FLÜCHTLINGE
Gebückt unter der Last, die manchmal
sichtbar, manchmal unsichtbar ist,
waten sie im Morast oder im Wüstensand,
buckelig, hungrig,
wortkarge Männer in derben Jacken,
für alle vier Jahreszeiten gekleidet,
alte Frauen mit zerknitterten Gesichtern,
die etwas tragen, was Säugling, Lampe
– Erinnerungsstück – oder der letzte Brotlaib sein könnte.
Es könnte Bosnien sein, heute,
Polen im September 39, Frankreich –
acht Monate später, Thüringen 45,
Somalia oder Afghanistan oder Ägypten.
Immer gibt’s einen Wagen, ein Wägelchen mindestens,
vollgeladen mit Schätzen (dem Bettzeug, dem Silberbecher
und dem Geruch des Hauses, der sich rasch verflüchtigt),
ein Auto ohne Benzin, im Graben liegengelassen,
ein Pferd (das verraten wird), den Schnee, viel Schnee,
zu viel Schnee, zu viel Sonne, zu viel Regen,
und diese charakteristische Neigung,
wie zu einem anderen, besseren Planeten,
wo es weniger ehrgeizige Generäle gibt,
weniger Kanonen, weniger Schnee, weniger Wind,
weniger Geschichte (diesen Planeten
gibt’s aber nicht, es gibt nur die Neigung).
Sie gehen langsam,
mit schlurfenden Schritten, sehr langsam
ins Land nirgendwo,
in die Stadt niemand
am Flusse niemals
Karl Dedecius war bereits in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein Übersetzermythos. In anderen Ländern, in anderen Sprachkreisen kam es für gewöhnlich nicht vor, dass ein einziger herausragender Übersetzer die gesamte Literaturlandschaft beherrschte. Zudem war er ein Lyrikübersetzer, von dem es hieß, er gehe einem Broterwerb im Versicherungsunternehmen Allianz nach – das verfestigte seine Legende nur… Wir, die damals jungen Dichter, wussten um Dedecius’ Freundschaft mit Tadeusz Różewicz, Zbigniew Herbert und Wisława Szymborska, vom Erscheinen der Übersetzungen ihrer Werke und der phänomenalen Rezeption der Bücher in der Bundesrepublik. Ich denke, wir sahen darin nicht nur ein Zeichen des verdienten Erfolges dieser ausgezeichneten Dichter, sondern noch etwas Anderes: das Aufscheinen der Möglichkeit besserer Beziehungen zur deutschen Intelligenz, zu den Deutschen, die die offizielle Propaganda immer noch so darstellte, als hätte jeder von ihnen ein Maschinengewehr und eine SS-Uniform im Schrank. (Leider ist die Zwillingsherrschaft der Herren K. partiell zu dieser traurigen Praxis zurückgekehrt.)
1979 kam ich mit einem Stipendium des DAAD nach West-Berlin, und bald darauf lernte ich Karl Dedecius auch persönlich kennen, der sich bisweilen in dieser sonderbaren, faszinierenden, von der Welt abgeschnittenen Stadt aufhielt, die eine hohe Mauer umgab wie eine mittelalterliche Burg. Viel später hatte ich mehrmals Gelegenheit, gemeinsam mit Dedecius Deutschland zu bereisen – immer mit dem Zug, seinem bevorzugten Verkehrsmittel. Ich bestaunte damals sein unendlich puritanisches Gepäck: es war gewöhnlich eine helle Ledertasche, in der ein Pyjama, eine Zahnbürste und ein paar Bücher oder Zeitschriften Platz fanden. So sah ich diesen legendären Menschen in seiner pittoresken, sympathischen Konkretheit.
