Winfried Woesler: Zu Hilde Domins Gedicht „Herbstzeitlosen“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Hilde Domins Gedicht „Herbstzeitlosen“ aus Hilde Domin: Nur eine Rose als Stütze. 

 

 

 

 

HILDE DOMIN

Herbstzeitlosen 

Für uns, denen der Pfosten der Tür verbrannt ist,
an dem die Jahre der Kindheit
Zentimeter für Zentimeter
eingetragen waren. 

Die wir keinen Baum
in unseren Garten pflanzten,
um den Stuhl
in seinen wachsenden Schatten zu stellen.

Die wir am Hügel niedersitzen,
als seien wir zu Hirten bestellt
der Wolkenschafe, die auf der blauen
Weide über den Ulmen dahinziehn.

Für uns, die stets unterwegs sind
– lebenslängliche Reise,
wie zwischen Planeten –
nach einem neuen Beginn.

Für uns
stehen die Herbstzeitlosen auf
in den braunen Wiesen des Sommers,
und der Wald füllt sich
mit Brombeeren und Hagebutten –

Damit wir in den Spiegel sehen
und es lernen
unser Gesicht zu lesen,
in dem die Ankunft
sich langsam entblößt.

 

Lyrik vor dem Ende des Exils

Hilde Domin hat in ihrem verbreiteten Band Doppelinterpretationen (1966) den aufschlußreichen Versuch gemacht, Gedichte von Gegenwartsautoren aus zwei sich ergänzenden Perspektiven zu betrachten: der der Selbstdeutung und der der Fremdanalyse. Zumindest eines kann der Germanist daraus lernen; während es bei der Interpretation von historischen Texten einer nachträglich oft mühsamen Rekonstruktion von Background, Erwartungshorizont usw. bedarf, sollte er auf die Chance, den lebenden Autor selbst über den Schaffensprozeß zu befragen, dort, wo sie gegeben ist, nicht verzichten. Dabei mögen diejenigen, die die Autonomie des Kunstwerkes betonen, eine unzulässige Methodenmischung befürchten, entscheidend sollte hier allein das Ergebnis sein: die Zunahme an Verstehen. Bei der folgenden Textdeutung sind insbesondere biographische Informationen der Autorin eingearbeitet worden. Das Gedicht wird demnach zunächst vor dem Hintergrund des sich zwischen den Ländern bewegenden Lebens der Autorin gelesen. Dichtung, meint Domin im bewußten Gegensatz etwa zu Ilse Aichinger, dürfe nie das Biographische ganz ins Exemplarische verwandeln und könne, auch wenn nichts Privates privat bleiben dürfe, nur auf der Grundlage des individuellen Erlebnisses unverwechselbar sein. Aufgabe des Autors sei vielmehr die genaue Deckung von Wort und Erfahrung, dann werde sich auch der Leser in der exemplarisch ausgedrückten Erfahrung wiedererkennen.
Die Autorin wurde 1912 in Köln geboren. Als Tochter eines jüdischen Juristen verließ sie 1932, schon in Ahnung der politischen Entwicklung, mit ihrem künftigen Mann Deutschland. Den größten Teil des Exils verbrachte sie nach den z.T. langen Zwischenstationen in Italien und Südengland in der Hauptstadt der Dominikanischen Republik Santo Domingo, nach der sie sich, als sie relativ spät 1951 infolge einer persönlichen Erschütterung zu schreiben begann, benannte. 1954 kehrten sie und ihr wissenschaftlich tätiger Mann ein erstes Mal nach Deutschland zurück, ohne sich jedoch für das Bleiben entscheiden zu können. In den folgenden zwei Jahren haben sich beide lange in Spanien aufgehalten; Domin half ihrem Mann beim Abschluß und bei der Drucklegung seines Buches. Erst 1961 ließen sie sich endgültig in Heidelberg nieder.
Abgesehen von einigen frühen Versuchen in Prosa waren Domins erste Produktionen Anfang der fünfziger Jahre Gedichte, von denen sie freilich keineswegs wissen konnte, ob sie jemals publiziert würden. Sie kreisen um das eigene Ich, ein biographisch aufzufassendes Wir und die Situation des Exils, das in dichterischer Übertragung als Extremsituation menschlicher Existenz beschrieben wird. Der erste Gedichtband Nur eine Rose als Stütze erschien 1959 als strenge Auswahl mit 46 Texten, darunter „Herbstzeitlosen“.
