Adolf Endler: Kleiner kaukasischer Divan

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Adolf Endler: Kleiner kaukasischer Divan

Endler-Kleiner kaukasischer Divan

ABSCHIED VOM ALTEN TBILISSI

1
Grade und ungrade Zahlen der Chronologie,
Du hast die Allegorien geprüft und durchblickt,
Aber das alte Tbilissi erschließt sich dir nie –
Ach, welche Bilder hat unsere Stadt uns gestickt!

Du gehst zum Weingeschäft? Zu Abenteuern auf
aaaaaFahrt!

O welche Straßen! Wir haben in Wundern gewühlt!
Weinschläuche, riesig! – Wo wird sie versteckt und verwahrt,
Die Tschianuri, auf der man die Tscharga gespielt?

Wem diese Worte noch klingen und wer sie versteht,
Wen nur ein Schimmer, ein Hauch frührer Zeiten befliegt,
Der kann auch verstehen, weshalb ich wie ein Magnet
Das Tor von Tbilissi bewache, oft schon gerügt.

Du würdest verstehen: – Nie war ich wirklich gekränkt
Vom Tadel der Dichter, was tat er schon meinem Gedicht?,
Und was es bedeutet, wenn einer wie ich jetzt bedenkt:
Verwerf ich mein altes Thema, verwerf ich es nicht – – – –

Ah, welch ein Schauspiel! Ich schliche mich gerne hinweg!
Was habt mit der Anmut ihr, mit der Schönheit gemacht?
Wo blieb der Uremi, wo unter seinem Verdeck
Auf dem Weg nach Bolnissi jener Lärm in der Nacht?

Ja, zeigt mir den, der noch Wein auf die Gräber uns bringt!
Die Quaste vom seidenen Tuch, wo blieb sie zurück?
Wo ist der Schankwirt geblieben, der schielend uns winkt?
Und angebunden vorm Ausschank der Widder am Strick?

Faustkampf und Bockspringen, trinkend die Zünfte, der Tanz,
Uralte Bräuche – als hätt sie ein Zensor ereilt!
Wo nennt sie denn noch die Sprache, das Lied unsres Lands?
Nur meine Trauer noch hab ich, die keiner mehr teilt.

2
Mit dem Herzen nach oben, mit dem Rücken auf Stein,
Charpuchi, Balkon, fünfundzwanzig, im frühen Licht:
Ich gehe Reime durch, befrag sie, lade sie ein
O welche Morgenröte! – zu einem Abschiedsgedicht.

Ich lausche dem Morgenlaut, ich belausch den Zephyr –
Wo bleiben die Lieder, die er mir aufspürt und fängt?
Ach die Töne der Surna finden nicht mehr die Tür,
Finden nicht mehr mein Haus, nie mehr! Vertrieben, versprengt –

Nicht die Duduki (Sirene zerschnitt meinen Traum),
Nicht der Alt, nicht der Baß (die Stimme des Eisens stöhnt)!
Ein Käfig der Nachtigall! Den Gefühlen ein Zaum!
Nicht die Duduki und nicht die Freude ertönt –

Wem soll ich dienen? Ich spähe nach hier und nach da.
Ich weiß es nicht mehr und zweifle, und so werd ich alt.
Ach ich blieb ein Othello ohne Desdemona!
Ich, Künder von Kontinenten ganz andrer Gestalt.

Altes Tbilissi! Du heute vom Lärm überrollt!
Die Stimme, die dich besungen, sie schweigt jetzt, sie brach.
Aber mein Stolz! Du bleibst leben, wie ich es gewollt:
In jenen Versen, in denen ichs fälschlich versprach!

Altes Tbilissi! So hieß ein Programm, das zerfiel –
Wo ich es verbarg, die Stelle im Herzen ist leer.
Es ist entschieden! Ich suche ein anderes Ziel!
Altes Tbilissi! – Auf Nimmerwiederkehr!

