LIV
Ich habe mich einem Klima angepaßt, das nicht meines ist, hier atme ich die feuchte Luft des Ozeans, hier habe ich ein viereckiges Haus gebaut, aus Glas, offen auf ein felsiges Land, das ein Stromkabel durchschneidet, gespannt zwischen zwei Holzpfählen, an denen ich mein Herz aufhängte, Leuchtturm, der die Route weist, für jene, die aufbrechen, und jene, die sie beweinen, ich ruhe in meiner Behausung, nach den Jahren der Reise.
wurden zwischen Paris und Tunis geschrieben, von Frühjahr bis Herbst 1984, mit der Energie, die aus der Leidenschaft kommt, in jener Zeit, da die Erscheinungen, die einst den lebendigen Göttern zugeschrieben wurden, sich in eigenständige Epiphanien verwandeln, Aya hinterließ ihren Namen auf den Heften all jener Geliebten, deren Diktat diesem Gesang zugrunde liegt, sie erinnert an die mittelalterliche Nidam, jene junge Perserin, älter als Beatrice, in die sich Ibn Arabi verliebte, im Jahr 589 der Hedschra, und die ihn zu seinem Tarjuman al-Ashwaq inspirierte, Dolmetsch der Begierden, einem Buch, in dem manche Motive die Reise von einem Ufer zum anderen antreten, die Jahrhunderte und Sprachen durchquerend, als wäre es an ihnen, die Liebe zu preisen, die am Ursprung aller Bewegung steht, ohne die das Universum ein Nichts wäre.
Abdelwahab Meddeb, Vorwort
aus einundsechzig musikalisch organisierten, assoziationsreichen Prosagedichten von prägnanter Bildlichkeit vereint Meddeb die orientalische mit der westlichen Poesie. Eine Hommage an den mittelalterlichen Dichter-Mystiker Ibn Arabi (1165–1240) in einer dreisprachigen Ausgabe: Französisch / Arabisch / Deutsch.
Abdelwahab Meddeb, der in Paris lebende Schriftsteller, Sprössling einer alteingesessenen Theologen- und Schriftgelehrtenfamilie aus Tunis, legt mit Ibn Arabis Grab dreisprachig – im französischen Original, der deutschen Nachdichtung von Hans Thill und der arabischen von Mohammed Bennis – eine Sammlung mystischer Prosagedichte vor. Er lehnt sich in seinen 61 „Stanzen“ an ein Werk von Ibn Arabi (1165–1240) an, den Tarjuman al-Ashwaq (Dolmetsch der Begierden), zu dem den Mystiker die junge Perserin Nidam inspirierte, nachdem er sie in Mekka kennen und lieben gelernt hatte.
Das Werk ist aufgrund seiner mentalen wie sinnlichen Offenheit FundamentalistInnen noch heute ein Stein des Anstosses. Meddeb durchwebt seine bilderreiche Sprache mit Anspielungen auf Ibn Arabis Dolmetsch der Begierden und transzendiert das Lieben ins Mystische:
In einer Nacht weiht sie dich ein in das Geheimnis, setzt die Riten ausser Kraft, die das Begehren eindämmen, in jedem Hof verehrt, in jedem Tempel, ist sie Zierde für jedes Buch, als sie fortging, rief ich vergeblich nach ihr, meine Geduld trocknet aus, Stapel für Stapel, ihre Schönheit bewahre ich in mir, ihrem Glanz gelten meine Ausflüge in die Verschwendung.
Zu Ibn Arabi sollen die Weisheiten wie Gazellen vom Himmel herabgestiegen sein; und auch vor Meddebs innerem Auge kristallisieren sich zart, fast durchscheinend Gazellen, wenn er schreibt:
Erklimme die Stufen Schritt für Schritt, betrachte von oben die verlassenen Klöster der Wüste, marmorne Säulen, teilweise aufrecht, Frontgiebel in Trümmern, dort weiden Gazellen, schlank, zerbrechlich, auf der Hut, ängstlich, zitternde Adern unter der Haut, der Schweiss ein Tuch.
Meddeb entwickelt in Ibn Arabis Grab eine vielschichtige Sprache der Zärtlichkeit. Dem Wunderhorn-Verlag ist mit der dreisprachigen Ausgabe von Abdelwahab Meddebs Gedichtsammlung ein Kleinod interkultureller Vermittlung geglückt.
