DIE MAUER
In memoriam Henryk Bereska
Er wirkte wie ein junger Mensch,
hatte ständig neue Projekte, Ideen;
er arbeitete ununterbrochen.
Gern erzählte er von dem Fenster
seiner früheren Berliner Wohnung,
von dem Fenster im Osten, von dem aus er jahrelang
die Mauer und den Westen sehen konnte,
das geheimnisvolle Land, unerreichbar.
Die Mauer, bedeckt mit Schnee, mit Reif,
im Mai glatt, regenfeucht,
dunkler werdend im Spätherbst;
die Mauer – das Ding an sich,
Zierde des deutschen Idealismus.
Als der Umbruch kam, die Wende,
wurde Henryk noch jünger –
er beschloß, ein neues Leben anzufangen,
das Leben eines freien Menschen,
des Bürgers eines freien Landes.
Nie konnte er jene verstehen,
die das Ende der Diktatur beklagten.
Er war, voll gemäßigter Begeisterung,
auch wenn sein Nachbar auf dem Land, wo er
sein Sommerhaus hatte, ein früherer Stasioffizier,
kein Wohlwollen in ihm weckte. Natürlich.
Er fuhr jetzt durch Europa, in Polen
wurde er geehrt und ausgezeichnet.
Es schien, als würde er noch lange leben,
als würde er für das Fenster im Osten
viele zusätzliche Jahre erhalten.
Doch es fiel eine andere Entscheidung, ein anderes Urteil.
Es gab weder Lohn noch Strafe,
nur Schnee, Reif und Nebel.
Übersetzung: Renate Schmidgall
ist ausgerechnet an einem 21. März, also am Welttag der Poesie, in Krakau gestorben. Noch vor nicht allzulanger Zeit wurde die Dichtung des weltweit geschätzten Lyrikers – wie übrigens auch die des polnischen Lyrik-Fünfgestirns Herbert, Miłosz, Rózewicz und Szymborska – so hoch eingeschätzt, daß er als vielfacher Kandidat auch Literaturnobelpreisinhaber hätte werden können: Seine von 1976 bis ’89 in Polen verbotenen Gedichte gelten als welthaltig, liebenswürdig sowie gedankenvoll und werden als eine treffende Antwort auf die Zerrüttungen des 20. Jahrhunderts angesehen und gewürdigt.
Ankündigung in Heiner Bastian: Poesiealbum 376, MärkischerVerlag Wilhelmshorst, 2023
Mit seiner ganzen moralischen Anspannung trifft Zagajewski den Hunger nach den Werten in der heutigen Welt.
Czesław Miłosz
Es passiert selten, daß die Muse der Dichtung ihre Stimme so klar und zugleich mit solcher Wucht erhebt, wie das im Falle Zagajewskis geschehen ist. Selten wird man zum Zeugen eines derlei intensiven Dialogs zwischen Eucerpe und Klio.
Joseph Brodsky
Zagajewski ist kein Ästhet. In der Dichtung gilt ein höheres Maß: Wehe einem Autor, der die Schönheit über die Wahrheit stellt.
Susan Sontag
Ein polnischer Dichter schreibt anders als seine westeuropäischen Kollegen. Schwer und ohne Hoffnung, sich davon befreien zu können, hängt ihm die Geschichte wie ein Stein um den Hals und hindert ihn, der Zukunft fröhlich entgegenzublicken… Seine Gedichte verdanken sich einer existentiellen Notwendigkeit.
