Walter Hinck: Zu Peter Huchels Gedicht „Ophelia“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Peter Huchels Gedicht „Ophelia“ aus Peter Huchel: Ausgewählte Gedichte. –

 

 

 

 

PETER HUCHEL

Ophelia

Später, am Morgen,
gegen die weiße Dämmerung hin,
das Waten von Stiefeln
im seichten Gewässer
das Stoßen von Stangen,
ein rauhes Kommando,
sie heben die schlammige
Stacheldrahtreuse.

Kein Königreich,
Ophelia,
wo ein Schrei
das Wasser höhlt,
ein Zauber
die Kugel
Am Weidenblatt zersplittern läßt.

 

Vom Tod in Stacheldrahtreuse

Ein Königreich, wo Zauber die todbringende Waffe unwirksam macht, war schon das Dänemark des Shakespeareschen Hamlet nicht. Ophelias Vater stirbt durch den Degen des Geliebten, und es ist der Weidenbaum am Wasser, bei dem die Geistverwirrte „von ihren Melodien“ hinuntergezogen wird „in den schlamm’gen Tod“.
Aber dieses poetische Herzstück des Dramas, der Bericht der Königin über Ophelias Ende (IV, 7), hat die Phantasie späterer Lyriker magisch beflügelt. In Rimbauds Gedicht „Ophélie“ (1870) überbieten sich die Trauerbezeugungen einer mitfühlenden Natur, Ophelia selbst ist zu einem Stück Natur geworden: schon mehr als tausend Jahre treibt die schneebleiche Gestalt im Strom, erinnernd an allzu zerbrechliche Anmut und Menschlichkeit.
Die wächserne Schönheit der Rimbaudschen Gestalt ist in Georg Heyms Ophelia-Gedicht dahin („Im Haar ein Nest von jungen Wasserratten“). Aber auch hier trägt der Strom den Leib „durch Ewigkeiten fort“. Nur geht die Fahrt durch geschichtliche Zeit hindurch, vorbei an Ufern, die von Maschinenkreischen dröhnen. Ophelia sammelt um sich die Aura des Leids und die Ahnung der modernen Welt, sie trägt den „dunklen Harm“ des Maschinenzeitalters einem Feuerhorizont, dem Untergang zu.
Den Schockeffekt eines Heymschen Motivs nutzt Gottfried Benns „Morgue“-Gedicht „Schöne Jugend“: im Leib des Mädchens, das man aus dem Schilf geborgen hat, findet der sezierende Mediziner ein Nest von jungen Ratten. Ophelia, anonym geworden, ist Objekt einer zynischen, desillusionierenden Phantasie, während Brechts Gedicht „Vom ertrunkenen Mädchen“ noch einmal den „Opal des Himmels“ beschwört, der „wundersam“ zu „begütigen“ vermag, auch wenn er Vergessenwerden und Vergehen nicht aufhalten kann.
In Peter Huchels Ophelia-Gedicht (zuerst erschienen im Band Gezählte Tage, 1972) geschieht nichts Wundersames mehr. Beim Morgengrauen sucht ein Bergungstrupp, mit Stangen ausgerüstet, das Gewässer ab; fühllos gehen die Männer der befohlenen Arbeit nach. Hier bietet kein Strom Geborgenheit, keine helfende Natur zerteilt das Wasser zu einer schützenden Höhle. In der Welt dieses Gedichts wird scharf geschossen, hat eine Kugel Ophelia tödlich getroffen. – „Stacheldrahtreuse“ ist das Schlüsselwort dieses Gedichts.
In Huchels Lyrik bleibt bis in sein Alter hinein, die märkische Landschaft gegenwärtig, in der er Kindheit und Jugend verbrachte. Fast übermächtig bedrängen die Bilder der Havel, der märkischen Seen und Teiche seine Erinnerung. Und immer wieder sprechen die Gedichte von Fischern und ihren Fanggeräten, den Reusen.

Die Reuse glänzte unterm Pfahl,
der Hecht schlug hart und laut.
(„Letzte Fahrt“)

Von einer anderen Reuse (und einer gänzlich anderen als der Titel des Gedichtbandes Sternenreuse) spricht das Ophelia-Gedicht, von einer Reuse nämlich, die dem Menschenfang dient. In den „Stacheldrahtreusen“ krepieren die Flüchtenden. Längst verstehen wir „Stacheldraht“ als Zeichen für Gefangenschaft und die Leiden der ungerechten Haft. So sammelt das Wort in sich allgemeine Erfahrung einer Zeit, die alles getan hat, nicht nur das Jahrhundert der Wolkenkratzer, sondern auch der umzäunten Lager, der riesigen Gefängnisstädte zu werden. Aber dieses Gedicht, zwischen 1963 und 1972 entstanden, nimmt in seinem zentralen Wort auch jene besondere Erfahrung der Nachkriegszeit auf, daß zwischen die beiden deutschen Staaten eine „Stacheldrahtreuse“ gelegt ist, in der so manche Flucht endete. So wird, entschiedener noch als im Gedicht Georg Heyms, Ophelia aus der poetischen Szene des Hamlet in die geschichtliche Zeit geführt, in eine erbarmungslose Gegenwelt…

Walter Hinckaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfter Band, Insel Verlag, 1980

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