Volker Hage: Zu Reiner Kunzes Gedicht „Tagebuchblatt 74“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Reiner Kunzes Gedicht „Tagebuchblatt 74“. –

 

 

 

 

REINER KUNZE

Tagebuchblatt 74
(für Karl Corino)

1
Das waldsein könnte stattfinden
mit mir

(Nicht mehr bedroht sein
von allen äxten

Eine wasserader
unter den wurzeln)

2
Ich aber will nicht einstimmen
müssen

(Lieber immer neue äste treiben
zu wehren der axt

Lieber die wünschelruten der wurzeln
wieder und wieder verzweigen)

 

Gegen Verlockungen

Ein einfaches Gedicht. Die zwei Anfangszeilen, die beim ersten Lesen Verwirrung stiften könnten, erschließen sich nach Kenntnis der übrigen. Ein Gedicht für jene, denen es nicht leichtfällt, sich gegen Widerstände durchzusetzen, die aber zur Anpassung nicht (nicht mehr oder noch nicht) bereit sind. Kämpfernaturen hingegen, denen Verweigerung und Protest nicht Mühe, sondern Spaß bereiten, dürften diese Verse nur ein Lächeln kosten.
Es ist ein Gedicht, das Mut macht. Gemeint ist nicht Gratismut, nicht das laute Wort, das auf der Welle der Übereinkunft schwimmt. Gemeint ist Mut zum Risiko: der Wille, vor Hindernissen nicht zu kapitulieren, die Bedrohung der eigenen Person einzukalkulieren, unter Umständen sogar den Verlust scheinbarer Freunde, der Heimat oder der ökonomischen Existenz auf sich zu nehmen. Die Axt, die im Gedicht den Baum bedroht: sie steht für jene Werkzeuge, mit denen Menschen, die sich querlegen, entwurzelt, und das heißt vernichtet werden können.
Vom Kampf spricht das Gedicht in seinem zweiten Teil. Die Absicht, neue Äste zu treiben, ist der Wunsch, zum Widerstand fähig zu werden und für diesen Widerstand immer wieder einen Ausdruck zu finden – mag dieser Ausdruckswille auch hilflos sein. Hilflos, wie es möglicherweise der Versuch der Wurzeln ist, sich „wieder und wieder“ zu verzweigen, das heißt: Fuß zu fassen durch Weitertreiben. Wünsche und Hoffnungen sind angesprochen. Sie, „die wünschelruten“, stecken tief (in der Erde, im Menschen), sie lassen sich nicht kappen. Doch dies ist kein heroisches Gedicht. Auch wenn es heißt:

Ich aber will nicht einstimmen
müssen

Der zweite Teil des Gedichts ist ja eine Antwort auf den ersten. Und dieser erste Teil zieht das Gedicht völlig aus der Gefahrenzone von Durchhalteparolen. Kunzes Verse gestehen dort nämlich ein, wie gefährdet der Schwache, der Freundliche, der Verbindliche ist. Erst dieses Eingeständnis macht das Gedicht wahr.
Seine erste Hälfte beschwört die Versuchung zur Anpassung, zur Konformität, zum Opportunismus. Sie verweist auf die Verlockungen des Mitmachens, des Mitschwimmens, des Einverstandenseins. Aus ihr spricht der Wunsch, nicht länger bedroht zu sein „von allen äxten“, von Angriffen, von Widerspruch und Schuldspruch, von Einsamkeit und Entwurzelung. „Eine wasserader / unter den wurzeln“ – so einfach drückt sich hier die Sehnsucht nach Sicherheit der Existenz aus, nach Versorgung und Entfaltung.
Und jetzt erst wird der Anfang klar: die wichtigste Zeile. Das Ich des Gedichts benennt darin sein Anfälligkeit. In diesem Eingeständnis der eigenen Schwäche und Verführbarkeit liegt die Stärke des Gedichts. So verstanden, bedeutet „waldsein“ das Unterkriechen im Mehrheitswillen oder – schlimmer noch – in dem der tonangebenden, der normbildenden, der herrschenden Gruppe. „Das waldsein könnte stattfinden / mit mir“ – es könnte! Das Gedicht aber hat eine andere Reihenfolge. Der zweite Teil stößt den ersten um.
Reiner Kunze hat durch seine Biographie bewiesen, daß dies keine leeren Worte für ihn sind. Er kam aus der DDR erst in die Bundesrepublik, nachdem er jahrelang Angriffe und Anfeindungen ertragen hatte. Doch macht es sich mit diesem Gedicht leicht, wer darin allein Zustände in der DDR beschrieben wähnt. Anpassung und Leisetreterei werden nicht nur dort gefordert und gefördert. Um ein Beispiel gefragt, läßt sich eine scheinbare Bagatelle nennen. Sie trug sich in Hamburg zu. Dort wurde einem Fahrer der U-Bahn nahegelegt, während des Dienstes seine Ansteckplakette „Atomkraft? Nein danke!“ abzunehmen. Er weigerte sich, obgleich er mit seiner Entlassung rechnen mußte, die dann auch ausgesprochen wurde (inzwischen von einem Arbeitsgericht zurückgewiesen). Die Aufforderung zum Nachgeben, die Verlockung zum „Waldsein“ lauern in jedem Alltag.

Volker Hageaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierter Band, Insel Verlag, 1979

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