PEREZ MARKISCH
Am Puschkin-Denkmal, bei den Stufen,
sind wir uns dann zuletzt begegnet.
Dies Moskau hatte unsre Köpfe
mit roten Sternen zugeregnet.
Und als wir voneinander schieden,
die Lippen zuckten ein „Mach’s gut“,
sahn wir: der bronzne Alexander
verbarg die Wunde und das Blut.
Noch einmal deine Hand in meiner,
die Augen grau, von Trauer tief.
– Ich will nicht leben wie Zigeuner –
sprachst du, und zogst die Lippen schief.
Du Dichter, stets umhergetrieben,
wo unser Staub sich widersetzt…
Wir sahn: der bronzne Alexander
verbarg, was ihn so schwer verletzt.
Ich sagte: Eine schwarze Chupe
ist meine Stadt, gewebt vom Tod.
Wir, Text zu deinem „Leichenhaufen“,
sind Auserwählte fürs Schafott.
Gewiß, der Schnee, er ist mir nahe –
und richtet sich auf ewig ein!
Ich aber stelle mir zu Kopfe
den jüdischen, den weichen Stein.
In Moskau die Trompeten schwiegen
am großen Platz auf einmal still.
Ich sah die Träne wie in Ketten,
die Träne, wenn sie heimwärts will.
Wo bist du, Freund? Nun sing die Wahrheit,
sing aus dem Grab und rebellier:
Mein Land, ich schenkte dir Poeme,
und eine Kugel gabst du mir.
Abraham Sutzkever gilt als ein großer Dichter, vielleicht der größte, den die jiddische Literatur bislang hervorgebracht hat. Und er hat Entscheidendes für sie getan: Als Poet. Als Mann des geistigen, aber auch des militanten Widerstandes gegen die von Deutschen verhängte Hölle. Als Herausgeber einer berühmten jiddischen Literaturzeitschrift.
Im deutschen Sprachraum ist er noch immer weithin unbekannt.
Sutzkever wurde ein Jahr vor dem ersten Weltkrieg geboren. Schon 1915 fiel die von deutschen und zaristischen Truppen umkämpfte Heimatstadt Smorgon, südöstlich von Wilne gelegen, den Flammen zum Opfer. Die Familie verschlug es nach Omsk im fernen Sibirien.
Das ärmliche Leben hinderte den jungen Abrascha nicht, seine Kindheit zu idealisieren. Ein Verbannungsort, vom Bürgerkrieg bedroht, und die umgebende Landschaft inspirierten ihn später, Sibirien zum kristallinen Eisparadies zu verklären.
Den frühen Tod des Vaters hat Sutzkever mehrfach für seinen Entschluß verantwortlich gemacht, ein Dichter zu werden: einer, der Schönheit sucht und schafft, doch der sich auch für den Zustand der Welt mitverantwortlich fühlt. Die Gestalt des großen Poeten – das ist eine Vision, die ihn lebenslang begleitet. Keinesfalls als ein erträumtes Standbild, sondern als eine täglich neue Bewährung.
Die Mutter kehrte mit ihren drei Kindern erst nach Smorgon zurück, um sich dann in Wilne, dem „Jerusalem des Nordens“, niederzulassen. Sie blieb alleinerziehend, vermittelte dem Sohn vielerlei Bildungsanstöße und ließ ihm Freiheit. Er besuchte den Cheder, eine Talmudschule, ein hebräisch-polnisches Gymnasium, nutzte die berühmte Straschun-Bibliothek, das Jüdische Wissenschaftliche Institut (Jiwo) und die Universität, um sich literarisch auszubilden. Dichter der polnischen Romantik, vor allem Cyprian Norwid, aber auch russische Dichter des Symbolismus wie Waleri Brjussow und Aleksander Blok beeinflußten sein Dichtungskonzept. Zu der Dichter- und Künstlergruppe Jung-Wilne suchte er Kontakt und ließ sich nicht beirren, als man ihn zunächst einmal zurückwies. Er schrieb viel für den Manuskriptekoffer, wurde von den New Yorker Ichsichisten für sich entdeckt, konnte beim Warschauer PENClub einen Gedichtband lider herausbringen und hatte als Dichter schon einen gewissen Ruhm erlangt, als die Deutschen 1941 über das Land hereinbrachen.
Er hatte Standfestigkeit bewiesen, schien aber sehr sensitiv und gefährdet, so daß damals niemand ahnen konnte, was er im Getto zu leisten imstande war.
Allein der alltägliche Lebenskampf erforderte äußerste Energie. Sutzkever setzte sich für andere ein, trug entscheidend zur Rettung von Kulturgütern und zur Aktivierung des kulturellen Lebens bei. Er half, die Partisanenorganisation aufzubauen und Waffen ins Getto zu schmuggeln. Zudem und vor allem schrieb er Gedichte.
Im eisernen Griff der SS hatte der militärische Widerstand innerhalb des Gettos wenig Bewegungsraum. Es gelang Sutzkever, mit Gefährten zu den Partisanen der Wälder zu entkommen, ehe das Getto vernichtet wurde.
Als man ihn, den Dichter-Partisan, in einem Militärflugzeug nach Moskau rettete, trat er vor die Öffentlichkeit und berichtete über die Untaten der Deutschen, arbeitete an einem entstehenden, dann verbotenen „Schwarzbuch“ über die Judenvernichtung mit, wurde als Zeuge des sowjetischen Anklägers zum Nürnberger Kriegsverbrecher-Tribunal geladen.
Aus dem Material für das „Schwarzbuch“ entstand Sutzkevers Höllen-Report über das Wilner Getto (der parallel zu diesem Lyrikband in deutscher Übersetzung erscheint).
Abraham Sutzkever entkam dem Stalinschen Machtbereich, ehe dort der Antisemitismus tödliche Formen annahm. Er ließ sich 1947 in Erez Israel nieder, ein Jahr vor der Gründung des jüdischen Staates. Seither schuf er eine Fülle von Gedichten, die 1963 in einer zweibändigen Werkausgabe erstmals vereint wurden und gab 1968 die Sammlung Lieder vom Meer des Todes heraus, die unserer Gedichtauswahl wesentlich zugrundeliegt.
Hubert Witt, Vorwort
In einem Gedicht zu seinem 30. Geburtstag, im Jahre 1943, schildert Abraham Sutzkever eine seltsame Szene: Sein Vater, ebenfalls 30 Jahre alt, stirbt an Herzversagen, und hat soeben noch auf seiner Fiedel ein Lied gespielt. Nicht irgendeines, sondern ein Lieblingslied des berühmten chassidischen Rebben Levi Jizchok Berditschewer (vielleicht das schöne und sehr volksnahe „Dudele“). Ehe er das Bewußtsein verliert, teilt er seinem siebenjährigen Söhnchen noch eine testamentarische Botschaft mit:
Also, mein Kind,
prüfe auf deinen Händen die Waage des Lebens,
denn du sollst dich gewöhnen,
sie später zu tragen.
In jenem Augenblick
ist in mir der Dichter geboren.
Um die Feierlichkeit dieses Initiationsaktes ein wenig zu mindern, fügt der Dichter ein poetisch-spielerisches Moment hinzu: er deutet an, womöglich habe er das gar nicht wirklich gehört, sondern es nur erdacht und also selber entschieden, sich eine so schwere und folgenreiche Verpflichtung aufzuerlegen.
In seinem Werk Das grüne Aquarium, das sich dem Wilner Getto widmet, finden wir die Zeilen: es sei, „als hätte der Engel der Dichtung mir anvertraut: ,Du hast es in der Hand. Wird dein Gesang mich begeistern, werde ich dich beschützen mit flammendem Schwert, falls nicht – sollst du dich nicht beklagen… mein Gewissen bleibt rein.‘“.
Alle die geistigen Richtungen, auf die er sich beruft oder auf die er sich einläßt, ergeben eine produktive Gemengelage. Aber er sagt dazu einen wichtigen Satz: Seine einzige Ideologie sei immer nur die Poesie gewesen.
Das Prinzip Schönheit, das viele der frühen Gedichte Sutzkevers verklärt, hat auch während der Gettozeit einen hohen Stellenwert in seiner Ästhetik. Und es entspricht bei ihm einer ganz elementaren Erlebnisfähigkeit. Er schildert, daß er in äußerster Bedrängnis, ja Todesnähe faszinierende ästhetische Erfahrungen durchlebte. Als er ein Rinnsal seines eigenen Blutes in der Kalkgrube wahrnimmt, schaut er einen prachtvollen Sonnenuntergang. Oder sieht zeitlupenhaft dahinfliegende Vögel, als junge „Sturmisten“ (SS- oder SA-Leute) seine Erschießung fingieren.
Aber sein Schönheitsbegriff wird nun sehr viel umfassender und variabler als früher.
Nicht nur das Große, sondern auch das Kleine, nicht nur das Erhabene, sondern auch das Niedere scheint ihm wert und geeignet, ins Symbolische seiner Dichtung erhoben zu werden.
Als er erschossen werden soll und sein eigenes Grab schaufeln muß, zerschneidet er einen Wurm – und findet Trost, als der nun zwiefach weiterlebt. Der Frierende, Erfrierende wärmt sich am Pferdedung – und entdeckt: sogar aus solch einem Vorgang könne ein Gedicht von erhabener Schönheit entstehen. Sutzkever wird später die unterirdischen Abwässerkanäle des Wilner Gettos, wo sich Bewohner monatelang versteckt hielten, in seinem Poem „Geheimstadt“ besingen, als wären es Marmorpaläste.
Bei den Gedichten behält es sich der Autor vor, das Ich ins Zentrum zu rücken, wie es bei sehr persönlichen Themen der Fall ist, oder aber als Beobachter und Erzähler aufzutreten, oder als Prediger, um ein schwieriges Problem zu reflektieren.
Sutzkever beschreibt reale Personen des Gettos in einer Weise, daß sie symbolische Bedeutung erlangen. Dazu gehören all die Menschen, denen er Epitaphe widmet.
Auch der Rabbiner, der, gemeinsam mit Sutzkever und dem Jungen, unter Beifall eines nicht-jüdischen Publikums schrecklich erniedrigt wird und – seine Würde behält.
Dazu gehört der Vater aus dem Kol Nidre-Poem, dem als menschliche Tat nichts anderes bleibt als: seinen Sohn zu erstechen (er ist ein Abraham, den Gott nicht von der Tötung seines Sohnes abhält).
Dazu gehören Geiger, die ihre Instrumente ausgraben, um mit ihrer Musik sich und den anderen Mut zu machen.
Dazu zählt auch die polnische Retterin, die für Sutzkever ihr eigenes Leben und das ihrer Familie wagt. Und viele andere, die hier, in der schmalen Auswahl der Gedichte, nicht vertreten sind.
Das Lehrgedicht von den Weizenkörnern erläutert gleichnishaft, warum es Sinn macht, die jüdischen Bücher zu vergraben, trotz des Risikos, sie dabei zu verlieren. Im Gedicht über Roms Druckerei wird der große Vorgang der Kulturrettung auf den Kopf gestellt: der unerhört wertvolle Bleisatz einmaliger religiöser und weltlicher Editionen wird preisgegeben, um Pistolenkugeln daraus zu gießen. Pflugscharen werden in Schwerter verwandelt, um möglichst die Arbeit des Pflügens und die Pflüger zu retten – für den Kultur-Retter Sutzkever ist dies ein tiefgehender Konflikt, der in vielen Gedichten abgehandelt wird, und der immer wieder in den Appell mündet: nehmt die Waffe zur Hand.
In chassidischer Tradition sucht der Poet auf sehr persönliche Weise den Kontakt mit Gott. Sein Lied „Unter deinen weißen Sternen“, das im Getto viel gesungen wurde, ist ein Ruf des Dichters aus tiefer Not, eine sehr eigene Variante des 130. Psalms.
Sutzkever rechtet mit Gott, aufrührend in seinem dramatischen Kol Nidre-Poem, seiner großen Fortführung des Hiob-Themas.
Das Rechten wirkt verhaltener, wenn er fragt, ob Gott seiner ermordeten Mutter in die Augen sehen könne. Oder wenn aus Anlaß des Nürnberger Tribunals die Frage entsteht, ob Gott für die Gerechtigkeit vielleicht zu schwach sei, so daß die Menschen diese Arbeit selbst in die Hand nehmen müßten.
Den großen jüdischen Pantheisten Spinoza verehrt der Dichter in Huldigungsversen, und dies sowohl vor wie nach der Gettozeit.
Abraham Sutzkever rechnet nicht nur damit, daß der Engel der Dichtung seine Verse kontrollieren wird, sondern er wünscht sich auch, Gott selber möge seine Gedichte lesen wollen. Und späterhin wird er äußern, eigentlich sei er immer ein Psalmendichter gewesen.
Sein bekanntes Gedicht „Wer wird bleiben“, wo er sein eigenes Tun und Vollbringen heiter in Frage stellt, endet augenzwinkernd:
Gott wird bleiben – ist dir’s nicht genug?
Sutzkever ist im Getto zu dem großen Dichter geworden, der in ihm angelegt und vorbereitet war.
