Walter Helmut Fritz: Zu Kurt Martis Gedicht „Großer Gott klein“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Kurt Martis Gedicht „Großer Gott klein“ aus Kurt Marti: Schon wieder heute. 

 

 

 

 

KURT MARTI

Großer Gott klein

grosser gott:
uns näher
als haut
oder halsschlagader
kleiner
als herzmuskel
zwerchfell oft:
zu nahe
zu klein –
wozu
dich suchen?

wir:
deine verstecke

 

Ferne und Nähe

Wir: Gottes Verstecke? Theologie und Poesie sind verbunden in einem erstaunlichen Bild. Kurt Marti ist seit über zwanzig Jahren Prediger in Bern. Ein Mißverständnis wäre es, das, was in seinen Strophen zum Vorschein kommt, nur als „Botschaft“ zu verstehen oder als Kommentare zu den Evangelien. Seine Verse fügen sich zu Gedicht-Figuren: die in „Bärner Umgangsschprach“ ebenso wie seine berühmten Leichenreden, die Etüde ebenso wie das Gebet:

Unser tägliches Brot
gib uns heute
damit wir nicht nur
für Brot uns
abrackern müssen
damit wir nicht
von Brotgebern
erpreßt werden können
aus Brotangst
gefügig werden.

Ist Gott uns näher als Haut oder Schlagader, und als was ist er uns näher? In einem seiner schönsten Bücher, dem Notizen-Band Zärtlichkeit und Schmerz, wehrt sich der Autor dagegen, Gott auf einen Begriff, etwa den der Person, zu bringen. Warum sollte er nicht, so fragt er, Geschehen oder Möglichkeit oder Akt oder Schwingung sein? Martis Wunsch, „daß Gott ein Tätigkeitswort werde“, hängt zusammen mit seiner Überzeugung, daß Theologie „praktisch“ sein, im „Diesseits“ sich bewähren müsse.
Ist Gott kleiner als Herzmuskel und Zwerchfell? Das Gedicht hat – unausgesprochen – unter anderem zu tun mit der Frage nach der Transzendenz. Marti erwähnt einmal die in der Geschichte des Denkens zuweilen erwogene Möglichkeit, daß Gott nach der Erschaffung der Welt sich zurückgezogen hat. Aus diesem Rückzug könnte der Gedanke von seiner Jenseitigkeit entstanden sein. Marti stellt nun die für ihn kennzeichnende, mit dem Gedicht eng zusammenhängende Frage:

Wie aber, wenn Gott sich in diesseitige Unauffälligkeit zurückgezogen hatte, ins Inkognito dessen, was nichts gilt, nichts ist, nichts bedeutet im Denken der Philosophen, im Kalkül der Machthaber?

Wenn er sich etwa „Zartheit“ als Name und Inkognito gewählt hätte?
„Spekulation“, gewiß. Aber sie führt unmittelbar zu dem Gedicht, das ohne sie kaum verständlich wäre, führt auch zu dem, was Marti die Wiederentdeckung des täglichen Wunders nennt, das Außerordentliche des Selbstverständlichen. Mit anderen Worten: derartige Gedanken bilden das Kraftfeld, in dessen Linien man das Gedicht entstehen sieht.
Ein Poem von klarem Umriß, das mit wenigen einfachen Worten auskommt, nicht assoziativ-schweifend, sondern ruhig-unruhig auf die beiden letzten Zeilen gerichtet. Was dem Text vorausgeht, ist eine Bewegung aus großer Ferne in immer deutlichere Nähe. Die Erfahrung solcher Nähe, solcher „Nachbarschaft“ (Nachbar ist, wer nahe mit einem zusammen wohnt) ist die Mitte dieser Verse, die zudem aus der Frage nach dem Unterschied von Größe und Kleinheit, von Ferne und Nähe leben. Gott: zu nahe, als daß man ihn suchen müßte.
Es gibt bei Karl Barth, der für Marti (etwa durch die Vorstellung von der „Menschlichkeit“ Gottes) wesentlich geworden ist, die Bemerkung, Gott dürfte „der kleinste Seufzer und das kleinste Lachen des Menschen wichtiger sein als der Dienst der wichtigsten Institutionen, der Bau der großartigsten Apparate“. Ist in Martis Zeilen nicht auch das Echo eines solchen Gedankens zu vernehmen?

Walter Helmut Fritzaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Neunter Band, Insel Verlag, 1985

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