Mehr oder weniger zur selben Zeit gründete Karl Dedecius in einer Darmstädter Jugendstilvilla das Deutsches Polen-Institut, das ich mehrfach besuchte. Doch vor Dedecius hatte es noch jemand anderen gegeben: ein gutes Dutzend meiner Gedichte hatte während meines Berlin-Aufenthalts Maria Kurecka übertragen, die Ehefrau Witold Wirpszas, Übersetzerin und Verfasserin einer Andersen-Biographie. Bei meinen ersten Autorenabenden in Berlin trug ich gewöhnlich ihre Übersetzungen vor; damals noch vom Lampenfieber gelähmt, denn das war wirklich ein schwieriges Debüt – das Vorlesen des eigenen Gedichts, das eine Reise in eine andere Sprache zurückgelegt hatte, sich immer noch zu meiner Verfasserschaft bekannte, aber Laute und Umlaute enthielt, die unsere Sprache nicht kennt. Dann fanden meine Gedichte das Interesse von Karl Dedecius, und recht schnell entstand der erste Gedichtband Stündlich Nachrichten (Co godzinę wiadomości), der 1984 im Berliner Oberbaum Verlag erschien. Derselbe Verlag hatte in diesen Jahren auch eine Anthologie der (damals) jüngeren polnischen Poesie unter dem Titel Landkarte schwer gebügelt veröffentlicht (ein kaum übersetzbarer Titel – eine Variation über das Bild „des vom Plätteisen der Fernzüge gebügelten Landes“). Mit der Zeit wechselten wir zum Carl Hanser Verlag, der 1989 in einem weißen Umschlag einen Band mit dem bescheidenen Titel Gedichte veröffentlichte, es folgten weitere Bücher (und auch eine andere, wichtige Freundschaft, die mit Michael Krüger, dem charmanten Dichter und Verleger).
Die deutsche Sprache war für mich etwas ganz Besonderes. Zwar teilte ich bis zu einem gewissen Grade das Misstrauen der offiziellen Propaganda gegenüber den Deutschen, dennoch kam ihrer Sprache in meiner Familie ein privilegierter Platz zu: mein Großvater Karol Zagajewski war Germanist und Verfasser vieler Lehrwerke für den Deutschunterricht. Als ich geboren wurde, war er bereits pensioniert. Von Vater wusste ich, dass Großvater seinen Kindern, dem Sohn und den beiden Töchtern, als sie klein waren, eingeschärft hatte, dass sie drei Dinge lernen mussten, um durchs Leben zu kommen: Schwimmen, Stenographie und eben Deutsch. Soweit mir bekannt erfüllte die Generation meines Vaters die Forderungen meines Großvaters. Ich selbst habe die Stenographie nie erlernt.
Für mich war Deutschland niemals nur blutgetränkte Zeitgeschichte; ich bin zu spät geboren, um wie Julia Hartwig im Gedicht „Victoria“ sagen zu können, dass ich mich freue, weil ich „nicht mehr das verhasste Raus! und Halt! hören werde“. Deutschland war für mich auch die in Gleiwitzer Stadthäusern festgehaltene Ästhetik des preußischen Jugendstils, der Stadtlandschaft meiner Kindheit, das ehemals deutsche Radio, die ehemals deutschen Linden und Eschen, der abscheuliche Kitsch der Weltpolitik, die Vertriebene aus Lemberg in diesen Kulissen angesiedelt hatte, später auch die Gedichte Rilkes, Hölderlins und Gottfried Benns, die Romane und Erzählungen Thomas Manns, Goethes Werke, die BeethovenQuartette, Schumanns Kammermusik – ein riesiger Ozean der Musik und Poesie. Nie hörte ich auf, deutsche Literatur zu lesen, immer wieder entdeckte ich in ihr neue Dichter und Philosophen für mich.
Ich verdanke der gewaltigen Arbeit von Karl Dedecius sehr viel. Ich verdanke ihm die Gegenwart meiner Bücher in deutschen Buchhandlungen, die Möglichkeit des Gesprächs und der Freundschaft mit so manchem deutschen Dichter und auch, dass ich in Deutschland recht gut bewandert bin, das, wie ich mich überzeugen konnte, ein modernes und offenes Land ist, kein Reservat teuflischer Revanchisten. Ich habe auch viele Deutsche kennengelernt, die Polen beistanden.
Im Grunde folgte – je länger ich jetzt darüber nachdenke, um so deutlicher sehe ich das – auch ich meinem anspruchsvollen Germanistengroßvater aufs Wort, denn was ist das Schreiben von Gedichten Anderes als eine Art verbesserter Stenographie (eine Metapher ist Gedankenblitz und Kürzel). Karl Dedecius übertrug diese Stenographie ins Deutsche. Und das Schwimmen – bald sind Ferien…
Adam Zagajewski, Juli 2007, Nachwort
Aus dem Polnischen von Ursula Kiermeier
– Der polnische Dichter hat den September über in Capdepera gelebt und gearbeitet. Eine Art Fazit. –
Adam Zagajewski lehnt sich an der steinernen Bank im Eingangsbereich des Estudi General Lul.lià zurück. „Kennen Sie das, wenn Sie gut gegessen haben, aber zu viel? Und dann hasst man sich selbst, weil man so voll ist?“ Der polnische Akzent legt sein Deutsch wie in Watte. Es ist bereits Nachmittag, fast schon früher Abend, und der Dichter kommt von einem Mittagessen mit einem reichen Sponsor des Projekts Habitació 2016. Im Rahmen der ersten Ausgabe dieses kulturellen Austauschprogramms hat der 71-Jährige den Monat September auf Mallorca, in einem Hotel Son Jaumell in Capdepera, verbracht. Morgens, erzählt er, habe er gearbeitet, nachmittags habe er Ausflüge gemacht oder sei an den Strand gegangen.