In einem der Texte warnt er sich selber, seine Höllenbilder zu späterer Zeit, aus größerem Abstand mit sonnigen Farben zu übermalen.
Er mußte sich daran gewöhnen, seine eigene Legende zu leben. In Moskau hatte einst Perez Markisch, aus Anlaß eines Empfangs für Sutzkever, gesagt:
Auf Dante pflegte man mit dem Finger zu weisen: Dieser Mensch ist in der Hölle gewesen! Wie paradiesisch sah Dantes Hölle aus gegenüber der, aus welcher sich der Dichter gerettet hat…
Aber Sutzkever verstand sich fortan nicht nur als Sänger des Wilner Infernos, sondern als Dichter von Drei Welten (so hieß eine erste Anthologie, die aus Anlaß seines 40. Geburtstags 1953 in Buenos Aires erschien). Der Titel bezog sich auf die Vorkriegswelt, das Getto und schließlich auf die Sphäre des neu erstandenen Staates Israel, die Sutzkever – für die Judenheit und für sich – als großen Aufbruch und Erneuerungschance begriff.
Doch zur israelischen Staatssprache wurde Iwrit erhoben, das für das moderne Leben erweckte und erweiterte Hebräisch, und zeitweilig war das Jiddische im Lande wenig angesehen und wenig gefördert. Abraham Sutzkever sprach und schrieb weiterhin Jiddisch und ließ seine Verse von anderen Dichtern ins Neuhebräische übersetzen. Von seinen Lyrikbänden der späteren Jahrzehnte werden vor allem die Tagebuch-Gedichte gerühmt, und viele verstehen sie als sein Hauptwerk: Gedankenlyrik, die aus alltäglichen Anstößen hervorgeht und weit darüber hinausgreift.
Zum 50. Geburtstag des Dichters im Jahre 1963 veranstaltete man eine zweibändige Ausgabe seiner Poetischen Werke – elfhundert Seiten Gedichte. Später entstanden außer Lyrik auch Erzählungsbücher mit sehr poetischer, oft gedichtnaher Prosa, in denen der Einfluß chassidischer Erzähltradition unverkennbar ist.
Aber in der Hierarchie der literarischen Genres räumt Abraham Sutzkever weiterhin der Versdichtung den obersten Rang ein, wie es zu Zeiten Dantes gegolten hatte.
Fast fünf Jahrzehnte lang steuerte Sutzkever auch dadurch zum Bestand der jiddischen Dichtung bei, daß er bedeutende jiddisch-schreibende Autoren aller Länder bestärkte und – druckte. In seiner Zeitschrift di goldene kejt (die goldene Kette), die von 1949 bis 1995 in Tel Aviv erschien. Es war fast ein Wunder, daß sie entstand und bestehen blieb. Zur Gründungszeit, bald nach der Errichtung des Staates Israel, ertönten viele Unkenrufe, die Vierteljahresschrift werde nach wenigen Nummern am Ende sein.
Wenn heute nicht nur an Universitäten und in Vereinen Amerikas, Israels, Frankreichs, Kanadas, Litauens und Deutschlands jiddische Literatur gesammelt, gelesen und analysiert, sondern wenn sie von hoffnungsfrohen Dichtern noch immer geschrieben wird, voller Erwartung, eine neue Renaissance der jiddischen Dichtung bewirken zu können, dann ist Abraham Sutzkevers Lebensarbeit als Poet wie als Redakteur in hohen Graden beteiligt.
Und er hilft, daß in Zeiten des Stimmengewirrs noch immer Menschen auf die Stimmen der großen Dichter hören und hoffen.
Hubert Witt, Nachwort
ist eine poetische Zeugenaussage, mit deren Sprachgewalt er in den Louvre der großartigsten Dichtungen des 20. Jahrhunderts Einzug hält. In den jiddischen Versen von Abraham Sutzkever pulsieren die Emotionen in der jahrhundertealten Sprache der Träumer und Kabbalisten, Märtyrer und Heiligen. Es ist eine Sprache der Weisheit und Bescheidenheit, das Idiom einer verängstigten und hoffnungsvollen Menschlichkeit – reich an Erinnerungen, die über Generationen hinweg bewahrt werden.
Ammann Verlag, Ankündigung
sagt Abraham Sutzkever als Zeuge bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen aus. Drei Jahre hat er im Wilner Getto die Greueltaten der Nazis und ihrer litauischen Helfer hautnah miterlebt. Sein lyrisches Werk, das in dieser Auswahl zum ersten Mal in deutscher Sprache vorliegt, ist eine poetische Zeugenaussage, mit deren Sprachgewalt Sutzkever in den Louvre der grossartigsten Dichtungen des 20. Jahrhunderts Einzug hält. In den jiddischen Versen von Abraham Sutzkever pulsieren die Emotionen in der jahrhundertealten Sprache der Träumer und Kaballisten, Märtyrer und Heiligen. Es ist eine Sprache der Weisheit und Bescheidenheit, das Idiom einer verängstigten und hoffnungsvollen Menschlichkeit reich an Erinnerungen, die über Generationen hinweg bewahrt werden. Sutzkever erhebt diese Sprache zur höchsten Kunstform:
Und so geschah es:
In einer Minute des Nicht-Erinnerns,
Als ich eine Kirsche zu den Lippen nahm
Hat sich die Kirsche
In eine heiße Kohle verwandelt und Wörter gezündet.
Ammann Verlag, Klappentext, 2009
– Wilna, Vilnius oder Wilne, das sogenannte „Jerusalem Litauens“ war jahrhundertelang ein Zentrum jüdischer Kultur. 1941, kurz nach dem Angriff der Deutschen auf die Sowjetunion, wurde die Stadt besetzt. Bereits innerhalb der ersten sechs Monate wurden über 50.000 Juden umgebracht. Abraham Sutzkever, Jahrgang 1913, ist einer der Chronisten des Wilner Gettos. –
Der Schweizer Ammann-Verlag, der in diesem Herbst seine Arbeit aufgibt, hat es als eins seiner letzten großen Projekte unternommen, gemeinsam mit dem Übersetzer Hubert Witt Sutzkevers Gedichtsammlung Gesänge vom Meer und seine Geschichte des Gettos zu publizieren.
Wie überall in ihrem Herrschaftsbereich, ging es den Nationalsozialisten auch in Wilne nicht allein darum, die Juden physisch zu vernichten – sie sollten seelisch und geistig zerstört werden. Man zwang sie ins Getto und verbot ihnen, ihr Eigentum zu verkaufen, weil ihr Vermögen ohnehin dem Deutschen Reich gehöre. Man sammelte Thorarollen ein, um sie in einer Lederfabrik zu Stiefelfutter zu verarbeiten. Man untersagte die Ausübung der Religion, schloss das Spital, veröffentlichte von Tag zu Tag widersprüchliche Erlasse, für deren Übertretung die Menschen direkt umgebracht oder aber massenhaft in der „Todesfabrik“ im nahgelegenen Ort Ponar ermordet wurden.
Die Nazis wollten den Frauen „verbieten“ zu gebären beziehungsweise brachten Neugeborene um – wenn sie sich nicht den gelegentlichen Spaß erlaubten, in Ponar die Kinder von Juden kurzfristig freikaufen zu lassen. Abraham Sutzkevers Frau war schwanger. Eines seiner Gedichte wendet sich an ihr gemeinsames Kind:
Ob aus Hunger,
ob aus großer Liebe –
nur deine Mutter ist mir Zeuge:
Ich wollte dich einschlingen, mein Kind,
als ich fühlte, wie dein Körperchen kühl wurde
in meinen Händen
…
Mein Kind,
in Worten heißt du: Liebe,
und wortlos bist du es selber,
du – die Mitte meines jeden Traums,
verborgener Dritter,
du aus den Winkeln der Welt
hast mit dem Wunder eines nie gesehenen Sturms
zwei zusammengebracht und verschmolzen –
damit sie dich erschufen und dich erfreuen –
…
Dich hat nie eine Wiege erfreut,
wo jeder Schwung
den Rhythmus der Sterne in sich birgt.
Mag die Sonne wie Glas zersplittern – denn nie sahst du ihr Licht
…
Ein Tropfen Gift hat dein Vertrauen ausgebrannt,
du meintest, es wäre süße warme Milch.
Im Unterschied zu Sutzkevers Gedichten, deren Inhalt oft ins Symbolische erhoben wird, die von einem Feuer aus Metaphern erhitzt werden, ist der Ton der Chronik eher kühl; der Autor lässt meistens die Fakten für sich selbst sprechen.
Als Schutz vor den ständigen Überfällen bauten sich die Juden in jedem möglichen Winkel Verstecke, sogenannte „Malinen“, in denen sie Bücher, Gemälde, Angehörige, sich selbst verbargen. In den Malinen ereigneten sich Tragödien; denn oft wurden sie wegen der wimmernden Kinder entdeckt. Die Perfidie der Nazis: Jüdische Eltern wurden von den jüdischen Mitbewohnern des Verstecks gezwungen, ihre Kinder zu ersticken. Sutzkever erinnert sich an den wilden Schrecken in einer der Malinen, in der auch er Zuflucht suchte: Verkrampfte aneinander gepresste Körper; ein Streichholz flammte nicht auf, weil die Luft zu wenig Sauerstoff enthielt.
Sutzkevers Gefühle und Erinnerungen sind auch noch 1966 in Israel, in einem Gedicht aus den Gesängen vom Meer des Todes, bei seinen ermordeten Wilner Nachbarn. Im terrorisierten Getto war nicht einmal immer klar, wann ein Mensch zu leben aufhörte, und wo also innezuhalten und Kaddisch, das Gebet für die Verstorbenen, zu sagen gewesen wäre:
Ich kann ihn nicht vergessen, den Vergessenen.
Ich kann ihn
nicht einmal erinnern: mit dem Gebetsschal auf dem Gesicht –
ein Sterbender, ein Zertretener auf dem Pflaster der Straschun-Straße.
Bis sich die Mondstraße zur Sonnenstraße verwandelt.
…
Ich kann ihn nicht vergessen, den Vergessenen.
Eine Weile
stehen zwei Getto-Pflöcke gebeugt daneben:
Warum nicht Kaddisch? Fragen ihn beide die schwierige Frage.
Trotz widrigster Umstände gab es im Getto vielfältige Formen der Gegenwehr. Die Bewohner gründeten ein Komitee zur Verteidigung der Armen, organisierten Kleidung, Mahlzeiten, medizinische Hilfe für die Bedürftigen. Illegale Theateraufführungen, Ausstellungen, Schulunterricht – die Fortsetzung des kulturellen Lebens sollte den entkräfteten, traumatisierten Menschen dennoch ihre Würde bewusst machen und sie bewahren.
Der Satz „man tanzt nicht auf Gräbern“ wurde aber auch in Wilne debattiert: War es nicht unsinnig, eine geheime Druckerei zu betreiben, Vorlesungen zu halten, einen Chor zu gründen, wenn ringsum die Leute dahinsiechten? Andererseits: Diejenigen, die in den Augen der Nazis lediglich mehr oder weniger verwertbare passive „Objekte“ sein sollten, wurden durch die soziale und kulturelle Arbeit in ihrer Identität gestärkt; diese Arbeit machte sie zu aktiven Subjekten. Sie war ein Akt des Widerstandes und der Hoffnung. Sehr früh schon wurde außerdem die Partisanenorganisation FPO ins Leben gerufen, die linke und rechte Zionisten, Kommunisten und Bundisten vereinte. Sie hielt Kontakte zum nichtjüdischen Widerstand außerhalb des Gettos, zu den Partisanen in den umliegenden Wäldern und auch zum Warschauer Getto.
Sutzkever, der selbst ein Mitglied der FPO war, schildert die Sabotageakte der jüdischen Zwangsarbeiter: Benzin und Munition der Besatzer verschwanden. Waffen wurden ins Getto geschmuggelt; einmal wurde ein Zug, beladen mit Deutschen und Waffen, gesprengt. Dabei stand die FPO bei all ihren Aktionen vor einem kaum lösbaren Dilemma: Die Widerständigen selbst hätten sich möglicherweise aus dem Getto retten und zu den Partisanen schlagen können. Andererseits war ihr oberstes Ziel der Schutz der unbewaffneten Bevölkerung. Unter den Mitgliedern des Judenrats und der jüdischen Polizei waren in Wilne natürlich auch diejenigen, die zur Kollaboration rieten und im Zweifelsfall massenhaft eigene Leute auslieferten, um damit die immer weniger werdenden Übrigen – oder auch nur sich selbst – zu retten.
Izik Witenberg, der Leiter der FPO, hoffte darauf, ein Gettoaufstand würde von Antifaschisten aller Couleur von außen unterstützt – aber es war wie auch in anderen Gettos die unlösbare Frage, wann der Zeitpunkt der Gegenwehr gekommen wäre. Die Gestapo hatte ihre Spitzel unter den Gettobewohnern; Witenberg wurde verraten und stellte sich, er wurde ermordet.
Kurz, bevor das Getto im September 43 liquidiert wurde, konnte Abraham Sutzkever mit anderen in die umliegenden Wälder flüchten und schloss sich einer Partisaneneinheit an. Der Schriftsteller Ilja Ehrenburg bekam seine Gedichte in die Hand und holte ihn nach Moskau. Dort schrieb er 1944 die Chronik; 1946 sagte er als Zeuge der sowjetischen Anklage bei den Nürnberger Kriegsverbrechensprozessen aus.