Was war diesem Bändchen vorausgegangen? Infolge einer eher zufällig zu nennenden Begegnung mit Franz Josef Schöningh waren einzelne Gedichte Domins in der christlich-humanistischen Zeitschrift Hochland (Jahrgang 47–49, 1954–57) veröffentlicht worden. Dann wandte sich die Redaktion der Neuen Rundschau an die Autorin und wählte aus einer Auswahl Domins aus dem damals vorliegenden Fundus von etwa 200 Gedichten wiederum folgende drei: „Herbstzeitlosen“, „Wo steht unser Mandelbaum“ und „Wen es trifft“. Sie erschienen im 3. Heft des Jahrgangs 68, das verspätet im Dezember 1957 ausgeliefert wurde.
Domin hatte für dieses ihr eigentliches literarisches Debüt nicht frühe Produktionen gewählt, sondern das, was für sie lebendiger war, ihr im Augenblick typisch erschien. In dem autobiographischen Prosaband Von der Natur nicht vorgesehen (1974) bezeichnet sie „Wen es trifft“ als das letzte vor ihrer Rückkehr verfaßte Gedicht. „Herbstzeitlosen“ war 1955 entstanden.
Wie viele Gedichte in Nur eine Rose als Stütze spielt es vor einer südlichen Kulisse, weniger deutlich freilich als sonst, denn nur die „braunen Wiesen des Sommers“ weisen eindeutig aus Mitteleuropa in eine sonnenverbrannte Landschaft fort, allenfalls noch der „Schatten“, in den man seinen Stuhl stellt. Domin hatte damals Deutschland wieder verlassen und hielt sich lange Zeit in Spanien auf. Sie besuchte in Madrid mit ihrem Mann den hochgeehrten Autor Vicente Aleixandre, der damals in der Straße Wellintonia 3 wohnte, die heute seinen Namen trägt. Das Haus liegt unweit der ehemaligen Grenzlinie der Parteien des spanischen Bürgerkriegs, und Domin war beeindruckt, wie dieser Autor auch in der Franco-Zeit als Haupt einer liberalen Gruppe, die sich nur literarisch äußerte, an ein und demselben Platz bleiben konnte und nicht wie sie selbst ein von äußerster Lebensbedrohung und Unruhe bestimmtes Leben geführt hatte. Als sie nämlich das Zuhause ihres Gastgebers, seinen Garten und den während des Bürgerkrieges dort gepflanzten Baum mit dem Stuhl darunter sah, ist ihr – wie sie sagt – bewußt geworden, wie sie sich demgegenüber noch immer auf einer anscheinend „lebenslänglichen Reise“ befand und z.B. auch im bürgerlichen Sinne „ein neuer Beginn“ noch nicht in Sicht war. Das vorliegende Gedicht wurde wenig später in dem kleinen Gebirgsort San Rafael auf der Sierra de Guadarrama, den die Madrider sehr lieben, konzipiert. Sie fängt mit ihm zunächst das eigene Erlebnis ein und schildert es, wie oft in ihren frühen Gedichten, in einem Kontrast, hier also, biographisch gesehen, zu der erwähnten Existenzweise Vicente Aleixandres.
Das Gedicht ist rational durchgeformt, Sprache und Bilder wirken klar. Ein romanischer Einfluß ist unverkennbar. Die sechs Strophen werden formal deutlich durch eine Zäsur nach der vierten getrennt, die ersten sind vierzeilig, die beiden letzten fünfzeilig. Während die ersten Strophen jeweils durch einen Punkt abgeschlossen werden, rücken die beiden letzten näher zusammen. Erst am Schluß wird deutlich, daß auch die ersten Strophen keine selbständigen Sinneinheiten bilden, sondern vielmehr das ganze Gedicht syntaktisch als ein Satz verstanden werden kann: Für jemanden ereignet sich etwas, damit er etwas tut. Diese ,Regelwidrigkeit‘ der Punktsetzung stimmt allerdings heute nicht mehr zu den korrekt gesetzten Kommata, die vermutlich vom Lektorat erst im Buchdruck hinzugefügt wurden, da sie ursprünglich fehlten. Die Pronomina „wir“ und „uns“, denen in diesem Text entscheidendes Gewicht zukommt, zumal sie jeweils das zweite Wort aller Strophen bilden und somit die gliedernde Verbindung herstellen, bezeichnen zunächst, ebenso wie in anderen Gedichten Domins dieser Zeit, zwei Liebende, auch wenn sie dann vom heutigen Leser zu Recht auf die Gruppe der Exilierten übertragen werden mögen. Die Natur ist in diesem Text für die Menschen, genau besehen für diese beiden da:

Für uns
stehen die Herbstzeitlosen auf
[…]
und der Wald füllt sich
[…]
Damit wir
[…] sehen
und es lernen
(17–23).

