Wer bin ich?
Fragst du
Die Antwort ist mein Körper
Du kennst seine Legenden
Mein Körper dieser Reisende
In einem Gewölk aus Erde
stehen diese Gedichte vor uns, die nur ein einziges Thema haben: die Liebe. Die Liebe als Feier der Geliebten, aber auch als rätselhafte Beunruhigung des Liebenden, der zwischen Sehnsucht und Leidenschaft, Zweifel und Gewissheit eine Skala von Empfindungen durchlebt, die den ganzen Reichtum seiner Existenz ausmachen. Immer ist es die Stimme des Liebenden selbst, die wir hören, und die Gegenwärtigkeit der Geliebten, die wir spüren. Mit einer überquellenden Fülle immer neuer Bilder versucht Adonis das Unfassbare zu fassen. Ingeborg Waldinger hat diese Texte, die es nur in französischer Version gibt, in ein geschmeidiges Deutsch übertragen.
Jung und Jung, Klappentext, 2013
– Der Lyriker Adonis erhält morgen den Petrarca-Preis: Sein neuer Gedichtband zeigt, dass er ihn verdient hat. –
Schaut man sich die aktuelle Lyrik an, könnte man vermuten, dass Liebesgedichte aus der Mode sind – jedenfalls bei den Dichtern selbst. Ist es die kursierende Pathos-Phobie, ist es die neue Partnerschafts-Sachlichkeit? Für eine liebeslyrische Blutauffrischung aber empfiehlt sich ein Blick auf die arabische Literatur, hat sich der Salzburger Jung und Jung Verlag gesagt und prompt eine Sammlung mit Liebesgedichten von Adonis vorgelegt, die erstmals 2009 in Paris erschienen ist. Der 1930 geborene Syrer ist als eine Art arabischer Nietzsche bekannt geworden, sein Zyklus Die Gesänge Mihyars des Damaszeners (Original 1963, deutsch 1998) gilt als das arabische Pendant zu Also sprach Zarathustra. Das Pseudonym Adonis, das er sich im Alter von siebzehn Jahren in der Hoffnung gab, seine Gedichte dadurch leichter publizieren zu können, steht ursprünglich weniger für Schönheit und Liebe als für ein weltanschauliches Erneuerungsprogramm, die Wiederauferstehung des Orients, so wie in der antiken Mythologie der schöne Jüngling Adonis aus dem Reich der Toten wieder zum Leben erweckt wird. Dieser neue Orient, wie Adonis und andere arabische Autoren ihn sich nach dem Zweiten Weltkrieg vorstellten, wäre keiner eines ausgeprägten Islams geworden, sondern hätte sich auf das kulturelle Erbe des Mittelmeerraums und der griechisch-phönizischen Antike besonnen. Mehr denn je erscheint diese Vision heute als frommer Wunsch. Die von vielen Syrern bedauerte Skepsis des Autors angesichts des Aufstands gegen das Regime in Damaskus wurzelt womöglich auch in dieser griechisch-phönizischen Prägung. Dass Adonis seit je auch Dichter der Liebe und des Körpers war, ist angesichts seines von Nietzsche und antiken Mythen geprägten Erneuerungsprogramms oft vergessen worden. Allerdings gelang es dem Autor stets, die Revolte des Körpers gegen die sexuellen Tabus und die Revolte gegen ein erstarrtes Gottesbild ingeniös zu verschmelzen. Adonis war der Dichter, der es wagte, den religiös aufgeladenen Begriff für die Unnachahmlichkeit des Korans, „Idjaz“, in seinen Versen unverblümt auf den Liebesakt anzuwenden – eine Häresie sondergleichen. Dass seine Bücher „nur“ in Saudi-Arabien verboten sind, ist kein schlechtes Zeichen für die intellektuelle Offenheit der arabischen Welt. Die jetzt vorgelegten Liebesgedichte von Adonis – wir dürfen sie, ohne es abwertend zu meinen, durchaus als Alterslyrik bezeichnen – gehen, gemessen an der politisch-religiösen Revolte des Frühwerks, den umgekehrten Weg: Statt die Metaphysik auf die Körperlichkeit herunterzubrechen, wird der Körper mit einer Symbolik aufgeladen, die auf Höheres deutet, eine Mystik ohne Gottesbezug. Die Entkörperlichung, die der Mystiker in der Nähe zu Gott erfährt, vollzieht sich ausgerechnet in der – leiblichen – Begegnung mit der Geliebten:
Unsere Körper Ein Wald der Knospen Und die Zeit Entströmt ihren Kelchen Wie ein Parfum.
Viele Verse pendeln in dieser Art zwischen Aphorismus und Tanka, dem fernöstlichen Kurzgedicht, und dürften auch unvorbereiteten Lesern zugänglich sein. Geheimnisvoll, ja zuweilen rätselhaft sind dagegen viele der längeren Gedichte. Der Wald der Liebe in uns, wie das Buch heißt, lädt offensichtlich dazu ein, sich in ihm zu verlaufen. „Was ich an dir mag, sind meine Verirrungen: Ich lasse ihnen freien Lauf / als verfolgte mich, in meiner Liebe zu dir, Gott.“ Kennt man die früheren Werke des Dichters und seine Symbolsprache, bekommt man an vielen Stellen dennoch einen Ariadnefaden zu fassen. Labyrinth und Verirrung sind (notabene positiv konnotierte) Fundamentalbegriffe der zugleich mystischen und postnietzscheanischen Weltsicht von Adonis:
Lasst, o meine Lippen, sie nicht heran, Lasst die Sprache der Vernunft nicht heran und du, Glimmfeuer der Verwirrung, wachse dich aus zu Flammen
heißt es in einem der stets titellosen Texte. Die Eigenheit der Liebeslyrik von Adonis (wobei die Liebe immer zugleich Metapher ist für die Existenz an sich) liegt in ihrem Mutwillen, sich zu verirren und Verzweiflung und Unglück als das Salz der Liebe zu begreifen. Nichts wird beschönigt, nichts betrauert. „Ohne Hoffnung, ohne Hoffnungslosigkeit“, heißt es einmal in einem Vers, und doch ist dieser Zustand alles andere als deprimierend, sondern eine Form von Empfänglichkeit. Die den Schmerz zulassende Offenheit des Liebenden ist es, die erst Momente des Glücks zulässt. Die Metapher für diese Offenheit ist seit den frühsten Gedichten von Adonis die Wunde:
Ich frage mich: woher kommt zu meiner Wunde dies sonnengekrönte Tier Dies flüchtige?
Ingeborg Waldinger, die Übersetzerin, hat sich auf das riskante Unterfangen eingelassen, diese Texte aus dem Französischen zu übersetzen – das arabische Original ist verloren, Adonis schreibt alle seine Texte mit der Hand auf lose Blätter. Es gab schon einmal eine Übersetzung von Adonis aus dem Französischen. Darin verwandelte sich ein Kampfflugzeug, die „Phantom für Dayan“, in „Geister für Dayan“ – die Unkenntnis des arabischen Originals machte es möglich. Bei den vorliegenden Gedichten funktioniert die Weiterübersetzung jedoch. Wer mit der lyrischen Sprache von Adonis vertraut ist, schafft es sogar, unter der deutsch-französischen Oberfläche die arabischen Texte im Kopf mitzulesen. Morgen erhält Adonis in München den Petrarca-Preis der Hubert-Burda-Stiftung – es ist der richtige Preis mit dem richtigen Namen für den richtigen Dichter!