An und gegen den Dante der Göttlichen Komödie richten sich einige Verse aus den Gedichten „Ode an die Taube“ von 1954 und „Schließ das Fenster“ von 1965: Versuche des Dichters Sutzkever, von dem zu singen, worüber sich nicht sprechen lässt:
– Meister der Hölle, willst du ein Weilchen die Höllen vertauschen?
Ich spaziere in deiner, und du in den wirklichen Feuern…
Meister, es schmälert deinen ewigen, marmornen Ruhm nicht,
du bleibst Alighieri, und deine Hölle bleibt Allegorie.
SCHLIESS DAS FENSTER
Gott bewahre, nicht enden! Es ist nicht die Zeit für Vollendung.
Ewiger als Marmor sind lose Blätter.
Schließ das Fenster. Solln Schatten sich in Säcke kleiden,
wenn Gespenster Carmen und Rigoletto spielen.
Lass eine leere Zeile, einen Fleck –
des Gettos zu gedenken.
Sutzkevers Gedichte und die Chronik ergänzen sich. Die Gesänge vom Meer des Todes, in Versen oder freien Rhythmen geschrieben, setzen die Tradition jiddischer Dichtkunst fort; zu ihr gehört die Affinität zum Traum, zur Vision, zum Orakel. Zu ihr gehört auch ein teilweise religiöses Pathos, das fremd anmuten kann, wenn man kein Ohr für religiöse Töne hat.
Auf völlig andere Weise als die Gedichte ist die „Chronik“ ihrerseits ein Buch der Schmerzen. Sie erschien 1946 in Moskau und gleichzeitig in Paris; beide Fassungen wurden seinerzeit allerdings aus je unterschiedlichen politischen Gründen gekürzt. Der eigentliche Text der Chronik entstand im Sommer 1944. Wilne war schon befreit, der Weltkrieg allerdings noch nicht zu Ende.
Die Überschrift des letzten Kapitels heißt: „Auf der heißen Asche“. Und im letzten Satz sieht Sutzkever, zurückgekehrt in seine Stadt, am Flussufer einen bewaffneten jüdischen Partisanen stehen, im Fluss sieht er die Leiche eines deutschen Soldaten. Ein Bild des Sieges? Kaum. Denn im letzten Kapitel erfährt der Chronist, wie heiß die „Asche“ tatsächlich noch ist. Er hört von überlebenden jüdischen Zwangsarbeitern, wie sie in Ponar die Leichen der Ermordeten ausgraben und verbrennen mussten; die Nazis wollten, dass kein Beweis ihrer Verbrechen übrig bleiben würde. Dabei durfte nicht von Menschen, von Ermordeten oder von Leichen die Rede sein. In einem nachgetretenen, verdoppelten Zynismus gegenüber den Opfern, der sich doch nur selbst entlarvt, sprachen die Täter angesichts der Toten von „Figuren“, nannten die Zwangsarbeiter „Figurenträger“ und „Figurengräber“.
Die Chronik des Wilner Gettos ist ein kühles und doch fiebrig heiß wirkendes Buch, dem Fassungslosigkeit und eine unerhörte Entschlossenheit auf jeder Seite eingeschrieben ist. Auch wenn der Autor 1944 schon fast alles weiß, sein Text „weiß nicht“. Denn der Sprecher der Chronik ist nicht allein der Autor selbst, sondern viele, viele der ermordeten oder überlebenden Bewohner dieses Gettos.
Jean Améry sprach in Bezug auf die Gettos einmal von einem „Warteraum des Todes“. Immer noch leben traumatisierte Zeitzeugen alltäglich und allnächtlich in diesem Warteraum. Und es leben damit ihre, auf andere Weise traumatisierten Nachkommen. Immer noch gilt es, innezuhalten:
Lass eine leere Zeile, einen Fleck, des Gettos zu gedenken.
– Biografische Aufzeichnungen und Gedichte von Abraham Sutzkever. –
Als ich am 22. Juni frühmorgens das Radio anschloß, da sprang es mir entgegen wie ein Knäuel Eidechsen: ein hysterisches Geschrei in deutscher Sprache.
Der erste Satz von Abraham Sutzkevers Wilner Getto 1941–1944 enthält alle Elemente, die Glanz und (das weitaus geringere) Elend dieses Berichtes ausmachen: es handelt sich um einen suggestiv konkreten Erlebnisbericht samt dichterischer Überhöhung mittels surrealer Bildern – die Nennung des Datums ist sowjetisch übercodiert. Der 22. Juni 1941 war nicht nur der Tag, an dem Hitlers Wehrmacht die Sowjetunion überfiel, es war – zumindest in Stalins posthumer Sichtweise – auch jener Moment, da sich auf mythologische Weise der Triumph des Kommunismus abzuzeichnen begann. An genau diese obskure Vorgabe musste sich der einunddreißig Jahre junge Dichter und Partisan Sutzkever bei der Niederschrift seiner „Erlebnisse“ (besser hieße es „Überlebnisse“) im Sommer 1944 halten. Fun wilner geto, wie das Buch im jiddischen Original heißt, entstand im Auftrag des „Jüdischen Antifaschistischen Komitees“, als der Litauen betreffende Teil des von Ilja Ehrenburg und Wassilij Grossmann herausgegebenen Schwarzbuches, einer umfangreichen Sammlung von Texten und Dokumenten über die Verbrechen der Nazitruppen an den sowjetischen Juden.
Der Bericht beginnt mit einem kurzen Fluchtversuch und der Einsicht von dessen Aussichtslosigkeit – allzu rasch rücken die Deutschen in Wilne, dem einstigen „Jerusalem des Nordens“, wie das heutige Vilnius auch genannt wurde, ein. „Man fängt Juden zur Arbeit ein“, heißt es da im Protokollstil. Sogleich werden die „üblichen“ Vorschriften verbreitet: Juden dürfen nicht durch ein Telefon sprechen; Juden haben kein Recht, mit der Eisenbahn zu fahren; Juden dürfen keine städtischen Einrichtungen betreten, Juden müssen ihre Fahrräder und Radios abliefern – alle Juden werden aus der Universität hinausgeworfen. Und da ist erstmals das Schild zu sehen: „Betreten für Juden verboten“. Als die Mutter des Berichterstatters von einem deutschen Soldaten niedergeschlagen wird (weil sie den Gehsteig nicht frei machte), weicht die anfängliche Ratlosigkeit dem Gefühl wütender Rache.
Sutzkever beginnt in seinem Versteck Gedichte zu schreiben. Kolonnen gefangener Rotarmisten werden durch Wilne getrieben – um zu zeigen „wer der Sieger sei“; das „Schandzeichen“ – der gelbe Stern – wird eingeführt, der sogenannte Judenrat eingesetzt. Vor seinem ersten Denunzianten flieht Sutzkever zu einem ehemaligen Spanienkämpfer: Unter der Leitung von Franz Muhrer (jenem aus Österreich stammenden Nazischergen, der nach zehn Jahren sowjetischer Lagerhaft von einem österreichischen Gericht Anfang der 1960er-Jahre freigesprochen wurde) wird das erste Getto von Wilne eingerichtet: Es folgen – Razzien, Schikanen, Zwangsarbeit. Der Name Ponar fällt erstmals: „Die Gegend“ – so Sutzkever – „ist für ihre schöne Landschaft berühmt. Sie war von Adam Mickiewicz besungen worden. Napoleon hatte in Vilnius gesagt, er wolle Ponar auf Händen nach Frankreich hinübertragen“. Seit den Nazis ist der am Stadtrand von Vilnius gelegene Ort ein litauisches Synonym des Holocaust: Zwischen August und Dezember 1941 wurden dort über 47.000 aus Vilnius stammende Judenermordet.
Jene Frau hatte recht, die zu ihrer Nachbarin sagte: „Die erste Nacht im Getto ist wie die erste Nacht im Grab.“
Unter ständiger Todesdrohung entfaltet sich im Getto von Wilne trotzdem jenes „Leben“ wie man es auch aus anderen Getto-Berichten kennt: davon zu lesen, tut bei jedem Satz weh. Da ist einmal die Zwangslage des Judenrates, Mitglieder ihrer „Gemeinde“ an die Nazis kontingentweise auszuliefern, da tauchen der Reihe nach die Mitglieder der „Ypatinga“, die litauischen Kollaborateure auf; die Insassen des Gettos bemühen sich um vielleicht lebensrettende Arbeitspapiere. Essayistische Einschübe – etwa über den Protest litauischer Bischöfe, die zur Rettung der Juden auffordern, wechseln mit Zeugenberichten jener, die durch puren Zufall eine Massenerschießung überlebten. Sutzkever selbst überlebt – wie er sarkastisch anmerkt – im „Königreich des Alfred Rosenberg“ – in einem deutschen Kunstraubkommando. Und er beteiligt sich an der „Kulturarbeit“ des Gettos: dort werden zum Beispiel Vorträge über Werfels Mussah Dag gehalten, Lesungen von Stefan Zweigs Prosa und Konzerte werden veranstaltet. Selbst Ausstellungen finden im Getto statt; pikantes Detail – hinter einem Bild von Marc Chagall haben die Partisanen ein Maschinengewehr versteckt. 1943 gelingt Sutzkever gemeinsam mit seiner Frau die Flucht in die Wälder zu den Partisanen. Lakonisch heißt es dazu. „Wir gingen zu den Bauern, nahmen ihnen die Waffen ab, und mit diesen deutschen Gewehren haben wir Deutsche getötet.“ So gelungen das Porträt von Izik Witenberg, des Anführers der Aufständischen im Getto, so klischeehaft die Darstellung der Vernichtung und Auflösung des Gettos, wenn es über den Nazi Kittel, einen ehemaligen Jazzmusiker, der während des Gemetzels seelenruhig Klavier spielt, heißt:
Kittel zog seinen Revolver, und während seine eine Hand den Jungen erschoß, hört seine andere nicht zu spielen auf.
So sarkastisch es klingen mag – die unüberbietbare Brutalität der mordenden Nazis wurde in zahlreichen sowjetischen Darstellungen noch – zusätzlich „ausgeschmückt“. Sutzkevers Bericht bedürfte aber nicht nur an dieser Stelle eines genaueren zeitgeschichtlichen Kommentars, als ihn die Amman-Ausgabe liefert. Noch „problematischer“ sind Sutzkevers zeitbedingte, gleichsam „stalinistische“ Bekenntnisse und Anmerkungen: „Ende Oktober 1939, nachdem die Rote Armee die Westgebiete von Weißrußland befreit hatte“ – heißt es an einer Stelle, an der die Rede von der sowjetischen Besetzung Polens im Gefolge des Hitler-Stalin-Pakts ist. Das heutige Vilnius war damals polnisch, zwei Wochen nachdem Hitler-Deutschland Polen angegriffen hatte, holte sich Stalin seinen vertragsmäßigen Teil. Denkt man an die kürzlich veröffentlichte Erklärung der OSZE bezüglich der Opfer von Nationalsozialismus und Stalinismus, so wird die Geschichte vollends konfus. Der neu-europäischen Sprachregelung zufolge wäre Sutzkever gleichermaßen Opfer wie Täter! Als Besatzer von Vilnius und als Partisan, der die Rote Armee als Befreierin bejubelte, ist er Täter – in der Zwischenzeit ist er Opfer des Naziterrors.
Im Sommer 1944 kommt Sutzkever mit der Roten Armee nach Wilne – seine Beschreibung der Scheiterhaufen, auf denen die Nazis sämtliche Spuren ihrer Opfer beseitigen hatten wollen, gehört zu den bedeutendsten je über den Holocaust geschriebenen Texten. Deren Sachlichkeit ist an Grausamkeit nicht zu überbieten. Von den ausgegrabenen Leichen durfte nur als „Figuren“ gesprochen werden – dementsprechend gab es dort „Figurengräber“, „Figurenträger“, „Holzbeschaffer“, „Feuermeister“, „Aschensieber“ und „Spurenglätter“.
Wo ist die Menschenasche? fragte ich. Dogim, der Erbauer des Ponarer Tunnels, führt mich zu einem Graben, und mit einem Stock beginnt er die Erde aufzuscharren. Unter der obersten Schicht gelben Sandes gewahrt man eine graue Masse. Sie ist klebrig grau. Ich nehme etwas Asche in die Hand und drücke sie ans Herz.
Abraham Sutzkever meinte Jahre nach dem Krieg einmal, er habe nie bessere Gedichte als im Getto und bei den Partisanen geschrieben. Und im Gettobericht heißt es:
Nie hatte ich in Wilne solch ein Jiddisch vernommen. Es war die Sprache eines Lebens, das sich dem Tode nicht unterwerfen wollte.
