– Zu Ernst Jandls Gedicht „Lichtung“ aus dem Band Ernst Jandl: Laut und Luise. –
ERNST JANDL
Lichtung
manche meinen
lechts und rinks
kann man nicht
velwechsern.
werch ein illtum!
Wenn Komiker einen deutsch sprechenden Chinesen nachahmen wollen, so greifen sie zu einem einfachen Trick: Immer dort, wo ein „R“ hingehört, sprechen sie ein „L“.
Nach diesem Muster funktioniert weitgehend auch das Gedicht „lichtung“ von Ernst Jandl, das zu seinen bekanntesten gehört. Jedoch erschöpft sich der Witz hier nicht im mechanischen Vorgang des Austausches, im billigen Aha-Effekt.
Diese Behauptung läßt sich leicht überprüfen. Dechiffriert man nämlich das Umkehrprinzip, so erhält man zunächst nicht mehr als eine banale Mitteilung: Manche seien der Meinung, Rechts und Links könne man nicht verwechseln; doch sei dies ein Irrtum. Bleibt noch die Überschrift: Aus einer offenen Stelle im Wald wird „Richtung“.
Was aber weiter? Wieso Richtung? Bevor man danach zu fragen beginnt, muß man sich rasch noch einmal vergegenwärtigen, was im Moment der Auflösung im Leser vorgeht. So einfach steht die Sache nämlich nicht, daß Jandl die banale Weisheit einfach nur versteckt hätte.
Was das Gedicht sagt, ist bereits in seinem Bauprinzip enthalten. Eine Verdoppelung, die doch nichts Überflüssiges enthält. „werch ein illtum!“ – welch ein Irrtum, daß man Rechts und Links nicht verwechseln kann! Das Gedicht verwechselt ja selbst: nicht Rechts und Links, doch die jeweiligen Anfangsbuchstaben als für die Begriffe stehend.
Seine Freude hat der Leser also bereits gehabt, wenn er sich danach fragt, wieso Rechts und Links verwechselt werden könnten. Es ist übrigens, um noch einmal dabei stehenzubleiben, eine Freude ganz im Sinne der „konkreten Poesie“, zu der sich Jandl mit mancherlei Einschränkung bekennt (er hat nebenbei auch traditionelle Gedichte geschrieben). Den Irritations-, Erkenntnis- und (oft) Erheiterungscharakter hat diese Lyrik sich, obgleich Avantgarde von gestern, bewahren können. Und schaut man sich die gegenwärtige Lyrikproduktion an, der Spielformen nicht ganz geheuer sind und die wenig ästhetische Vitalität besitzt, kann man sich nach Gedichten dieser Art zurücksehnen. Allerdings: wiederholen läßt sich das wohl nicht.
Jandls „lichtung“ erschien 1966 in dem Band Laut und Luise. Die Große Koalition gab es zur Entstehungszeit des Gedichts noch nicht. Immerhin: die Annäherung der beiden Volksparteien zeichnete sich schon ab. Ein Verlust des Profils auf beiden Seiten des politischen Spektrums: das kann, muß aber nicht gemeint sein.
Eine andere, politisch entgegengesetzte Auslegung der Verse ist denkbar: nach der These, Extremismus sei, von welcher Seite auch, in seinen Konsequenzen austauschbar; totalitäre Staaten seien vergleichbar, egal ob sie auf linker oder rechter Ideologie basierten. Die mißverständliche Vokabel vom „Linksfaschismus“ gehört hierher. Und liest man das Gedicht vor der Folie aktueller Ereignisse, so fällt einem noch eine weitere Formel ein. Nämlich diejenige von den „Kindern Hitlers“, die im Ausland für die Mitglieder jener Gruppierung geprägt wurde, die sich selbst „Rote Armee Fraktion“ nennt. Terrorismus von heute, der sich selbst als links begreift, unterhöhlt das Vertrauen in jede linke Politik; oder läßt sich von rechter Seite doch gut dazu benutzen.
Es kann auch ganz anders sein. Einfach so: viele Menschen (Jandl gehört zu ihnen) haben Schwierigkeiten damit, Rechts und Links als Richtungen auseinanderzuhalten. Sie verwechseln das ständig. In der Fahrprüfung zum Beispiel kann das schlimm enden. Ärgerlich ist es auch für den, der sich einen Weg in einer fremden Stadt erklären läßt.
Das Gedicht ist für diese Auslegungen offen: ein Angebot an den Leser. Ohne Botschaft. Ohne Ewigkeitsansprüche. Was indes seine Unvergeßlichkeit nicht ausschließt. Für mich ist es eins der wenigen, die ich stets korrekt – und vollständig – aufsagen kann.
Volker Hage, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Hundert Gedichte des Jahrhunderts, Insel Verlag, 2000
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