– Seit Jahren als Nobelpreiskandidat genannt, wird der 84jährige, aus Syrien stammende Adonis als Kritiker der „Arabellion“ vermehrt zitiert. Der Wald der Liebe in uns: Liebeslyrik vom wohl bedeutendsten arabischen Dichter der Gegenwart. –
2013 erhielt er den Petrarca-Preis, der nach den Worten seines Stifters Hubert Burda ausdrücklich europäische Kultur fördern will. Liegt es am Wohnort des Autors, der seit 30 Jahren in Paris – und zwischendurch auch einmal in Berlin – lebt? Oder daran, dass die Kultur einen weiteren und flexibleren Begriff von den Grenzen Europas hat als die Tagespolitik? Zu den Jury-Mitgliedern des nach dem Mitbegründer des Humanismus benannten Petrarca-Preises zählen Michael Krüger, Peter Handke oder auch Alfred Kolleritsch. Oder spielt das syrische Drama eine Rolle? Kein Zweifel, es gibt sie, die politische Konjunktur von Literatur. Adonis’ Lebensweg scheint das Schicksal von Millionen zu spiegeln: Geboren wurde er in Nordsyrien als Ali Ahmad Said Esber, studiert hat er in Damaskus, sein erstes Exil war der Libanon, seit drei Jahrzehnten lebt er in Europa. Nicht erst mit Ovids Amores und dem Weg des römischen Dichters über das Meer ins unfreiwillige Exil – damals in anderer Richtung – hat sich das kulturelle Erbe des Mittelmeerraums und der griechisch-phönizischen Antike immer wieder wechselseitig befruchtet. Adonis war und ist spiritueller Nomade, ein Grenzgänger zwischen orientalischem und westlichem Denken. Der selbstgewählte Künstlername stammt von jenem antiken Halbgott, der für Erneuerung und Auferstehung steht. Dennoch: Adonis sieht sich in der Tradition klassischer arabischer Dichter, die zu anderen Zeiten weit weniger – auch erotische – Tabus kannten als die heute im Islam vorherrschenden, restriktiven Strömungen. Adonis hat Stil und Duktus der arabischen Dichtkunst modernisiert. Seine Liebeslyrik, Der Wald der Liebe in uns, ist durchwegs vielstimmig, manchmal sparsam an Mystik und Metaphern, und nicht immer auf das erste Hinhören gefällig. Oft sind es Kürzestgedichte:
Das Licht, das mich leitet, leitet mich fehl Im Schoß meines Hauses zerschmettern mich meine Bastionen.
Adonis’ Repertoire reicht von der Wehklage bis zum Gelächter. „Schlaf ist die Erde seiner Freuden / Bett ist die Erde seiner Leiden“: Viel ist in den durchwegs titellosen Gedichten von Suche und Verletzung die Rede, von Schmerz und Bitternis. Die Momentaufnahmen mit oft unerwarteter Zeichensetzung deuten Geheimnisse an, und wahren sie mitunter. Lyrik gehört ohnehin zu den größten Herausforderungen sprachlicher Übertragung. Doppel- und Mehrfachdeutungen haben der Übersetzerin Ingeborg Waldinger wohl einiges abverlangt. Das Ergebnis, die vorliegenden 140 Gedichte auf Deutsch, finden auch die Würdigung Stefan Weidners, Adonis’ anerkanntem Übersetzter aus dem Arabischen. Für Metrik und Lautlichkeit galt es, eine angemessene Form zu finden.
All das, wozu ich außerstande, es Dir zu sagen Wird in der Tiefe meines Schweigens versinken, oder Wir erblühen, richten uns auf, fallen zurück Heften uns aneinander.
Bei uns ist Liebeslyrik kaum en vogue. „Mach mich wieder zu dem, was ich sein will / Wie ich war, ein Gewoge“: Dass das Meer, Ebbe und Flut immer wieder eine Rolle spielen, liegt wohl auch an Adonis’ Prägung an den Gestaden der Levante. In diesen Sequenzen geht es weniger um Verstehen als um Eintauchen. Das sich-treiben-lassen ist dabei manchmal ebenso schwer wie das Navigieren.
Frage mich nicht, wer ich war Woher ich komme Ich bin Dir begegnet – seit dieser Begegnung Bin ich meiner Finsternis entrissen Bin ich geboren. Und an anderer Stelle: Ich bin nicht am Ziel. Ein Würfel aus Traurigkeit Rollt herab von den Schultern.
Adonis kurze Sätze hinterlassen eine Intensität der Berührung, jenseits des klaren Verständnisses.
Jeder Körper ist ein Gemenge aus Sprachen, aber nicht Alphabet, sagt sie … Tagtäglich befrage ich ihren Leib Buchstabiere ihn Und erlerne an ihm den Weg des Fragens.
So nähert sich Adonis letztendlich auch poetisch seiner Kernfrage von Liebeslyrik:
Muss ich eine Brücke schlagen Zwischen dem Feuer, das meinen Körper entflammt Und dem Lehm der Wörter Um die Luststrecke zu durchqueren.
Die Antwort scheint klar, und bleibt doch offen.
Gunther Neumann
– Einst war der Schriftsteller Adonis ein Neuerer arabischer Poesie. Über Jahre wurde er als Nobelpreiskandidat gehandelt. Als Kritiker des syrischen Aufstandes steht er heute wieder im Rampenlicht. Der Wald der Liebe in uns ist unpolitische Liebeslyrik des 84jährigen Intellektuellen und wohl renommiertesten arabischen Dichters der Gegenwart. –
Kein Zweifel, es gibt sie, die politische Konjunktur von Literatur. 2013 erhielt Adonis den Petrarca-Preis, der ausdrücklich europäische Kultur fördern will. Ist es dem Wohnort des Poeten geschuldet, der seit 30 Jahren in Paris lebt, und zwischenzeitlich auch einmal in Deutschland? Gar dem erfreulichen Umstand, dass die Kultur eine flexiblere Sicht auf die Grenzen Europas hat als die Politik? Zu den Jury-Mitgliedern des nach dem Mitbegründer des Humanismus benannten Preises zählen Michael Krüger, Peter Handke und Alfred Kolleritsch. Oder liegt es doch an den Ereignissen in der arabischen Welt, besonders an der verzweifelten Situation in Syrien, die uns Europäer aufwühlt und zugleich hilflos macht?
Der Lebensweg des Autors schien das Schicksal von Millionen vorwegzunehmen, und zu spiegeln. Geboren wurde er in Nordsyrien als Ali Ahmad Said Esber, studiert hat er in Damaskus, sein erstes Exil war der Libanon, seit drei Jahrzehnten lebt er in Europa. Nicht erst mit Ovids Amores und dem Weg des römischen Dichters über das Meer ins unfreiwillige Exil – damals in anderer Richtung – haben sich die Kulturen des Mittelmeerraumes, der griechisch-phönizischen Antike immer wieder wechselseitig befruchtet. Adonis war und ist ein spiritueller Nomade, ein Grenzgänger zwischen orientalischem und westlichem Denken. Von kulturellen Reinheitsgeboten hält er nichts. Der selbstgewählte Künstlername stammt von jenem griechischen Halbgott, dessen Name semitischen Ursprungs ist, und der für Erneuerung und Auferstehung steht. Dass Adonis schon lange als Literaturnobelpreis-Anwärter genannt wird, hat mit dem arabischen Frühling, der sich vielerorts wie Winter anfühlt, wenig zu tun. „All das, wozu ich außerstande, es Dir zu sagen / Wird in der Tiefe meines Schweigens versinken“: Der 2013 erschienene Wald der Liebe in uns ist fern der Tagespolitik.
Bei aller Religionskritik sieht sich Adonis in der Tradition klassischer arabischer Dichter, die zu anderen Zeiten weit weniger – auch erotische – Tabus kannten als die heute herrschenden, restriktiven Strömungen in der islamischen Welt. Adonis hat Stil und Duktus der arabischen Dichtkunst modernisiert. Manchmal war er auch in seiner Poesie durchaus politisch, vor allem im angesichts 9/11 drei Jahrzehnte später prophetisch anmutenden Langgedicht-Zyklus Ein Grab für New York aus dem Jahr 1971, zum Höhepunkt des US-Vietnamkriegs: Es waren Gesänge von Hybris und Nemesis, von Zorn, aber auch Versöhnung.
