UND ICH HABE ALLE BÜCHER GELESEN…
Bücher die Bücher alle Bücher
eines Tages klappen sie ihre Flügel zusammen
niemals singt er sehr lange
oder fliegt er weit
der Bücherfink
„Ma non vo’ più cantar“, sagt Petrarca
lange ist es her
dass ich etwas in meinen Netzen barg
nicht Sterne noch Gold noch Perlen
sondern Wörter (Körper), verwest
Dennoch steche ich jede Nacht
mit meiner Barke in See, ich fahre hinaus
mit meiner Gaslampe, entferne mich
zu meiner Seite schwimmen stumm
Sirenen, manchmal treibt ein Wrack vorbei
fahles Treibgut der Erinnerung
Vom Ufer aus sieht mich vielleicht
ein Dichter inmitten hunderter
Anderer, kann sich nicht entblöden
eine Metapher daraus zu machen
Tja, mein Lieber, sage ich ihm,
ich bin nicht das trunkene Schiff
nicht der Nachen von Arthur, von Tristan
glaube nicht mehr (wenn ichs jemals tat)
an die Inseln der Glückseligen
Ich lote nur den Abgrund aus,
über dem ich treibe, die Wellen
schaukeln mich, es ist klar, schwarz, leer,
Stille umgibt mich, die große
Taubstummheit der See
Der Osten erhellt sich, ich lösche meine Lampe
ich wende, kehre um
im Hafen habe ich nichts zu verkaufen,
ich lasse diese Geburt hinter mir
ich kehre zurück zu den Menschen
Claude Adelen
Da bekannt wurde, dass die französische Literatur 2017 zu Gast auf der Buchmesse Frankfurt sein würde, hat der Frankfurter Bürger, Geschäftsführer der Romanfabrik, dem Pariser Bürger, der einst das Institut français dieser die Mainufer säumende Stadt leitete, vorgeschlagen, dieses schöne Projekt zu entwickeln: vier französische und vier deutsche Dichter sollen sich drei Mal für jeweils zwei Tage treffen, um während dieser schöpferischen Werkstätten sich gegenseitig zu übersetzen, unter Zuhilfenahme zweier Übersetzer, die diese Arbeit vorbereiten sollten.
Diese Treffen fanden im Juni 2016 in der Frankfurter Romanfabrik, im Dezember 2016 im Haus für Poesie in Berlin und im März 2017 im Goethe-Institut und im Maison Heinrich Heine in Paris statt. Sie schlossen jedes Mal mit einer öffentlichen Werkstattlesung (die Pariser Lesung war in der Bibliothèque publique d’information im Centre Pompidou). Es waren intensive und leidenschaftliche Sitzungen, die an jene „transmutations périlleuses“ (gefahrvolle Umwandlungen) erinnerten, mit denen der Dichter Claude Esteban die über 15 Jahre dauernden Begegnungen im Centre Culturel de Royaumont bezeichnete. Aber ebenso vergleichbar sind die jährlichen Versschmuggel-Treffen in Berlin, auf denen Dichter Dichter übersetzen.
Erfahrungen beim Übersetzen von Gedichten führen uns doppelt an das Grundgesetz des poetischen Lesens heran, die Langsamkeit. Wir lesen das Gedicht sowieso langsam, um es zu verstehen, in der Absicht, es zu übersetzen, aber noch einmal langsamer. Denn nun loten wir alle Unschärfen aus, die wir beim Übertragen des Gedichts in die neue Sprache zu beachten haben. Dazu kommen das Versmaß, die Binnen- und Endreime, die Silbenzahl, die Länge der Verse. Kurz vor dem Schluss müssen auch noch Besonderheiten der nationalen Kultur berücksichtigt werden, deren Gegenstück in der Zielsprache erst einmal gefunden werden muss. Dann aber tut sich plötzlich ein Boden auf und wir landen – annäherungsweise – auf dem Grund, auf dem die Dichterin und der Dichter ihre Worte gefunden haben und ihren Klang und ihren Rhythmus.