In den vier Dutzend im Getto der Nazis verfassten Gedichten, Klageliedern, die mitunter bis zu Oratoriumsgröße anwachsen, gelingt es dem einstigen Expressionisten des Dichter-Kreises Jung-Wilne alles Pathos ganz ins Gedicht hinein zu verlegen. In der großen Ballade „Vor meiner Verbrennung“ scheut Sutzkever auch vor Agitprop à la Majakowskij nicht zurück:
Jude sein heißt: ständig bereit sein zu Prüfung, zu Prüfung und zum Wunder.
Und:
Die jüdische Kraft, aus Wortsymbolen,
weckt jetzt die Welt mit einem Schuß.
Im zwanzigseitigen „Kol-Nidre“ sagt eine der beiden Stimmen:
Ihr seht, ich bin
ein Krieger, ein Rotarmist
Wie immer die Gedichte im Jiddischen Original auch klingen mögen – der Übersetzer Hubert Witt hat bei der Übertragung von Sutzkevers Gedichten Großartiges geleistet. Vor allem bei jenen scheinbar harmlos anmutenden kleinen Liedern wie „Ein Wagen Schuhe“, in dem in nur drei Zeilen eine ganze Welt ins Wanken gebracht wird:
Die Räder jagen, jagen,
was tragen sie mir zu?
Sie bringen einen Wagen
Voll zuckender Schuh
Am 27. Februar 1946 tritt Abraham Sutzkever als offizieller Zeuge beim Nürnberger Prozess auf. Das noch am selben Tag entstandene Gedicht klagt Gerechtigkeit für den millionenfachen Mord ein:
Mein Volk, du musst dich für dein Schwert entscheiden,
wenn Gott zu schwach ist für Gerechtigkeit.
Nur ein Jahr später, 1947, am Höhepunkt der spätstalinistischen sogenannten Antikosmopolitenkampagne verlässt Sutzkever die Sowjetunion um nach Palästina, ins künftige Israel, auszuwandern.
So sehr sich seine spätere Lyrik mit den politischen Realitäten seines neuen Landes auseinandersetzt – „die Höllengassen des Erinnerns“ verlässt Sutzkever, der sich einmal als „Wiedergänger der Leichen-Brenner von Ponar“ bezeichnete, nie mehr ganz. Er fragt dichtend nach der Zukunft des Jiddischen, kehrt immer wieder nach Wilne zurück, oder zu Perez Markisch, den von Stalin ermordeten Dichterfreund. Andere Partner dichterischer „Gipfelgespräche“ sind Else Lasker-Schüler, Milton und Shakespeare. Aus dem Jahr 1974 stammt schließlich das Gedicht „Was wird bleiben“, das nicht nur von atemberaubender Schönheit ist – ihm gegenüber nimmt sich die vielfach strapazierte Frage nach der Möglichkeit von Gedichten „nach Auschwitz“ als pure Harmlosigkeit aus:
Wer wird bleiben, was wird bleiben? Bleiben wird ein Wind,
bleiben wird die Blindheit eines Blinden, die verrinnt,
bleiben wird ein Meereszeichen, nur ein Krönchen Schaum,
bleiben wird ein kleines Wölkchen, hoch auf einem Baum.
Wer wird bleiben, was wird bleiben? Bleiben wird ein Wort,
Schöpfungsgras, hervorzukeimen heut und immerfort.
Bleiben wird die Fiedelrose – ehrenfest und schön,
sieben Gräser all der Gräser werden sie verstehn.
Mehr als all die vielen Sterne über dieser Welt
Jener Stern wird bleiben, der in eine Träne fällt.
Auch ein Tropfen Wein wird bleiben, hier in seinem Krug.
Wer wird bleiben? Gott wird bleiben. Ist dir’s nicht genug?
Erich Klein Volltext, Heft 1, 2010
– Der jiddische Dante: Abraham Sutzkever ist endlich auch auf Deutsch zu entdecken. –
Anfang 1942 gebar Abraham Sutzkevers Frau Freydke im Hospital des Gettos von Wilna einen Sohn. Doch die Deutschen, die Litauen im Jahr zuvor besetzt hatten, hatten für Juden ein Gebärverbot erlassen. Das Neugeborene wurde mit einer Spritze getötet. Vier Jahre später berichtete Sutzkever über seine Erlebnisse als Zeuge des sowjetischen Anklägers vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg.
Nach seinem mit Bangen erwarteten Auftritt schrieb er in sein Tagebuch:
Auf meinen Lippen glühen noch die Wörter, die ich herausgeschrien habe… Mir ist noch schwer, meine Gefühle abzuwägen. Welches von ihnen ist stärker, das Gefühl der Trauer oder das Gefühl der Rache? Mir scheint, stärker als beide ist das aufleuchtende, mächtige Gefühl, dass unser Volk lebt, seine Henker überlebt hat, und keine finstere Macht ist imstande, uns zu vernichten.
Kurz nach dem Tod des Sohnes wurde Sutzkevers Mutter bei einer Razzia erschossen. Sutzkever selbst und seine Frau überleben wie durch ein Wunder.
Sutzkever wurde 1913 im damals litauischen und heute weißrussischen Smorgon geboren. Als er zwei Jahre alt war, wurde die Familie zusammen mit eineinhalb Millionen Leidensgenossen nach Sibirien verbannt. Die Russen sahen in den Ostjuden „deutsche Spione“, die im Ersten Weltkrieg gefährlich werden konnten. Nach dem Tod des Vaters kehrte die Familie nach Wilna zurück. Als Sutzkever zwölf Jahre alt ist, stirbt die hochbegabte ältere Schwester an einer verschleppten Meningitis. Sutzkever beschließt, an ihrer Stelle sein Leben der Poesie zu weihen. Drei Jahre später lernt er Freydke kennen, die seine lebenslange Gefährtin wird.
Wilna (Vilnius), das „Jerusalem des Nordens“, war seit dem 17. Jahrhundert ein Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit. Fünf bedeutende Bibliotheken gab es hier, darunter die beiden größten jüdischen Bibliotheken Europas. 1925 wurde das Yidisher Visnshaftlikher Institut (YIVO) gegründet. Hier wurde die Wissenschaft vom Judentum erstmals in der Sprache des Judentums betrieben.
Das Gegenstück zum YIVO ist die Hebräische Universität Jerusalem, die ebenfalls 1925 ihren Betrieb aufnahm und erstmals Lehrveranstaltungen auf Hebräisch anbot. Das YIVO hatte bald Verbindungen in ganz Europa, zu seinen korrespondierenden Mitgliedern gehörten unter anderen Sigmund Freud, Albert Einstein und Marc Chagall. Sutzkever studierte am YIVO bei dem bedeutenden Jiddisten Max Weinreich, der nach 1940 das Institut in New York neu aufbaute, wo es noch heute seinen Sitz hat.
1932 veröffentlichte Sutzkever erste Gedichte, drei Jahre später erschien sein erstes Buch Lider (Lieder). Er galt als Individualist unter den jungen Schriftstellern in Wilna. Seine Gedichte sind von wilder Schönheit und großer poetischer Kraft, einige der frühen sind in die vorliegende Auswahl aufgenommen, z.B. „Krieg“ von 1939. Die zweite Strophe lautet:
Und bleiben wird nur ein Poet – doch er,
ein wilder Shakespeare, singt voll Kraft und Mutwill:
Geist Ariel, bring das Schicksal, das mein Blut will,
und speit die toten Städte wieder her.
Am 22. Juni 1941 erfolgte der deutsche Überfall auf die Sowjetunion, zu der damals auch Litauen gehörte. Sutzkever notierte:
Als ich am 22. Juni frühmorgens mein Radio anschloss, da sprang es mir entgegen wie ein Knäuel Eidechsen: ein hysterisches Geschrei in deutscher Sprache. Aus all dem Lärm folgerte ich nur: Das deutsche Militär war über unsere Grenzen ins Land gedrungen.
Mit diesen Worten beginnt sein Bericht, der hier erstmals vollständig auf Deutsch publiziert wird, vorzüglich aus dem Jiddischen übersetzt von Hubert Witt.
Einige Wochen später wurde das Getto in Wilna errichtet. Von den 80.000 Menschen, die hier zusammengepfercht wurden, überlebten nur etwas mehr 2.000. In diesem Getto, dem der Dramatiker Joshua Sobol mit einem später verfilmten Schauspiel ein Denkmal gesetzt hat, entfaltete sich ein einzigartiges Kulturleben. Es gab ein jiddisches Theater, ein Orchester, eine literarische Vereinigung, die ihren ersten Literaturpreis an Abraham Sutzkever verlieh, außerdem Schulen und sogar eine Universität. Von den über 300 Kulturschaffenden, die hier wirkten, hat fast keiner überlebt.
Abraham Sutzkever gelang es, sich zu verstecken. Er schrieb um sein Leben:
An einem der Tage des Abschlachtens saß ich in einer dunklen Kammer und schrieb. Als hätte der Engel der Dichtung mir anvertraut: „Du hast es in der Hand. Wird dein Gesang mich begeistern, werde ich dich beschützen mit flammendem Schwert…“
Zugleich arbeitete er für die Partisanen und half, Waffen ins Getto zu schmuggeln.
Als die Experten der SS und des Einsatzstabs Reichsleiter Rosenberg in Wilna einfielen, diente das YIVO als Hauptquartier für die Plünderer. Spezialisten wählten 20.000 Inkunabeln für den Abtransport nach Deutschland aus. 80.000 Bücher, die weniger interessant erschienen, wurden an eine Papiermühle verkauft. Thorarollen wurden zu Stiefelfutter verarbeitet, marmorne Grabsteine dienten als Straßenpflaster.
Einer der Zwangsarbeiter, die für den Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg arbeiten mussten, war Sutzkever. Unter größter Gefahr gelang es ihm, 5.000 seltene und wertvolle Bücher zu retten. In den von ihm angelegten Verstecken verbarg er auch Handschriften von Scholem Alejchem, Briefe von Maxim Gorki und Romain Rolland, Bilder von Marc Chagall und sogar Skulpturen. Heute befindet sich all dies im YIVO in New York.
Im September 1943 gelang es Abraham und Freydke Sutzkever, aus dem Getto in die umliegenden Wälder zu fliehen. Ilja Ehrenburg veranlasste, dass die beiden nach Moskau ausgeflogen wurden. Dort begann Sutzkever mit der Niederschrift seines Berichts, der Teil eines Schwarzbuches über die Ermordung der sowjetischen Juden sein sollte.
Die Publikation des Schwarzbuches scheiterte schließlich an der sowjetischen Zensur, und Sutzkever veröffentlichte seinen Bericht separat in Paris und Moskau. Nur in Deutschland, dem Land der Mörder, erschien er nicht. Umso verdienstvoller ist es, dass der Ammann-Verlag dieses Versäumnis nun endlich wettgemacht hat. Die beigefügte, notwendig bescheidene Auswahl aus Sutzkevers umfangreichem lyrischen Schaffen ist eine wichtige Ergänzung.
Die beiden Schmerzensbücher sind vielfach aufeinander bezogen. Gemeinsam zeugen sie von einem der größten Dichter des 20. Jahrhunderts und seinem unglaublichen Schicksal.
1947 ging Sutzkever nach Palästina und gründete im Jahr darauf die literarische Zeitschrift Di goldene kejt (Die goldene Kette), die er bis 1996 selbst herausgab. Als das schwedische Nobelkomitee 1978 einen jiddischen Autor mit dem Nobelpreis für Literatur auszeichnen wollte, war Sutzkever lange Zeit ihr Favorit. Am Ende entschied man sich für den populäreren Erzähler Isaac Bashevis Singer.
Abraham Sutzkever ist oft der „jiddische Dante“ genannt worden. Aber Dantes Inferno ist eine Spielzeughölle im Vergleich zu dem, was dieser Poet erlebt, erlitten und beschrieben hat. Das letzte Wort soll der Dichter haben:
AN MEIN KIND
Ob aus Hunger,
ob aus großer Liebe –
nur deine Mutter ist mir Zeuge:
Ich wollte dich einschlingen, mein Kind,
als ich fühlte, wie dein Körperchen kühl wurde
in meinen Händen,
so als drückte ich
ein warmes Glas Tee
und spürte den Übergang zur Kälte.
– Der jüdische Schriftsteller Abraham Sutzkever wurde 1941 ins Wilner Getto deportiert, schloss sich den Partisanen an und konnte fliehen. In den zwei Bänden von Wilner Getto 1941–1944 / Gesänge vom Meer des Todes schildert der heute in Tel Aviv lebende Autor seine Erinnerungen in Prosa und Gedichten. –
… als ich am 22. Juni frühmorgens das Radio anschloß, da sprang es mir entgegen wie ein Knäuel Eidechsen: ein hysterisches Geschrei in deutscher Sprache. Aus all dem Lärm folgerte ich nur: Das deutsche Militär war über unsere Grenzen ins Land gedrungen.
Mit diesen Worten einer überraschten Verwirrung beginnen Abraham Sutzkevers Aufzeichnungen über das Getto von Wilna (Vilnius), eine jener wahrhaftigen Höllen, die Hitlers Vernichtungswahn für die Juden Osteuropas einrichtete. Der Dichter Sutzkever hat diese Hölle durchmessen, seine Aufzeichnungen gehören zum Erschütterndsten, was zum Thema aufgeschrieben worden ist. Das liegt ganz wesentlich am Ton jener objektivierenden Unmittelbarkeit, in der diese Aufzeichnungen verfasst sind. Es sind Texte eines betroffenen Zeugen, der dabei streng darauf achtet, vorwiegend zu schildern, das äußerlich Erlebte mit vielen Details zu rekonstruieren.