Anfang 2014 hat Adonis seinen 84. Geburtstag gefeiert. Der Autor und Essayist ist voll Skepsis gegenüber der Arabellion, besonders jene gegen das in Damaskus herrschende Regime: „Ich kann nicht an einer Revolution teilnehmen, die aus den Moscheen kommt.“ Eine Militärdiktatur kontrolliere den Kopf und die politischen Gedanken. Das sei schlimm genug. Doch die religiöse Diktatur kontrolliere Kopf, Herz, Körper und Seele, also das ganze Leben.
Adonis’ Liebeslyrik ist so unpolitisch, wie es Poesie heute sein kann: Im Islam ist die Rezitation des Koran nicht nur Gottesbekenntnis, sondern auch Gipfel poetischer Ausdruckskraft. Andere Gedichte geraten in den Verdacht frevelhafter Häresie. Nicht die Auseinandersetzung mit dem Westen sei das Hauptproblem der Araber, hat der Antiislamist Adonis schon vor Jahrzehnten gemeint, sondern die mangelnde Auseinandersetzung einer autoritär erstarrte Zivilisation mit den eigenen Traditionen.
Der Wald der Liebe in uns ist vielstimmig, bilderreich, manchmal auch sparsam an Metaphern, gelegentlich spröde. Oft sind es Kürzestgedichte:
Das Licht, das mich leitet, leitet mich fehl
Im Schoß meines Hauses zerschmettern mich meine Bastionen.
Adonis’ Repertoire reicht von der Wehklage bis zum Gelächter. „Schlaf ist die Erde seiner Freuden / Bett ist die Erde seiner Leiden“: Viel ist in den durchwegs titellosen Gedichten von Überschreitungen, Irrungen und Blessuren die Rede, von Schmerz und Bitternis. Die Miniaturen mit oft unerwarteter Zeichensetzung deuten Geheimnisse an, und wahren sie mitunter.
Wir erblühen, richten uns auf, fallen zurück
Heften uns aneinander.
Ist Adonis’ Dichtkunst nun orientalischer Mystik näher, oder europäischem Kitsch? In Deutschen Landen ist Liebeslyrik kaum en vogue, und nicht alle wollen sich den Lobeshymnen für Adonis anschließen. Er beherrsche religiös verbrämte Ornamentik und einen knappen brechtischen Ton gleichermaßen, merkte der Literaturwissenschaftler Erich Klein an. Adonis’ „postheideggerianische Lyrik – Hölderlin, Heidegger und Nietzsche sind Adonis’ Hausgötter“ zitiere haufenweise Arabismen herbei. Die Welt der Moderne und der Technik werde in eine mit viel Asche überzuckerte Apokalypse versetzt, dazu komme noch glühende Liebesleidenschaft, so die Kritik.
In jedem Fall bleibt Adonis ein Grenzgänger zwischen Orient und Okzident. Die heute wieder unüberbrückbar erscheinenden Differenzen in einer Person in Einklang zu bringen, ist genug Herausforderung für ein Lebensalter. Der Wald der Liebe ist ein Alterswerk, nicht unbedingt abgeklärt, sondern vielmehr, als würde man Geträumtes lesen:
Mach mich wieder zu dem, was ich sein will
Wie ich war, ein Gewoge.
Dass das Meer, Ebbe und Flut immer wieder eine Rolle spielen, liegt wohl auch an Adonis’ Herkunft und Prägung an den Ufern der Levante. In diesen Gedichten geht es weniger um Verstehen als um Eintauchen. Das sich-treiben-lassen ist dabei manchmal ebenso schwer wie das Navigieren.
Frage mich nicht, wer ich war
Woher ich komme
Ich bin Dir begegnet – seit dieser Begegnung
Bin ich meiner Finsternis entrissen
Bin ich geboren.
Und an anderer Stelle:
Ich bin nicht am Ziel. Ein Würfel aus Traurigkeit
Rollt herab von den Schultern.
Adonis kurze Sätze hinterlassen eine Intensität der Berührung, jenseits des klaren Verständnisses, und eröffnen den Raum hinter den Worten: das bloße Sein.
Jeder Körper ist ein Gemenge aus Sprachen, aber nicht Alphabet, sagt sie
…
Tagtäglich befrage ich ihren Leib
Buchstabiere ihn
Und erlerne an ihm den Weg des Fragens.
So nähert sich Adonis letztlich auch der Grundfrage von Liebeslyrik:
Muss ich eine Brücke schlagen
Zwischen dem Feuer, das meinen Körper entflammt
Und dem Lehm der Wörter
Um die Luststrecke zu durchqueren.
Beantworten darf die Frage jeder Leser, jede Leserin für sich.
Der Salzburger Verlag Jung & Jung hat in den letzten Jahren ein außerordentliches Gespür für neue Autoren gehabt, das mit zwei Deutschen Buchpreisen belohnt wurde. Adonis mit seinen 84 Jahren ist zwar keine Neuentdeckung. Doch Der Wald der Liebe in uns ist auch für Nicht-Lyrikfans ein Fundstück.
Die Bäume haben das Geheimnis überliefert Heute ist das Geheimnis aus Luft Und seine Weisheit ein Obstgarten.
Vor fast 2.000 Jahren schrieb der römisch. Dichter Ovid seine Amores/Liebesgedichte, in denen es jedoch weniger um Liebe als etwas direkt zu Bestimmendes, als vielmehr um ihre Stunden, Tage und Momente, die „Situationen“ der Liebe ging. Seither ist die Kategorie des „Liebesgedichts“ und der elegischen Liebesdichtung zweigeteilt in die Dichter, die ihre Liebe direkt anreden und illuminieren und jene, die in Situationen und Gedanken den wahren Kern und die wahren Elemente von Liebe freizulegen versuchen. Der syrisch-libanesische Schriftsteller Adonis, der seit 1985 im frz. Exil lebt und als einer der wichtigsten (wenn nicht der wichtigste) arab. Dichter des 20. Jahrhunderts gilt, hat in seinen Liebesgedichten diese Differenz quasi aufgelöst, die Aspekte der Liebesdichtung wieder miteinander verbunden und sie wie Saiten auf ein Minimum an Sprache und ein Höchstmaß an Brisanz, Schönheit und Ruhe gespannt.
Zeit – Flötenspiel und tödliche Schlinge Raum, in dem wir Erkenntnis gewinnen Hoffnung für die Wurzeln im Erdreich Und das Wasser fließt herbei aus einer Quelle Fließt glitzernd herbei
Sicherlich haben die Verse im Arabischen einen noch viel sehnsuchtsvolleren, lichteren Klang, doch möchte ich hier sofort anmerken, dass die deutschen Übersetzungen zumindest insofern sehr gelungen sind, als dass die leichte und doch schmetterlingsferne Sprachkraft in ihnen noch spürbar ist. Aus den mehr als 140 unbetitelten, im Durchschnitt 6- bis 8zeiligen, Gedichten spricht auf den ersten Blick ein reiner Träumer, ein lächelnder Geist, ein zaubernder Wegelagerer der Schönheit und ein Bewunderer von Körperlichkeit und Liebestaumel. Doch bald schon fallen einem nicht nur Zwischentöne und metaphysische Betrachtungen auf, sondern auch das starke Element der Frage, des Widerspruchs und des Zweifels, das sein dunkle Licht zwischen den Wangen der Liebenden regt. Wo sich in diesem Vierzeiler das lyrische Ich noch beinahe wie vom Tode befreit sieht und jede Zeile aus dem Bersten ins Lächeln übergeht:
Gestern, bei unserer Begegnung Erlöste ich meine Seele vom Dunkel ihrer Ketten Ich lehrte ihre Wimpern Die Art, dich anzusehen
sind es bald danach schon der aufkommende Zweifel, die Gedankenumlaufbahnen der Angst, die in der Stille der Nächte ihren Ton abgeben – und die Liebe wird nicht bloß als Wagnis, sondern als herabsinkende Münze in eine tiefe dunkle See gesehen. Und vor diesem Schicksal ist sie zu bewahren:
Ist es die Sprache, die mich beseelte in deinem Namen – die Ihr Blut strömen lässt in mir, in deinem Namen – Die unsere beiden Körper verzaubert und das, was war zwischen dir und mir – was bedeuten Die losen Lettern, der Wald der Liebe in uns? […] Mein Leib ist zweifach und du bist zwischen meinen beiden Körpern Woher komme ich, und wie all die Herrlichkeit Aufschreiben Im Buch des Staubs?
