Adolf Endler: Kiwitt, kiwitt

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Adolf Endler: Kiwitt, kiwitt

Endler-Kiwitt, kiwitt

ELEGIE NEUNUNDSIEBZIG

Zwischen Süden, Norden, West und Ost
Ich – und krieg’ seit Monden keine Post!
Fällig wär demnächst ein Reim auf Pest,
Eh’ ich mich davonmach’ Richtung West…

 

 

 

Editorische Notiz

Dieses Buch ist die erste Veröffentlichung aus dem Nachlass Adolf Endlers. Die Gedichte und Capriccios sind noch vom Autor selbst in einer Klemmmappe abgelegt worden, die er für sich handschriftlich „Aus der Mappe ,Quatsch‘“ betitelte.

Die im ersten Abschnitt unter dem von Endler bestimmten Titel Kiwitt, kiwitt versammelten 47 kurzen Gedichte hat Adolf Endler in seinen letzten Lebensjahren immer wieder überarbeitet, d.h. durch handschriftliche Streichungen, Hinzufügungen oder Ersetzungen geändert; zuweilen finden sich auch Überklebungen. Ebenso hat er mehrfach Reihenfolge bzw. Kontextänderungen vorgenommen. Die in diesem Buch abgedruckten ausgewählten Faksimiles sollen davon einen Eindruck geben. Dass Endler auch im Bildmedium mit Collagen arbeitete, zeigt etwas von seiner Arbeitsweise auch im Medium der Sprache an. Endler hat diese Texte weitgehend datiert, mitunter (allerdings nicht immer) hat er dabei das Datum der Überarbeitung aufgeführt. Bei den Gedichten, die hier ohne Datierung abgedruckt werden, ließ sich das Entstehungsdatum nicht präzis ermitteln.
Zumeist stammen die Gedichte aus den achtziger Jahren, einige aus den Siebzigern, mindestens eines ist noch deutlich älter. Spätestens seit 1978 waren für Adolf Endler in der DDR die Publikationsmöglichkeiten stark eingeschränkt; er konzentrierte sich auf das Schreiben von Prosa, die vor allem im (Westberliner) Rotbuchverlag erschien. Die Gedichte sind „nebenher“ entstanden, aus Spaß an Nonsens-Versen, mit denen Endler den immer absurder werdenden Verhältnissen in der DDR beizukommen versuchte, voller spielerischer Kraft und mit einem aus der Tiefe kommenden Gelächter.
Vier der 47 Gedichte sind zuvor in anderen Fassungen schon veröffentlicht worden: Die Erstfassungen findet man in kleineren Lyrik-Editionen. So ist das Gedicht „In einem anderen Land“ 1979 im Quartheft 74 im Verlag Klaus Wagenbach unter dem Titel „Reisebild: Der Vierzigjährige“ erschienen. „Nachrichten von der Elite“ wurde erstmals 1988 in Akte Endler. Gedichte aus 30 Jahren unter dem Titel „Elitär / Für B.“ gedruckt. Außer der Titeländerung hat Endler hier noch Umstellungen im Text vorgenommen. Das Gedicht „Glasnost“ wurde erstveröffentlicht in: Adolf Endler, Citatteria & Zackendullst, Berlin 1991. Die Widmung „Für Volker Braun“ gab es damals noch nicht, sie wurde von Endler später handschriftlich auf dem Manuskript hinzugefügt. Im Gedicht „Menschenbruder“, ebenfalls in „Citatteria & Zackendullst“ zu finden, wurde der Schluss leicht überarbeitet.
Zusätzlich zu den von Endler in der Mappe zum späteren Druck vorbereiteten Gedichten wurden lediglich zwei unveröffentlichte Texte in dieses Buch aufgenommen: „My Generation“ und „Wunsch“, an beiden hat Endler bis zu seinem Lebensende gearbeitet, ohne sie ganz vollenden zu können. Das Fragmentarische bleibt so in den abgedruckten Fassungen bewahrt.