Die Wucht des Grauenvollen, die Dimension des Leidens treten auf diese Weise umso schärfer hervor. Sie zeigen sich am Schicksal des Autors selbst, der in wechselnden Verstecken, mit viel Glück und List, unter Aufbietung der letzten Faser seines Überlebenswillens die Bestialitäten des Getto-Lebens übersteht, nicht zuletzt, weil er sich dem bewaffneten Widerstand anschließt und schließlich zu einer Partisaneneinheit fliehen kann. Sie zeigen sich aber auch am Beispiel der vielen, die in diesem Kosmos des Schreckens die Bahnen des Autors kreuzen, und die im unbarmherzigen Getriebe dieser Bestialitäten zu Tode kommen.
Abraham Sutzkevers Getto-Aufzeichnungen sind vor allem eine Chronik des Leidens, aber nicht nur. Ein zentrales Kapitel dieses Textes vertritt die Antithese zum Konzept des Vernichtens, des Tötens, der Unmenschlichkeit. Hier geht es um die enormen Anstrengungen der Getto-Juden, ein Stück Zivilisation in die Zwangswelt der „Untermenschen“ zu retten: Schule, Konservatorium, Bibliotheken, Theater, medizinische und soziale Dienste organisieren sich noch unter den Bedingungen einer Repression, wie sie brutaler kaum sein könnte.
Mein Volk, du mußt dich für dein Schwert entscheiden,
wenn Gott zu schwach ist für Gerechtigkeit,
heißt es am Ende eines Gedichts, das Sutzkever nach seiner Aussage als Zeuge vor dem Nürnberger Kriegsverbrecher-Tribunal am 27. Februar 1946 schrieb. Sind die Getto-Aufzeichnungen von einem starken Objektivierungsdrang gekennzeichnet, offenbart sich in den Dichtungen ein großer Poet, der in den höchsten Tönen die Zwiesprache mit den letzten Dingen sucht. Das Bewusstsein, einem „biblischen“ Volk anzugehören, sucht nach kosmologischen Horizonten und einer Schönheit der Sprache, die nicht selten irritiert. Denn immer sind diese Gedichte verbunden mit der Erfahrung des konkret erlebten Grauens, mit den Qualen des Überlebenden, mit den Schmerzen großer Verluste.
Abraham Sutzkever ist ohne jeden Zweifel eine der großen Figuren der jiddischen Literatur. Dass er mit dieser Ausgabe praktisch der Versenkung entrissen wird, ist nur zu begrüßen. Auch wenn die Lektüre schmerzt.
– Der Dichter Abraham Sutzkever ist am 20. Januar 2010 mit siebenundneunzig Jahren gestorben: Jetzt liegen sein Getto-Tagebuch und seine Gedichte auf Deutsch vor – erschütternde Zeugnisse, die auch eine im Holocaust fast ausgelöschte Sprache bewahren. –
Joseph Roth verhalf ihm zur ersten Veröffentlichung, mit Marc Chagall verband ihn eine innige Freundschaft. Er kannte Pasternak, Wassili Grossman – und Ilja Ehrenburg schätzte seine Poeme. Fast hätte er den Nobelpreis bekommen, doch das Nobel-Komitee zeichnete 1978 mit Isaac Bashevis Singer einen anderen jiddischsprachigen Schriftsteller aus. Abraham Sutzkever wurde 1913 im heute weißrussischen Smorgon geboren, er durchlitt das Getto in Wilna (jiddisch: Wilne), floh im Krieg nach Moskau und lebt seit 1947 in Israel. Er gilt als einer der wichtigsten Poeten jiddischer Zunge und als Bewahrer der im Holocaust fast ausgelöschten Sprache – nicht nur durch sein literarisches Werk, sondern auch durch die Herausgabe der Zeitschrift Di goldene kejt („Die goldene Kette“). Das zwischen 1949 und 1995 erscheinende Blatt war lange das wichtigste Organ der jiddischen Kultur. Am Mittwoch ist er im Alter von siebenundneunzig Jahren in Tel Aviv gestorben.
Drei Neuerscheinungen versammeln Texte des hierzulande kaum bekannten Autors. Im Ammann Verlag erscheint das Tagebuch Wilner Getto 1941–1944 und der Gedichtband Gesänge vom Meer des Todes, zwei erschütternde Bücher. Fünf Jahrzehnte von Sutzkevers Schaffen umfasst hingegen der Lyrik- und Prosaband Geh über Wörter wie über ein Minenfeld aus dem Campus-Verlag.
Sibirien als Sehnsuchtsort
Schon im Ersten Weltkrieg musste Sutzkevers Familie aus der Heimatstadt fliehen: Die Juden Smorgons wurden beschuldigt, für das Deutsche Reich zu spionieren. Man ließ sich in Omsk nieder, wo der Vater im Alter von nur dreißig Jahren starb. Trotz Hunger und Kälte sollte die kristalline Schönheit Sibiriens für den Lyriker später zum Inbegriff seiner poetischen „Sehnsucht“ werden. 1920 kehrte die Mutter mit den Kindern nach Wilna zurück, das als Zentrum einer reichen jüdischen Tradition und Kultur den Ehrentitel „Jerusalem des Nordens“ trug. Rund ein Drittel der Bewohner dieser Stadt, in der Sozialismus und Zionismus auf eine lebendige jiddische Kunst- und Wissenschaftsszene trafen, waren damals Juden. Seit 1926 befand sich auch das in Berlin gegründete YIVO, das Jiddische Wissenschaftliche Institut, an dem Sutzkever Studien zur Literatur trieb, mit allen seinen Abteilungen in Wilna. 1934 wurde der junge Lyriker Mitglied der sozialrevolutionären Dichtergruppe Jung-Vilne, die ihn zunächst wegen seines expressiven Individualismus abgelehnt hatte. 1937 schließlich erschien auf Vermittlung Joseph Roths, dem er zufällig in Wilna begegnet war, in Polen sein erster Gedichtband, Lider („Lieder“).
1940 verleibte die Rote Armee Litauen der Sowjetunion ein; im Sommer 1941 begann mit der Okkupation durch die deutsche Wehrmacht der Untergang des jüdischen Wilna. „Als ich am 22. Juni frühmorgens das Radio anschloss, da sprang es mir entgegen wie ein Knäuel Eidechsen: ein hysterisches Geschrei in deutscher Sprache. Aus all dem Lärm folgerte ich nur: Das deutsche Militär war über unsere Grenzen ins Land gedrungen“, schreibt Sutzkever zu Beginn seiner Chronik. Innerhalb von nur sechs Monaten wurden Zehntausende von litauischen Juden in Ponar südwestlich von Wilna ermordet. Gleichzeitig richteten die Deutschen in der Stadt zwei Gettos ein. Eine beklemmende Vision von Untergang und Mord zeichnet das Gedicht „Die erste Nacht im Getto“:
Können Schiffe auf festem Land versinken?
Ich spür. Es sinken Schiffe unter mir, nur die Segel,
geflickte und zertretene, wälzen sich oben:
die grünen erstarrten Leiber, auf die Erde gebreitet.
… In der Rinne spült Regen zu anderer Zeit,
ein linder, weicher, segnender. Mütter stellen
Eimer hin für die süße Wolkenmilch,
der Töchter Haar zu waschen, dass ihre Zöpfe glücklich leuchten.
Jetzt sind da keine Mütter, keine Töchter, kein Regen,
nur Ziegel einer Ruine, nur die klagenden Ziegel,
mit Stücken Fleisch ihrer Wände herausgerissen.
Dem Leid eine Stimme geben
Selbst wer die Geschichte der Schoa zu kennen meint, erschauert über den Vernichtungswillen der deutschen Besatzer. Die furchtbaren Geschehnisse notierte Sutzkever, wenn er wie die anderen Gettobewohner bei den „Aktionen“ in winzigen Verstecken, sogenannten „Malinen“, auf Dachböden und in Kellern, ausharrte. Ermordet wurden seine Mutter, deren Schuh er eines Tages in einem Wagen voller Raubgut entdeckte, und sein neugeborener Sohn, der gleich nach der Geburt vergiftet wurde. Doch auch die „Chapunes“, die litauischen Häscher, schreckten vor keiner Bosheit zurück. Berichtet wird die Geschichte eines jüdischen Mannes, der seinem Häscher, den er kannte, die Goldzähne für sein Leben anbot. So bitter wie nüchtern hält der Autor fest:
Bei dem Studenten erwachte das Gewissen. Er schlug dem Juden die Zähne aus und ließ ihn leben.
Im Tagebuch lässt Sutzkever auch die Stimmen vieler Leidensgenossen zu Wort kommen. Kaum zu ertragen ist der Bericht über die „Leichenbrenner“, Häftlinge in Ponar, die gegen Kriegsende die Massengräber öffnen und die Leichen verbrennen mussten, unter den Toten oft genug Freunde und Verwandte.
Schreiben ist für Sutzkever vor allem Erinnerung an die Toten, denen der überlebende Dichter seine Stimme leihen muss. Als er vom „Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg“ gezwungen wurde, wertvolle jüdische Manuskripte und Pretiosen auszuwählen, die in Deutschland „eine Wissenschaft des Judentums ohne Juden“ ermöglichen sollten, versteckte er möglichst viele Schätze im Getto. In „Weizenkörner“ schreibt er:
Wie einen zarten Säugling
beschütz ich das jiddische Wort,
schnuppre in jeden Berg Papier,
rette den Geist vor Mord.
Wo die Besatzer jede Kultur fahrenließen, entwickelte sich im Getto parallel zu den Aktivitäten der Partisanen auch ein kultureller und spiritueller Widerstand.
Ein moderner Hiob
Als das Getto im September 1943 endgültig liquidiert wurde, war Abraham Sutzkever mit seiner Frau nur wenige Tage zuvor die Flucht gelungen. Das Ehepaar schloss sich einer jüdischen Partisanenorganisation in den litauischen Wäldern an. Im selben Jahr entstand das Langgedicht „Kol Nidre“, benannt nach dem Gebet am Abend des Versöhnungstages (Jom Kippur). Sein Inhalt beruht auf einem tatsächlichen Ereignis in Ponar. Dort hatte ein jüdischer Vater seinen Sohn erstochen, um ihm weitere Martern zu ersparen. Bei Sutzkever verzweifelt das lyrische Ich an Gott, es erhebt wie Hiob Klage:
Gott hat mir all mein Beten nicht erhört,
er macht gemeine Sache mit dem Schinder.
Das Gedicht gelangte in der Sowjetunion unter anderem in die Hände des jiddischen Dichters Perez Markisch und von Ilja Ehrenburg – und beeindruckte beide tief. Im März 1944 flog ein kleines Flugzeug die Sutzkevers unter dramatischen Umständen nach Moskau aus.
Nach der Befreiung Wilnas im Juli 1944 kehrte Sutzkever kurz in die Stadt zurück, um die verborgenen Kulturschätze auszugraben. Diesmal musste er sie dem Zugriff der Sowjets entziehen und ließ sie deshalb nach New York schmuggeln, wo sie sich noch heute im wieder gegründeten YIVO-Institut befinden. 1946 veröffentlichte er das Tagebuch in Moskau und Paris und sagte vor dem Nürnberger Tribunal als Zeuge aus. Kurz vor der Gründung des jüdischen Staats emigrierte er mit seiner Frau nach Israel. Damit entkam er den schlimmsten antisemitischen Repressionen in der Sowjetunion, die im August 1952 in der Erschießung der gesamten jiddischen intellektuellen Elite gipfelte – unter den Opfern war auch Perez Markisch, der Retter, dem Sutzkever ein Gedicht widmete:
Wo bist du, Freund? Nun sing die Wahrheit,
sing aus dem Grab und rebellier:
Mein Land, ich schenkte dir Poeme,
und eine Kugel gabst du mir.
Verlegerische Großtat
Sutzkevers Tagebuch ist das politisch verdunkelte Klima dieser Zeit deutlich anzumerken. Während die Namen der deutschen Täter genannt werden, bleibt zum Beispiel die Identität der zahlreichen litauischen Kollaborateure ungenannt. Auch zum umstrittenen Vorsitzenden des Wilnaer Judenrates, Jakow Gents, der später in Joshua Sobols berühmtem Drama Ghetto (1984) eine tragende Rolle spielen sollte, äußert sich Sutzkever nur sehr knapp. Schade, dass sich der Ammann Verlag trotz feinsinniger Übersetzung und liebevoller Gestaltung nicht zu einem historischen Geleitwort entschließen konnte, das die Lücken und die verständliche Vorsicht des Autors über sechzig Jahre nach den Geschehnissen ausführlicher beleuchtet. In der Campus-Ausgabe sind der diachronischen Auswahl dagegen zwei instruktive Vorworte zu Leben und Werk Sutzkevers beigesellt. Doch auf die verlegerische Großtat, das Verdienst um die jiddische Literatur, kommt es in erster Linie an. Über den Reichtum dieser Sprache hat Isaac Bashevis Singer einmal gesagt:
Das Jiddische hat sein letztes Wort noch nicht gesprochen. Es enthält Schätze, die noch lange nicht geborgen sind.
