Wolfgang Werth zu Thomas Braschs Gedicht „Schließ die Tür und begreife“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Thomas Braschs Gedicht „Schließ die Tür und begreife“ aus dem Nachlaßband Thomas Brasch: Wer durch mein Leben will, muß durch mein Zimmer. –

 

 

 

 

THOMAS BRASCH

Schließ die Tür und begreife

SCHLIESS DIE TÜR UND BEGREIFE,
daß niemandem etwas fehlt,
wenn du fehlst, begreife,
daß du der einzige bist der ohne Pause
über dich nachdenkt,
daß du die Tür schließen kannst
ohne viel Aufhebens und ohne Angst,
es könne dich einer beobachten.
Dich beobachtet keiner.
Du fehlst keinem.
Wenn du das begriffen hast,
kannst du die Tür schließen hinter dir.

 

Anweisung zum Abgang

In dem Band Wer durch mein Leben will, muß durch mein Zimmer, der ein halbes Jahr nach dem Tod Thomas Braschs (1945 bis 2001) erschien und laut Untertitel Gedichte aus dem Nachlaß versammelt, steht diese Du-Ansprache an letzter Stelle. Sie ist weder Braschs letztes Gedicht noch ein nachgelassenes. Er hat es 1978 veröffentlicht, als einen von 64 undatierten Tagebucheinträgen, die er seinem Theaterstück Rotter voranstellte. Die Arbeit an Rotter hatte er begonnen, bevor er, im Dezember 1976, von Ost- nach West-Berlin „übersiedelte“ – dazu genötigt auch, weil er gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns protestiert hatte, vor allem aber, weil er so frei gewesen war, seinen Prosaband Vor den Vätern sterben die Söhne ohne DDR-amtliche Erlaubnis im Westen veröffentlichen zu lassen. Allem Anschein nach ist das Gedicht kurz vor der eilends genehmigten „einmaligen Ausreise“ entstanden. Dramatiker verstehen sich darauf, fiktiven Personen Stimme zu geben. Diese Du-Ansprache könnte eine höhnische „Belehrung“ sein, die ein Hüter der staatlichen Ordnung einem zum Verlassen des Landes aufgeforderten Störenfried erteilt. Als Selbstansprache des Dichters gelesen aber wirkt der Text betont nüchtern, um nicht zu sagen: angestrengt emotionslos.
„Schließ die Tür“: Der Befehl wird nicht als Fazit vorausgegangener Beschuldigungen ausgesprochen. Der Dichter hat das gegen ihn Verfügte akzeptiert, akzeptieren müssen.
Jetzt erteilt er sich die eigenen Anweisungen zum Vollzug. Er verlangt von sich zu begreifen, was er bereits weiß oder zu wissen meint: Da, wo er jetzt noch ist, wird niemandem etwas fehlen, wenn er fehlt; spurlos, keine Lücke hinterlassend, wird er verschwunden sein. Auch diejenigen, vor denen er Angst hatte, werden ihn beim Türschließen (und danach?) nicht mehr beobachten. „Begreifen“ bedeutet für ihn aber offenbar nur: sich das Festgestellte oder Behauptete bestätigen, es durch Wiederholung – „Keiner beobachtet dich. / Du fehlst keinem“ – bekräftigen und es so, im Zirkelschluß, zum Beweis seiner Richtigkeit erheben. Andernfalls wüßte er nicht im voraus, daß er danach, „wenn du das begriffen hast“, die Tür hinter sich schließen kann. Aus eigener Einsicht, nicht nur unter dem Zwang des Befehls, wird er sich von den Zurückbleibenden entfernen – ohne die Zuversicht, jenseits der Tür willkommen zu sein. Denn es sieht nicht so aus, als habe er vor, sich anderenorts zu ändern. Sein Rezept, keinen Zweifel aufkommen zu lassen, verbietet es ihm, kritisch oder selbstkritisch in Frage zu stellen, was ihm als erwiesen gilt. Auch wenn er sich auffordert zu begreifen, „daß du der einzige bist, der ohne Pause / über dich nachdenkt“, kann oder will er sich damit nicht vorwerfen, er habe versäumt, sich anderen Menschen zuzuwenden. Zwar könnte dieses Versäumnis der Grund sein, warum er niemandem fehlt. Aber es wäre für ihn kein Grund, fortan von seiner pausenlosen Nabelschau abzulassen.
„Wenn ich mehr über ein Gedicht weiß, als in dem Gedicht steht“, hat Brasch einmal gesagt, „dann ist es ein schlechtes Gedicht.“ In diesem scheinbar lapidaren, Trauer und Trotz unterdrückenden Gedicht steht auch, daß sein Verfasser weiß, warum er den bevorstehenden Grenzübertritt als Schließen der Tür symbolisiert. Für ihn ist er „nur“ eine weitere und voraussichtlich nicht die letzte Abtrennung von Ordnungsverhältnissen, denen er sich nicht einfügen kann, weil er ihnen nicht zugehört. Von früh auf hat Brasch sich immer wieder als fremd in der Welt der anderen erfahren müssen, erst im sozialistischen Zukunftsstaat, für dessen Aufbau seine Eltern, jüdische Kommunisten, sich so heftig engagierten, daß sie ihren Kindern kein Zuhause bieten konnten, dann im Westen, wo ihn fragwürdige Beifallsstürme empfingen. Egozentrisch aus Not, stellte Brasch hohe Ansprüche an sich. Nicht selten hat er sie angezweifelt, nie sie aufgegeben. Ins Maßlose steigerte er sie, nachdem sich das wahrlich ungeheure „öffentliche Interesse“ von ihm abgewandt hatte. Niemandem fehlend, schloß er wieder eine Tür hinter sich, die seines Zimmers, und vergrub sich in sein auf 13.000 Seiten auswucherndes „Mädchenmörder Brunke“-Projekt. Das Gedicht aus dem Jahr 1976 scheint auch diesen Rückzug vorzuahnen oder mitzumeinen. Das macht seine irrtümliche Aufnahme in den Nachlaßband begreiflich, wenn auch kaum verzeihlich.

Wolfgang Werth, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg).: Frankfurter Anthologie. Zweiunddreißigster Band, Insel Verlag, 2008

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