MEIN HAMLET
Nur wenig sag ich im Gedicht
für alles hab ich keine Vollmacht
Ich war gezeugt, wie üblich, ohne Licht
im Nervenschweiß der ersten Brautnacht
Von der Erde gehoben, wußte ich schon
je höher – desto härter und strenger
In aller Ruhe ging ich auf den Thron
als Kronprinz – und doch Rattenfänger
Alles, wußt ich, wird so, wie ich will
Sieg und Triumph war meine Mission
Schulfreunde, Pagen hielten still
dienten mir – wie ihre Väter dem Thron
Ich mußte nicht bedenken, was ich tu
und daß ich Worte in den Wind verliere
Wie einem King so glaubten mir im Nu
die eitlen Kinder hoher Tiere
Wachen zitterten vor unserem Gekreisch
wir haben die Zeit mit der Pest vermählt
Ich schlief auf Fellen, aß rohes Fleisch
hab wilde Pferde mit Sporen gequält
Das Brandmal „Herrsche!“ stand mir auf der Stirn
mich packte der Rausch ziselierter Pracht
Geduldig ertrugen Herz und Hirn
der Worte und Bücher drückende Macht
Ich konnte lächeln, bloß mit dem Munde
versteckte jedoch meinen bitteren Blick
Ein Narr gab mir die Schauspielstunde
Der Narr ist tot. Amen, armer Yorick
Ich hatte Beute, Ruhm und Privilegien satt
den Kampf um Orden überließ ich andern
Der Tod des Pagen traf mich plötzlich hart
Ich stieg vom Pferd, ein müder Wandrer
Vergessen hab ich das Fieber beim Jagen
fing an, die Rosse und Hunde zu hassen
Man sah mich, Jäger und Treiber schlagen
und erlegte Beute liegenlassen
Ich sah, wir feierten Tag für Tag
finstere Orgien – zum Zeitvertreib
Auch als ich heimlich nachts im Wasser lag
wusch ich die Schande mir nicht vom Leib
Ich wurde klüger, weil – ich wurde dümmer
verpaßte Zank und Intrigen zu Haus
Daß ich mich um Zeit und Leute kümmer?
Nein, vergrub mich in Bücher und las sie aus
Gierig umspann mein Gehirn wie die Spinne
die Daseinsgesetze, klug und alt
Aber das Wissen verwirrt nur die Sinne
wenn es ringsum auf Ablehnung prallt
Zu den Freunden der Kindheit riß der Faden
Ariadnes Faden erwies sich als Schema
„Sein oder Nichtsein?“ quälte mich ohne Gnade
unlösbar wie ein ewiges Dilemma
Ewig bleibt uns ein Meer von Leiden
in das wir Pfeile schießen, wie Hirse durchs Sieb
so kann sich eine hohle Antwort scheiden
die von schwülstiger Frage übrigblieb
Ich wollt meinen Vätern die Treue geloben
doch Zweifel fielen auf mich herab
Die Last des Geistes zog mich nach oben
mich zerrten die Flügel des Fleisches ins Grab
Die Tage preßten mich in eine Form
die, kaum erstarrt, auseinanderfloß
Rache war auch für mich die Norm
da ich, wie alle, Blut vergoß
Tod ist kein Sieg, kein erträumtes Reich
Ophelia, wie ich Verwesung hasse!
Das Morden macht mich meinem Mörder gleich
mit dem sie mich unter die Erde lassen
Ich bin ein Hamlet und verachte die Gewalt
ich pfiff auf meines Vaters Krone
Sie sagen, aus Machtgier mach ich jeden kalt
auch den, der jetzt säß auf dem Throne
Genialer Durchblick gleicht dem Wahn
Bei Geburt steigt der Tod mit auf die Waage
Wir bieten heikle Antworten an
und finden nicht die nötige Frage
Übertragen von Dietmar Hochmuth
Wladimir Wyssozki war Schauspieler, Sänger, Dichter. In vielen seiner Lieder nahm er Rollen an, die er empfindungs- und ausdrucksvoll spielte. Da war er zornig und traurig, frech und melancholisch, übermütig und auch verhalten, machte leiseste Gemütsregungen und innere Bewegtheit sichtbar. Er sang vom Krieg und von der Zeit danach, von Freundschaften, von Problemen, die der Alltag aufgibt. Schon zu seinen Lebzeiten waren seine Lieder unvergleichlich populär; sie beweisen auch jetzt immer aufs neue, wie genau Wyssozki den Nerv seiner, unserer Zeit traf.