Ziel dieser ersten Ausgabe von Habitació eines Programms der Balearen-Uni und des katalanischen Pen-Clubs, ist es, einen Austausch zwischen Kultur und Tourismus zu schaffen. Und den Mallorquinern die Möglichkeit zu geben, den „bedeutendsten Lyriker Polens“ (FAZ) auf verschiedenen Lesungen kennenzulernen. Zagajewski wird auch immer wieder als Kandidat für den Nobelpreis für Literatur genannt. Viele seiner Bücher und Gedichtbände sind auch auf Deutsch erschienen, zuletzt Unsichtbare Hand und Die kleine Ewigkeit der Kunst: Tagebuch ohne Datum.
Patrick Schirmer Sastre: Als Sie Anfang des Monats der Presse vorgestellt wurden, drückten Sie die Sorge aus, dass ein Dichter in einem guten Hotel nicht zum Arbeiten kommen würde.
Adam Zagajewski: Nun, zu meiner Freude hat sich herausgestellt, dass es doch ganz gut klappt. Aber ich glaube, ich könne nicht ständig unter so üppigen Bedingungen leben. Ich bin da ein wenig asketisch, auch wenn meine Frau immer lacht, wenn ich das sage. Aber das ist auf keinen Fall ein Vorwurf an die Veranstalter, das versteht sich von selbst. Das wäre ja idiotisch. Ich habe meine Zeit hier sehr genossen, vor allem das Licht ist unvergleichlich auf der Insel.
Schirmer Sastre: Bei Habitació 2016 geht es um Kultur und Tourismus. Da Sie die Kultur vertreten, wie haben Sie den Tourismus wahrgenommen?
Zagajewski: Der Tourismus auf Mallorca ist nicht anders als auf Kreta oder Sizilien. Ich erachte es als problematisch, wenn es beispielsweise in der Nähe von Capdepera Siedlungen gibt, die nur für den Tourismus geschaffen sind. Sie sind künstlich, man spürt dort nicht das Leben wie etwa in Artà oder Capdepera, wo man alte Menschen und Kinder, Hunde und Katzen auf der Straße sieht, wo sich das ganze Arsenal des menschlichen Lebens zeigt. Aber das kann man den Besuchern nicht vorwerfen. Wenn man denkt, dass man selbst kein Tourist ist, sondern etwas Besseres, dann steckt Arroganz dahinter.
Schirmer Sastre: Für viele Menschen ist Mallorca ein Zufluchtsort, an dem sie ein wenig aus der realen Welt ausbrechen können. Haben Sie das auch so empfunden?
Zagajewski: Nein, man kann nicht aus der realen Welt flüchten. Ich habe ja auch hier Internet und lese jeden Morgen, was in Aleppo vor sich geht. Das kann man nicht vergessen. Man sollte es auch nicht vergessen. Denn wir baden hier, wir essen, wir trinken Wein. Und in Aleppo werden Menschen ermordet. Diese Gleichzeitigkeit ist nur schwer zu ertragen. Es ist sehr schwer, etwas zu tun für diese Menschen, aber man sollte es wenigstens wissen. Und man sollte versuchen zu helfen. Und ich kann genauso wenig etwas dafür wie Sie. Aber ich leide sehr darunter.
Schirmer Sastre: Kann die Poesie helfen?
Zagajewski: Nein, die Lyrik kann nicht helfen. Um es symbolisch zu sagen: Die Poesie ist etwas für Leute, die nicht in Aleppo sind. Sie ist für Menschen, die eine gewisse Sicherheit genießen. So war es schon immer.
Schirmer Sastre: Gleichzeitig gibt es viel Lyrik, die den Menschen in schwierigen Lebenssituationen Hoffnung machen soll.