Auf dunkelfarbenprächtige, sanfte Weise führt uns jedes Gedicht zu einer neuen (kurzen, weiten) Liebesgeschichte, die etwas anders ist als die vorherige und doch dasselbe Gefühl geschehen lassen will. Da ist einer der sich in der Liebe noch vieles fragt – und ist Er nicht der wahre Liebende, der Liebende, der wir auch sind? Da ist einer, der liefert sich (in) bestimmten Stunden aus, der flüchtige Liebende, aber ist nicht Liebe auch bloß flüchtig, ist das nicht ihr Element? Da ist einer, der immer noch zu fassen sucht, was war oder werden könnte, der unerklärbare Liebende. Aber ist nicht Liebe unerklärbar, trifft sie uns nicht genau da, wo wir kein Wissen haben und wo sich sofort tausend Ahnungen entwickeln, die nur sehr selten zum Wissen reifen?
Unsere Körper – Ein Wald aus Knospen Und die Zeit Entströmt ihren Kelchen Wie ein Parfum
Begegnungen, Berührungen – sparsam geht Adonis mit ihnen um und auch etwas enigmatisch, wenn auch nie hermetisch. Bilder wiederholen sich ab und zu; der Wortschatz der Liebe hat feste Kreise, wie fast kein anderer und die Liebenden sind immer auf demselben Meer unterwegs, wo das Wetter aber niemals gleich ist. Und auch die Menschen sind nicht jeden Tag dieselben.
„Jeder Körper ist ein Gemenge aus Sprachen, aber nicht Alphabet“, sagt sie.
Und doch, trotz allem, wird die Liebe gefeiert und in sofern ist dieses Buch seinem Titel sehr gerecht geworden. Auch ein Wald ist ein sehr vielschichtiges Wesen und seine Schönheit ergibt sich nicht aus seinen Einzelteilen, sondern aus dem Gesamtgefüge, das mythische Züge erreichen kann, in Geräusch, Geruch, Bild, in Oberfläche und Untergrund, wenn alles zusammenfließt zum Erlebnis „Wald“ – oder eben zur Beanspruchung: „Liebe“. Und so ist dieses Buch auch kein Alphabet der Liebe, aber eine Menge an Sprachen, mit denen sich das Alphabet der Gefühle zwar nicht deklinieren, aber erahnen lässt, weil die überwältigende Dankbarkeit und der leise, mondgroße Zweifel auch zu unserer Wahrheit von Liebe gehören, egal wie leicht Adonis sie hinter einer lyrischen Frage oder einem ungemein schemenhaften Bild versteckt.
Traum und Wirklichkeit sind zweierlei Kinder: Das eine ist Raum Das andere Zeit
Da die Gedichte wegen der fehlenden Titel quasi ohne Identität sind, ist ihre flüchtige und doch allgegenwärtige Botschaft noch viel klarer und direkter. Und deswegen kann man das Buch einfach auf irgendeiner Seite aufschlagen, immer wieder, in die Wörter abtauchen und mit einem völlig neuen Eindruck aus diesem oder jenem Text wieder hervorkommen – das Buch setzt sich in jeder Zeile unendlich fort. Wie kleine Botschaften und doch äonische Namen, haben sie alle Qualitäten von Traum und von Wirklichkeit – den auch hinter dem Traum steht letztlich die Wirklichkeit als demütige Gewissheit und der Traum kann keine höhere Gewissheit, aber eine höhere Wahrheit sein. Es lohnt sich sehr diese in den „Stamm des Windes“ geschnitzten Verse zu lesen und auf jeden Fall lohnt es sich, dieses Buch zu besitzen. Es könnte irgendwann die Nacht kommen, wo der Ölbaum vor dem Fenster steht und man sich fragt was aus der Rose wurde, die die Perle eines Tautropfens wie die Ewigkeit trug…
Die Abwesenheit hat ein Bildnis, ein allerletztes Bild.
Adonis, 1930 in Nord-Syrien geboren und seit 1980 in Paris lebend, gilt heute als der bedeutendste Dichter und Lyriker der arabischen Welt und ist mit vielen Preisen ausgezeichnet worden. Nachdem in früheren Jahren schon etliche seiner Gedichtbände auf Deutsch erschienen sind, hat nun Ingeborg Waldinger den hier vorliegenden, schon 2009 in Frankreich erschienenen Band mit Liebesgedichten auf einfühlsame Weise in Deutsche übertragen. Es sind Gedichte voller Sehnsucht und Schmerz, Gedichte, die von erfahrener und verlorener Liebe erzählen und von der Hoffnung auf Leben und der Einsicht in seine Vergänglichkeit. So erzählt ein Gedicht, das mich sehr bewegt hat:
Ein Zweig namens Alter Brach ab um ein Haar Zweig ihres Namens Die Sehnsucht: wie Lanzen Und die Wörter verflechten sich Wir machen mit – Unsere Geschichte Und ihre traurigen Momente All die Wolken der Hoffnung Sind Fährten nur Der Regen brachte keine Rettung Weder das Verweilen noch das Reisen Haben uns zu uns selbst geführt Friede sei unsere Wunde Unser Haus quillt über von ihrem Wasser Die Bäume um das Haus, die Blumen Verschlingen ihre Kelche Enttäuscht vom Sinn Verraten von den Bildern Was werden wir sagen und was erwarten wir noch?
Doch immer wieder geht es um Liebe und die Geliebte, und es ist ein trotz aller Zweifel Liebender, der diese Worte zu Papier bringt. „Der Wald der Liebe in uns“, mit den Wurzeln, dem Blätterdach und den Früchten – leidenschaftliche Gedichte voller Schönheit und Schmerz.