– Der Verleger Egon Ammann hat mit dem Übersetzer Hubert Witt die Gedichte und Berichte von Abraham Sutzkever veröffentlicht. Der in Wilna geborene Schriftsteller schreibt eindrucksvoll über antisemitischen Gräueltaten während des Zweiten Weltkriegs und über einen Ort, der später Holocaust-Leugnern diente. –
Ein lang verborgener, auch aus politischem Kalkül versteckter und durch Zensur beschädigter Epitaph ist geborgen, ein Monument jiddischer Literatur, in das die Namen der Opfer eingemeißelt sind. Hubert Witt, dem aus Breslau stammenden Leipziger Germanisten und Übersetzer mittelhochdeutscher und jiddischer Dichtung, sowie dem Schweizer Verleger Egon Ammann ist ein ungeahntes, in dieser Größenordnung vielleicht letztes Fundstück jiddischer Literatur zu verdanken.
Wer in Abraham Sutzkevers Gesängen vom Meer des Todes und in seinem Bericht über das Wilner Getto 1941–1944 zu lesen beginnt, dem öffnet sich ein zweiflügliges Höllengemälde aus Gedichten und Prosa, das sowjetische wie auch litauische und selbstverständlich deutsche Antisemiten lieber endgültig zugeklappt hätten. Selbst Sutzkever schreibt in der Sorge, die Trauer zu entehren, weil Worte auch verraten können. Dennoch will sich Abraham Sutzkever mit Dante messen, fragt ihn, ob er „ein Weilchen die Höllen vertauschen“ mag. „Ich spaziere in deiner, und du in den wirklichen Feuern… du bleibst Alighieri, und deine Hölle bleibt Allegorie.“ Sutzkevers Hölle war blutige Wirklichkeit.
Wilne, das „jiddische Jerusalem“, „das Jerusalem de Lite“ steht für Wilna oder Vilnius, die Hauptstadt Litauens. Als die deutsche Wehrmacht, SS und SD 1941, noch vor der Wannsee-Konferenz, in Wilna mit Hilfe der litauischen Polizei und so genannter „Sturmisten“ die nichtjüdische Bevölkerung ausquartierte und das Getto errichtete, war die Stadt überwiegend von Juden und Polen bewohnt. Die Shoah führte zu einem nahezu totalen Austausch der Population.
Die Deutschen fälschen die Geschichte
Im benachbarten Ponar, das Adam Mickiewicz und Napoleon wegen seiner Schönheit gerühmt haben, wurden 100.000 Juden ermordet, auch Polen, sowjetische Gefangene und Zigeuner. Siebzig an den Füßen gefesselte Juden und zehn andere Gefangene mussten später die verscharrten Leichname ausgraben, sie auf ihren Armen forttragen und auf großen Scheiterhaufen verbrennen. Sie verbrannten auch ihre Frauen und Kinder. Man hatte ihnen befohlen, nicht von Menschen oder Leichen, sondern von Figuren zu sprechen. Die Deutschen wollten die Geschichte fälschen und ließen ein Dutzend Tote wieder bestatten. Sie sollte man finden. In Ponar wurde erfunden, was man heute die Auschwitzlüge nennt.
Hubert Witt sagte mir, dass noch heute das offizielle Litauen wenig an der Aufdeckung der Wilnaer Judenermordung interessiert sei und dass ihm bis zur Wende von DDR-Behörden ein Besuch des von Moskau nach Tel Aviv ausgewanderten Dichters Abraham Sutzkever verwehrt wurde. Wir bewegen uns auf vermintem Gebiet. Der bisher nahezu vergessene Dichter, noch immer ein Überlebender, wurde 1913 in Smorgon, südöstlich von Wilna geboren.
Der umkämpfte Geburtsort ging 1915 in Flammen auf. Die Familie wurde nach Omsk in Sibirien deportiert. Nach dem Tod des Vaters zog die alleinerziehende Mutter, Tochter eines Rabbiners, mit ihren drei Kindern nach Wilna. Abraham besuchte dort nach der Talmud-Schule das hebräisch-polnische Gymnasium, nutzte das Jüdische Wissenschaftliche Institut (Jiwo, später in den USA Yivo genannt) und wurde, wenn auch nur als Gasthörer, Student der Literaturwissenschaft.
Die polnische Romantik, der russische Symbolismus, Aleksander Blok haben ihn angezogen. Er suchte die Nähe zur Künstlergruppe Jung-Wilna und fand sie zu der New Yorker Vereinigung der Ichsichisten (oder Introspektivisten), die ihn zur Mitarbeit an ihrer Zeitschrift in zikh ermutigte. Der polnische PEN in Warschau veröffentlichte 1937 seinen Gedichtband lider.
Nach der Gettoisierung von 1941 trug er dazu bei, Waffen in das von der SS bewachte Getto zu schleusen, floh zu den Partisanen in die Narotscher Wälder und wurde als Dichter-Partisan mit einem Militärflugzeug ausgeflogen, ein Privileg, das gewiss nicht allen jüdischen Partisanen zuteil wurde. Es mag sein, dass diese Hilfsaktion Ilja Ehrenburg und dem jiddischen Dichter Perez Markisch zu verdanken war.
Sie hatten in Moskau Gedichte Sutzkevers lesen können, etwa das lange Gedicht „Kol Nidre. Erzählung eines Überlebenden“ vom 6. Februar 1943. Der Überlebende berichtet darin von einer unerhörten Begebenheit, die sich einprägt und zeigt, wie eng die im Getto geschriebenen Gedichte mit dem Prosabericht verwoben sind:
Als die Meute mit Lärm und Gewehren
in den Vorraum der Synagoge drang,
riss eine wilde Kraft mich aus wie einen Baum,
riss mich zum heiligen Thoraschrein,
dort nahm ich schnell die Thora heraus,
hab statt ihrer das Kind geborgen.
Unerhört sind die Verbrechen, die einen gläubigen Juden zwingen, die Thora zu opfern, um ein Kind zu retten.
Ilja Ehrenburg fördert Sutzkever in Moskau
Ehrenburg war es dann auch, der Abraham Sutzkever in Moskau dazu einlud, sich an der Redaktion des geplanten Schwarzbuchs über die Judenverfolgung in der Sowjetunion zu beteiligen. Sutzkever unterrichtete im Rundfunk und in Veranstaltungen über die Greueltaten in Wilna und arbeitete in der Redaktionskommission des Schwarzbuchs mit. Mehrere hundert Seiten, die ins Russische übersetzt wurden, habe er der Redaktion geliefert, bis Ilja Ehrenburg die Arbeit für beendet erklärte.
Nun, so riet er, müsse jeder Autor selbst für die Veröffentlichung seiner Texte sorgen. Man darf wohl vermuten, dass jene paar hundert Seiten, die Sutzkever für das Schwarzbuch geschrieben hatte, das eigentliche Manuskript seines Getto-Berichts gewesen sind. Das gesamte Projekt wurde untersagt, weil Nachrichten über die Leiden der Juden wie auch die über Ansätze zu einem heldenhaften jüdischen Widerstand nicht opportun waren. Vor allem wurden alle Hinweise auf die mörderische Kollaboration in den Ländern der Sowjetunion unterschlagen.
Sie hätten von der Schuld der Deutschen ablenken und das Verhältnis der Sowjetstaaten zu Moskau belasten können. Eine Darstellung des russischen Antisemitismus vor 1941 und nach 1944 war vollkommen ausgeschlossen. Erst in den 1990er Jahren wurden Veröffentlichungen des Schwarzbuchs in mehreren Sprachen möglich. Die erste erschien, editorisch betreut von Arno Lustiger, 1994 bei Rowohlt: Das Schwarzbuch und Der Genozid an den sowjetischen Juden.
In verschwindenden Auflagen erschien Sutzkevers Werk
Sutzkevers eigener Getto – Bericht „fun wilner geto“ ist 1946 „verschnitten und gekürzt“ durch die Zensur in Moskau erschienen. Auch die im gleichen Jahr in einer Auflage von bloß 100 Exemplaren erschienene Pariser Ausgabe (herausgegeben vom Verband der Wilnaer in Frankreich) gelangte nicht ohne sowjetische Zensureingriffe an ihre kleine Öffentlichkeit. Sie wurde die Grundlage für Hubert Witts wunderbare Übersetzung, die sich gegen so viel ideologisch bedingte Behinderung nun durchsetzt.
Für Abraham Sutzkever war nach seiner Rettung das Jahr 1946 ein Schicksalsjahr. Am 27. Februar 1946 ist er als Zeuge der sowjetischen Anklage im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess aufgetreten. Jiddisch war dort nicht zugelassen. So musste er russisch sprechen, was ihm nicht leicht gefallen ist. Das Gedicht, das er nach seiner Zeugenaussage schrieb, endet mit der resignierten Feststellung, dass „Gott zu schwach ist für Gerechtigkeit“.
Im Jahr darauf ist er nach Palästina ausgewandert. In dem Gedicht rät er seinem Volk, sich für das „Schwert“ zu entscheiden, um „die Judenfeindschaft aus der Welt zu schneiden“. In Israel ist der große moderne jiddische Dichter fast ein Außenseiter geworden, weil er an seiner Sprache festgehalten hat.
Eine gigantische Gemeinschaftsarbeit der Opfer
Der Greis aus Tel Aviv wird ein großes Werk hinterlassen, ein eigenes dichterisches, das es wohl schwer haben wird, wahrgenommen zu werden, und ein nach außen wirkendes, der Erhaltung jiddischer Kultur dienendes öffentliches Werk. Zu diesem gehört der 1964 von ihm auf den Weg gebrachte Sammelband mit Texten der im Stalinismus umgebrachten jiddischen Autoren, aber auch die Gründung eines Jüdischen Museums in Vilnius (mit Schmerke Katscherginski) und die bereits aus dem Getto heraus begonnene Rettung wertvoller Bücher, Manuskripte und Kunstgegenstände vor dem nationalsozialistischen Vernichtungswahn.
Die Prosa über das Wilnaer Getto ist ganz und gar als Gemeinschaftsarbeit der Opfer, als kumulierende Erinnerungsleistung angelegt, in der die Mitleidenden einander zitieren oder Zeugnis ablegen. Wenn der Autor von sich spricht, ist dies gleichrangiges Zitat neben anderen. Es gibt keine Oberstimme, die Erfahrungen sprechen gleichgeordnet sich aus, und ihre Stimmen protokollieren stets das jeweilige Heute, obwohl der im Nachhinein berichtende Autor das Ende kennt.
Es entsteht eine Simultanität des Schreckens, die nicht geschmeidig gemacht, gelenkt oder abgefedert wird. Jede Mitteilung schrammt hart an die andere. Man mag das unliterarisch nennen und aus der an das Schwarzbuch gebundenen Textgenese erklären. Auch kann man die Brüche und Abbrüche im Text als Folge der Zensur deuten. Auf mich aber wirkt das Unvermittelte angemessen gewaltsam, und ich setze mich lesend dieser Gewalt aus. „Der Autor“, so schrieb N. Fajnschtejn in seinem Vorwort zur Pariser Ausgabe, „gibt uns die Epopöe des Wilnaer Gettos roh wie ein herausgeschnittenes Herz.“
Die Wilnaer Juden hat es in diesem Maßstab (80.000 im Getto; mehr als 100.000 Ermordete in Ponar) zuerst getroffen. Noch war der „Judenstern“ als Schandzeichen nicht allgemein definiert. In Wilna musste der „Flicken“ seit dem 3. Juli 1941 getragen werden.
Wie ein herausgeschnittenes Herz
Das Betreten der Bürgersteige wurde verboten. Man lernte, sich vor den „Chapunes“ (Greifern) in immer komplizierter erbauten „Malinen“ zu verstecken, erfuhr, was es heißt, wenn Kopfgelder ausgesetzt werden, dass jüdische Frauen nicht gebären dürfen, dass man die trotzdem geborenen Säuglinge umbringt, dass die Gesichtshaut von Kindern als Material für die kosmetische Chirurgie galt, dass dem Tod die Folter vorauszugehen hatte, aber auch, dass es passive, kulturelle oder auch bewaffnete Gegenwehr gab, die dann im Gegenzug zu noch furchtbarerer Vernichtungswut führte.
Das setzte auch der FPO ihre Grenzen, der Fareinikten Partisaner Organisatzije, deren Mitglied Sutzkever geworden war. Dennoch werden gegen Ende des Berichts durchaus mit Stolz die Erfolge der Partisanen aufgeführt. 200 getötete Hitlersoldaten bei einem Eisenbahnattentat, die Menge der vernichteten Waffen und Munition, das sind durchaus Erfolgsmeldungen, die heute eher als Gegenstände von Spielfilmen angesehen werden, denen gegenüber Historiker einwenden, dass sie mit ihren Heldenbildern von der grundsätzlichen Wehrlosigkeit der zivilen Opfer ablenken. Aber die Erfolge des Widerstands können nicht als irrige, fehlgeleitete Strategie des Schwarzbuchs abgetan werden.