Zagajewski: In der Tat, dafür gibt es viele Beispiele. Etwa bei Menschen, die im Gefängnis oder im Arbeitslager waren. Jene, die sehr belesen waren und für sich selbst Gedichte rezitiert haben. Das ist ein radikales Beispiel, wie Poesie helfen kann. Aber wenn die Schlacht tobt und die Bomben fallen, kann man mit Poesie wenig anfangen.
Schirmer Sastre: Ist Lyrik demnach ein Luxus?
Zagajewski: Nein, sie ist genauso wenig Luxus wie das Wasser ein Luxus ist. Aber man ist nur menschlich, wenn man unter menschlichen Bedingungen ist. Und dazu gehört auch die Lyrik. Das Beispiel mit dem Gefängnis ist nur eine Ausnahme.
Schirmer Sastre: In Ihrer Arbeit spielt die Erinnerung eine wichtige Rolle. Wenn Sie beobachten, was in Ihrem Heimatland vor sich geht oder was populistische Politiker in den USA, Deutschland und Frankreich von sich geben: Sind wir gerade dabei zu vergessen, was im 20. Jahrhundert geschehen ist?
Zagajewski: Nein, die Erinnerung mag geschwächt sein, aber verschwinden wird sie nicht. In meinem Heimatland gibt es zudem den Sonderfall der historischen Politik, bei der den Menschen aus nationalistischen Gründen gesagt wird, an was sie sich erinnern sollen. Aber Amnesie? Nein, wir leben in einer Zeit des Gedächtnisses. Aber die Politik sollte das Gedächtnis nicht kontrollieren wollen.
Schirmer Sastre: Sind Sie in Sorge?
Zagajewski: Ich mag diese Politik nicht. In Polen ist zwar keine faschistische Regierung an der Macht, aber die katholisch-nationalistische Richtung macht mich nervös. Und ich bin selbst Katholik, aber das hat für mich etwas mit der Seele zu tun und nicht mit der Nation.
Schirmer Sastre: Was bedeutet für Sie der Umstand, Katholik zu sein?
Zagajewski: Ich bin ein schlechter Katholik. Ich gehe nicht in die Kirche, aber ich bin ein religiöser Mensch. Ich glaube an die Transzendenz.
Schirmer Sastre: Beeinflusst das Ihre Arbeit?
Zagajewski: Was man in der Literatur religiös nennt, meint immer das Suchen, nie das Finden. Mich interessiert nur das Suchen. Ein Priester muss immer sagen: Ich habe es gefunden. Ein Dichter muss das nicht, auch kein katholischer. Ich sehe mich ohnehin eher als religiöser Mensch, der Gedichte schreibt. Und ich will nicht finden. Moment, das stimmt nicht: Vielleicht möchte ich finden, aber bisher habe ich es nicht gemacht.
Schirmer Sastre: Wissen Sie, wonach Sie suchen?
Zagajewski: Nun, ich möchte die Transzendenz erblicken, sie erleben. Und es gibt diese Momente der Meditation. Aber nein, ich weiß nicht genau, was ich suche.
BESUCH
Mein Freund der Dichter
Adam Zagajewski
ist gestorben
am Sonntagabend
gestern in Krakau
jetzt kam er zu Besuch
in der neuen Woche
gleich bei Suki vorbei
auf die Mondschaukel
brachte ihm das Vorwort
zu meinem Gedichtband
Miss Suki oder
Amerika ist nicht weit!
natürlich
wie zu erwarten
sprachen sie
gleich über Unsterblichkeit
Utz Rachowski
Markus Krzoska: „Es muss im Leben sterben, was Gedicht sein möchte“
dialogforum.eu, 19.5.2021
Antje Scherer: Sein Werk entstand nach Feierabend – Party für den Übersetzer Karl Dedecius in Lodz und Frankfurt (Oder)
MOZ, 19.5.2021
Internationales Symposium zum 100. Geburtstag von Karl Dedecius am 20.–21.5.2021 in Łódź. Panel 1: Karl Dedecius und Łódź
Daniel Henseler: Unterwegssein, Fremdheit, Heimkehren. Zur conditio des lyrischen Ichs in Adam Zagajewskis Gedichten.
Burkhard Reinartz: Versuch’s, die verstümmelte Welt zu besingen. Der polnische Schriftsteller Adam Zagajewski.
Nico Bleutge: Suche nach Glanz
Neue Zürcher Zeitung, 20.6.2015
dpa: Promi-Geburtstag vom 21. Juni 2020: Adam Zagajewski
stern.de, 19.6.2020
Adam Zagajewski liest seine Gedichte „Now that you’ve lost your memory“ und „Piano lesson“.
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