Auf die Nacht der Bilder zu Als wir noch die gleichen Träume hatten Und die gleichen Segel Wie die Seefahrer der Liebe Als wir ihre Gestade entdeckten: Ebbe und Flut, wir erheben uns und wir sinken nieder Mein Leib reiste in einem Schiff Aus Sehnsucht, Und meine Gesänge in einem Schiff Aus Funken – Auf die Nacht der Bilder zu. Unsere Liebe – Wir sollten ihre Wälder vermählen Mit der dort anbrandenden Luft – Unsere Liebe durchforstet die Berge und Ebenen, die sie Ringsum umzingeln Unsere Liebe – eine Treppe die hochführt und wieder hinab Ganz Pracht und Offenbarung Wir sollten unsere Umlaufbahnen ausleuchten Und den Raum Samt seinen Legenden Wir sollten den Fernen in uns lauschen Und deren dürren Wüsten Sollten sehen, was der Himmel nicht zu sehen vermag (Aus dem Französischen von Ingeborg Waldinger)
Bedenklich ist es schon, aus einem langen, über viele Seiten ausgebreiteten Liebesgedicht einfach zwei Passagen „herauszuschneiden“, um sie dann als einzelne Gedichte zu präsentieren. Aber schon aus rechtlichen Gründen ist es nicht möglich, ein ganzes Buch „online“ zu stellen. Aber man müsste es eigentlich tun, denn nur so würde man dieses sowohl in seinem Inhalt wie in der Form so wunderbar gelungene Buch aufnehmen können. So bleibt nur der Wunsch an interessierte Leser, sich das Buch von Adonis mit dem Titel Der Wald der Liebe in uns anzuschaffen, um dann Seite für Seite tiefer in diese große Liebeshymne einzutauchen, sie wieder neu zu lesen, um sie besser zu verstehen. Aber kann man „Liebe“ denn überhaupt verstehen? Kann man für sie Worte finden, die eine Ahnung ihrer Bedeutung, ihrer Macht, ihrer Versprechungen, ihrer Illusionen und Hoffnungen widerspiegeln? Liebe, das sei, so schrieb Adorno einmal, die Fähigkeit, Ähnliches an Unähnlichem wahrzunehmen. So versucht ein Philosoph „Liebe“ zu definieren. Und wie versucht der Dichter Worte für die „Liebe“ zu finden?
Seit Jahren lustwandle ich im Wald der Sinne und hüte die Gazellen meiner Gedanken Mein Verstand verweigert die Dinge, wie sie sich offenbaren wird die Augen meiner Liebe es lieben sie zu sehen Und meine Tollheit ist nahe daran Vernunft zu werden.
Als Ali Ahmad Said Esser wurde Adonis 1930 in einem kleinen Dorf im Westen Syriens geboren. Früh, schon mit 17 Jahren, nahm er den Namen des griechischen Fruchtbarkeitsgottes an. In den späten 5oer-Jahren verließ er Syrien, um zuerst im Libanon, später in Frankreich politisches Asyl zu suchen. Seit 1985 lebt er in Paris, schreibt Gedichte und mischt sich auch von Zeit zu Zeit mit Essays in das Weltgeschehen ein. Mit großer Freude hat er die kulturellen Aufbrüche in den nordafrikanischen Staaten zunächst begrüßt, ist dann aber immer mehr auf Distanz gegangen vor allem gegenüber den fundamentalistisch-islamistischen Strömungen innerhalb des sogenannten „Arabischen Frühlings“. Mit großem Pessimismus registriert er die Gewalt in seiner Herkunftsheimat Syrien. „Die Revolution“, sagte Adonis jüngst in einem Gespräch mit einer österreichischen Zeitung, „in der arabischen Welt – die auf allen Ebenen dem Mittelalter näher ist als der modernen Zeit – hat keine Chance, wenn sie nicht laizistisch ist.“
– Der syrisch-libanesische Dichter Adonis erkundet in seinen Gedichten die Liebe. Nun ist die Sammlung Der Wald der Liebe in uns auf Deutsch erschienen. –
In einem Dorf im nordsyrischen Küstengebirge sass einst Ali Ahmad Said Esber und dachte nach über Feuer und Staub, Sonne und Erde und allerlei Tiere. Im Alter von 17 Jahren gab sich der 1930 geborene Bauernsohn den Künstlernamen Adonis. Dabei hatte er – mehr als das griechische Schönheitsidol – den vorderasiatischen Vegetationsgott im Sinn.
Heute schöpft der in Paris und Beirut lebende Adonis sowohl aus orientalisch-phönizischen Ursprüngen wie auch aus der europäischen Moderne. Seine Essays über kulturelle Identität, das Verhältnis zwischen Orient und Okzident oder den Unterschied von poetischer und religiöser Wahrheit sind berühmt. Vielen gilt er als der wichtigste zeitgenössische Lyriker der Araber; auf der Kandidatenliste für den Nobelpreis steht er weit oben. Zugleich wird er von religiösen Dogmatikern befehdet. Nicht etwa, weil er die traditionelle Form der arabischen Kasside mit ihren Monoreimen verschmäht und lieber mit wechselnden Reimen freirhythmisch jongliert. Vielmehr erscheinen manchen die Ideen suspekt, die seinen Versen zugrunde liegen. Denn Poesie ist für Adonis kein Auftrumpfen mit absoluten Wahrheiten, sondern ein Fragen ohne Ende.
Die neuen Gedichte in Der Wald der Liebe in uns sind dialogisch grundiert: „Eine Ursache – wie weiss man, wer sie schuf? Weisst dus?“ Und:
Was bedeutet das in Wind gehüllte Raunen
Was dieses Licht – was dieses Lied? Ist es ein Bekenntnis
zum Verlauf unserer Tage?
Den Beginn der Aufstände in Ägypten und Tunesien hat Adonis noch freudig mit Gedichten begrüsst. In Syrien aber, so befürchtet er, könnte die Militärdiktatur durch eine religiöse Diktatur abgelöst werden. Er hofft auf „Tadschid“, eine Erneuerung des Denkens, der Sprache, ja der gesamten Kultur. „Kunst ist ein reiner Ort auf der Karte des Seins“, tönt es pathetisch in unsere an Lakonie gewöhnte Ohren. Aber was wäre die Welt ohne die grossen gescheiterten Entwürfe?
Und die Liebe? Von Nacktheit, die warm hält, sprechen die Verse, vom Vergessen des Selbst in der Zweisamkeit, vom Sichverlieren im Körper des anderen. Auch die Liebe ist ein Entwurf: „Wie heisst der Ort, den unsere Körper wollen?“ Ein Körper aus Leere, Asche und Staub bleibt zurück; vergänglich sind Lust und Leben.
Wechselnde Perspektiven
Bei aller Gedanken-Ekstase, die sonst in den Gedichten des Adonis herrscht, sind die Liebesgedichte von intensiver und offener Sinnlichkeit. Die Liebe, von der er singt, ist voller erotischer Leidenschaft und Bitternis zugleich. Sie ist der Entrückung und dem Taumel näher als der glücklichen Leichtigkeit, ähnelt mitunter einem „Tanz am Rande des Abgrunds“.
„Wer war ich / Wo bin ich nun? In dem / Was am Anfang war? Was am Ende kam?“, fragt auch das Liebesgedicht. Alles dreht sich um die Freiheit des Individuums. Zeit und Raum, Wandel und Verwandlung, Erinnerung, vor allem aber die Sprache sind Themen, die der Dichter aus wechselnden Perspektiven bedenkt. Anders als Langgedichte wie Ein Grab für New York ist Der Wald der Liebe in uns ein Zyklus kurzer Gedichte, die – ähnlich wie Shakespeares Sonette – dem Verlauf einer Liebesbeziehung folgen: Sehnsucht. Leidenschaft und Gefährdung durch eine dritte Person, Konflikt, Zweifel, Pein, Gewissheit, Trennung und Trauer.
Nicht zuletzt geht es um Einsamkeit und Tod. Exil und Wiederkehr. Schon in den Gesängen Mihyars des Damaszeners (1998 bei Ammann) verkündete Adonis das Ende einer morbiden Gesellschaft und die Geburt eines neuen, freien Lebens in der Sprache. Die Sprache erscheint dem Dichter als der einzig lebendige Ort inmitten von Ruinen und Dürre, Kampf, Kummer und Erniedrigung. So wundert es nicht, dass das Titelgedicht der neuen Sammlung ein Gedicht über die Sprache ist. Darin heisst es in dem für Adonis charakteristischen grüblerischen Fragegestus:
Ist es die Sprache, die mich beseelt in deinem Namen – die
Ihr Blut strömen lässt in mir, in deinem Namen;
Die unser beider Körper verzaubert und das, was war zwischen dir
und mir – was bedeuten
Die losen Lettern, der Wald der Liebe uns?