Michael Krüger
Seine Gedichte las er immer mit einer festlichen, leisen und monotonen Stimme, als wollte er für wenigstens diesen kurzen Augenblick daran erinnern, daß die Dichtung, ganz im Sinne seines Freundes und Kollegen Joseph Brodsky, eine klare Stimme erheben müsse, da der allgemeine Zustand des Menschen, seines Daseins, ein dunkles und undurchsichtiges Unternehmen sei…
Artur Becker
MärkischerVerlag Wilhelmshorst, Klappentext, 2023
Zagajewski war der wichtigste polnische Dichter seiner Generation. Diese Huldigung ist der hohen ästhetischen und intellektuellen Qualität seiner Gedichte adäquat. Enge Freundschaften verbanden ihn im Exil mit seinen Kollegen Czesław Miłosz und dem russischen Dichter Joseph Brodsky. Er galt als „Dichter des Sichtbaren“, als humanistisch gebildeter Weltbürger, poetischer Traditionalist und visionärer Verteidiger einer brüchig gewordenen Zivilisation. Selten, daß die Muse ihre Stimme so klar und mit solcher Wucht erhebt.
MärkischerVerlag Wilhelmshorst, Klappentext, 2023
– Der polnische Dichter hat den September über in Capdepera gelebt und gearbeitet. Eine Art Fazit. –
Adam Zagajewski lehnt sich an der steinernen Bank im Eingangsbereich des Estudi General Lul•lià zurück. „Kennen Sie das, wenn Sie gut gegessen haben, aber zu viel? Und dann hasst man sich selbst, weil man so voll ist?“ Der polnische Akzent legt sein Deutsch wie in Watte. Es ist bereits Nachmittag, fast schon früher Abend, und der Dichter kommt von einem Mittagessen mit einem reichen Sponsor des Projekts Habitació 2016. Im Rahmen der ersten Ausgabe dieses kulturellen Austauschprogramms hat der 71-Jährige den Monat September auf Mallorca, in einem Hotel Son Jaumell in Capdepera, verbracht. Morgens, erzählt er, habe er gearbeitet, nachmittags habe er Ausflüge gemacht oder sei an den Strand gegangen.
Ziel dieser ersten Ausgabe von Habitació eines Programms der Balearen-Uni und des katalanischen Pen-Clubs, ist es, einen Austausch zwischen Kultur und Tourismus zu schaffen. Und den Mallorquinern die Möglichkeit zu geben, den „bedeutendsten Lyriker Polens“ (FAZ) auf verschiedenen Lesungen kennenzulernen. Zagajewski wird auch immer wieder als Kandidat für den Nobelpreis für Literatur genannt. Viele seiner Bücher und Gedichtbände sind auch auf Deutsch erschienen, zuletzt Unsichtbare Hand und Die kleine Ewigkeit der Kunst: Tagebuch ohne Datum.
Patrick Schirmer Sastre: Als Sie Anfang des Monats der Presse vorgestellt wurden, drückten Sie die Sorge aus, dass ein Dichter in einem guten Hotel nicht zum Arbeiten kommen würde.
Adam Zagajewski: Nun, zu meiner Freude hat sich herausgestellt, dass es doch ganz gut klappt. Aber ich glaube, ich könne nicht ständig unter so üppigen Bedingungen leben. Ich bin da ein wenig asketisch, auch wenn meine Frau immer lacht, wenn ich das sage. Aber das ist auf keinen Fall ein Vorwurf an die Veranstalter, das versteht sich von selbst. Das wäre ja idiotisch. Ich habe meine Zeit hier sehr genossen, vor allem das Licht ist unvergleichlich auf der Insel.
Schirmer Sastre: Bei Habitació 2016 geht es um Kultur und Tourismus. Da Sie die Kultur vertreten, wie haben Sie den Tourismus wahrgenommen?
Zagajewski: Der Tourismus auf Mallorca ist nicht anders als auf Kreta oder Sizilien. Ich erachte es als problematisch, wenn es beispielsweise in der Nähe von Capdepera Siedlungen gibt, die nur für den Tourismus geschaffen sind. Sie sind künstlich, man spürt dort nicht das Leben wie etwa in Artà oder Capdepera, wo man alte Menschen und Kinder, Hunde und Katzen auf der Straße sieht, wo sich das ganze Arsenal des menschlichen Lebens zeigt. Aber das kann man den Besuchern nicht vorwerfen. Wenn man denkt, dass man selbst kein Tourist ist, sondern etwas Besseres, dann steckt Arroganz dahinter.