Unter dem Titel „Capriccios“ sind in einem zweiten Abschnitt kurze Texte versammelt, meist bestehend aus nur einer Zeile, die Endler unter den Überschriften „Aus einem Notizbuch“ und „Surreales Notizbuch“ abgelegt hat. Adolf Endler schrieb diese „poetischen Gebilde“ ab der zweiten Hälfte der neunziger Jahre. Hinzu kommt ein Blatt solcher Notizen, an denen Endler in den Jahren 2008 und 2009 immer wieder arbeitete und korrigierte. Das Blatt wurde allerdings nicht mehr in der Klemmmappe abgelegt und von uns als „Letzte Notizen“ überschrieben. Ans Ende wurde das Gedicht „Wunsch“ gestellt, nur als Faksimile, weil eine eindeutige Wiedergabe im Drucksatz schwer möglich schien.

Brigitte Endler, Thorsten Ahrend, Nachwort, Juni 2015

 

Adolf Endler

hat seine Gedichte wieder und wieder überarbeitet, bevor er sie zum Druck freigab. An vielen änderte er über Jahre und Jahrzehnte immer wieder Details. Selbst die kürzesten und pointiertesten Texte nahm er sich immer wieder vor, stellte sie neu zusammen, arrangierte überraschende Kontexte. So schaffte er es, ihnen eine Leichtigkeit zu geben, die all diese Arbeit nicht mehr spüren lässt. Seine Gedichte haben oft die Urgewalt des Moments, eine alles überwindende Kraft homerischen Lachens – und eine große Zartheit.

Wallstein Verlag, Klappentext, 2015

 

Hundstagsgewitterplatzregen

Kiwitt, kiwitt: Der unheimlich gewitzte Nachlass von Adolf Endler ist ein nachklingender Ohrwurm. Auch fliegen Motive wie Fledermäuse umher, ein schneller Hauch, aber nicht zu fassen. –

Am Ende war der Dichter, der Rheinländer in Ost-Berlin, nicht geblendet vom eigenen Werk, er war darüber hinaus. Keine zwei Jahre vor seinem Tod sagte Adolf Endler (1930–2009) in einem Interview:

Ich muss nicht unbedingt noch Gedichte schreiben. Es liegen noch genug in meinem Schrank, die vielleicht nach meinem Tod als Irrsinns-Gedichte publiziert werden.

Dieser Schrank wird jetzt einen Spalt geöffnet. Endlers immer wieder neu aufflammendes Gelächter, das als Ohrwurm nachklingt, ertönt wieder. Der titelprägende Aufmarsch heißt „Wachkompanie“:

Kiwitt kiwitt
Paradeschritt
Wie spritzt der Split
Kiwitt kiwitt
Parade ei
Paradeschritt
Kuckuck
Kuckuck
Rufts aus dem Wald

kiwittkiwitt
paradeschritt
kuckuckkuckuck
rufts ausm wald
ruckediguh
blut ist im schuh

Das klingt wie Jazz.
Brigitte Schreier-Endler hat aus dem Nachlass Gedichte und „Capriccios“ zusammengestellt, die ihr Mann in einem Konvolut, betitelt „Aus der Mappe ,Quatsch‘“, abgelegt hatte. Vollendetes, Halbfertiges, Fragmente. Endgültig Verworfenes gab es bei ihm kaum, alles schien auf Bearbeitung zu harren. Oder zumindest auf „eine Lesung mit stotternden Händen.“ Die beigefügten Faksimiles geben ein lebhaftes Bild von Korrektur und Überschreibung.

Es gibt bei mir eigentlich keine spontane Produktion, sondern eine sich über viele Jahre hin erstreckende Entwicklung von Texten, Gedichten wie auch Prosastücken.