Geschrieben hat Adonis diese Verse auf Französisch. Ingeborg Waldinger hat sie aus der 2009 publizierten Originalausgabe unter Verwendung zahlreicher Genitiv-Metaphern so ins Deutsche übersetzt, dass die sinnliche Sprachkraft erkennbar bleibt. Es scheint also sei Adonis europäischer geworden, wenn er auf die rhythmische Wiederholung elegisch aufgeladener Worte und Mehrfachbedeutung baut, Haus und Geheimnis, Garten und Nacht und Weg, Welle und Wunde.
„Wunde“ erscheint dabei in mindestens drei Bedeutungsvarianten als Sinnbild für Qualen einer leidenschaftlich durchlebten Liebe.
Dorothea von Törne, Tages Anzeiger, 15.7.2013
– Die Liebeslyrik des in Syrien geborenen Dichters Adonis ist ein diesseitiges Gebet wider den Terror der Immanenz. Doch die Haltung, die darin aufscheint, ließe sich durchaus auf die Politik übertragen. –
Beginnen wir mit dem Namen, beginnen wir mit den Namen. Wie heißt der Preisträger in Wahrheit, wie sprechen wir seinen Namen richtig, oder, man verzeihe den absurden Superlativ, am richtigsten aus: Adonis oder Adûnîs? Das ist eine von den schwierigen Fragen, die mir regelmäßig in Bezug auf diesen Autor gestellt werden, und ich habe mich im Lauf der Zeit selber dabei ertappt, seinen Namen mal so und mal so auszusprechen. Auf Arabisch, natürlich lautet sein Name Adûnîs . Aber das bedeutet einem deutschen Ohr nichts. Wollen wir verstehen, was sich dahinter verbirgt, sollten wir Adonis sagen. Selbst Francesco Petrarca, der bekanntlich einiges auf sich hielt, hätte es sich wohl nicht träumen lassen, dass eines fernen Tages von der Nachwelt Adonis in seinem Namen geehrt wird. Er hätte vermutlich seine Freude daran gehabt; ohnedies ist in einer solchen Konstellation, einem solchen Syzygium von Namen die Ehrung wechselseitig – was übrigens selbst dann zuträfe, wenn Adonis nicht Adonis oder Adûnîs hieße, sondern Ali, ganz genau Ali Ahmad Said Esber, wie er tatsächlich auch heißt. Aber welchen Adonis, Adûnîs oder Ali ehren wir heute? Alles steht zur Auswahl, was ein langes, fast lyrisches Lebenswerk nur bieten kann, ganz abgesehen vom Essayisten, vom Denker und Streiter Adonis. Ich will mich heute auf den Aspekt beschränken, der mit dem Namen unseres Preises am ehesten in Verbindung zu bringen ist. Ehren wir heute also vor allem den Dichter der Liebe, der sich auch in Adonis, Adûnîs oder Ali verbirgt. Den Dichter der Liebe? Die Wege der Rezeption sind unergründlich. Die letzten Gedichtbände von Adonis tragen die Liebe im Titel, was auch mit der besseren Verkäuflichkeit solcher Titel zu tun hat, aber Adûnîs ist sicher nicht für seine Liebeslyrik berühmt geworden (andere, etwa sein Landsmann Nizar Qabbani, haben sich dafür williger angeboten). Wahrend bei uns „im Abendland“ (was auch immer das sein soll) bereits der Name Adonis primär erotische Assoziationen heraufbeschwört, lag bereits der Wahl dieses Pseudonyms weniger jener erotische Aspekt zugrunde als der Wunsch, einem weltanschaulichen Paradigmenwechsel Ausdruck zu verleihen. Adonis ist ein mythologischer Verwandter von Tammuz, dem vorderorientalischen Wiederauferstehungsgott, der uns in der modernen arabischen Dichtung, besonders derjenigen aus dem Zweistromland, häufig begegnet. Die Auferstehung, die dabei gemeint ist, ist die des Orients aus seiner weltanschaulichen und politischen Stagnation, aus Fremdherrschaft und Rückständigkeit, die von denen, die sich ihre klassische Kultur zu bewahren vermochten, als besonders schmerzlich erfahren wurde. Zugleich suchten diese Dichter, die sich auf Adonis oder Tammuz beriefen, Anschluss an ältere, vorislamische Schichten in der Geschichte ihrer Völker, mesopotamische, phönizische, griechische. Es ging, im wahrsten Sinne des Wortes, um eine Renaissance, eine Überwindung gefühlt mittelalterlicher Verhältnisse durch die Berufung auf eine eigene Antike und ihre Wiederbelebung – Petrarca, der Dichter der europäischen Renaissance, lässt grüßen. Der Anspruch einer solchen Dichtung ist hoch, und heute, angesichts der immer marginaleren Stellung unserer Literatur, würden die meisten wohl sagen: zu hoch. So oder so erscheinen Liebesgedichte nicht als der naheliegendste Weg, diesen Anspruch umzusetzen. Nötig, so erkannte auch Adûnîs, war zunächst eine Revolution der sprachlichen und dichterischen Mittel, gepaart mit einer die überkommenen Gewissheiten außer Kraft setzenden lyrischen Aussage, Botschaft oder denn es geht nicht um Propaganda, Perspektive, Sicht auf die Welt. Wenn es so etwas wie den „Canzoniere“ von Adonis gibt, dann sind es die Gesänge Mihyars des Damaszeners (1963) – aber es sind keine Liebesgedichte, sondern eine mit den Mitteln der Wörter betriebene metaphysische Revolte, deren Vision darin besteht, die Welt, die Weltanschauungen, wieder zu verflüssigen, in Bewegung zu setzen, die Anker zu lichten und ins Unbekannte aufzubrechen. Diesem früh gesetzten Programm bleibt unser Dichter treu, treu bis in die jüngsten und neuesten Gedichte, die wir (auch in Übersetzung) von ihm lesen können, selbst wenn diese dann doch – Liebesgedichte sind! Denn so abwesend die Liebe in den Gesängen Mihyars des Damaszeners gewesen ist, bereits mit dem nächsten Gedichtband hat sie sich wieder in das Werk eingeschlichen. Beim Versuch der weltanschaulichen Erneuerung und Verflüssigung der Welt stellt sich die Liebe als des Dichters beste und natürlichste Verbündete dar – waren doch Liebe und Sexualität immer schon Agentinnen der Überschreitung, der Verwandlung, des Bruchs mit den Normen, der Auflehnung. Weite Teile der arabischen Dichtung seit der vorislamischen Zeit zeugen davon, so eingehegt, konventionalisiert und entschärft sie letztlich meistens blieb. Adonis hat die arabische Liebesdichtung neu erfunden, indem er sie mit ganz anderen Diskursen und Redeweisen gepaart, sie ihnen aufokuliert hat. Seine Liebesdichtung schildert nicht nur die Lust an (und bei) der Überschreitung von Normen, Phrasen und Gewohnheiten, sie stellt selbst eine solche Überschreitung dar. Dies geschieht dank einer in der arabischen Dichtung so nie dagewesenen Vermischung von Diskursen. Im klassischen Fall einer solchen Vermischung dienen die Redeweisen der Liebesdichtung zum Ausdruck der Gottesliebe oder von mystischer Sehnsucht. Die diesseitigen, körperlichen Zusammenhänge werden aufgehoben, transzendiert und religiös umgepolt. Adonis geht den umgekehrten Weg: Er holt sie in die Immanenz, kleidet sie zurück in den Körper: Die mystische Redeweise wird umkodiert in eine über die Liebe; und die Rhetorik der Gottessehnsucht zielt nun unerhörterweise auf das vermeintlich Profanste ab, den Körper. In dem Band Die Verwandlung des Liebenden, der auf Die Gesänge Mihyars des Damaszeners folgte, können wir dem Dichter dabei zusehen, wie er den Körper und die Sexualität der arabischen Sprache zurückerobert, und zwar ausgerechnet von solchen Texten, die religiös besonders aufgeladen sind. Statt der „Pilgerfahrt zur Heiligen Stätte Gottes“, wie es in einem Text des Philosophen Al-Asma’i (aus Basra, gestorben 828) heißt, unternimmt der Dichter in den Verwandlungen eines Liebenden (1965) die Pilgerfahrt fi tariq an-nisa – „zu den Frauen“. Oder ein anderes Beispiel. Der Mystiker an-Niffari schreibt in einer seiner Visionen, wie Gott ihm sagt: „Sprich zur Sonne: O du, die der Schreibstift / Griffel des Herrn geschrieben hat.