Ankündigung in William Shakespeare: Poesiealbum 200, Verlag Neues Leben, 1984
Für mich ist es leichter, eine Maske aufzusetzen und von verschiedenen Menschen aus zu schreiben. Ich schlüpfe jedesmal in ihre Haut und versuche, ein fremdes Leben zu leben. Viele meinen, daß ich früher mal Chauffeur war, Matrose oder Flieger. Na, und daß ich gesessen habe, steht für sie felsenfest…
Zu diesen abenteuerlich verklärten Vorstellungen von meiner Person kommt es offensichtlich, weil die Leute in meinen Helden und ihren Storys kein Herumreden verspüren.
Ich habe immer Gedichte gemacht, und auf einmal hörte ich, wie Bulat Okudschawa singt. Plötzlich begriff ich, wie sehr sich die Wirkung eines Gedichts erhöhen kann, wenn man ihm noch eine Dimension beigibt – eine musikalische Färbung und klaren Rhythmus. Ich entschied mich für die Gitarre. Sie schien mir am demokratischsten.
Wladimir Wyssozki, Verlag Neues Leben, Klappentext, 1984
gingen von einem Tonband zum anderen und begründeten faktisch ein neues Genre: Tonbandliteratur. So funktionierten seine Songs als gesellschaftlich wirksamer Kommunikator mit phänomenaler Popularität.
Oksana Bulgakowa, Verlag Neues Leben, Klappentext, 1984
− Erstmals seit Stalins Tod weinten wieder Tausende auf den Straßen: In Moskau starb der Poet, Sänger und Schauspieler Wyssozki. −
Die Gegen-Olympiade der Moskauer Einwohner fand in einem alten Viertel im Osten der Sowjethauptstadt statt, der Taganka. Dort versammelten sich am vorigen Montag die Massen, um – wie bei den Spielen der Antike – einen Heroen des Gesangs zu ehren. Zum letztenmal.
Wladimir Semjonowitsch Wyssozki war gestorben, 42 Jahre alt, an Herzversagen – der Troubadour für Millionen Russen, Liebling aller Besucher des kleinen, berühmten Taganka-Theaters in Moskau und der Fernsehzuschauer, als Hamlet, Brechts Galilei oder Lermontows Held unserer Zeit.
Die Trauer-Demonstranten kamen spontan, unorganisiert, durch die Staatswächter eher ferngehalten mitten in der total abgesicherten Olympia-Hauptstadt des Polizeistaats UdSSR. Gegen den gerade hatte Wyssozki angesungen, der Sowjet-Lyriker, der als Jugendlicher das Lager kennenlernte (und später die West-Aktrice Marina Vlady heiratete).
Das russische Volk liebte geradezu inbrünstig den inoffiziellen Wyssozki: den Protestsänger des Untergrunds, der den Menschen mit Liedern über die kleinen und großen Miseren half, ein Biermann und Tucholsky, Qualtinger und Degenhardt in einem, der ebenso wortgewaltig reimte wie stimmgewaltig zur Gitarre sang.
Seine Lieder und Balladen, ein halbes Tausend – nur wenige offiziell gutgeheißene Verse wurden auf ein halbes Dutzend Singles gepreßt −, griffen mitten hinein ins tägliche Leben des Sowjetbürgers. Sie berichteten von Lager und Liebe, verspotteten Bürokraten und Sportrabauken, nichts war sicher vor des Sängers Fluch. Die Verse waren oft tragikomisch, oft traurig, ausweglos, eben russisch: Eine Irrenhausballade erzählt von einem Gesunden, der unter die Narren gesteckt und von ihnen gequält wird – „selbst Gogol würde sich mit Grausen wenden“. Ein Schrei aus dem Lager – „die Sonne scheint, der Schnee liegt meterhoch“ – fleht um Lebenszeichen von draußen: „Eure Briefe, Freunde, sind wie ein Boot schreibt, Freunde, / hört nicht auf mögen sie eure Briefe auch zerfetzen, / schreibt, meine Freunde, sonst bin ich tot.“
Wyssozki spottete mit seinem rauchigen Bariton zur Klampfe über das Kaufhaus Gum, zu dem alle eilen wie unter Zwang, obwohl es auch dort kaum was zu kaufen gibt. Er veralberte Aeroflot, deren Stewardessen sich wie Prinzessinnen aufführen und die ihn überallhin bringen will, bloß nicht dorthin, wohin er möchte (und die Koffer landen allemal in Kischinjow).