– Adonis und Abdelwahab Meddeb sind die spirituellen Nomaden der arabischen Lyrik. –
Wir säkularisierten Geister sind misstrauisch geworden gegenüber allen göttlichen Worten und dichterischen Offenbarungen. Das messianische Erlösungsversprechen, das uns die monotheistischen Religionen zumuten, hat zu viele Ernüchterungen hinnehmen müssen, als dass wir uns davon noch enthusiasmieren lassen könnten. Auch der Glaube an die Selbsttranszendierungen der Dichter ist ziemlich abgebröckelt. Das markiert einen ersten Unterschied zur arabischen Welt: Dort gilt die Rezitation des Koran nach wie vor nicht nur als der stärkste Gottesbeweis, sondern auch als Gipfelpunkt poetischer Ausdruckskraft.
Der deutsch-iranische Autor Navid Kermani hat in einem faszinierenden Essay auf den engen Zusammenhang von göttlicher Offenbarung und Poesie hingewiesen. Kermani erzählt hier die aufschlussreiche Anekdote vom frühmittelalterlichen Dichterkönig Labid ibn Rabia, der im dichterischen Fernduell mit dem Propheten Mohammed jämmerlich unterlag. Labid ibn Rabia ließ sich im Bewusstsein des sicheren Triumphes dazu herab, Verse des damals noch als obskurem Gaukler verschrienen Mohammed zu rezitieren. Überwältigt von der Schönheit der Koran-Verse, so erzählt die Legende, bekannte sich Labid ibn Rabia noch an Ort und Stelle zum Islam. Dieser Glaube an die unüberbietbare poetische Wirkungskraft des Korans stellte jeden arabischen Dichter bis ins 20. Jahrhundert hinein vor eine Zerreißprobe: Jeder Verfasser eines Gedichts setzte sich in unmittelbare poetische Konkurrenz zum Koran – und riskierte es, für dieses potenziell frevlerische Verhalten der Häresie bezichtigt zu werden.
Zu einem ersten folgenreichen Zusammenstoß der traditionell religiös eingebundenen Dichtung mit den Form- und Bild-Vorstellungen der westlichen Moderne kam es im Jahr 1947, in dem sich – folgt man dem aus Syrien stammenden Dichter und Übersetzer Suleman Taufiq – „die Geburtsstunde der modernen arabischen Lyrik“ vollzogen hat. Zwei irakische Dichter, Nazik Al-Malaeka und Badr Shakir As-Sayyab, riskierten es, von den festen metrischen Vorgaben der Tradition abzuweichen und erstmals Gedichte in freien Rhythmen und lockeren Reimmustern vorzulegen. Als sich dann 1956 in Beirut, dem neuen liberalen Zentrum der arabischen Welt, die jungen Dichter Adonis, Fuad Rifka und Yusuf Al-Khal zur Gründung der Zeitschrift Schiir (Poesie) trafen, begann jene Gratwanderung in die Moderne, die bis heute in der arabischen Welt die heftigsten Diskussionen provoziert.
(…)
Das „poetisch-philosophische Streitgespräch mit dem Westen“ (Stefan Weidner) erscheint nicht nur als markantes Charakteristikum des Werks von Adonis, sondern auch als zentrales Movens in den Texten des Tunesiers Abdelwahab Meddeb, der nicht erst seit seinem famosen Essay „Die Krankheit des Islam“ (2002) als inspiriertester Diagnostiker der „westöstlichen“ Konfliktverhältnisse gelten kann. Schon in seinem Islam-Essay versuchte Meddeb jene Traditionslinien zu markieren, die einen reichen freigeistigen Islam in der Nachfolge des frühmittelalterlichen Libertins und Dichters Abu Nawas oder des philosophischen Mystikers Ibn Arabi von der folgenreichen Dogmatisierung des Islam durch den saudiarabischen Wahabismus trennen.
Die mystischen Kosmogonien und Träume des Ibn Arabi, sein pluralistisches Religionsverständnis und die von ihm entfesselten metaphysischen Energien werden nun auch zur Bezugsfigur im aktuellen Gedichtband Meddebs, die in einer dreisprachigen Ausgabe (französisch-arabisch-deutsch) vorliegt. Diese Gedichte führen in fast programmatischer Manier das Projekt des großen Vorbilds Ibn Arabi fort: In insgesamt 61 „Stanzen“ geht es um mystische Ekstasen und berückende Epiphanien, die sehr oft zu erotischen Urszenen transformiert werden. Der „spirituelle Nomade“, als den sich Meddeb in einem Essay definiert hat, folgt hier enthusiastisch den „abenteuerlichen Pfaden der inneren Vision“ – und das manifestiert sich in Versen, die sich unablässig an Offenbarungssensationen berauschen und in ihrem Überschwang die Überschreitung der alltäglichen Sphäre suchen. Gerade diese beständige lyrische Aufladung der sinnlichen Details, dieser rhapsodische Ton, die hymnische Anrufung einer zu verzaubernden Welt kehren in vielen Gedichten der arabischen Moderne wieder. Aber nirgendwo sind sie mit so üppigem metaphorischen Dekor ausgestattet wie in den poetischen Exaltationen eines Meddeb. Die Energien von „Nomadentum und Sufismus“ versucht Meddeb in Gedichte von vibrierender Sinnlichkeit zu überführen. Dabei imaginiert sich sein lyrisches Subjekt als bilderhungriger Wanderer zwischen den Welten:
… als Zielloser hatte ich mich gesehen, der durch das Land irrt, in allen Sprachen stammelnd, alle Schriften berührend, kommend, gehend,… die Bühnen wechselnd, aufmerksam für die Spur der Völker, auf ihrer Zeitreise, erratisch, sich wandelnd, veränderlich, im Spiegel der Metamorphosen, folgend dem Los der Leidenschaft, das die Welt bewegt.