“ Bei Adonis ist es nicht mehr Gott, der dies sagt, sondern assayyid al-djasad, „der Herr, der der Körper ist“. Anstelle der Sonne wird die Geliebte angeredet, und die Geliebte wird nicht vom „Griffel des Herrn“ geschrieben, sondern vom „Griffel des Liebenden“. Um die Dimension dieser Re-Inkarnierung des religiösen Diskurses zu verstehen, müssen wir wissen, dass das Wort Griffel (qalam) an entscheidender Stelle im Koran gebraucht wird, und zwar in der gemäß Überlieferung ersten Sure (96:4), wo Gott den Menschen mit Hilfe des Griffels „lehrt“. Der qalam, Griffel, ist also ein von Gott ausgezeichnetes Instrument. Wenn die Geliebte mit dem Griffel des Liebenden geschrieben wird, braucht es nicht allzu viel Phantasie, diesen Griffel als Phallus zu imaginieren – eine im doppelten Sinn des Wortes unerhörte Vorstellung. Adonis, Adûnîs treibt sein Spiel weiter. In dem Gedicht „ungewollter Gottesdienst“ wird die Stadt (es handelt sich um Damaskus) mit der Geliebten und der Akt der Liebe mit dem des Schreibens gleichgesetzt. „Ihr Körper ist die Sprache, durch die er spricht / er hört ihrem Körper zu“, der von der Reise zwischen Tinte und Papier, zwischen Glied und Glied erzählt.“ Das Gedicht, das Mitte der Siebzigerjahre erschienen ist, bekommt vor dem Hintergrund des syrischen Bürgerkriegs eine unvorhersehbare Aktualität. Wie Isis die Glieder des Osiris aufsammelt, macht es sich der Dichter zur Aufgabe, die Glieder der Geliebten, synonym mit den einander entfremdeten Teilen der Stadt und der arabischen Nation wieder zu einem Ganzen zusammenzufügen. Für den Liebesakt mit Worten, der dazu nötig ist, greift der Dichter erneut auf eine religiöse Terminologie zurück. „Ich befreie dich vom Wie, Wo und Warum / Und wende mein Wunder an.“ Das Wunder, von dem hier die Rede ist, ist kein geringeres als der Idjaz – der arabische Begriff für das Offenbarungswunder, das Dogma der Unnachahmlichkeit des Korans. Im Gedicht dient der theologisch hochgradig aufgeladene Begriff der Umschreibung des Liebesaktes. Die spätere Liebeslyrik von Adonis, die uns seit diesem Frühjahr auch in einer deutschen Auswahl (Der Wald der Liebe in uns, Jung und Jung Verlag) begegnet, beschreitet den umgekehrten Weg: Statt Metaphysik auf Körperlichkeit herunterzubrechen, wird der Körper mit einer Symbolik aufgeladen, die auf Höheres, oder sagen wir, eben nicht nur profane Zusammenhänge deutet. Die Liebe wird wieder Mystik, nur diesmal ohne Gottesbezug. Die Entkörperlichung, die der Mystiker in der Nähe zu Gott erfährt, vollzieht sich nun ausgerechnet in der – leiblichen – Begegnung mit der Geliebten:
Unsere Körper Ein Wald der Knospen Und die Zeit Entströmt ihren Kelchen Wie ein Parfum.
Es ist, als ob die numinose Aura der mystischen Sprache auf die Liebe und die Liebenden abgefärbt hätte. So wie sich der Mystiker aus der Gesellschaft und den Zusammenhängen bürgerlicher Zweckmäßigkeit verabschiedet, übernimmt nun die Liebe diese Aufgabe und entführt, mit Musil gesprochen, in einen ,anderen Zustand‘. Labyrinth und Verirrung bilden seit dem Frühwerk dabei die positiv konnotierten Fundamentalbegriffe der zugleich mystischen und post-nietzscheanischen Weltsicht von Adonis. „Was ich an dir mag, sind meine Verirrungen: Ich lasse ihnen freien Lauf / als verfolgte mich, in meiner Liebe zu dir, Gott.“ Selbst Verzweiflung und Unglück sind dementsprechend notwendige Ingredienzien der das Alltägliche sprengenden Begegnung in der Liebe. „Ohne Hoffnung, ohne Hoffnungslosigkeit“, heißt es einmal in einem Vers, und doch ist dieser Zustand alles andere als deprimierend, sondern eine Form von Empfänglichkeit. Nur die den Schmerz zulassende Offenheit des Liebenden ermöglicht zugleich Momente des Glücks, der Ekstase. Die Metapher für diese Offenheit ist seit den frühesten Gedichten von Adonis die Wunde. Die eingeforderte Totalität des Liebeserlebnisses mag nicht jedermanns oder jederfraus Sache sein – aber vielleicht ist sie in gottfernen Zeiten das Letzte, was uns aus der Gewöhnlichkeit, aus der totalen Herrschaft der Immanenz noch herausreißen kann. Die Liebeslyrik Petrarcas kennt eine ähnliche Ekstase, eine ähnliche Verzweiflung und Trauer. Nur sind diese Gefühle bei ihm eingebettet und aufgehoben in eine Glaubensgewissheit. Sie federt die Gefühle nicht ab, sondern gibt ihnen den Freiraum, sich zu entfalten; ohne den Glauben wäre der Dichter ihnen wehrlos ausgeliefert. Adonis ist dieser wehrlose Dichter („Ich komme wehrlos wie ein Wald“), heißt es in seinem seiner frühen Texte. Wir könnten dies eine Form von pazifistischem Heroismus nennen. Es ist nicht nur eine schöne Haltung für die Liebe, sondern auch eine der Liebe. Natürlich drängt sich mit Blick auf die Ereignisse in der Heimat von Adonis die Frage auf, inwieweit sich eine solche Haltung in den Bereich der Politik übertragen lässt. Ich würde mir wünschen, dass sie sich übertragen lässt, aber ich zweifle und ich verzweifle auch. Ich glaube, dass es Ereignisse gibt, die eine klare Haltung erfordern und bei der wir uns hinter der Komplexität, der Mehrdeutigkeit und Unlösbarkeit der Situation nicht verstecken dürfen, sondern eine Entscheidung treffen müssen, so schwer die Konsequenzen sein mögen und selbst dann, wenn wir dadurch Gefahr laufen, schmutzige Fingernägel zu bekommen.
Stefan Weidner, Laudatio zur Verleihung des Petrarca-Preises an Adonis, Süddeutsche Zeitung, 24.6.2013
– Der Dichter Adonis im Gespräch. –
Der 1930 geborene syrisch-libanesische Dichter Adonis gilt als der massstabsetzende arabischsprachige Lyriker des 20. Jahrhunderts; seit langem ist er Kandidat für den Literaturnobelpreis. Am Wochenende war er beim Internationalen Festival Mutanabbi in Zürich zu Gast.