Iosseb Grischaschwili, 1925, Charpuchi, morgens, Balkon

 

 

 

Abschied vom alten Tbilissi

26 Beispiele georgischer Poesie & 1 Aufsatz

Vorbemerkung

Abschied vom alten Tbilissi, der Titel unseres kleinen etwas hochstaplerischen Buches ist auch der Titel eines Gedichts von Iosseb Grischaschwili, mit dem er Abschied nimmt im Jahr 1925 von seiner bisherigen Thematik; zweifellos ist das Gedicht unter anderem eine Antwort auf „Wladikawkas-Tiflis“ (1924) von Wladimir Majakowski, der wiederum inspiriert gewesen sein mag von den georgischen Versen der Revolutionsdichter-Avantgarde namens Tizian Tabidse oder Paolo Iaschwili, der 1922 geschrieben hatte:

Geben wir zu, wir haben umsonst gegrübelt.
Alles ist hundertmal einfacher in dieser komplizierten Welt,
Und wenn du nicht blind bist, dann, ehrlich gesagt:
Was kann besser sein als Eisenbahn in Swanetien!

(Tizian Tabidse und Paolo Iaschwili gehörten wie der führende armenische Revolutions-Poet Egische Tscharenz zu denen, die 1937 dem stalinschen Terror zum Opfer fielen.) Majakowski sagte für die beiden und ihre Freunde nichts Neues, als er derartige Motive in „Wladikawkas-Tiflis“ ausstellte; das Gedicht sollte diesen georgischen Dichtern wahrscheinlich Unterstützung bringen in ihrer Auseinandersetzung mit anderen, die nicht so „rasch“ den kommunistisch-spätfuturistischen Parolen zu folgen bereit waren:

Georgier bin ich,
doch kein Kinto-Schelm,

kein Saufaus und Witzereißer.

Ich will, daß Surna-Sirenen
aufgelln,
statt der Esel
und Kwaßverschleißer.

Ich ehre Georgiens Dichter.
Wohl ihnen!
Doch teurer
als alle Romanzen der Welt,

erwünschter
als Surna
und Mzchet-Mandolinen

sind mir die surrenden
Hebemaschinen,

wo der Liftkran
die Festrede hält.

Baut auf!
Begeistert und angestrengt!

Setzt an
Stemmeisen und Hebel!

Ja, das klingt toll. Aber es folgt die überkühne, wenn nicht barbarische Stelle:

Und stört
der Kasbek,
– so sei er gesprengt!

Sowieso
verbirgt ihn meist Nebel
. (Übersetzung: Hugo Huppert)

Also konnte man es lesen in der Nr. 667 der Tbilissier Zeitung „Morgenrot des Ostens“ (Sarja Wostoka) vom 3. September 1924. Spätestens seit Ilia Tschawtschawadses „Einsiedler“ wurde aber der Kasbek als Inbegriff Georgiens aufgefaßt (Der Berg: „Überall und immer, Georgien, bin ich mit dir, / Ich bin dein unsterblicher Geist, dein leidender Begleiter“); der Fünftausender Kasbek, Georgiens „unsterblicher Geist“, und Majakowski legt, als wäre das nichts, die Sprengladung an ihn. Im darauffolgenden Jahr schreibt Iosseb Grischaschwili seine Antwort „Abschied vom alten Tbilissi“. Das Gedicht ist zunächst Zurück- und Zurechtweisung:

Grade und ungerade Zahlen der Chronologie,
Du hast die Allegorien geprüft und durchblickt,
Aber das alte Tbilissi erschließt sich dir nie –
Ach, welche Bilder hat unsere Stadt uns gestickt!

Das Gedicht entwickelt sich zu einem subtilen poetischen Machtkampf, ähnlich dem, den Majakowski mit seinem „Jessenin“-Poem geführt hat. Majakowski hätte den Kinto, den Tbilissier Straßenhändler und Witzereißer, hätte die alte orientalische Klarinette, die Surna, nicht zu verspotten brauchen – denn wo sind sie, wo hört man sie noch? Erst nachdem Majakowski quasi das Mandat als Lehrer und Einredner entzogen ist, kann Grischaschwili das tun, was Majakowski verlangt hatte. Grischaschwili:

Altes Tbilissi! So hieß ein Programm, das zerfiel! –
Wo ich es verbarg, die Stelle im Herzen ist leer.
Es ist entschieden! Ich suche ein anderes Ziel!
Altes Tbilissi! – Auf Nimmerwiederkehr!