Im Assoziationsstrom blendender Bilder wird hier ein Dichter der Entgrenzung sichtbar.
– Abdelwahab Meddebs huldigt einem Sufi. –
Der Symbolist Stéphane Mallarmé widmete seinem Kollegen Paul Verlaine 1897 eines seiner hermetischen Grabgedichte, den „Tombeaux“. Der Lyriker und Essayist Abdelwahab Meddeb, 1946 in Tunis geboren, bezieht sich mit seinem Gedichtzyklus Ibn Arabis Grab ausdrücklich auf Mallarmés Verfahren; ohnehin genießt der Verfechter einer „reinen Poesie“ große Wertschätzung in der arabischen Welt. Meddeb macht die „reine Poesie“ als Geste der Verehrung für einen Mystiker des Mittelalters fruchtbar: für Ibn Arabi (1165–1240), einen sufistischen Gottsucher. Er stammte aus Andalusien, das für Angehörige der spirituellen Elite den Traum eines europäischen Arabiens symbolisiert.
Von religiösen Traditionalisten bis heute als Ketzer und irrationaler Schwärmer angegriffen, von seinen Anhängern als „Größter Meister“ tituliert, verfasste Ibn Arabi einen Zyklus von 61 Oden, den Dolmetsch der Sehnsüchte. In diesem Buch, das schon Dante inspirierte, betet er die entschwundene Nidam an, die ihm auf einer Pilgerfahrt nach Mekka begegnet war. Bei Meddeb spiegelt sich Nidam in Aya, um die herum der Erzähler ein Feuerwerk der Stimmungen und Farben abbrennt, in 61 Prosagedichten, jeweils einen atemlosen Satz lang.
Meddeb steht wie Adonis oder der Marokkaner Abdallah Zrika für eine Dichtkunst der Überraschungen, der Revolte und des Schwindels nahe an der Verrücktheit. Der Sohn einer Gelehrtenfamilie, der auf Französisch schreibt und an der Sorbonne lehrt, ist ein berufener Vermittler zwischen Orient und Okzident: So wie er im fesselnden Singsang des Korans einen weiß-blauen Waschtag seiner tunesischen Kindheit vergegenwärtigt, so analysiert er hellsichtig „Die Krankheit des Islam“. Ibn Arabi, sagte Meddeb kürzlich in einem Interview, habe ihm gezeigt, dass islamische Tradition und europäische Moderne keine unüberbrückbaren Gegensätze seien. Dennoch lässt sich Ibn Arabis Grab als poetische Verlustanzeige lesen, aufgegeben im rationalistischen Abendland:
Die Wege des Exils, sie führen ins westliche Land, ich gehe über ein weißes Leichentuch, das den Boden bedeckt, die inneren Bilder trocknen im Wind, ich wische die Buchstaben aus, die ich schrieb, in verborgene Hefte, im Geheimsten meines Herzens.
Elisabeth von Thadden: So golden glüht Europa
Abdelwahab Meddeb: Porträt des Dichters als Sufi, Teil 1/5.
Abdelwahab Meddeb: Phantasia, Teil 2/5.
Abdelwahab Meddeb: Aya, Teil 3/5.
Abdelwahab Meddeb: Die Krankheit des Islam, Teil 4/5.
Abdelwahab Meddeb: O Atem, o Stimme, o Geschmack, o Duft, Teil 5/5.
Mohammed Bennis liest auf dem XI. International Poetry Festival von Medellín 2001.
Hans Thill zum Internationalen Lyrikertreffen Münster 2021 mit seinem Statement „Pathos“.
Hans Thill liest sein Gedicht „Kühle Religionen“.
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