Schirmer Sastre: Für viele Menschen ist Mallorca ein Zufluchtsort, an dem sie ein wenig aus der realen Welt ausbrechen können. Haben Sie das auch so empfunden?
Zagajewski: Nein, man kann nicht aus der realen Welt flüchten. Ich habe ja auch hier Internet und lese jeden Morgen, was in Aleppo vor sich geht. Das kann man nicht vergessen. Man sollte es auch nicht vergessen. Denn wir baden hier, wir essen, wir trinken Wein. Und in Aleppo werden Menschen ermordet. Diese Gleichzeitigkeit ist nur schwer zu ertragen. Es ist sehr schwer, etwas zu tun für diese Menschen, aber man sollte es wenigstens wissen. Und man sollte versuchen zu helfen. Und ich kann genauso wenig etwas dafür wie Sie. Aber ich leide sehr darunter.
Schirmer Sastre: Kann die Poesie helfen?
Zagajewski: Nein, die Lyrik kann nicht helfen. Um es symbolisch zu sagen: Die Poesie ist etwas für Leute, die nicht in Aleppo sind. Sie ist für Menschen, die eine gewisse Sicherheit genießen. So war es schon immer.
Schirmer Sastre: Gleichzeitig gibt es viel Lyrik, die den Menschen in schwierigen Lebenssituationen Hoffnung machen soll.
Zagajewski: In der Tat, dafür gibt es viele Beispiele. Etwa bei Menschen, die im Gefängnis oder im Arbeitslager waren. Jene, die sehr belesen waren und für sich selbst Gedichte rezitiert haben. Das ist ein radikales Beispiel, wie Poesie helfen kann. Aber wenn die Schlacht tobt und die Bomben fallen, kann man mit Poesie wenig anfangen.
Schirmer Sastre: Ist Lyrik demnach ein Luxus?
Zagajewski: Nein, sie ist genauso wenig Luxus wie das Wasser ein Luxus ist. Aber man ist nur menschlich, wenn man unter menschlichen Bedingungen ist. Und dazu gehört auch die Lyrik. Das Beispiel mit dem Gefängnis ist nur eine Ausnahme.
Schirmer Sastre: In Ihrer Arbeit spielt die Erinnerung eine wichtige Rolle. Wenn Sie beobachten, was in Ihrem Heimatland vor sich geht oder was populistische Politiker in den USA, Deutschland und Frankreich von sich geben: Sind wir gerade dabei zu vergessen, was im 20. Jahrhundert geschehen ist?
Zagajewski: Nein, die Erinnerung mag geschwächt sein, aber verschwinden wird sie nicht. In meinem Heimatland gibt es zudem den Sonderfall der historischen Politik, bei der den Menschen aus nationalistischen Gründen gesagt wird, an was sie sich erinnern sollen. Aber Amnesie? Nein, wir leben in einer Zeit des Gedächtnisses. Aber die Politik sollte das Gedächtnis nicht kontrollieren wollen.
Schirmer Sastre: Sind Sie in Sorge?
Zagajewski: Ich mag diese Politik nicht. In Polen ist zwar keine faschistische Regierung an der Macht, aber die katholisch-nationalistische Richtung macht mich nervös. Und ich bin selbst Katholik, aber das hat für mich etwas mit der Seele zu tun und nicht mit der Nation.
Schirmer Sastre: Was bedeutet für Sie der Umstand, Katholik zu sein?
Zagajewski: Ich bin ein schlechter Katholik. Ich gehe nicht in die Kirche, aber ich bin ein religiöser Mensch. Ich glaube an die Transzendenz.
Schirmer Sastre: Beeinflusst das Ihre Arbeit?