Er zerstörte sich, was den Ernst der Entscheidung bekräftigt, auf diese Weise als Dichter.
Wer sich die bislang letzte gravierende Auseinandersetzung poetisch-literarischer Art mit dem Thema „Georgien“ zu Gemüte geführt hat, der wird freilich kaum etwas gespürt haben von dem Farben- und Tönereichtum des alten (sozusagen: orientalischen) Tbilissi – ich meine Clemens Eichs „Aufzeichnungen aus Georgien“ (1999) – und ebensowenig von den längst verschollenen Auseinandersetzungen und Korrespondenzen der georgischen mit der sowjetrussischen Avantgarde, beide um 1937 zerspellt (trotz immer neuer Besuche Boris Pasternaks). Auch 1970, als Rainer Kirsch und ich den überaus dubiosen Auftrag erhielten, so circa 4.000 Seiten georgischer Poesie aus der Rohübersetzung in schöne deutsche Poesie zu verwandeln, war im Grunde nichts mehr davon spürbar – oder wenn, dann eben in den alten georgischen Gedichten, die uns gelegentlich doch in bewunderndes Erstaunen versetzt haben; gerade auf diese meist mit zahlreichen Reimen aufwartenden Poesien (im sogenannten „persischen Stil“ in der Regel) habe ich mich mit Vorliebe gestürzt, um meine frisch entdeckte Kunstfertigkeit nicht uneitel vorführen zu können, während Rainer Kirsch derlei zirkusähnlichen Schnickschnack eher gemieden hat, einer anderen und ernsteren „Nachdichterschule“ zugehörig, wenn man so will, als der gauklerische Herr Endler. (Die von Rainer Kirsch „nachgedichteten“ bedeutenden Barataschwili, Wascha Pschawela, Alexandre Tschawtschawadse u.a. findet der Leser im beigefügten Aufsätzchen „Versuch über die ältere georgische Poesie“ wenigstens partiell mit Zitaten vorgestellt.) Es ist, ehrlich gesagt, oft ein rechter Jokus gewesen, in dieser wüsten Weise mit Reimen herumzufuhrwerken, als hätte ich vierzig Jahre lang nichts anderes getan – und einiges davon dürfte schon allein unter artistischem Aspekt bewahrenswert erscheinen –, ein Jokus, und bisweilen nicht ohne leise Ironie dargeboten, die selbst Werke der edlen „Volkspoesie“ nicht immer verschont hat: Oh ja, ich habe mich geradezu befreit gefühlt fern der lähmenden Misere namens DDR zu „Geniestücken der Reimkunst“ (Rainer Kirsch); den Georgiern, den selber arg reimwütigen, hat das alles nicht wenig gefallen. – Darf ich eine winzige Auswahl der Texte, gründlich durchgesehen und hier und da zart korrigiert, noch einmal vorzeigen? Daß es nicht ausschließlich Jux und Dollerei gewesen ist, werden Sie alsbald bemerken: Es handelt sich um einige der in Georgien gerühmtesten Autoren, die hier präsentiert werden in zwei Blöcken aus unterschiedlichen Zeitabschnitten (zwei Gedichtgruppen, die trotz allem miteinander korrespondieren). Die erste der beiden Abteilungen, der älteren Poesie seit etwa 1600 gewidmet, setzt ein mit Gedichten der damaligen Fürsten-Dichter – furios fährt der georgische Johann Christian Günther Herr Dawit Guramischwili dazwischen –; die zweite gilt der sogenannten „Moderne“ und wird präludiert von Ilia Tschawtschawadse, einem Dichter des bürgerlichen Progresses im 19. Jahrhundert, sie versickert in den dreißiger Jahren… siehe: Stalin. Insgesamt sind es lediglich 26 Gedichte, die für meinen heutigen Geschmack übrig bleiben, bis auf eines alle sie pur georgischer Herkunft; die Ausnahme bildet der berühmte Sajat-Nova, ein in Tbilissi geborener Armenier, der sowohl auf aserbaidschanisch als auch auf armenisch und georgisch „gesungen“ hat, in mancher Beziehung und zu bestimmten Zeiten eine Leitfigur auch für den einen oder anderen Georgier. Noch etwas: Gelegentlich habe ich mit scharfen Gegenüberstellungen das wilde Hin und Her in der späteren Entwicklung der georgischen Dichtung wenigstens anzudeuten versucht, z.B. wenn direkt neben das großmächtige „Die Revolution“ von Valerian Gaprindaschwili aus dem Jahr 1930 das aus der gleichen Zeit stammende privatisierende „Meine Großmutter“ von Alexandre Abascheli gestellt ist.
Im spürbaren Kontrast zu dem orientalischen, theatralischen oder auch gefühlig-melancholische Gepränge, mit dem eine Reihe der dargebotenen Gedichte aufwartet – o Gott, auch mir ist es manchmal zu viel geworden, und Zeretelis „Suliko“, Stalins sentimentales Lieblingslied, hab’ ich lieber weggelassen –, im eher düsteren Kontrast zu solcher bunten Welt (zumal des „alten Tbilissi“) der junge Clemens Eich, dieser Unglücksmensch, nach Ulrich Greiner „an den Folgen eines nie vollständig aufgeklärten Unfalls in Wien“ zu Tode gekommen: „Schwarzes Georgien, düsteres Georgien, kaltes Georgien, dreckiges Georgien…“; abgestoßen wie wohl nur ein einziger (!) Autor vor ihm, nämlich Armin T. Wegner, der Ende der zwanziger Jahre in einem Reisebericht unter anderem das abendlich aufleuchtende Tbilissi mit der Schmähung bedacht hat: „Es ist die Stunde des vergoldeten Kotes.“ – Wie wäre der Fluch ausgefallen, wenn Wegner wie Eich in die Jahre der unerwarteten Strom-Sperren geraten wäre, vermutlich eine halbe Flasche „Stalin“-Wodka intus; Eich hat es erlitten und sich endlich in einem der unsäglichen georgischen Krankenhäuser wiedergefunden. (Oh, ich weiß Bescheid, dem einmal in Tbilissi zwei vereiterte Zähne gezogen worden sind, ein Bröcklein Eis als „Betäubung“ auf jeden gelegt.) Wie ihm das Land von Mal zu Mal elendere Züge annimmt, belegt eine andere Stelle:

Man wacht auf und weiß nicht, wo man ist. Es könnte die Toskana sein, nein, Umbrien, aber auch nicht ganz, am ehesten Süditalien, dort, wo es am kaputtesten ist. Das ist Georgien. Vielleicht…

(Vielleicht ist es nicht ganz falsch; vielleicht.) Nicht nur der meistens schwärmerische Vergleich mit italienischen Landschaften wandert seit 150 Jahren und länger durch die nicht gar so titelarme Literatur (man muß allerdings in den Bibliotheken nachgraben) über das transkaukasische Land zwischen Armenien und Aserbaidschan; auch das zurückhaltend-vorsichtige „Mag sein“ oder „Möglicherweise“ taucht immer wieder auf. Die Unsicherheit beginnt mit der Frage, ob Georgien zu Europa oder zu Asien zu rechnen sei, ob Europäisches oder Asiatisches den Charakter des Landes und seiner Leute bestimme, mit einem „Problem“, dem auch Clemens Eich einige Seiten widmet, ohne sich eindeutig zu entscheiden. („Wir leben auf der Grenze zwischen Orient und Okzident…“, zitiert Eich einen – fiktiven? – Gewährsmann.) Und trotzdem, und trotzdem…, um noch einmal mit Clemens Eich zu sprechen:

Wir glauben etwas wiederzuerkennen in Georgien, ein jahrhundertealtes Deja-Vu verschwimmt vor unseren Augen.

Das war in Bezug auf einige der älteren georgischen Dichter (z.B. Guramischwili) in einem Maße der Fall (ganz erklären kann ich es nicht), daß ich die Übertragungen ihrer Texte bei Laune als so etwas wie eigene Gedichte zu betrachten geneigt bin – und das, obwohl mancher Deutschkenner unter den Georgiern betont hat:

Ja, das ist es! Das ist Guramischwili; das ist Bessiki!

Ich selber hätte es nicht so frenetisch bejubelt, was ich da gemacht habe. Rainer Kirsch hat in einer vorzüglichen Interpretation den kühlen Begriff „Funktionale Nachdichtung“ verwendet. Nein, Übersetzungen im engeren Sinn sind es wirklich nicht, die diesen „Abschied vom alten Tbilissi“ bilden; so etwas wäre, dies nebenher, auch schwerlich machbar.