Es ist, als ob man beim Nachdichten dem ursprünglichen Dichtungsprozess auf die Spur kommen müsse. Es ist also wie der Versuch, das Motiv aufzuspüren, den vorsprachlichen Zustand und das spielerische Wortefinden des Urhebers zu ertasten. Die Bedingung dieser Möglichkeit nennt Walter Benjamin in seinem Text „Baudelaire Übertragungen“:
Jenes gedachte, innerste Verhältnis der Sprachen ist aber das einer eigentümlichen Konvergenz. Es besteht darin, daß die Sprachen einander nicht fremd, sondern a priori und von allen historischen Beziehungen abgesehen einander in dem verwandt sind, was sie sagen wollen.
Und dann beginnt ein Dichten in der neuen Sprache, eine Nach-Dichtung. Tastend, aber im sicheren Gefühl, dem schöpferischen Prozess des Urhebers auf der Spur zu sein. Voller Respekt entsteht ein neues Gedicht, das sich der Vorlage zu gleichen beginnt wie ein Zwilling, nun ja, wie ein zweieiiger Zwilling vielleicht. Im Laufe der drei Arbeitstreffen entwickelte sich eine Art zweisprachiger Wörterrausch, ein gemeinsamer Furor ergriff die acht Dichter, die zwei Übersetzer und die zwei Kuratoren, bis alle Fragen ihre Antwort fanden.
Für die beteiligten Dichter ist es eine Prüfung besonderer Art. Genauer als es ein Literaturkritiker je könnte, wird ihr Werk auseinandergenommen, Zeile für Zeile, Wort für Wort, Reim für Reim, Versmaß für Versmaß. Ihr Gedicht wird nach allen Regeln der Kunst und systematisch nach allen Raum- und Zeitgefügen abgeklopft. Und sind glücklich, wenn ihr Gedicht die Prüfung besteht. Sind noch einmal glücklich, wenn es neu auf die Welt kommt.
Die meisten der beteiligten Dichter waren sich zuvor nie begegnet. Es war folglich die Gelegenheit, die unterschiedlichsten Schreibweisen kennenzulernen, aber auch Verwandtschaften: so teilen Jan Wagner und Claude Adelen eine Vorliebe für die Sextine! Silke Scheuermann nahm nur am ersten Treffen teil und konnte zu den folgenden nicht kommen, so schloß sich Monika Rinck an unser letztes Treffen an.
Dieses Buch enthält die während der drei Treffen übersetzten Gedichte.
Die Autoren der hier versammelten Nachdichtungen sind alle beteiligten Dichter sowie die Übersetzer.
Michael Hohmann & Alain Lance, Vorwort
Gedichte Französisch-Deutsch / Deutsch-Französisch. Aktuelle, noch unveröffentlichte Gedichte aus beiden Sprachen wurden bei drei Treffen in direktem Austausch miteinander von Dichtern übersetzt.
2017 wird Frankreich Ehrengast der Frankfurter Buchmesse sein. Auf die aktuelle Literaturszene unseres Nachbarlandes wird dadurch eine besonders große Aufmerksamkeit gerichtet sein. Michael Hohmann und Alain Lance haben ein grenzüberschreitendes Projekt initiiert, bei dem jeweils vier der wichtigsten Lyrikerinnen und Lyriker aus Frankreich und Deutschland zusammentrafen. Im Beisein von Übersetzern diskutierten sie über die eigenen Texte und die der jeweils anderen, über die Möglichkeiten und Grenzen der Übersetzbarkeit von Lyrik überhaupt, über Rhythmus, Klang, Reim, Sinn. Bei den konkreten Übersetzungen der Gedichte arbeiteten Dichter und Nachdichter eng (und kreuzweise) zusammen. Entstanden ist eine aufregende Anthologie mit deutschen und französischen Gedichten, zweisprachig gedruckt, ein lebendiger Dialog.
Von französischer Seite nahmen teil: Claude Adelen, Gérard Cartier, Hélène Sanguinetti, Valérie Rouzeau, von deutscher: Carolin Callies, Marion Poschmann, Silke Scheuermann, Jan Wagner, Monika Rinck.
Wallstein Verlag, Ankündigung
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