In dem Roman Das zweite Paradies. Roman in Segmenten findet sich folgender entsprechende Dialog:

„Das letzte Mal schneite es, während wir hier waren –, sagte sie. Er schwieg. „Sie drückten sich sehr merkwürdig aus: Es hat für uns geschneit. Ehe Sie kamen, war alles trocken, sagten Sie zu mir. Ich habe damals tagelang daran gedacht […].“ (S. 31). 

Phänomene der Natur und Landschaft sind in dem Text so arrangiert, daß sie dem gegenwärtigen Bewußtsein des „Wir“ entsprechen. Die tiefere Deutung der Motive ist nur zum Teil aus sich allein bzw. aus dem Kontext ganz verständlich; denn als wiederkehrende Motive in der Lyrik Domins haben sie zugleich den Chiffrencharakter einer eigenen poetischen Welt angenommen, die sich sowohl losgelöst von als auch verbunden mit der autobiographischen Erfahrung allmählich entfaltet hat. Hier sind nur einige Hinweise möglich.
Von dem in der ersten Strophe erwähnten Türpfosten liest man z.B. auch in Das zweite Paradies:

Denn Kinder, die neben einem größer werden, sind wie die Jahresstriche am Türrahmen, als man selber noch größer wurde. (S. 145)

Wenn das Fehlen eines Zuhause am Nicht-Pflanzen eines Baumes, dessen Aufwachsen man ja doch nicht miterleben könnte, dargestellt wird, dann steht diese Chiffre auch für die Erinnerung an den Mandelbaum vor ihrem Kölner Elternhaus, den Domin bei ihrer Rückkehr wiederfand – oben ist bereits erwähnt, daß mit den „Herbstzeitlosen“ der Text„ Wo steht unser Mandelbaum“ erstpubliziert wurde –, und an die kleine Zypresse Iwanows im Garten vor dem Haus des römischen Aufenthaltes, die sie bei der Abreise zurücklassen mußte. In Das zweite Paradies heißt es:

Du brauchst niemandem zu erzählen von dem Weidenbaum, unter dem du geweint hast, ehe du gingst. Ein kleiner Weidenbaum, er wäre jetzt groß. Wir haben ihn gesucht, aber der Fluß ist eingedämmt, wo er stand. (S. 87)

Als Domin hoffen durfte, in Heidelberg ihr Zuhause gefunden zu haben, drückte sich ihre Freude bezeichnenderweise u.a. dadurch aus, daß sie die zugehörigen Bäume schilderte. Man vergleiche in diesem Zusammenhang auch die dritte Strophe, die eine persönliche Beziehung zwischen den Betrachtenden und den dahinziehenden Wolken herstellt, mit einem Zitat aus dem gleichen Gedichtband:

Ich bin wie im Traum
und kann den Windgeschenken
kaum glauben.
Wolken von Zärtlichkeit
fangen mich ein
(S. 45f.).

Sicher wäre es schließlich interessant, einmal im Werk Domins das literarisch traditionsreiche Motiv des Spiegels, der immer nur für den Menschen da ist, zu verfolgen, um seinen Chiffrencharakter zu bestimmen.
Exakt die Mitte des Gedichts bilden zwei Zeilen, die als zentrales Thema das alte poetische und theologische Bild des Homo viator zeichnen:

Für uns, die stets unterwegs sind
– lebenslängliche Reise
(13f.).