Angela Schader: Adonis, Ihr Werk situiert sich in einem Kulturraum, wo der Lyrik aussergewöhnlich hohe Bedeutung zukommt. Sie selbst schildern das Arabische als eine Sprache, der das Metaphorische sozusagen schon eingeschrieben ist und die sich ideal dem dichterischen Ausdruck leiht. Könnten Sie Näheres über diesen Aspekt des Arabischen sagen?
Adonis: Natürlich ist es nicht einfach, eine Sprache in dieser Hinsicht zu erläutern – schon gar nicht das Arabische. Aber man könnte sagen, dass es eine fleischliche Sprache ist, eine Sprache des Körpers. Es ist nicht intellektuell, jedenfalls nicht im abstrakten Sinn des Wortes. Es ist eine Sprache, die sich den Dingen, dem Körper und dem Gefühl verbindet, dazu kommt die Musikalität, die ein konstitutives Element des Arabischen ist – in diesem Sinn ist es eine sehr poetische Sprache. Sie drückt sich nicht analytisch, objektiv aus, sondern über die emotionale, visuelle oder imaginative Beziehung des Sprechers zum Gegenstand. Insofern ist Arabisch auch nicht einfach zu übersetzen; diese Aufgabe erfordert profunde Kenntnis nicht nur des Arabischen, sondern auch der eigenen Sprache, wenn ein wirkliches Äquivalent der arabischen Vorstellungswelt entstehen soll.
Schader: In Ihrer Lyrik findet sich zudem ein Reichtum von Anspielungen und Bezügen auf die arabische wie die westliche Kultur. Sie sind selbst ein erfahrener Übersetzer: Können Sie abschätzen, wieweit es für europäische Übersetzer und Leser überhaupt möglich ist, die Essenz Ihrer Werke zu erfassen?
Adonis: Konkret könnte ich das höchstens in Bezug aufs Französische sagen, das ich selbst beherrsche; bei anderen Sprachen kann ich die Qualität der Übertragung allenfalls anhand der Reaktionen der Leser ermessen. Und natürlich ist eine Übersetzung immer auch eine spezifische Lesart des Textes, dargeboten in einer individuellen Ausdrucksform. Mithin gibt es für jeden Text eine Vielzahl möglicher Übertragungen. Aber als Dichter ist man letztlich mit keiner ganz zufrieden.
Schader: Beim Lesen Ihrer Gedichte betritt man ein Universum, das dank seiner Bildhaftigkeit nachgerade greifbar ist und sich dem Verständnis dennoch immer wieder entzieht. Welches wäre Ihr idealer Leser – derjenige, der forscht und analysiert, oder der, welcher sich von den Worten entführen lässt?
Adonis: Nun ja, man kann sich den idealen oder zumindest aussergewöhnlichen Leser nicht auswählen. Es gilt, ähnlich wie beim Übersetzen, dass am Ende jeder seine eigene Lesart erschafft. Wenn man sich dem grossartigsten Text mit kleinen Gedanken, engstirnigen Visionen annähert, dann wird auch der Text eng und klein. Und leider mangelt es unserer Zeit zunehmend an grossen Lesern – in der arabischen Welt wie im Okzident. Die Kultur des Lesens hat sich verflacht, sie ist funktional und oberflächlich geworden. Es dominiert die horizontale Lektüre; was wir jedoch nötig hätten, wäre die vertikale Lektüre, die in die Tiefe geht.
Schader: In der westlichen Kultur wird die Lyrik immer mehr in eine Nischenposition abgedrängt. Überfordert diese literarische Form den heutigen Leser? Und wie sieht es in dieser Hinsicht in der arabischen Welt aus?
Adonis: Unglücklicherweise redet man immer noch von Orient und Okzident, als gäbe es eine grosse Barriere oder Differenz zwischen den beiden. Aber „Orient“ und „Okzident“ sind zunehmend nur noch geografische Begriffe, vielleicht auch wirtschaftliche oder politische – aber aufs Existenzielle treffen sie nicht mehr zu. Wo ist der Unterschied zwischen einem sogenannt orientalischen und einem sogenannt westlichen Menschen? Wo war der Unterschied zwischen Hafis und Goethe, wenn es ums Schöpferische geht? Wo ist er, wenn wir Zaha Hadid mit Mario Botta vergleichen? Die Globalisierung macht diese Gleichheit evident; was ich heute in Zürich sehe, kann ich morgen in Kairo und übermorgen in Schanghai sehen. Was nun die Position der Lyrik angeht: Auf den Okzident trifft leider zu, was Sie sagen. Aber eines meiner Bücher wurde vor zwei Jahren ins Chinesische übersetzt, und wir sind jetzt bei der elften Auflage. Und in den arabischen Ländern ist es bis heute die Lyrik, die zählt. Im Okzident dagegen hat sich, mit der Macht des Internets, der Bilder, der Unterhaltungsindustrie und der Massenmedien auch ein Wandel des Kulturverständnisses ergeben. Der okzidentale Leser zieht es mittlerweile vor, die Kultur zu konsumieren, und die Kultur wird umgekehrt zum Konsumartikel. So entfernt sich der Leser vom kreativen Prozess, von jener Vertikalität, die ich zuvor erwähnte. Aber ich glaube, solange die Liebe existiert – solange die Liebe existiert, wird es auch die Dichtung geben.
Schader: Sie haben den Koran in seiner ästhetischen Dimension als ein Meisterwerk beschrieben, das alle Züge idealer Dichtung aufweist: Schönheit, Innovationskraft, Tiefe, Vieldeutigkeit. Wie konnte es geschehen, dass ein so offener, so mächtiger Text derart von religiösen und politischen Kräften usurpiert wurde?
Adonis: Da sind wir bereits wieder beim Problem der Lesart. Leider wird die Lesart der meisten Muslime diesem Text bei weitem nicht gerecht. Der Koran wird schlecht gelesen, schlecht interpretiert; so hat die Lektüre den Text des Korans deformiert. Darum sage ich: Der Text ist letztlich das, was der Leser aus ihm macht. Wenn er im Geist der Offenheit, der Grösse und der Menschlichkeit gelesen wird, wird auch der Text gross; wenn nicht, wird er klein – sogar der Koran. Ich habe mein Bestes getan, um diese Lesart des Korans zu kritisieren und dagegen anzukämpfen. Ich bin zwar nicht religiös, aber ich respektiere die Religionen und ihre Schriften; jeder soll die Freiheit haben, seinen Glauben zu leben. Aber ich war immer gegen eine Religion, die der Gesellschaft institutionell aufgenötigt wird. Wenn eine Gesellschaft eine Religion haben soll, dann definiere ich sie folgendermassen: Freiheit, Menschenrechte, Offenheit gegenüber anderen Zivilisationen und zuallererst – vorab in den arabischen Gesellschaften – die totale Freiheit der Frau. Und das Recht, areligiös zu sein, muss ebenso respektiert und geschützt werden wie das Recht auf den Glauben. Eine Gesellschaft, die dieses Recht verweigert, kann auch keine wirklich gläubige Gesellschaft sein. Es geht dabei nicht um Toleranz – dieses Wort mag ich nicht. Denn der Begriff Toleranz ist immer mit einer Art Rassismus konnotiert. Wenn ich jemanden „toleriere“, heisst das: Ich bin zwar im Besitz der Wahrheit, aber ich lasse dich reden. Das Wesen des Menschen jedoch fordert Gleichheit. Wir brauchen nicht Toleranz, wir brauchen Gleichheit. (…)
Dichter Adonis wird 80
n-tv.de, 1.1.2010
Adonis: Syrischer Dichter feiert 80. Geburtstag
sarsura-syrien.de, 31.12.2010
Tilman Krause: Dichter Arabiens: Adonis wird 80 Jahre alt
Die Welt, 31.12.2009
Stefan Weidner: Ewige Wiederkehr
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.1.2020
Adonis liest seine Gedichte auf dem Prager Schriftstellerfestival 2009.
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