Vieles wurzelt in den siebziger und achtziger Jahren. Spätestens 1979, mit dem Ausschluss aus dem Schriftstellerverband, waren für Endler fast alle Publikationsfäden in der DDR „behördlich“ zerrissen. Er vertiefte sich unverdrossen in seine „Tarzan-am-Prenzlauer-Berg“-Prosa, die im West-Berliner Rotbuchverlag erschien. Gedichte wurden zu Gelegenheiten, seine unerschöpflichen Nonsens-Verse verlachten das DDR-Gestell aus Misere und angehaltener Zeit. Sie stehen im markanten Gegensatz zur gutschläfrigen Behaglichkeit des ostdeutschen Alltagslebens und gewinnen nicht selten surrealistische Höhe. Die Verhältnisse griffen an die Kehle, manchmal ragt in die lyrischen Fragmente auch ein Verstummen rein. Die gefallene Utopie bleibt unerschöpfliche Vorgeschichte, ein langer Umweg bei einem Dichter, der nichts außer Acht lassen kann.
Endler wusste um den Glücksfall des treffenden Wortes, so brauchte er die allmähliche Gelegenheit für die Schärfe der Metapher. Er hat vieles angeschlagen, aber nicht alles ausgeführt. Als Autor war er universalistisch, geprägt von einer uneingeschränkten Kulturauffassung. Er verströmte Blitzeinfälle und hatte wahnsinnigen Spaß an seinen Erfindungen und Bezüglichkeiten, an seinen Moment-Gewittern widersprüchlicher Anmutungen und Empfindungen. Klingelstreiche und Knallfrösche darunter. Ein „Mord in Crimmitschau“, Wolf Biermann gewidmet, voller Halbtöne:

Im Schülerinnentornister
der kleidsam zerstückelte Ohm.
Ei, was für ’ne Existenz z’guterletzt!
– Dafür sind wir im Herbst 89
auf die Straße gegangen, Marie?

Doch den Stimmungen der Momenthaftigkeit vertraute er nicht. So feilte er bis zuletzt: am Vers, der noch nicht stimmt, am Ton, dem noch eine Schwingung fehlt, an der Schärfe der Metapher.
Entsprechend groß ist die hinterlassene Zettelwirtschaft – das versprengte Dauergelächter des vor sechs Jahren verstorbenen Dichters. Gespottet wird auch jeder Zuordnung.

Meine Generation bestand im Januar 63 aus circa sieben bis dreizehn relativ ungewöhnlichen Gestalten
tollen Personen. (Ich erinnere an die ,Sächsische Dichterschule‘ and so on.
und all diesen Summs
Quatsch.) Im Herbst 99 stehe ich absolut einzig da
also allein
Falten Plums, Bumms.

Grotesk verkocht, das kommt auch vor.

Hundstagsgewitterplatzregen
ein Labsal irgendacht
der Liebsten zugedacht.

Auch fliegen Motive wie Fledermäuse, ein schneller Hauch, aber nicht zu fassen. Aus Notizbüchern ein flüchtiges Wort hier, eine surreale Wendung dort, noch nicht bis zum Vers entschieden und nur sich selbst bedeutend. Als Hüter erlebnisbeladener Wahrheiten preist Endler auch den strömenden Witz nackter Worte: „Einzelliges Lispeln“ oder „Brotlose Brüste“. Dann wieder auffliegende Motivreihen. „Buster Keaton zieht sein stummstes Schweigegesicht perfekt in die Länge.“ Noch besser: „Der Traum eines Steins: Buster Keaton.“ Aber auch Warnsignale schrecken die sich rechtfertigende Umgebung im vegetativen Seelenfrieden auf. Über einen, der sich zu entlasten sucht: „Ein Dementi, das vierzig Minuten lang währt, ist keines.“
Adolf Endlers unersättlicher Schreibdrang, seine glühende Neugier, die seltene Verbindung von schweifender Phantasie und treffender Pointe, seine Skepsis ohne Resignation und nicht zuletzt sein radikaler Individualismus machen diese versprengten Gedichte und Capriccios, ja selbst die Fragmente singulär. Schonungslose, auflodernde Verse, sie suchen, versteckt oder offen, immer einen letzten Sinn: „Einmal noch im Leben einen ungebrochenen Punkt setzen zu dürfen…“

Jürgen Verdofsky, Frankfurter Rundschau, 11.9.2015

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Beat Mazenauer: Den Papiertiger reiten
literaturkritik.de, September 2016

Christian Eger: Kiwitt, kiwitt, Paradeschritt
Berliner Zeitung, 20. 8. 2015

Manfred Papst: Adolf Endler: Kiwitt, kiwitt
Neue Zürcher Zeitung, 30. 8. 2015.