Adolf Endler, Januar 2001, Vorwort

 

Editorische Notiz

1969 wurde Adolf Endler gemeinsam mit Rainer Kirsch vom georgischen Ministerium für Kultur und dem georgischen Schriftstellerverband zu einem zweieinhalbmonatigen Aufenthalt nach Georgien eingeladen, um dort georgische Dichter ins Deutsche zu übertragen. Das Resultat dieser Arbeit ist der Band Georgische Poesie aus acht Jahrhunderten, nachgedichtet von Adolf Endler und Rainer Kirsch, erschienen 1971 im Verlag Volk und Welt Berlin (2. Auflage 1974). Seine Erlebnisse und Eindrücke der Reise hat Endler in seinem 1976 im Mitteldeutschen Verlag publizierten Buch Zwei Versuche über Georgien zu erzählen niedergeschrieben.
Die hier vorliegende Edition vereint zwei in sich geschlossene Bücher und zusätzlich einen bislang ungedruckten Essay über den georgischen Dichter Grigol Robakidse. Adolf Endler selbst hat in seinen letzten Lebensjahren die Texte überarbeitet und autorisiert. Die vom Autor getroffenen Anweisungen für eine Neuedition wurden berücksichtigt, so z.B. seine Überlegung, man möge dem Buch als Prolog ein georgisches Gedicht voranstellen. Wir entschieden uns für Howhannes Tumanjans Gedicht „Georgien“ in der Nachdichtung von Adolf Endler. Tumanjan, ein armenischer Dichter, war zeitlebens mit Georgien verbunden und lebte die letzten Jahre seines Lebens in Tbilissi, wo auch 1918 sein Lobgesang auf Georgien entstand. Eine weitere Anweisung war, die Vorbemerkung zu Zwei Versuche über Georgien zu erzählen als Kapitel 1 auszuweisen.
Erstes Buch: Zwei Versuche über Georgien zu erzählen ist Endlers poetischer Reisebericht, der aus zwei Teilen besteht: I „Von Georgien erzählen“ und II „Aus Blättern über Tbilissi“. Handschriftliche Ergänzungen und Korrekturen, die der Autor in Exemplaren des gedruckten Buches vorgenommen hat, wurden eingearbeitet. Druckfehler wurden stillschweigend korrigiert. Teil III des Ersten Buches ist ein unveröffentlichter Essay über den Dichter Grigol Robakidse mit der Überschrift „Robakidse. Später Nachtrag zu einem Reisebuch“. Anfang der siebziger Jahre geschrieben, wurde dieser Text von der DDR-Zensur, die Robakidse als Unperson betrachtete, verboten und ist bis heute unveröffentlicht geblieben. Robakidse, der sich an der antisowjetischen Befreiungsbewegung in Georgien beteiligte, emigrierte vor dem stalinistischen Terror 1931 nach Deutschland. Später ging er eine Bindung mit dem Nationalsozialismus ein. Endler hat sich mit Robakidse sehr kritisch auseinandergesetzt und seinen Text wieder und wieder überarbeitet. Er sagte:

… weshalb soll ich verhehlen, das mich die Sache ,Robakidse‘ seit Jahren… aus mancherlei Gründen beschäftigt?

Im Kapitel 5 des Essays widmet sich Endler dem Schriftsteller Giwi Margwelaschwili. 1924 als Sohn georgischer Emigranten in Berlin geboren, wurde er Anfang 1946 durch den sowjetischen Geheimdienst NKWD zusammen mit seinem Vater, der später erschossen wurde, nach Ostberlin entführt, 18 Monate im Speziallager Nr. 7 Sachsenhausen interniert und anschließend nach Georgien ausgewiesen. Seine Lebensgeschichte veröffentlichte Margwelaschwili 1991 und 1992 in dem autobiographischen Roman Kapitän Wakusch (zwei Bände). Diese Veröffentlichung nahm Endler zum Anlass, sich noch einmal mit Robakidse zu beschäftigen, und zwar im Vergleich zwischen Robakidse und Margwelaschwili. Der Vergleich erschöpft sich am Ende in dem einzigen Satz im Kapitel 5 (S. 147): „Und Schota ist natürlich Giwi Margwelaschwili – ,Das Schlangenunterhemd‘“ – eine ironische Antwort Endlers auf Grigol Robakidses autobiographisch angelegten Roman Das Schlangenhemd.
Am Ende des Essays fragt Endler: „Ist das Werk Robakidses wirklich für alle Zeiten verloren? Und hätte man es sich nicht zu bequem gemacht, wenn man an diesem Punkt die Frage stellen würde, weshalb es notwendig sein soll, das gesichtslose Wesen NAZILIT wieder auszugraben…, einer trüben Qualle in verqualmtem Aquarium, einer Qualle namens…“, darauf folgt die Aufzählung von ca. 40 nationalsozialistischen Schriftstellern und Politikern unter ihnen auch Robakidse, aneinandergereiht ohne Leerzeichen in einem Block. Endler schreibt weiter:

… Weshalb sie denn neu beleben. Diese miese gallertartige Masse?