Sutzkevers Bericht eröffnet neue Fragen, auch die nach den sexuellen Perversionen der Täter, nach Demütigungen, sadistischer Folter oder dem Missbrauch achtjähriger Mädchen. Historiker äußern sich zu solchen Themen verständlicherweise zurückhaltend. Bei Sutzkever fällt auf, wie eindringlich er das Wort „nackt“ gebraucht. Das erzwungene Ablegen der Kleidung ist bis hin zu den Skandalen im Gefängnis von Abu Ghraib ein Teil der Folter und bedeutete in der Shoah immer die Auslieferung an den Tod.
Abraham Sutzkever ist einer der bedeutendsten Dichter, der in Jiddisch schreibt. Als Überlebender des Wilner Gettos veröffentlichte er seine Erinnerungen an diese schreckliche Zeit. Seine Gedichte aus diese Zeit sind jetzt neu übersetzt erschienen.
Abraham Sutzkever meinte Jahre nach dem Krieg einmal, er habe nie bessere Gedichte als im Getto und bei den Partisanen geschrieben. Und im Gettobericht heißt es:
Nie hatte ich in Wilne solch ein Jiddisch vernommen. Es war die Sprache eines Lebens, das sich dem Tode nicht unterwerfen wollte.
Agitprop
In den vier Dutzend im Getto der Nazis verfassten Gedichten, Klageliedern, die mitunter bis zu Oratoriumsgröße anwachsen, gelingt es dem einstigen Expressionisten des Dichter-Kreises Jung-Wilne alles Pathos ganz ins Gedicht hinein zu verlegen. In der großen Ballade „Vor meiner Verbrennung“ scheut Sutzkever auch vor Agitprop à la Majakowskij nicht zurück.
Jude sein heißt: ständig bereit sein zu Prüfung,
zur Prüfung und zum Wunder.
(…)
Die jüdische Kraft, aus Wortsymbolen,
weckt jetzt die Welt mit einem Schuss.
Großartige Übersetzung
Im 20-seitigen „Kol-Nidre“ sagt eine der beiden Stimmen:
Ihr seht, ich bin
ein Krieger, ein Rotarmist
Wie immer die Gedichte im Jiddischen Original auch klingen mögen – der Übersetzer Hubert Witt hat bei der Übertragung von Sutzkevers Gedichten Großartiges geleistet. Vor allem bei jenen scheinbar harmlos anmutenden kleinen Liedern wie „Ein Wagen Schuhe“, in dem in nur drei Zeilen die eine ganze Welt ins Wanken gebracht wird.
Die Räder jagen, jagen,
was tragen sie mir zu?
Sie bringen einen Wagen
Voll zuckender Schuh.
Mitunter klingt der markante Celan-Tonfall zu stark durch.
Forderung nach Gerechtigkeit
Am 27. Februar 1946 tritt Abraham Sutzkever als offizieller Zeuge beim Nürnberger Prozess auf. Auch ein am selben Tag entstandenes Gedicht klagt Gerechtigkeit für den millionenfachen Mord ein.
Mein Volk, du musst dich für dein Schwert entscheiden,
wenn Gott zu schwach ist für Gerechtigkeit.
Nur ein Jahr später, 1947, am Höhepunkt der spätstalinistischen sogenannten Antikosmopolitenkampagne, verlässt Sutzkever die Sowjetunion, um nach Palästina ins künftige Israel auszuwandern.
So sehr sich seine spätere Lyrik mit den neuen politischen Realitäten seines Landes auseinandersetzt, „die Höllengassen des Erinnerns“ verlässt Sutzkever, der sich einmal als „Wiedergänger der Leichen-Brenner von Ponar“ bezeichnete, nie mehr ganz. Er fragt dichtend nach der Zukunft des Jiddischen, kehrt immer wieder nach Wilne zurück, oder zu Perez Markisch, dem von Stalin ermordeten Dichterfreund.
Atemberaubend
Andere Partner dichterischer „Gipfelgespräche“ sind Else Lasker-Schüler, Milton und Shakespeare. Aus dem Jahr 1974 stammt schließlich ein Gedicht, das nicht nur von atemberaubender Schönheit ist – ihm gegenüber nimmt sich die vielfach strapazierte Fragen nach der Möglichkeit von Gedichten „nach Auschwitz“ als pure Harmlosigkeit aus.
Wer wird bleiben, was wird bleiben? Bleiben wird ein Wind,
bleiben wird die Blindheit eines Blinden, die verrinnt,
bleiben wird ein Meereszeichen, nur ein Krönchen Schaum,
bleiben wird ein kleines Wölkchen, hoch auf einem Baum.
Wer wir bleiben, was wird bleiben? Bleiben wird ein Wort,
Schöpfungsgras, hervorzukeimen heut und immerfort.
Bleiben wird die Fiedelrose – ehrenfest und schön,
sieben Gräser all der Gräser werden sie verstehn.
Mehr als all die vielen Sterne über dieser Welt
Jener Stern wird bleiben, der in eine Träne fällt.
Auch ein Tropfen Wein wird bleiben, hier in seinem Krug.
Wer wird bleiben? Gott wird bleiben. Ist dir’s nicht genug?
Wie ein „Knäuel Eidechsen“ springt ihm am 22. Juni 1941 Geschrei in deutscher Sprache aus dem Radio entgegen, schreibt Abraham Sutzkever. Das konnte nur eines bedeuten: Die Deutschen greifen Litauen an. Eine Seite weiter notiert er bereits:
Deutsche Flugzeuge schwirren hernieder wie Heuschrecken. Sie machen Jagd auf einzelne Menschen.
Mit dem Einmarsch der Deutschen wächst Sutzkever eine Aufgabe zu, um die er sich nie beworben hat. Er, geboren 1913 im weißrussischen Smorgon, Absolvent eines hebräisch-jüdischen Gymnasiums in Vilnius, Gasthörer von Literaturvorlesungen der dortigen Universität, sah seine Zukunft eigentlich als Dichter. Seinen etwa gleichaltrigen Kollegen war seine Lyrik zwar nicht klar, nicht politisch genug. Denn der junge Sutzkever schätzte das Groteske, den sprachlichen Effekt, was zunächst nur von einer in New York erscheinenden Zeitschrift goutiert wurde. „Poesie ist die Gestaltung von innerem Chaos“, schrieb Abraham Sutzkever 1939 in einem Brief. Da lebte er in Vilnius noch im Frieden. Oder in Wilne: die Stadt, die von den Litauern Vilnius, den Deutschen Wilna, den Juden Wilne und den Polen Wilno genannt wurde, war die Heimat mehrerer Völker und galt wegen der jüdischen Kultur als Jerusalem des Nordens. Das äußere Chaos, in das die deutschen Besatzer und ihre willigen litauischen Helfer die Juden in Vilnius stürzen, zwingt Sutzkever zu einem anderen Stil.
In den örtlichen Zeitungen erschienen schauerliche Artikel über Juden. Das ganze Gift der deutschen Propaganda, seit langen Jahren vorbereitet, drang in die hiesige Presse, wo faschistische Agenten mitarbeiteten – deutsch-litauische Nationalisten.
Sutzkever setzt seine Aufzeichnungen dagegen. Das sprachliche Experiment interessiert ihn nicht mehr, nur noch der treffendste Ausdruck für das, was geschieht, was er sieht, was er hört, was er durchleidet und was andere ertragen müssen: Abraham Sutzkever wird mit seiner Prosa zum Chronisten der Unterdrückung und Vernichtung der Juden von Vilnius. Und während viele um ihn herum noch hoffen, die kulturvollen Deutschen könnten keine Schlächter sein, während sie den Berichten von Massen-Erschießungen im Wald von Ponar (Panerai) nicht glauben und nur an Arbeitslager oder Haft der Vermissten denken wollen, lässt er sich nicht einlullen, sondern trägt die Fakten zusammen. Er lässt Zeugen sprechen und berichtet aus eigenem Erleben, wie seine Mutter an den Haaren über die Straße geschleift wird oder wie er ins Krankenhaus kommt, um seine Frau und seinen Sohn nach der Entbindung zu begrüßen: Da ist das Neugeborene bereits tot, denn Juden war es nicht erlaubt, Kinder zu bekommen. Er legt Zeugnis ab vom Widerstand, berichtet von Bauern, die Juden verstecken und vom Waffenschmuggel ins Getto, wo die Bewohner versuchen, mit einem Aufstand den Nazis zu trotzen. Dennoch:
Am 23. September 1943 erfolgte die endgültige Liquidierung des Wilner Gettos.
In Ponar erlassen die Deutschen dann den Befehl, die Leichen der mehr als 100.000 Ermordeten zu verbrennen. Abraham Sutzkever und seiner Frau gelingt die Flucht. Der sowjetische Schriftsteller Ilja Ehrenburg holt ihn nach Moskau und bittet ihn, an einem Schwarzbuch über die Unterdrückung und Vernichtung der Juden mitzuarbeiten. Der Auftrag wird bald wieder zurückgezogen. Dennoch erscheinen Sutzkevers Getto-Aufzeichnungen 1946 in Moskau und kurz darauf – ungekürzt – auch in Paris. Jetzt erst, siebzig Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, liegt Abraham Sutzkevers Hauptwerk auf Deutsch vor. Der Leipziger Übersetzer Hubert Witt hat es akribisch aus dem Jiddischen übertragen und mit einem Nachwort versehen, wohl wissend, dass Sutzkever lange nicht an einer Ausgabe in der Sprache der Mörder interessiert war. Immerhin gab es häppchenweise Publikationen seiner Gedichte und Stücke in den letzten Jahren. Doch erst der ambitionierte, sorgsam gestaltete Doppelband mit den Aufzeichnungen aus dem Wilner Getto 1941–1944 und den Gedichten Gesänge vom Meer des Todes kann der Leistung des Dichters wirklich gerecht werden, zeigt die Kombination von beiden Büchern doch, wie wichtig dem Autor neben dem reporterhaften Augenzeugenbericht die sprachliche Bewältigung des Erlebten war. Denn während er im Getto-Bericht die neuesten Maßnahmen der Deutschen aufzählt, schreibt er etwa im Poem „Drei Rosen“ 1942:
Die Zeit auf meiner Zunge hat den Sinn verloren.
Das klingt nach Resignation. Später, im Juli 1944, als von den Getto-Bewohnern nur noch ein kleines Häuflein übrig ist, packt er das Grausame in die scheinbar harmlosen, liedhaften Verse des Gedichts „Erfrorene Juden“:
Sahst du auf Feldern, vereist und verschneit,
erfrorene Juden aufgereiht?
ohne Atem, marmorn, in blauem Licht.
Doch alle Leiber – tot sind sie nicht.
Ob auch erfroren, es funkelt der Geist
wie ein goldener Fisch, in der Woge vereist.
Der Zeitzeuge Abraham Sutzkever trat am 27. Februar 1946 vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg auf. In einem kurzen Gedicht, das er nach seiner Aussage schrieb, heißt es
Mein Volk, du musst dich für dein Schwert entscheiden,
wenn Gott zu schwach ist für Gerechtigkeit.
Im Jahr darauf wanderte er nach Palästina aus. Jahrzehntelang gab er eine Zeitschrift für jiddische Literatur heraus. Heute lebt er in einem Pflegeheim in Tel Aviv.
Cornelia Geissler, Berliner Zeitung, 24.9.2009
– Es ist ein Tagebau des Todes, in den der litauisch-jüdische Schriftsteller Abraham Sutzkever seine Leser führt. Ein Leichenbergwerk, in dem bereits verscharrte Tote von Menschen ausgegraben und verbrannt werden, die ihren Einsatz im Auftrag der SS selbst mit dem Leben bezahlen werden. –
Untote, die Tote ausheben, um für die Nachwelt die Spuren des deutschen Massentötens zu tilgen.
Von Juni bis Dezember 1941 waren in Ponar, einem sieben Kilometer von der litauischen Hauptstadt Wilna – jiddisch: Wilne – entfernten Ort, rund 50.000 Juden ermordet worden, Dreiviertel der berühmten jüdischen Gemeinde Wilnas. Auf 100.000 Tote sollte die Zahl bis zur Vertreibung der Deutschen aus Litauen im Juli 1944 anwachsen, zahlreiche Nazigegner und sowjetische Kriegsgefangene darunter.
Sutzkever lässt in seinem Bericht Wilner Getto 1941–1944 die Überlebenden des Ponar-Einsatzes zu Wort kommen, zitiert deren Erinnerungen, erklärt die Logistik der ungeheuerlichen Aktion. Als Gefangene unter Tage wurden die 80 Menschen gehalten, die die Leichengruben von Ponar auszuheben hatten, von der Roten Armee hinterlassene Munitionsdepots, die diese nicht mehr nutzen konnte. Das Schuhwerk in Ketten gelegt, hatten die Gefangenen ihrer buchstäblichen Knochenarbeit nachzugehen. Einem Alltag, dem mit gängigen Attributen nicht beizukommen ist. Ein Grauen von archaischem Ausmaß zeigt sich da, eine Welt ohne Gegenwelt. Ponar, ursprünglich ein liebliches Ausflugstädtchen, ist heute eine der östlichsten – und also im westeuropäischen Kriegsgedächtnis unbekanntesten – Ortsmarken des Holocaust.