 

 

Last not least

in ADOLF ENDLER hatte der Surrealismus einen engagierten Sympathisanten, besonders zu den Zeiten in der DDR, als es so ein Unding wie die Überführung des Traums in die Realität schon gar nicht mehr geben durfte. Er hat damals und dort wie niemand sonst in Prosa und Gedichten die herrschende Realität des verdrängten Alptraums überführt, der zunehmend mit ihr identisch wurde. Infolge seiner scharfen Verhältniskritik – fast könnte man sie eine neue kritisch-paranoische Methode mit Lachsalven auslösenden Mitteln nennen – waren seine Veröffentlichungen für die Literaturwalter des sozialistischen Realismus selber zu einer Art Alptraum geworden. Aus dem schwarzen Humor, wie Breton ihn verstand, bildete Adolf Endler ein ganz eigenes Kriterium zur Beurteilung und Beschreibung der Lebensereignisse, und entdeckte mit ihm immer wieder übersehene Charakterzüge oder Intentionen anderer Poesien. Er war auch der erste, der auf Richard Anders in Ostberlin aufmerksam machte. Übrigens ist Richard Anders mit seiner Übersetzung eines Textes von Jean-Pierre Duprey in Bretons Anthologie des Schwarzen Humors vertreten. Und Jacques Vaché, in dessen Haltung der Ursprung dieser Humorauffassung begründet war, hat übrigens das „h“ in die „Pohesie“ geschoben, bevor es sie dann zum Gellu Naum hinzog. Und Gellu Naum zog mit ihr weiter, wie zum Beispiel in seinen folgenden Versen:

Aber die Schuhe sind allein in die Freiheit aufgebrochen
und ich habe meine Füße darin vergessen

Andreas Koziol, aus einem Vortrag

Adolf Endler – eine kleine Apologie

Als Lyriker wahrgenommen habe ich Adolf Endler zum ersten Mal, als Nackt mit Brille 1975 bei Wagenbach erschien. Als Essayist war er mir seit 1971/72 durch seine Beiträge zum Streit über die Besonderheiten der Lyrik in der DDR in Sinn und Form und den Weimarer Beiträgen vertraut. Die Aufsätze „Im Zeichen der Inkonsequenz“, „Weitere Aufklärungen“ und „Klärender Meinungsstreit“, Klassiker der Essayistik in der DDR, waren für mich höchst einleuchtende Interventionen gegen das Kategoriengeklapper nicht nur der Literaturwissenschaft/Literaturkritik in der DDR, waren wir doch an der Hamburger Universität in nicht wenigen Seminaren gleichfalls unermüdlich bestrebt, die endgültige Realismus-Formel zu finden. Hier nun zeigte ein Praktiker, daß höchst eigenwillige Autoren mit divergierenden poetischen Konzeptionen einfach gute Gedichte schrieben – Abschied von der „Gouvernante Germanistik“. Endler selbst sah ich da noch nicht, konnte ich wohl noch nicht sehen, als Lyriker, sondern als eine Art begleitenden Theoretiker, wogegen er sich schon damals zu Recht gewehrt hätte.
Dann – der leider lückenhafte Gedichtband Verwirrte klare Botschaften war 1979 in Rowohlts Reihe das neue buch herausgekommen – erschien 1980, Bernd Jentzsch sei’s gedankt, im Walter-Verlag/Olten das schmale Bändchen Nadelkissen, eine Fundgrube zumindest für diejenigen, die sich damals und womöglich auch noch heute mit der Literatur aus der DDR beschäftig(t)en.
Von diesem Augenblick an begann ich, Freunde, Bekannte, Seminarteilnehmer mit Endler-Lesefrüchten zu erfreuen: Unverständnis habe ich dabei nie erlebt; als ich beispielsweise zu Beginn der achtziger Jahre im Rahmen eine Bildungsurlaubs zumeist älteren Damen und Herren („sozialdemokratisches Urgestein“) die „Hinweise zur selbständigen Analyse eines Gedichts“ (aus Nadelkissen) vorlas, waren – da war ich ganz sicher – der Endler-Gemeinde neue treue Mitglieder hinzugewonnen. Auch, so erschien es mir, blieb ein wenig von der Originalität des „melancholisch-pathetisch-apathisch-cholerischen“ Autors (Endler über Endler) an mir hängen. Es hat mich nicht gestört – Glück des ein verständig aufgenommenen Zitierens.
Ob nun die Freunde und Bekannten nach Verlesung solcher absoluten Hits wie „Ode auf eine vernachlässigte Sportart“, „Die düstere Legende vom Karl Mickel“ oder „Aus den Heften des irren Fürsten: Ballade“ hocherfreut in die nächste Buchhandlung hasteten und die Regale stürmten? Ich hatte da meine Zweifel. Bei der nächsten Erwähnung Endlers grinsten sie wiederum verstehend, machten aber doch einen unwissenden Eindruck. Sie mußten also, Verzeihung, geschult werden. Wenn sie Endlers Bücher nicht kauften, vielleicht lasen sie gar nicht? Sie bekamen Endler-Bücher dann eben geschenkt, getreu dem hoffnungsvollen Satz von Heißenbüttel aus dem Jahre 1983:

Vielleicht, so hoffe ich, wird sich eines Tages eine Endlergemeinde bilden. (Frankfurter Rundschau, 16.4.1983)

Da mußte er die Bundesrepublik meinen; denn in der DDR, das wußte ich inzwischen, existierte diese Gemeinde; also – dumme Schlußfolgerung – war „die DDR“ weiter.
Dort war 1981 bei Reclam die bis dahin umfassendste Ausgabe seiner Gedichte unter dem provozierenden Titel Akte Endler in hoher Auflage herausgekommen. Die Prosa, daran sollte sich bis zum Ableben der DDR nichts ändern, war ohne Veröffentlichungschance, wurden doch in ihr die kleinen Hausgötter nicht nur des Literaturbetriebs in der DDR demontiert; aber die Endler-Gemeinde und ihre Feinde kannten die Texte. In der Bundesrepublik geschahen die Veröffentlichungen, zumeist wohlwollend, nicht aber eben enthusiastisch rezensiert. Im übrigen – die modernen Antiquariate hatten immer noch Kapazitäten.
Die größere Leserzahl vermutete ich in der DDR; deswegen – „ich sag’s mal so“ (Originalzitat eines nicht so redegewandten Kollegen) – war „die DDR“ noch nicht ganz verloren.
Für einen Fan, da treffen sich Fan und Wissenschaftler, war nunmehr das Sammeln angesagt – Endleriana.
Von diesem Zeitpunkt an kein vordringliches Interesse mehr an „der DDR-Literatur“, sondern an Autoren, die in der DDR schrieben, nicht mehr das Allgemeine, sondern die eigenwilligen Individualitäten, nicht mehr „Die Formalismuskampagne“, „Der Bitterfelder Weg“, „Der VIII. Parteitag der SED 1971 und seine Folgen“, sondern Endler, Fühmann, Fries, Hein, Braun, de Bruyn, Wolf, Müller, Mierau, Dieckmann, um nur die mir wichtigsten Namen zu nennen.
Keiner aber, es war nicht Arbeitsökonomie, lud dazu ein wie Endler, auch Entlegenes haben zu müssen. Dem Autor zu schreiben: „Schicken Sie doch bitte einfach immer alles!“ – es wäre mein Wunsch und doch vermessen gewesen; zudem: Das Suchen hatte ja seinen Reiz. Noch einmal Heißenbüttel:

Immer wenn ich aus diesem Projekt (Nebbich – M. B.) etwas zu lesen bekomme, lese ich es mit höchster Anteilnahme, mit höchstem Vergnügen. Kritische Randbemerkungen, die sich erheben, werden weggespült von dem Drang, über diese Literatur informiert zu werden. Ist das das, was für sich selber spricht? Und erhält sich, für mich, der Drang, dies lesen zu wollen, nicht frischer, wenn ich mich um diese Bruchstück erst bemühen muß, wenn ich sie nicht einfach wohlfeil im Warenumlauf auftauchen sehe? Das Gerücht, so möchte ich zuspitzen, ist dem Literarischen der Literatur günstiger als die Werbung. Die Unverkäuflichkeit sorgt eher dafür, daß etwas hängenbleibt als die Bestsellerauflage. (Frankfurter Rundschau, 19.3.1983)

Als ich ungefähr zur gleichen Zeit das erste Mal an Endler schrieb, fiel die Anfrage streng objektiv aus. Ein Artikel für das Kritische Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur sollte entstehen; der Autor wurde höflichst um Ergänzung der Bibliografie gebeten. Am 22.3.1981 antwortete er:

(…) daß Sie sich in meinen frühesten Dingen herumtreiben, dazu kann ich Ihnen wohl kaum gratulieren! Warum lassen Sie mich nicht einfach um 65/66 das Licht der Welt erblicken, als ich zusammen mit Karl Mickel die Anthologie In diesem besseren Land herausgab, oder noch besser, um 1971, oder, das wäre am allerbesten, etwa 1976?

Ich fand, er hatte unrecht und recht zugleich: unrecht, weil mich voraussetzungsloses Schreiben nicht interessiert, zumal bei einem Autor wie diesem, der sich von den Unsäglichkeiten und Naivitäten früherer Arbeiten meilenweit entfernt hatte; recht, weil die verständliche Sorge, Abgelegtes, Abgestoßenes wieder vorgelegt zu bekommen, mit penetranter Bosheit vielleicht gar, im DDR-BRD-Kontext nicht so abwegig war; die dümmlichen, selbstgerechten Nachläufer dieses wenig ertragreichen Entlarvungsverfahrens finden sich ja heute allenthalben. Die Versuchung, im Falle Endlers so zu verfahren, verspürte ich nicht; ich verspüre sie nur mitunter im Falle von Autoren, die heute ihre Biografie zu glätten, zu verfälschen suchen: Wie wäre es mit einer Studie zu Rolf Schneider… also, mich interessiert es denn doch zu wenig…, diese ganze schleimige Schreibe.
Sammler müssen suchen und werden immer fündig; mal – ich bin wieder in den frühen Achtzigern – in der Hermannstraße, mal im Freibeuter, mal im litfass, mal im Tintenfisch, mal in dieser und jener Anthologie; und Sammler wurden belohnt, als 1985 erstmals ohne Nennung von Gründen bei Rotbuch etwas zusammenhängendes (kann man davon im Falle Endlers überhaupt sprechen?) Prosafutter geboten wurde. Als dann Schichtenflotz (1987), Vorbildlich schleimlösend (1990) und Cittateria & Zackendullst (1990) folgten, waren weitere Bausteine zu dem immer wieder ironisch angekündigten Romangiganten Nebbich da – Endlers andere „Geschichte der Empfindsamkeit“ ist eben unabschließbar. Die Tagebücher aus den 70er und 80er Jahren sind in Arbeit; außerdem, nicht überraschend zu erfahren, entsteht „ein fiktives Forschungsprogramm mit völkerkundlichen Beobachtungen über irgendwelche Stämme und deren Sprache.“ (Endler in der Berliner Zeitung, 24.6.1991)

„Ich sag mal so“ (s.o.) – wir haben zwei große Prosawerke, die, indem sie sich von der DDR verabschieden, diese recht eigenwillige Welt zum Vorwurf haben: Johnsons Jahrestage (früher Abschied) und Endlers Nebbich (Abschied seit ca. 1977/78), wir haben den Chronisten des Traums, Bastler „gefährlicher Sprengkörper“.
Endler ist bescheiden und sieht das alles nicht so idealtypisch, wie ich es hier mehr behaupte als belegen kann:

Ich wollte letztendlich etwa seit meinem vierzigsten Lebensjahr auf luftig höhnische Phantasmagorien hinaus, auch mit den Zeitereignissen eher spielend verfahren. Gelungen ist es mir nie oder bestenfalls in Ansätzen. (Freitag, 1. Januar 1993)

Sicher ist nun aber folgendes: Wenn es denn stimmte, daß sein Werk „dem lebendigen Herzen eines Staatsvolkes abgehorcht (Endler, übernehmen Sie! – M. B.), gleich nach Geburt und Abnabelung zum Fossil geworden, ein Objekt für Archäologen unserer Nationalhistorie“ (Sabine Brandt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 27.6.1990) geworden wäre, so dürften doch so recht eigentlich keinen dichtungsliebenden Menschen die zu großen Füße der Göttingerinnen, die Heine so erstaunt zur Kenntnis nehmen mußte, mehr interessieren. Das Motto für Literaturwissenschaft und Literaturkritik lautete dann selbstkastriert:

Ich verstehe nicht auf Anhieb – bitte Historiker grabe du!

Doch – schon ziehe ich ihn hervor – es wird uns Hilfe und Rettung zuteil in der Gestalt eines guten Freundes, der nicht dem Fluch unterliegt, sich berufsmäßig mit der Literatur der DDR zu beschäftigen; gerade lacht er schallend über eine kalauernde Karikatur einer DDR-Schriftstellergröße, die nun ohne Einfluß ist.
Ich nehme mal an, daß er in den Gestalten des Endler-Kosmos nicht boshaft geschilderte, historisch erledigte Nichtigkeiten entdeckt, sondern etwas Verallgemeinerungsfähiges gefunden hat. Diesen Leser will ich loben.
Bleibt u.a. die Antwort auf die Frage offen, ob wir noch eine Utopie brauchen. Ich schließe mit den Lieblingszeilen eines Endler-Apologeten an:

Oh der windigen Winterwelt!
Wie ganz aus Geheimnis gemodelt!
Wie aus Sternenstaub hergestellt!
All die Wochen, die man verrodelt…
Doch plötzlich…

Wie’s weitergeht, wird hier nicht verraten.

Nachsatz: Adolf Endler bliebe auch dann für mich noch der wichtigste Autor der DDR, wenn sich herausstellen sollte, daß er als Agent/informeller Mitarbeiter einen schwungvollen Nachrichten- und Waffenhandel mit zahlreichen finsteren Mächten getrieben hätte. Ich versichere dies um so gelassener, als ich mir ganz sicher bin: It wasn’t him.

Manfred Behn, aus Karl Deiritz und Hannes Krauss (Hrsg.): Verrat an der Kunst? Rückblicke auf die DDR-Literatur, Aufbau Taschenbuch Verlag, 1993

In der Reihe „Die Jahrzehnte. Das deutsche Gedicht in der 2. Hälfte des XX. Jahrhunderts“ präsentierten Autoren je ein frei gewähltes „fremdes“ und ein eigenes Gedicht aus einem Jahrzehnt. So entstanden Zeitbilder und eine poetologische Materialiensammlung zur Dichtung eines Jahrhunderts. Das Gespräch zwischen Stephan Hermlin, Adolf Endler und Karl Mickel fand 1992 in der Literaturwerkstatt Berlin statt.

Gespräch im LCB am 16.9.2008 zwischen Adolf Endler, Maike Albath, Cornelia Jentzsch und Gerrit-Jan Berendse über Endlers Erfahrung in einem totalitären Staat und seine Vorstellungen von Literatur.

 

Gerhard Wolf: Die selbsterlittene Geschichte mit dem Lob. Laudatio für Elke Erb und Adolf Endler zum Heinrich-Mann-Preis 1990.

 

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Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der A.endler“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Adolf Endler

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