Wir haben uns entschieden, diese Namen nicht dem Register hinzuzufügen. Dies bliebe einer späteren kommentierten Werkausgabe vorbehalten. Der Essay endet mit einem PS:

Die vorliegende Arbeit sollte im Zusammenhang mit meinem 1976 in Halle/Saale erschienen Buch Zwei Versuche über Georgien zu erzählen gelesen werden.

Diesem Wunsch wurde mit dieser Publikation nachgekommen.
Zweites Buch: Abschied vom alten Tbilissi. 26 Beispiele georgischer Poesie & ein Aufsatz wurde von Endler 2001 als neues Buchmanuskript zusammengestellt und in dieser Form bisher nicht veröffentlicht. Ihm liegt die Ausgabe Georgische Poesie aus acht Jahrhunderten zugrunde. Hier hat Endler eine Vorbemerkung vorangestellt. Darin wird seine Gedichtauswahl erläutert und begründet. Das Buch besteht aus drei Teilen: Die beiden ersten Teile enthalten 26 ausgewählte Beispiele georgischer Dichtung, der dritte gibt in einem Essay Auskunft über die ältere georgische Poesie. Endler schließt seinen Essay mit den Worten:

Wir haben aber erst begonnen über Georgien nachzudenken. So nennen wir unseren Versuch einen vorläufigen und daß er der Vorläufer vieler anderer sein wird.

Einige allgemeine Anmerkungen zu dieser Edition: In dem vorliegenden Buch wurde die alte Rechtschreibung beibehalten. Die Schreibweise der georgischen Namen wurde in beiden Teilen des Buches vereinheitlicht, ihr liegt die moderne georgische Schreibweise zugrunde. Einige wenige sachliche Irrtümer des Verfassers wurden korrigiert und anschließend in [] gesetzt. Zum Beispiel handelt es sich in Zwei Versuche über Georgien erzählen nicht um Zensi von Fischer, sondern um die Bergsteigerin Censi von Ficker (S. 91), ebenso geht es nicht um einen mingrelischen Fürsten Dadiani, sondern um den swanetischen Fürsten Dadeschkeliani (S. 91). Endler erwähnt in dem Robakidse-Text ein früheres Bühnenstück Robakidses namens Tamara. Der richtige Name dieses Stücks ist aber Lamara (S. 137, 147, 148). Auch das wurde korrigiert und in [] gesetzt (vgl. Gagnidse/Schuchard: Grigol Robakidse 1880–1962. Ein georgischer Dichter zwischen zwei Sprachen und Kulturen, Aachen 2001)

 

Dieses Buch vereint

einen sehr persönlichen Reisebericht über Georgien, der über Menschen, Geschichte und Poesie dieses Landes Auskunft gibt, und eine Zusammenstellung von georgischen Gedichten aus acht Jahrhunderten, übersetzt von Adolf Endler. Beides entstand in den 1970er Jahren.
Gemeinsam mit dem Schriftstellerkollegen Rainer Kirsch war Endler für mehrere Monate nach Georgien eingeladen, um die Poesie des Landes und auch deren lebende Vertreter kennenzulernen und ins Deutsche zu übersetzen. Es gab initiierte offizielle Treffen, aber je länger die beiden deutschen Dichter vor Ort waren, umso genauer und tiefer lernten sie die realen Verhältnisse vor Ort kennen, umso mehr erfuhren sie im privaten Rahmen von Kollegen aus Georgien, die den Mächtigen „unerwünscht“ waren. Herausgekommen ist eine umfangreiche Anthologie: Georgische Poesie aus acht Jahrhunderten, die in den siebziger Jahren in zwei Auflagen erschien.
Beide Bücher, der Reisebericht und die Gedichte aus der Anthologie inklusive einem erhellenden Aufsatz Endlers über ältere georgische Poesie, sind hier vereint. Hinzugefügt wurde ein unveröffentlichter Essay über den Dichter Grigol Robakidse, der seinerzeit der DDR-Zensur zum Opfer gefallen war, weil der Name Robakidse wegen seiner zeitweiligen Nähe zum Nationalsozialismus nicht genannt werden durfte.
Endler hat die Texte dieses Buches kurz vor seinem Tod noch selbst überarbeitet und für eine Veröffentlichung zusammengestellt; sie haben eine erstaunliche Frische bewahrt.

