Walter Hinderer: Zu Ulla Hahns Gedicht „Anständiges Sonett“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ulla Hahns Gedicht „Anständiges Sonett“ aus dem Band Ulla Hahn: Herz über Kopf.

 

 

 

 

ULLA HAHN

Anständiges Sonett
Schreib doch mal ein anständiges Sonett St. H.

Komm beiß dich fest ich halte nichts
vom Nippen. Dreimal am Anfang küß
mich wo’s gut tut. Miß
mich von Mund zu Mund. Mal angesichts

der Augen mir Ringe um
und laß mich springen unter
der Hand in deine. Zeig mir wie’s drunter
geht und drüber. Ich schreie ich bin stumm.

Bleib bei mir. Warte. Ich komm wieder
zu mir zu dir dann auch
„ganz wie ein Kehrreim schöner alter Lieder“.

Verreib die Sonnenkringel auf dem Bauch
mir ein und allemal. Die Lider
halt mir offen. Die Lippen auch.

 

Liebe im Zeilensprung

Unter dem Stichwort „Das poetische Joujou“ meinte 1803 ein Sachverständiger:

Der Sonette giebt es im Deutschen eine so ungeheure Menge, daß man das ganze große Bedlam, Erde, über und über damit tapezieren könnte; allenfalls blieben noch genug übrig zu einem Futteral von papier maché für den Mond.

Von einer solchen „Sonettenwut“ ist in unserer Lyriklandschaft allerdings nichts mehr zu spüren. Im Gegenteil: die alten, bewährten Formen scheint es heute nur noch in den Lyrik-Museen zu geben. Manche Kritiker werfen den Gedichten der Gegenwart sogar vor, sie seien eigentlich keine Poesie mehr, sondern von dilettantischer, unkontrollierbarer Beliebigkeit, oft „bloß steckengebliebene Prosa“.
Die hier vorgestellte ingeniöse Aneignung des Sonetts, einer schwierigen, artifiziellen lyrischen Form, ist für mich ein besonders überzeugender Gegenbeweis. Ulla Hahn unterlegt dem Adjektiv „anständig“, das sich auf die gewählte Form bezieht, noch eine zweite Bedeutung, die gewissermaßen augenzwinkernd auf den Inhalt anspielt. Es handelt sich nämlich nicht nur um ein „richtiges Sonett“, sondern auch um ein anständiges über ein heikles Thema.
In diesem Gedicht scheint alles gewagt: der amouröse Inhalt, die spröde, stark reflektierte Form und die gleichsam gemeißelte Sprache. Doch das Kunststück gelingt: Kalkulierte Gestalt und erotischer Gehalt gehen eine vollkommene Verbindung ein.
Die beiden Quartette sind sowohl thematisch als auch auch formal durch Zeilensprung miteinander verklammert. Sie bestehen aus sechs Liebesanweisungen in fünf Sätzen und einem Empfindungsstenogramm („Ich schreie ich bin stumm“). Die Liebesanweisungen des lyrischen Ichs weisen gezielt auf den ersten Höhepunkt hin – die sexuelle Vereinigung. Sind bei der ersten Strophe die Pausen deutlich dem Zeileninnern eingeschrieben, so hält der vierte, längste Satz, der drei Zeilen weit ins zweite Quartett hinübergreift, die rhythmische Bewegung ein paar Zeilen durch, bis dann mit der siebten Anweisung („Zeig mir wie’s drunter / geht und drüber“) der Gipfel der erotischen Aufforderungen erreicht ist. Den eigentlichen Höhepunkt der beiden Quartette freilich liefert das Empfindungsstenogramm, das zwei körperliche Reaktionen auf die ausgeführten Liebesanweisungen nennt und das Ende der ersten Phase des Liebesspiels auch deutlich mit der Zäsur am Zeilenende markiert.
In dem ersten Terzett dramatisieren zwei kurze Aufforderungen und eine längere Anweisung Wiederholung („wie ein Kehrreim schöner alter Lieder“) und Fortsetzung des erotischen Vorgangs. Das zweite Terzett malt eine äußere und innere Situation aus: es ist Tag („Sonnenkringel“), die Leidenschaft klingt jetzt verhalten, sublimiert, der Wunsch nach Dauer („ein und allemal“) verstärkt sich noch in den beiden letzten kurzen Sätzen, dem zweiten und endgültigen Höhepunkt des ganzen Sonetts. Sie unterscheiden sich von den zum Teil ebenso kessen wie herausfordernden Liebesanweisungen am Anfang durch einen anderen Ton. Er ist fast volksliedhaft in seiner Schlichtheit („Die Lider / halt mir offen. Die Lippen auch“).
Zwar weist dieser Schluß thematisch auf den zweiten, dritten und vierten Satz der Quartette zurück, aber die Empfindungsqualität hat sich verändert, sie ist gefühlsintensiver; aus der gezielten erotischen Herausforderung ist ein allgemeiner Wunsch nach einem andauernden Zustand geworden. Deutlich wechselt auch die rhythmische Bewegung vom ersten Kulminationspunkt („Ich schreie ich bin stumm“), dem Schlußpfeiler der Quartette, zum zweiten, dem betonten Ausklang der Terzette und des gesamten Sonetts. Danach ist kein Wort mehr denkbar.
Ulla Hahn hat mit diesem Gedicht nicht bloß mottogetreu ein „anständiges Sonett“ geschrieben, das nach August Wilhelm Schlegels kundiger Bestimmung „im Gehalt wie in der Form Symmetrie und Antithese in der höchsten Fülle und Gedrängtheit“ vereinigt, sondern ein gewagtes Thema und eine spröde Form in Poesie verwandelt. Ich halte dieses „Anständige Sonett“ für eines der kunstvollsten erotischen Gedichte nach 1945.

Walter Hinderer, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Über die Liebe, Insel Verlag, 1985

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