Werner Ross: Zu Friedrich Nietzsches Gedicht „Der Einsame“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Friedrich Nietzsches Gedicht „Der Einsame“ aus Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. –

 

 

 

 

FRIEDRICH NIETZSCHE

Der Einsame

Verhasst ist mir das Folgen und das Führen.
Gehorchen? Nein! Und aber nein – Regieren!
Wer sich nicht schrecklich ist, macht Niemand Schrecken:
Und nur wer Schrecken macht, kann Andre führen.
Verhasst ist mir’s schon, selber mich zu führen!
Ich liebe es, gleich Wald- und Meeresthieren,
Mich für ein gutes Weilchen zu verlieren,
In holder Irrniss grüblerisch zu hocken,
Von ferne her mich endlich heimzulocken,
Mich selber zu mir selber – zu verführen.

 

Kein Führer

Nietzsche dichtete nicht nebenbei. Je reifer er wurde, um so unbedenklicher nahm er Verse in sein Repertoire. Die fröhliche Wissenschaft verwies schon in ihrem Titel auf die provenzalischen Poeten, und so wurden ihre Aphorismen eingerahmt von „Scherz, List und Rache“ vorn und den „Liedern des Prinzen Vogelfrei“ am Ende. Diese Gedichte und Sprüche waren leicht und sind leicht geblieben; in einem der Aphorismen heißt es:

Alle Menschen der Tiefe haben ihre Glückseligkeit darin, einmal den fliegenden Fischen zu gleichen und auf den äußersten Spitzen der Wellen zu spielen.

So wollen diese Liedchen gelesen sein, „Scherz“ ist das erste Wort des Titels. Oft sind es Porträtskizzen, so auch unser Gedicht. Es hat ein Leitwort, das von den zehn Reimen sieben zusammenverbindet: „führen“. Es ist eine erbitterte, in jedem Satz durchgehaltene Absage daran, ebenso wie an seine andere Seite, das Folgen. Ach, das hätte man zu Hitlers Zeiten an die Wände spritzen sollen, als die meisten „Führer“ und „Gefolgschaft“ geradezu wollüstig sich auf der Zunge zergehen ließen.
Aber meint Nietzsche, der doch angeblich den Willen zur Macht proklamierte und Gewaltmenschen pries, mit diesem Einsamen wirklich sich selbst? Man kann beruhigt sein. Er selbst hat tatsächlich nie jemanden kommandiert, war ausgesucht höflich, fügte sich freilich auch nicht ein, war auf seiner Stube unabhängig; nur weil er halb blind und fast arm war, der Not gehorchend und auf die Notwende hoffend. Mit einer lässigen Selbstverständlichkeit, die im nachhinein erschauern macht, formuliert er das Gesetz der Diktatur, der Führung, die für die Ungehorsamen den Schrecken nicht entbehren kann. Im Ernst: er hätte gern einen Jünger wie Rée, eine Jüngerin wie Lou Salome gehabt, aber auch sein Meistermodell Zarathustra lehrt ausdrücklich, daß man ihm nicht folgen solle, sondern nur sich selbst. Oder, so legt der nächste Vers nahe, ist selbst das Selbst schon zuviel?
Dem zweimaligen „Verhasst“ tritt nun das „Ich liebe es“ entgegen, die Vor-Liebe nach dem Abscheu, das Sich verlieren als die extremste Form des Führungsverzichts, das „Weg von der Bildfläche“ als Ideal, die Waldtiere im Dickicht, die Meerestiere in ihren Schalen als Modelle. So hat er ja gelebt, in Sils, in Venedig, in Nizza, in Turin, alle Jubeljahre ein Besucher, die Freunde nur in Briefen präsent. Kein Stubenhocker im strengen Sinn, dazu wanderte er zu gern, aber „hocken“ wird nun ein liebenswertes Wort, an „hold“ sich anschmiegend, und hold ist ebendas Irren und Verirren, der Zustand „Irrniss“ als neues Paradies.
Der Wanderer, der sich auch gern als Seefahrer nach Columbus-Art sieht, will nicht nach Haus, zu den etablierten Bekannten und zu den bekannten Gedanken, und um ihn zu locken, muß das Führen seine Qualität ändern, hin zu jener Gewaltlosigkeit, die Ver-Führen heißt (eine Schlußpointe, die durch den Gedankenstrich, als Spannungspause, angezeigt wird). Was so poetisch umschrieben wird, heißt mit Nietzsches Wort programmatisch-prosaisch:

Werde, der du bist.

Wer ist er denn? Die schönste Formel dafür hat er auf französisch gefunden: poète-prophète, beides in einem. Das Gedicht ist dafür so legitim wie das Prosafragment, das Aphorismus heißt.
Der Titel des ganzen Zyklus, „Scherz, List und Rache“, stammt übrigens von Goethe, der ein Lust- und Singspiel so überschrieb, in jener Glanzzeit, die Rokoko hieß und ein paar Jahre später jäh zu Ende ging. Und ebendiesen Titel heftete Nietzsche der Oper seines Freundes Peter Gast an, die nach seinem Willen den bescheidenen Komponisten zu einem neuen Mozart erheben würde. Dergleichen hat er als Wald- und Meerestier geträumt.

Werner Rossaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Einundzwanzigster Band, Insel Verlag, 1998

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