Wallstein Verlag, Klappentext, 2018

 

Im Labyrinth der Blauen Hörner

– Kleiner kaukasischer Divan: Der Schriftsteller Adolf Endler erzählt von Georgien und seinen vielen Dichtern. –

An Prometheus denken Dichter, die zum Kaukasus reisen. Nichts scheint zu groß. Die ostdeutschen Lyriker Adolf Endler und Rainer Kirsch reisten 1969 mit einer großen Aufgabe: Georgische Poesie als säkulare Vorgabe. Dichtung aus acht Jahrhunderten sollen sie nach Interlinearübersetzungen auf die Höhe erlesener Nachdichtung heben. Georgien – ein Land der Dichter. So wichtig wie das eigene Buch ist sonst nur der Sieg im georgischen Fußball. Sechzig Gegenwartsdichter und zwanzig aus der Vorzeit. Achttausend Verse. Wie an einen Felsen geschmiedet. Nach langen Verhandlungen auf ministerieller Ebene wurden jedem der Dichter zweitausend Verszeilen zugedacht. Immerhin: Auswahl „nach eigenem Gusto“. Prometheus lachte leise.
Doch ergeben haben sich die reisenden Dichter im „Land der Bankette und Feste“ nie. Nach zwei Jahren erschien in Ost-Berlin Georgische Poesie aus acht Jahrhundertenin der Nachdichtung von Endler & Kirsch. Bis heute eine der umfänglichsten Sammlungen, als Nachdichtung unverjährbar.
Aber wie aus poetischer Dringlichkeit eine große Reise wurde, ließ Endler nicht ruhen: 1976 schrammten Zwei Versuche über Georgien zu erzählen an der Zensur vorbei. Wie die Nachdichtungen hat auch die Reise selbst bis heute nichts von ihrer Anziehungskraft verloren. Zweieinhalb Monate Georgien als geradezu festlicher Vorgang. Grund genug, Endlers Georgien-Texte als Kleiner kaukasischer Divan neu herauszugeben.
Endler, der 2009 verstarb, hat diese Ausgabe noch überarbeitet, die Idee zu einem Dreisprung autorisiert: Über Georgien und Tbilisi wird zweigeteilt, nein, nicht erzählt, gebebt. Dynamik, Passion, auch Polemik sind bei Endler die Faustregel. In einem zweiten Teil zeigen sich in selbstauferlegter Strenge 26 Beispiele seiner Nachdichtungen. Unvollständig und doch ein Parnass. Einen runden Bogen findet dann alles mit dem Essay „Vorläufiger Versuch über die ältere georgische Poesie“. Zur Überraschung wird drittens eine bislang ungedruckte Polemik zu Grigol Robakidse. Der Stimmführer der Dichtergruppe Die Blauen Hörner ging als Stalin-Gegner 1931 ins deutsche Exil, verwirkte seinen literarischen Rang durch faschistische Anbiederung. Ein Fall wie Hamsun oder Céline. Endler sieht hier keine mildernden Umstände. Dennoch scheiterte er hier an der Zensur.
Endler ist Erkunder von enzyklopädischem Ausmaß. Alles beginnt in Georgien, endet aber nicht dort. Dichtung bleibt immer der letzte Kreis auf dem Erzähl-Wasser, den ein geworfener Stein auslöst. Jenes Land, in dem Jason auf Medea traf und mit ihrer Hilfe das Goldene Vlies raubte, auf Kolchis’ Steinen sind alle Wege voller Legenden und Rätsel, die Dichtung erblüht unter fliehenden Horizonten. Die Möglichkeiten des georgischen Verses sind grenzenlos, das genuine Abschweifen des Erzählers ist es auch.
Auf Umwegen geht er den Dingen auf den Grund. Wähnte er sich eben noch als erlebnisbeladener Pionier, schon fällt der Staub von einem deutschen Reise-Phänomen. „Wer hat eigentlich nicht über dieses Land geschrieben?“
Deutsche haben langhin Deutungslinien gezogen. Fünfzig, sechzig Namen. Es gab wissenschaftliche Interessen bei Ernst Haeckel, strategische bei Werner von Siemens und Karl Kautsky. Der Literat Friedrich Bodenstedt löste 1851 mit den Liedern des Mirza Schaffy eine kaukasische Kitschwelle in Deutschland aus. Bertha von Suttner lebte als Lehrerin in Tbilisi. Schriftsteller standen unter dem Zwang zum Selbstbeweis – von Armin T. Wegner über Oskar Maria Graf bis zu Clemens Eich. Aber es gibt auch Kenner, bei denen Endler Witterung aufnimmt. Zu ihnen gehören der Philologe Adolf Dirr, der Journalist Arthur Leist und der Orientalist Robert Bleichsteiner.
Lange liegengelassenes Wissen überführt Endler auf erzählerischen Umwegen in eine kurzweilige georgische Literaturgeschichte. Nach der Christianisierung Georgiens entfaltet die Hymnen-Sammlung Jadgarvon Mikel Modrekili im 10. Jahrhundert einen frühen Höhepunkt. Diese altgeorgische Literaturperiode geistlicher Poesie wird abgelöst durch das alles überstrahlende Versepos Der Recke im Tigerfell von Schota Rustaweli am Ende des 12. Jahrhunderts. Zum anderen waren es Fürsten, die in der Bedrängnis durch Türken und Perser den Vers dem Schwert vorzogen. Endler hat Gedichte der Könige Teïmuras I. und Wachtang VI. übertragen. Mit dem 18. Jahrhundert werden die literarischen Einflüsse aus Europa stärker.
Dawit Guramischwili und Bessiki, der „georgische Anakreon“, zeigen sich in Endlers Übertragung. Die Romantiker Alexander Tschawtschawadse, Grigol Orbeliani und Nikolos Barataschwili hebt er mühelos vom Episodischen ins Exemplarische.
Mit der Eingliederung Georgiens ins Zarenreich im 19. Jahrhundert beginnt auch für die Literatur eine neue Phase. Ilia Tschawtschawadse und Wascha Pschawela sind Teil der georgischen Nationalbewegung. Akadi Zereteli gehört auch zu ihnen, gleichsam Übersetzer der Internationale und Dichter des Evergreens „Suliko“ – Stalins Lieblingslied. Beispielhafte Variationen avantgardistischer Impulse zeigt Endler im Getümmel georgischer Dichter im 20. Jahrhundert. Nach der Besetzung Georgiens durch sowjetische Truppen im Jahr 1921 auch ein „Abschied vom alten Tbilisi“. Im Mittelpunkt Die Blauen Hörner, angelehnt an französische und russische Symbolisten.
Fast alle werden zu Opfern zweier Georgier: Stalin und Beria. Dichter mit Grundsätzen und deshalb zum Untergang bestimmt, aber ihre Namen verschwanden nicht. Und Endler hat sie in die DDR getragen: Paolo Iaschwili, Tizian Tabidse, Alexandre Abascheli, Iosseb Grischaschwili, Galaktion Tabidse, Nikolo Mitsischwili. Endler gedenkt (1969!) georgischer Stalinopfer wie keiner vor ihm:

Tabidse, Iaschwili…, zwei der siebenunddreißiger Toten, die ,unzertrennlichen Freunde‘, die ,Dichter der roten Kolchis‘.

Adolf Endler beeindruckt nicht nur als Dichter, er ist auch ein rezeptives Genie. Die Überschüsse sind beträchtlich, auch nach fast fünfzig Jahren.

Jürgen Verdofsky, Frankfurter Rundschau, 10.10.2018

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Volker Strebel: Ein sandiger Weg in der Nähe von Kutaissi
fixpoetry.com, 16.6.2018

 

 

In der Reihe „Die Jahrzehnte. Das deutsche Gedicht in der 2. Hälfte des XX. Jahrhunderts“ präsentierten Autoren je ein frei gewähltes „fremdes“ und ein eigenes Gedicht aus einem Jahrzehnt. So entstanden Zeitbilder und eine poetologische Materialiensammlung zur Dichtung eines Jahrhunderts. Das Gespräch zwischen Stephan Hermlin, Adolf Endler und Karl Mickel fand 1992 in der Literaturwerkstatt Berlin statt.

Gespräch im LCB am 16.9.2008 zwischen Adolf Endler, Maike Albath, Cornelia Jentzsch und Gerrit-Jan Berendse über Endlers Erfahrung in einem totalitären Staat und seine Vorstellungen von Literatur.

 

Gerhard Wolf: Die selbsterlittene Geschichte mit dem Lob. Laudatio für Elke Erb und Adolf Endler zum Heinrich-Mann-Preis 1990.

 

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Focus ✝ Märkische Allgemeine ✝ Badische Allgemeine ✝
Die Welt ✝ Deutschlandradio ✝ Berliner Zeitung ✝ die horen ✝
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Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der A.endler“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Adolf Endler

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