ist kein Autor, der sich selbst ins Gespräch bringt.
Die Verfilmung der Unvollendeten Geschichte, die Frank Beyer 1991 unter dem Titel Der Verdacht vorlegte, fiel in das vielzitierte Wendeloch. Beim Blick auf die Wirkungsgeschichte Brauns fällt auf, dass die zehnbändige, an Brecht-Editionen angelehnte Hallenser Werkausgabe, Jahre später keine Fortsetzung fand.
Wie Christoph Hein schrieb auch Braun in den letzten Jahren vornehmlich Prosa. Seine derb-utopische Erzählung Die hellen Haufen gelangte über dramatische Bearbeitungen auf die Bühnen von Rudolstadt und Senftenberg.
Braun wird man in Talkshows nicht finden. Es ist nicht sein „Format“, obgleich gerade er als Poet und Mensch das Format besitzt, die entscheidenden Fragen der Menschheit sprachmächtig zur Diskussion zu stellen.

Ulrich Kaufmann, aus Palmbaum. Literarisches Journal aus Thüringen. Heft 72, 2021

 

BERLIN-KÖPENICK, SEELENBINDERSTRASSE 21
Für Volker Braun

Die guten Geister sind fort. Die Räume verwaist, obwohl
noch alles an seinem Platz steht, das Klavier,
die Menora, Fritz Cremers Porträt, das Plakat Madrid 38,
am Fenster der Stapel Rezensionsexemplare,
die unbesprochen blieben. In den Regalen, Schulter
an Schulter, unsere Bände, zerlesen, mit Anstrichen, Zetteln,
freundlichen Widmungen. Noch einmal vereint
die Kollegen Mickel und Kant, Christa, Hermlin, Gosse,
Daniela, Tragelehn mit Zigarre, auch Robert Cohen
aus New York, Karin und Heinz, Frank und Therese,
Kirsch-Rainer mit seinem Flachmann, sogar
der Choleriker Czecho, Wenzel, Du und ich, die ganze
verschworene, versprengte Gemeinschaft, die hier saß, aß,
sich vorlas, rauchte, Rosenthaler Kadarka
und Sekt trank, bis nach Mitternacht, bis zum Abwinken
lachte und sich Gedanken machte über das Land
und eine bessere, wirklich veränderte Welt. Auch Wohnungen
haben wie Bücher ihr Schicksal. Ein Anwalt, Architekt
oder Spielcasinobesitzer wird bald als Nachmieter
einziehen und die Stimmen nie hören, Silvias Fragen:
Wo verbirgt sich der verletzliche Mensch? Wer will
keinen Kaffee? Dieters Exkurse über Heidegger,
Lukács und die Abenteuer in der Werkzeugabteilung
des örtlichen Baumarkts. Ich erbe von den Freunden
fünf Fotos, die Anthologie Der jüngste Tag, die sie
zwischen christlichen Gesangbüchern einst
in einem Weimarer Antiquariat entdeckten, sowie,
eine einmalige Archivalie, ein Glas Konfitüre,
von Frau Prof. Dr. Schlenstedt, geborene Pollatschek,
eigenhändig gekocht und beschriftet: 4-Frucht,
Berlin, 2009
steht auf dem Etikett. Wir müssen
uns treffen, zur Verkostung, an einem Tag im Frühsommer,
auf Usedom oder in der Uckermark, ein Tischtuch
auf grüner Wiese, ich besorge Rotwein, du frisches Baguette
und sächsische Butter. Vergiss deine Blutzuckerwerte, ich
unterbreche meine Diät. Mit jedem Bissen lass uns die Bitterkeit
des Abschieds schmecken und, mehr noch, die Süße des Lebens.

Steffen Mensching

 

 

In der Reihe Klassiker der Gegenwartslyrik sprach Volker Braun am 9.12.2013 in der Literaturwerkstatt Berlin mit Thomas Rosenlöcher.

Welche Poeme haben das Leben und Schreiben von Karl Mickel und Volker Braun in der DDR und Michael Krüger in der BRD geprägt? Darüber diskutierten die drei Lyriker und Essayisten 1993.

 

 

Die Geschichte macht keinen Stopp von Peter Neumann. Ein Besuch beim Büchnerpreisträger Volker Braun, der den Weltgeist immer noch rumoren hört.

 

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Katrin Hillgruber: Der ewige Dialektiker
Der Tagesspiegel, 5.5.2019

Rainer Kasselt: Ein kritischer Geist aus Dresden
Sächsische Zeitung, 7.5.2019

Hans-Dieter Schütt: Die Wunde die bleibt
neues deutschland, 6.5.2019

Cornelia Geißler: „Der Osten war für den Westen offen“
Frankfurter Rundschau, 6.5.2019

Helmut Böttiger: Harte Fügung
Süddeutsche Zeitung, 6.5.2019

Erik Zielke: Immer noch Vorläufiges
junge Welt, 7.5.2019

Ulf Heise: Volker Braun – Inspiriert von der Widersprüchlichkeit der Welt
mdr.de, 7.5.2019

Oliver Kranz: Der Schriftsteller Volker Braun wird 80
ndr.de, 7.5.2019

Andreas Berger: Interview zum 80. Geburtstag des Dresdner Schriftstellers Volker Braun
mdr.de, 7.5.2019

 

 

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Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Volkerbraun“.

 

Bild von Juliane Duda mit den Zeichnungen von Klaus Ensikat und den Texten von Fritz J. Raddatz aus seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Hier „Braun, der“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Volker Braun

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