Mit grimmigem Mitgefühl besang er die Helden des sowjetischen Alltags, die hoffnungslos Schlangestehenden, Bürger, die warten, fluchen und schreiben, Bürger, die doch nur Gerechtigkeit wollen.
Du weißt doch, wir waren die ersten,
aber die, die hinter uns waren,
die sind schon lange dran. Doch das waren
Ausländer, wer seid Ihr?
Oder Delegierte, und wer seid Ihr?
Und noch immer warten die Bürger und fluchen und schreien.
Was Wyssozki in endlosen wodkageschwängerten Stunden vor Kollegen und Freunden nach dem Ende der Vorstellung vorsang, bei sich zu Hause oder bei Bekannten, seltener in öffentlichen Konzerten – dort immer eingepackt in Patriotisches −, das fand millionenfach, aber etwas außerhalb der Legalität Verbreitung über „Magnitisdat“, jenen „magnetischen Selbstverlag“, der als Kassette Gegenstück des literarischen „Samisdat“ wurde.
Studenten spielten die Bänder ab, Teenager kritzelten die Verse in ihre Schulhefte, Komsomolzen sangen Wyssozki-Balladen am Lagerfeuer und selbst Kadetten summten seine Lieder.
Voriges Jahr versuchten 23 der bekanntesten zeitgenössischen russischen Erzähler und Lyriker den Zensor mit einem 700 Seiten starken Almanach Metropol (Auflage: zehn Stück, handgefertigt) zu überlisten, was die meisten von ihnen unterdessen mit amtlicher Ächtung büßen, Initiator Axjonow vorletzte Woche sogar mit Emigration. Eingeleitet war das maschinengetippte Werk mit einem Verzweiflungsschrei Wyssozkis: „Ich hab es satt, bis obenhin zum Hals, ich will auch keine Lieder mehr schreiben, ich möchte nur noch ein U-Boot sein ganz tief am Grund des Ozeans, wo nicht mal Radar mich mehr findet.“
Kurz vor Afghanistan dichtete er noch eine prophetische Ballade, in der er einen kleinen Gauner sich vor seinen Knast-Brüdern brüsten läßt, er, der Russe, könne, wenn er nicht gerade säße, leicht Papst in Rom werden, denn dort suchten sie einen wie ihn.
Und auch dem Schah hätte ein Russe folgen sollen – schade um die verpaßte Gelegenheit, „ist doch jeder zweite in unserem Turkmenistan ein Ajatollah“.
Und: „Warum haben wir denn nach Golda Meir keinen Russen dort regieren lassen – wo doch ein Viertel ihrer Bürger früher die unseren waren?“
Seit Monaten krank – der Notarzt mußte mehrfach zum Theater an der Taganka kommen, um Hamlet-Wyssozki mit Spritzen aufrecht zu halten −, starb der Volkssänger vorletzten Freitagmorgen in seiner Wohnung unweit der deutschen Botschaft.
Das Boulevardblatt Moskauer Abend brachte eine winzige Annonce zwischen den Todesanzeigen eines Technikers und eines Sekretärs des satirischen Wochenblatts Krokodil, dann noch die Zeitung Sowjetkultur. Vom Freitagabend an versammelten sich zu jeder Stunde Hunderte von Trauernden vor dem Taganka-Theater, hinterließen Berge von Blumen und baten um ein Begräbnis auf dem Prominentenfriedhof am Neuen Jungfrauen-Kloster, am Sonntag. Die Staatmacht ließ nur den Wagankowskoje-Friedhof zu (wo das Grab des Poeten Jessenin liegt, Ziel vieler jugendlicher Pilger) und verschob die Beerdigung auf Montagmittag, zur Arbeitszeit – in der Hoffnung auf weniger Andrang. Der Termin wurde geheimgehalten. Doch dann erlebten die Regierenden, daß sich etwas regte im Volke, von dem sie so wenig wissen.