Es ist das große Verdienst des 1913 in Smorgon bei Wilna geborenen Dichters Abraham Sutzkever, die Welt des osteuropäischen, vor allem die Kultur des litauischen Judentums vor dem Vergessen bewahrt zu haben und dessen große jiddisch-sprachige Dichtung, zu deren letzten – im Sprachgebrauch der Literaturkritik – „Giganten“ Sutzkever selbst gehörte. 1920 war dessen Familie nach Wilna übergesiedelt, wo Sutzkever seit 1935 dem jüdischen Dichterkreis Jung-Wilne angehörte, 1937 erschien sein erster Gedichtband Lider.
Gerettet von Ilja Ehrenburg
Mit dem Einmarsch der Deutschen wurde Sutzkever in das Ghetto von Wilna befohlen, 1943 gelang ihm die Flucht hinter die deutsch-russische Front. Auf Betreiben des russischen Schriftstellers Ilja Ehrenburg wurde Sutzkever nach Moskau ausgeflogen, wo er 1944 sein Zeugnis über die Gräuel niederschrieb, 1945 zu den Zeugen des „Nürnberger Prozesses“ gehörte, um 1947 nach Israel auszuwandern. In zwei Bänden legt nun der Leipziger Germanist Hubert Witt eine Auswahl des Werkes von Sutzkever vor: Gesänge vom Meer des Todes heißt der Band von aus dem Jiddischen ins Deutsche übersetzten Gedichten der Jahre 1934 bis 1987. Und Wilner Getto 1941–1944: der große Report über die Vernichtung der Juden von Wilna – deren Alltag im Ghetto, das Überleben in „Malinen“ (Verstecken), den Terror der „Chapunes“ (Greifer, die Juden für ein Kopfgeld jagten) und „Sturmisten“ (SA- und SS-Männer), aber auch über den Mut von Menschen, die vollständig uneigennützig, selbstverständlich und fern von aller Weltbetriebslogik aus dem Ghetto entflohene Juden versteckten. Sutzkevers Bericht ist ein Menschheitsdokument und ein literarisches Werk gleichermaßen. Es macht Sinn, die Lektüre mit dem Report zu beginnen, um sich erst dann den Gedichten zu widmen, die Echos auf das Erlittene sind.
Um die sachlichen und sprachlichen Qualitäten des Berichtes vorzustellen, sei hier der Auftakt vom Jahr 1941 zitiert:
… als ich am 22. Juni frühmorgens das Radio anschloß, da sprang es mir entgegen wie ein Knäuel Eidechsen: ein hysterisches Geschrei in deutscher Sprache. Aus all dem Lärm folgerte ich nur: Das deutsche Militär war über unsere Grenzen ins Land gedrungen. Ich lief hinab nach draußen, ich geh, wohin die Augen tragen. – Ich komme zu Nojech Priluzki, dem Professor am jiddischen Katheder in der Wilner Universität. Er ist in sein Werk Phonetik des Jiddischen vertieft. – „Mit der ersten Bombe auf russischer Erde hat sich Hitler sein Grab gegraben“, prophezeit Priluzki. Aber was zu tun ist, weiß er nicht. Er schreibt an seinem wissenschaftlichen Buch.
Messerscharfe Wirklichkeit
Poetische Plastizität der Sprache („wie ein Knäuel Eidechsen“), die Wissenschaftskultur des alten Wilna („jiddisches Katheder“), die hellseherische Klugheit des jüdischen Professors („hat Hitler sein Grab gegraben“) und dessen Ausgeliefertsein („er schreibt weiter“): Alles das wird hier auf wenigen Zeilen sinnfällig eingefangen. Holocaust-Literatur, die in einer Reihe mit den Werken von Tadeusz Borowski, Imre Kertész oder Primo Levi genannt werden muss. Es gab eben nicht nur Auschwitz und Buchenwald, sondern auch Wilna 1941 bis 1944.
Auch Sutzkevers Gedichte sprechen mit einer für den Alltagsverstand transparenten und logischen Diktion; das Phantasmagorische verdunkelt nichts, sondern verstärkt das Mitzuteilende. So beschreibt der Dichter „Die erste Nacht im Getto“:
Können Schiffe auf festem Lande versinken?
Ich spür: es sinken Schiffe unter mir…
Oder „Die Tore des Gettos“:
Messerscharfe Wirklichkeit.
In den Scherben der Fenster
erscheint die Sonne als roter Fliegenpilz.
Jedes Gesicht ein Herbstblatt…
Was gut ist, hat Zeit – und hält viel aus. Denn es ist doch erstaunlich, wie lange solcherart Literatur braucht, um ihrem Wert gemäß öffentlich wahrgenommen zu werden. Sutzkever, der vor einer Woche in Tel Aviv 96-jährig starb, war das am Ende doch noch gelungen.
– Endlich wird der „jiddische Dante“ mit seinem erschütternden Bericht vom Wilnaer Ghetto auf Deutsch vorgestellt. Mit grosser Genauigkeit schildert er, wie eine Bevölkerung zu überleben versucht. –
Wer Vilnius (Wilna), die diesjährige Kulturhauptstadt Europas, besucht, findet ausser einem winzigen, abgelegenen Holocaust-Museum keine Spur mehr von der reichen jüdischen Kultur, die es einst in diesem „Jerusalem des Nordens“ gab. JedeR dritte EinwohnerIn von Wilna war jüdisch, die Stadt ein Zentrum jiddischer Gelehrsamkeit mit Hochschulen, fünf jiddischen Zeitungen und dem wissenschaftlichen Institut für jiddische Studien Yivo, das heute in New York fortbesteht.
Das öffentliche jüdische Kulturleben erlosch 1941 mit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht:
Als ich am 22. Juni frühmorgens das Radio anschloss, da sprang es mir entgegen wie ein Knäuel Eidechsen: ein hysterisches Geschrei in deutscher Sprache.
So beginnt der Bericht „Wilner Getto“ von Abraham Sutzkever aus dem Jahr 1945, der jetzt im Ammann-Verlag erstmals in deutscher Übersetzung (von Hubert Witt) vorliegt, zusammen mit dem Gedichtband Gesänge vom Meer des Todes.
Abraham Sutzkever, der 1913 geborene Dichter aus Litauen, der heute in einem Altersheim in Israel lebt, gilt als Retter der jiddischen Sprache. Zum einen, weil der hochgeachtete Lyriker bis vor kurzem selbst auf Jiddisch schrieb, zum anderen, weil er im besetzten Wilna aktiv die Verschleppung und Zerstörung jüdischer Kulturschätze hintertrieb. Davon erzählt er im Gedicht „Weizenkörner“:
Wi bajm baschitsn an eifl –
ich lojf mitn jidishn wort,
nishter in itlechn hejfl,
der gajst zol nit wern dermordt.
–
Wie einen zarten Säugling
beschütz ich das jiddische Wort,
schnuppre in jeden Berg Papier,
rette den Geist vor Mord.
Sutzkever schrieb das Gedicht im März 1943. Er war als Zwangsarbeiter eingesetzt, jüdische Kulturgüter in Wilna zu sammeln, die vernichtet oder für die Sammlung über „die Wissenschaft des Judentums ohne Juden“ nach Deutschland gebracht werden sollten. Aber es gelang ihm, jiddische Manuskripte, Bilder und Plastiken ins Ghetto zu schmuggeln und dort zu vergraben.
Wilner Getto ist in mehrfacher Hinsicht beeindruckend. Mit grosser Genauigkeit, oft in der Form eines Tagebuchs, legt Sutzkever Zeugnis von der Einschränkung des jüdischen Lebens ab, von Schikanen und brutaler Vernichtung. Die nahm in Wilna schon 1942 Ausmasse einer „Endlösung“ an: Der Ort Ponar wurde zum Massengrab für Tausende, andere wurden verschleppt: Von den 30.000 Wilnaer Jüdinnen und Juden überlebten nur wenige Hundert.
Zugleich schildert Sutzkever, wie eine Bevölkerung zu überleben versucht: Die Juden organisierten die Solidarität auf beeindruckende Weise. Sie ernährten jene mit, die gar nichts mehr hatten, halfen mit medizinischer Versorgung, bauten und vermittelten Verstecke, schmuggelten wichtige Dinge ins Ghetto. Darunter waren auch Waffen, aber der versuchte Aufstand scheiterte. Mit nur wenigen Kampfgefährten konnte Sutzkever zu den Partisanen in die Wälder fliehen, kurz bevor das Ghetto im September 1943 liquidiert wurde. Und weil er eines seiner erschütterndsten Gedichte aus dem Ghetto, „Kol-Nidre“, nach Moskau geschickt hatte, wo es Ilja Ehrenburg las, wurden er und seine Frau von einem sowjetischen Flugzeug gerettet – noch vor der Befreiung Wilnas durch die Rote Armee.
In Wilner Getto werden die so oft anonymen Opfer der Schoah zu Subjekten. Sutzkever schildert viele erschütternde Einzelschicksale, aber auch das Kulturleben, das die GhettobewohnerInnen gegen alle Widrigkeiten aufrechterhielten. Sie unterrichteten die Kinder, hielten Gottesdienste ab, veranstalteten Konzerte und Theateraufführungen. Die Zwiespältigkeit war ihnen bewusst: „Man tanzt nicht auf dem Friedhof“, sagten die Gegner, und Sutzkever schrieb im Dezember 1942 im Gedicht „Zum Jahrestag des Getto-Theaters“:
Spielt ihr jüdischen Mimen, in Flicken, in Mauern,
wo das Leben sich krümmt wie angesengte Haare…
Dennoch beteiligte sich der Dichter an den kulturellen Aktivitäten, und er hörte in keiner Lage auf, selbst Gedichte zu schreiben. Wie diese entstanden, kann man in Wilner Getto lesen. In einem Schlupfwinkel unter einem Blechdach, wo er sich sieben Wochen versteckt hielt, obwohl er nur liegend hineinpasste, schrieb er „Gesichter in Sümpfen“:
Nacht hat unsre Gedanken grau gemacht.
Morgensonne sät glühendes Salz in die Wunden…
In diesem Frühjahr ist auch im Campus-Verlag ein Band über Abraham Sutzkever erschienen. Geh über Wörter wie über ein Minenfeld präsentiert den „jiddischen Dante“, der virtuos mit den verschiedensten Versformen, Reimen und Rhythmen spielt, umfassend: von der frühen Lyrik der dreissiger Jahre, die von den Kinderjahren in Sibirien geprägt ist, bis zu den späten, poetisch verdichteten Prosatexten.
Dass Sutzkever in Israel, wo er seit 1948 lebte, weiter das Jiddisch pflegte, war in dem jungen Staat, der die neue Landessprache des Iwrit durchsetzen wollte, nicht opportun, aber Sutzkever gelang es sogar, ab 1949 eine jiddische Literaturzeitschrift herauszugeben: Di goldene Kejt. Darin erschienen bis 1995 seine Texte, ausserdem regte er weltweit andere AutorInnen an, jiddisch zu schreiben, darunter seinen Freund, den Maler Marc Chagall, der auch zwei seiner Werke illustrierte und mit dem ihn die Überzeugung verband, dass ein modernes jüdisches Leben nicht ohne Verbindung zu den Traditionen und Erfahrungen der Vergangenheit möglich ist.
Gedichte von unvergleichlicher Schönheit, Gedichte der Trauer und der Hoffnung in aussichtsloser Zeit – es ist beglückend und bedrückend, die Gedichte aus der Zeit des Wilnaer Gettos des großen jiddischen Dichters Abraham Sutzkver (geb. 1913) zu lesen.
In ihnen thematisiert er die Emotionen von Träumern und Kabbalisten, von Heiligen und Märtyrern, das Leid, die Trauer und den Tod – und das in der jahrhundertalten Sprache – dem Jiddischen. So ist es schade, dass es in diesem wunderschönen Band nur eine Übersetzung – wenngleich eine hervorragende – gibt.
Ein Beispiel aus „Die Tore des Getto“:
Ein Mädchen auf dem Balkon
atmet die Lettern des Buchs
Und träumt von seltenen Vergnügen:
einem Brot, einem Kleid, und Schule.
Oder:
Auf verbrannten Lippen
bei Jung und Alt
erstarren
die Gebete
zu Eis.
„Gesänge des Todes“ – mal im Vers, mal in gebrochenene Zeilen. Das ist Lyrik in höchster Vollendung. Abraham Sutzkever ist sicher der größte Dichter der jidischen Literatur. Und so wird, wer seine Gesänge gelesen hat, sie nie wieder vergessen.
Travers: Die Welt, bewürmt mit Menschen, hat vom Menschen keinen Begriff
mag.blogsport.de, 17.2.2010
Antonín Dick: Es gibt keinen Tod
poetenladen.de, 16.7.2013
Abraham Sutzkever erinnert sich an einige seiner Erfahrungen im Wilner Ghetto sowie als jüdischer Partisan und diskutiert die Herkunft einiger seiner Gedichte am 24. Mai 1959 in der Jewish Public Library von Montreal.
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