Über „Herbstzeitlosen“ hinaus ist es das Thema vieler ihrer frühen Gedichte, wenn es z.B. in „Gleichgewicht“ heißt: „Wir gehen / jeder für sich / den schmalen Weg / über den Köpfen der Toten“, oder in „Ziehende Landschaft“:

Man muß weggehen können
und doch sein wie ein Baum

Solche Stellen und der Schluß des vorliegenden Textes verbieten allerdings eine vorschnelle religiöse Deutung des Homo viator. Gesucht wird zwar zunächst das Zuhause, aus dem der Mensch vertrieben wurde, aber dem Unterwegssein fehlt es weitgehend an überindividueller Sicherheit, die lebenslange Reise zu unbekanntem Ort und Ziel – zur „Utopie“, wie Kunert am Ende der siebziger Jahre sagen wird – erweist sich im günstigen Fall als der Weg zu sich selbst.
Die eigene leidvolle Lebenserfahrung findet im vorliegenden Gedicht trotz traditioneller Metaphorik glaubhaften Ausdruck. Das „Niedersitzen“ der beiden Erwachsenen „am Hügel“ ist nicht mehr als eine Ruhepause, die ein „Hirte“ sich gestatten darf. Den Unbehausten, denen die Rückkehr zur eigenen Kindheit endgültig verwehrt und längst der „Pfosten der Tür verbrannt ist“, die auch nach langer Wanderung unter keinem eigenen Baum sitzen dürfen, bleibt nur die elementare Natur: Himmel, ziehende Wolken, Erde, Ulmen, braune Wiesen des Sommers.
Die Jahreszeit ist vorgeschritten, offenbar neigt sich ein Sommer dem Ende: Herbstzeitlosen blühen, und die wilden Früchte von Hagebutte und Brombeere reifen. Auch wenn von der Fülle eines Gartens, einer Ernte nicht die Rede sein kann, diese Kargheit der unkultivierten Natur, die vielleicht wider Erwarten schließlich doch noch solche Blüten und Früchte hervorgebracht hat, ist für das „Wir“ nicht ganz ohne Trost. Domin war, wie sie gern versichert, nie ein Nihilist, ein Vorwurf, dem sich manche europäischen Autoren noch Anfang der fünfziger Jahre stellen mußten. Sie bewahrte sich trotz aller zeitgeschichtlichen Erfahrung ein Urvertrauen, das es ihr ermöglichte, auch nach Auschwitz Gedichte zu schreiben – gerade nach Auschwitz, wie sie betont.
Als hörbares Zeichen dafür wirkt in ihren Gedichten eine traditionsreiche, oft nur wenig säkularisierte Sprechweise; hier ist z.B. von „Hirte“, „Hügel“ und „Reise“ die Rede. Die ungestörte Natur ist ihr zwar kein Spiegel Gottes mehr, aber sie ist doch noch Anlaß für den Menschen, in den Spiegel zu sehen. Im Ablauf der Jahreszeiten soll er den Ablauf seines Lebens wiedererkennen und gleichzeitig in seinem alternden Gesicht Selbsterkenntnis lernen. In Von der Natur nicht vorgesehen“heißt es:

Als mein Vater gestorben war, sah ich mich an und sah meinen Vater. Als Mutter gestorben war, sah ich, im Spiegel, meine Mutter. (S. 11)