Am Montag strömten mindestens 15.000 Moskauer (andere Schätzungen gehen bis zu 50.000) jeden Alters, jeder Herkunft, zum Taganka-Platz, bis die Miliz weiträumig den Zugang sperrte. Die Massen, die der Künstler so berauscht hatte, weinten und schluchzten. Die vor dem Theater niedergelegten Blumenberge karrte die Polizei später mit Lkws weg. Die Lautsprecher-Übertragung eines Wyssozki-Liedes wurde untersagt; ein Porträt des Toten mußte durch ein Olympiaplakat ersetzt werden.
Fast alle Moskauer Schauspieler, Dichter, Regisseure von Rang kamen zum Taganka-Theater. Sie priesen den auf der Bühne Aufgebahrten als „wahren Künstler des Volkes“ (den ebenso lautenden offiziellen Titel hatte er nie erhalten), als „ein Genie, das mit acht Zeilen ausdrücken konnte, wofür wir ganze Bücher brauchen“, sogar als „einzigen in unserer Zeit, der es wagte, die Wahrheit zu sagen, die nun mit ihm verstummt ist“.
Nur mit Mühe hielt die Polizei, teilweise hoch zu Roß und sehr hart am Mann, die Menge im Zaum. Der von den Trauernden geforderte Leichenzug zum Friedhof wurde untersagt.
Dort türmten sich alsbald wieder die Blumen, weinten die Menschen. Und nächtens sangen Jugendliche weiterhin vorm Theater seine Lieder – bis die Polizei um Mitternacht die Wyssozki-Jünger vertrieb. Frauen stieß man ins Auto, Jugendliche U-Bahn-Treppen hinunter.
Vor dem Theater, am Grab stehen noch immer Menschen und weinen in aller Öffentlichkeit. Zum erstenmal, so sagen Moskauer, seit Stalin starb.
DEM ANDENKEN WLADIMIR WYSSOZKIS
Nennt ihn nicht einen Barden! – Er
war von Natur aus ein Poet ja.
Den jüngern Bruder haben wir
verloren, unsern Volks-Wolodja.
Geblieben sind uns seine Straßen,
die Levi-Strauß-verpackten Jungen,
geblieben ist das Land, vom Schwarzen
zum Weißen Meer noch unbesungen.
Um dich herum vor frischem Rasen
wächst immer noch die Menschenmenge.
Du wolltest, daß man dich Poet,
nicht aber Komödianten nenne.
Beim Eingang rechts zum Wagankowo
ist das vakante Grab gegraben,
bedeckt der Hamlet der Taganka
mit Erde durch Jessenins Spaten.
Der Regen löscht die gelben Kerzen…
Was von Wyssozki blieb, all das
trägt man davon: die Tonband-Binden
in ihrem Schrein aus Plexiglas.
Du lebtest, sangst und spieltest lächelnd,
du Schmerz, geliebt in Rußlands Namen,
in keins der schwarzen Kästchen passend:
Zu eng sind dir der Menschen Rahmen.
Du spieltest Shakespeare und Chlopuscha,
die Last, mit der du sangst, benannt
die Sorgen Rußlands, daß es uns
wie nie bedrückte und verbrannte.
Auf den vergänglichen Papieren
bleiben die Schreiber Schreiber, ach,
die Sänger werden Sänger bleiben
im Volksseufzer millionenfach.
Andrej Wosnessenski
Heinrich Pfandl: Wladimir Wyssozki
dekoder.org, 24.7.2020
Reinhard Lauterbach: Pathos der Bescheidenheit
jungeWelt, 29.7.2020
Wladimir Wyssozki – Ich werde in diesem Sommer weggehen…
Diesmal kein Kommentar nur eine Frage.
Im Internet gibt es eine reiche Liste der Übersetzungen seiner Lieder ins Deutsche. Deren Titel klingen (manche z.B. Das kotzt mich an für Ja nie lubju) vielversprechend. Leider weder die Texte noch ein Wort über die Übersetzer zu finden. Wo? Und wie? Mir wichtig! DANKE
Mein zweiter Kommentar taucht hier nicht mehr auf. Irgendwas muss ich falsch verstanden und anschließend ebenso gemacht haben.
(Oder war der Inhalt falsch) (?)