Werner Ross: Zu Ernst Jandls Gedicht „Sommerlied“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ernst Jandls Gedicht „Sommerlied“ aus Ernst Jandl: dingfest. –

 

 

 

 

ERNST JANDL

Sommerlied

Wir sind die menschen auf den wiesen
bald sind wir menschen unter den wiesen
und werden wiesen, und werden wald
das wird ein heiterer landaufenthalt
14.6.1954

 

Grünes Sterbelied

Das wichtigste Wort in diesem von Kennern und Liebhabern geschätzten Gedicht Ernst Jandls ist „wiesen“. Es kommt dreimal vor, mehr als die Wörter „wir“ und „menschen“, die nächsthäufigen. Lakonisch, bulletinmäßig oder wie eine philosophische Definition, fängt das „sommerlied“ an:

wir sind die menschen auf den wiesen.

Diese Behauptung ist mehr als kühn. Sie stimmt nur zeit- und ausnahmsweise, wenn wir uns unseren Sitten entgegen auf Wiesen begeben, zum Beispiel zu einem Spaziergang im wunderschönen Monat Mai. Wiesenwege sind sehr gesucht, aber selten. Leichter ist es, im Wald oder an einem See spazierenzugehen oder einen Berg zu ersteigen, wobei man eine Abart der Wiesen, die Almen, kennenlernt.
Aber Jandl hat sich bei der kategorischen Feststellung etwas gedacht. Er hat ein Datum unter das Gedicht gesetzt, den 14. Juni 1954. Das Datum gehört zum Gedicht. An jenem Tag, darf man vermuten, waren Ernst Jandl und sein (oder seine) Wir-Begleiter auf einer Wiese, und mit einer weiten Handbewegung konnte er sagen:

wir sind die menschen auf den wiesen.

Beim nächsten Vers fällt das „die“ fort, er verallgemeinert:

bald sind wir – alle – menschen unter den wiesen.

Das muß einem bei einem Spaziergang am 14. Juni, mitten unter Löwenzahn und Wiesenschaumkraut, nicht unbedingt einfallen. Die Lyrik ist seit Jahrhunderten (oder Jahrtausenden) darauf gedrillt, im Frühling an das Leben, im Herbst oder Winter an den Tod zu denken. Ordnungsgemäß ist der Vers:

Geh aus mein Herz und suche Freud’ in dieser lieben Sommerzeit an unsres Gottes Gaben.

Auch die Barockzeit, mit dem Tod gern und schnell bei der Hand, hat auf solche Anstandsregeln geachtet.
Man könnte demgegenüber mit dem österreichischen Neu-Barock operieren, mit den Düsternissen Thomas Bernhards zum Beispiel, wo der Tod seine Jahreszeit nicht abzuwarten braucht. Aber das hieße Jandl und sein Lied falsch verstehen. Er ist zunächst und vor allem anderen Sprachexperimentator, Bastler, Ausprobier-Spezialist. Das „auf“ hat das „unter“ experimentell angezogen, im Umkehrverfahren. Und siehe da, die Umkehrung ergibt einen Sinn.
Einen makabren ganz ohne Frage. Auch landläufige Euphemismen wie „die Radieschen von unten wachsen sehen“ ändern nichts an unserer grundsätzlichen Abneigung gegen das Memento mori, das Schreckbild des Todes ausgerechnet inmitten allseitiger stürmischer Lebensbetätigung. Und hartnäckig setzt der Lyriker auf dem Wiesenspaziergang sein Memento und Lamento fort:

und werden wiesen, und werden wald.

Erst der letzte Vers erschließt dann, als Pointe, den Sinn des Gedichts und das Ziel aller Metamorphosen:

das wird ein heiterer landaufenthalt.

Man könnte formulieren „Umweltschützers Grabgesang“, aber so boshaft ist es sicher nicht gemeint. Viel eher darf man an die Pastoralsymphonie denken, an das Erwachen fröhlicher Gefühle bei der Ankunft auf dem Lande. Das altmodische Wort „landaufenthalt“ verweist auf Biedermeierliches. Gott sei Dank, so darf man diesen letzten Vers verstehen, wir haben zwar noch ziemlich viel Asphalt und Beton, Benzin und Plastik vor uns, aber zum guten Schluß wird uns beschert, was wir so dringend brauchen: unverdorbene Natur.
Man kann an Jandls Gedicht pantheistische oder kosmologische Gedankenspiele anschließen; man kann es auch hamletisch deuten, indem man das „heiter“ ironisch nimmt. Das scheint mir zu anstrengend und zu angestrengt. Lieber stelle ich die vier Verse zu den sechs von „Über allen Gipfeln ist Ruh“. Dazu mag es, was poetischen Gehalt, lyrische Stimmführung angeht, eine Schwundstufe sein, aber wenn man die vier Zeilen so vor sich hinspricht, wie sie genommen werden wollen: ohne Dramatik, gelassen, den heiteren Gleichklang der Worte, das Wort-Spiel auskostend – dann drücken sie den Rhythmus der Zeit, das Gefühl der Zeitgenossen überzeugend aus.

Werner Rossaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechster Band, Insel Verlag, 1982

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