Hatte die erste Strophe die „Kindheit“ in Erinnerung gerufen, die letzte spricht heute in fast sakral klingender Weise von der „Ankunft“, womit das Ende des Lebens gemeint ist. Die letzten beiden Gedichtzeilen sind über die traditionelle Sprechweise hinaus ganz unverkennbar von Domins eigener Diktion geprägt: Der Blick in die spätsommerliche Natur lehrt den alternden Menschen gleichsam wie vor einem Spiegel sehen, daß bereits das Fleisch aus seinem Gesicht verschwindet, oder – nach einer Selbstinterpretation der Autorin – noch genauer, daß aus seinen Gesichtszügen der Knochenbau allmählich hervorscheint, der Totenschädel des Skeletts sich bereits abzeichnet, ein Gesicht, „in dem die Ankunft/  sich langsam entblößt“ (25f.). Diese beiden letzten Zeilen fehlten übrigens in der Zeitschriftenfassung. Die Aussage des Textes war zunächst nur für einen sehr kleinen Kreis gedacht, nur „Für uns“ verständlich, bei der Buchpublikation mußte sie einem breiteren Publikum zwar nicht ganz entschlüsselt, aber doch mehr vermittelt werden.
Das Leben Domins stand bei Abfassung des Textes noch unter dem Eindruck des Todes ihrer Mutter. Den Tod empfand sie als eine nahe Realität. Was die äußere Lebenssituation anging, waren es damals nur noch sehr wenige Jahre von Exil und Fahrt bis zur dauernden Rückkehr nach Deutschland. Auch innerlich folgte auf die seinerzeit politisch mitausgelöste lebenslange Suche nach der eigenen Identität, die m. E. das Thema des Gedichtes bildet, schließlich doch eine zumindest vorläufige „Ankunft“.
Der Versuch, dieses Gedicht Domins in den Kontext der zeitgenössischen deutschen Lyrik einzuordnen, dürfte nicht leicht gelingen. In der Situation des Exils fehlte Domin der notwendige Kontakt zur Heimat. Auch wenn sie über eine eigene Bibliothek verfügte, war es in dieser Zeit nicht immer leicht, z.B. deutschsprachige Belletristik zu erhalten. Nur wenigen Deutschen konnte sie vorlesen. Um überhaupt zu erfahren, ob ihre ersten Gedichte etwas taugten, mußte sie sie ins Spanische übersetzen. So konnten sie zu Gehör gebracht werden, vor Hörern, für die sie eigentlich nicht gemacht waren. Sucht man trotzdem im Bereich der deutschen Literatur sinnvolle Vergleichsmaßstäbe, so sind vielleicht die Texte anderer exilierter jüdischer Frauen heranzuziehen, die von Else Lasker-Schüler, Rose Ausländer und insbesondere Nelly Sachs. Auch bei diesen tauchen manche Charakteristika der frühen Lyrik Domins auf: Melancholie, Traumhaftigkeit, Symbole aus dem Bereich der Natur, ein gehobenes, an Religiöses gemahnendes Sprechen, ein Kreisen um sich selbst und das Fragen nach dem Sinn des Lebens. Domin bekennt in verschiedenen reflektierenden Äußerungen, daß ihre Emigration gerade eine linguistische Odyssee gewesen sei, erst langjährige Übersetzungstätigkeit habe ihr das Ohr für die Feinheiten der deutschen Sprache voll geöffnet. Auch Nelly Sachs erwuchs die dichterische Sprache nicht nur aus dem entscheidenden Erlebnis der Vernichtung ihres Freundes im Konzentrationslager, hinzu kam – freilich in viel geringerem Maße als bei Domin – ihre Tätigkeit als schwedische Übersetzerin. In der Sprache erreichte Domin schließlich die Souveränität eines Heine oder Celan. Einsamkeit und Bitterkeit des Exils wurden so für die zurückgebliebenen Adressaten in Deutschland fruchtbar. Selbst wenn Stil und Metaphorik oft mit der des naturmagischen Gedichts in den fünfziger Jahren übereinstimmen (vgl. den Titel „Herbstzeitlosen“) und man die Autorin geistesgeschichtlich am ehesten dem Existentialismus der frühen Nachkriegszeit zuordnen könnte, bleibt für den heutigen Leser angesichts der verbreiteten „unartifiziellen Formulierungen“ (Nicolas Born) in der Lyrik der siebziger Jahre eine gewisse Fremdheit – oder besser: Widerständigkeit – ihrer frühen Texte.
In den letzten Jahrzehnten, mit ihrer erneuten Verwurzelung, hat sich das Spektrum der Lyrik Domins über das Private hinaus, das Herbstzeitlosen noch weitgehend bestimmt, wesentlich erweitert. Die gesellschaftlichen Implikationen von Kunst, die Notwendigkeit des Engagements sind ihr in den sechziger Jahren deutlicher geworden, erkennbar m der Praxis an ihrer Solidarität mit Minderheiten und in der Theorie in dem Band Wozu Lyrik heute. Dichtung und Leser in der gesteuerten Gesellschaft. Ihre Grundanschauung hat sich nur wenig verändert, auch wenn sie jetzt energischer ausgesprochen wird:

Der Mut, den der Lyriker braucht, ist dreierlei Mut, mindestens: der Mut zum Sagen (der der Mut ist, er selbst zu sein), der Mut zum Benennen (der der Mut ist, nichts falsch zu benennen und nichts umzulügen), der Mut zum Rufen (der der Mut ist, an die Anrufbarkeit des andern zu glauben). Durch das Nadelöhr seines Ich muß er hindurch ins Allgemeine: in die punktuelle, die paradoxe Wahrheit der unwiederholbar einmaligen und zugleich doch beispielhaften Erfahrung, in die „wirklichere Wirklichkeit“ (S. 17). 

1

Winfried Woeler, aus Walter Hinck (Hrsg.): Gedichte und Interpretationen. Band 6 Gegenwart, Philipp Reclam jun. Stuttgart, 1982

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