Zagajewski: Was man in der Literatur religiös nennt, meint immer das Suchen, nie das Finden. Mich interessiert nur das Suchen. Ein Priester muss immer sagen: Ich habe es gefunden. Ein Dichter muss das nicht, auch kein katholischer. Ich sehe mich ohnehin eher als religiöser Mensch, der Gedichte schreibt. Und ich will nicht finden. Moment, das stimmt nicht: Vielleicht möchte ich finden, aber bisher habe ich es nicht gemacht.
Schirmer Sastre: Wissen Sie, wonach Sie suchen?
Zagajewski: Nun, ich möchte die Transzendenz erblicken, sie erleben. Und es gibt diese Momente der Meditation. Aber nein, ich weiß nicht genau, was ich suche.
ADAM ZAGAJEWSKI IN EWIGKEIT
In jedem Tag ist ein ganzes Leben enthalten
A. Z.: „Orangen“
Weil die Götter uns wohlgesonnener sind als gedacht
und Fehler verzeihen, schenken sie uns
unter der Woche Nachmittage auf leeren
Spielplätzen oder lassen uns einem Mädchen zuhören,
das nach der Schule „Für Elise“ in der Wohnung
nebenan übt.
aaaaaFrühlingsregen
sprüht durch die Gardinen im Schlafzimmer-
fenster; Straßenlaternen
flimmern auf der anderen Seite
des Parks,
und, ganz zuletzt,
ein einfaches Aufleuchten,
eine Offenheit, wie das Licht in bestimmten Filmen
von Wajda
oder Vittorio de Sica;
wenn – für einen kurzen Moment
im Hier und Jetzt – etwas innehält
und das Räderwerk der Welt
verharrt und in kleinsten Teilen
verweht wird im Wind;
oder, tief in den Wäldern, wo Güterwaggons
rangiert werden, die geleert
heimwärts zuckeln
durch eine Nacht, die nicht vergibt.
Ich frage mich, wie er
die Ewigkeit erreichte:
diesen Moment, wenn der Traum
der Zeit verlischt
wie alles andre auch
im Hier und Jetzt.
Ich frage mich,
was er als Letztes sah,
bevor er losließ:
welchen Fetzen
eines Kleids,
welche Alltäglichkeit?
„Eine Gruppe von Pferden
steht im Nebel,
Büschel von Brennesseln,
Mäuse in ihren Gängen aus Heu,
ein Duft nach frischem Klee,
spiegelglatte Sommermorgen.“
Ich versuche, die richtigen Worte zu finden,
aber alles was mir einfällt, ist:
wie er an jenem Tag aussah,
als wir uns zum ersten Mal begegneten,
ein Flüchtling
von Fra Angelico, teils
skeptisch, teils
ein Engel der Verkündigung,
so stand er ganz allein
in den Gärten von Chamartin,
als würde er sich an etwas erinnern,
das ihm ganz unbekannt war.
John Burnside
Aus dem Englischen von Michael Krüger
Klaus Walther: Wer sollte da Zweifel haben, die Welt sei nicht schön?
FreiePresse, 23.1.2019
Andreas Schirneck singt Gedicht von Utz Rachowski
am 1.10.2015 im Malzhaus Plauen bei „Jürgen Fuchs nicht zu vergessen“, Literarische Blicke auf unser Land
Schriftstellerlesung Utz Rachowski & Udo Scheer Musikalische Begleitung Andreas Schirneck
Daniel Henseler: Unterwegssein, Fremdheit, Heimkehren. Zur conditio des lyrischen Ichs in Adam Zagajewskis Gedichten.
Burkhard Reinartz: Versuch’s, die verstümmelte Welt zu besingen. Der polnische Schriftsteller Adam Zagajewski.
Nico Bleutge: Suche nach Glanz
Neue Zürcher Zeitung, 20.6.2015
dpa: Promi-Geburtstag vom 21. Juni 2020: Adam Zagajewski
stern.de, 19.6.2020
Adam Zagajewski liest seine Gedichte „Now that you’ve lost your memory“ und „Piano lesson“.
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