DAS ZEICHEN
Ich habe das Feuer mit dem Eis gemischt –
Weder Brände noch Eis werden meine Wälder verstehen.
Ich werde unbegreiflich bleiben, zahm
In Blumen und Steinen wohnen –
Entweichen
Forschen
Sehen
Wogen
Wie das Licht zwischen Zauber und Zeichen.
Anfang der sechziger Jahre veröffentlichte der syrisch-libanesische Lyriker Alî Ahmad Sa’îd, inzwischen weltweit bekannt unter dem schillernden Pseudonym Adonis (arab. Adûnîs), in Beirut, dem kulturellen Zentrum des Vorderen Orients, zwei Gedichtbände, die in der modernen arabischen Literatur Epoche gemacht haben. Fragt man aus heutiger Sicht nach der Bedeutung dieser Bücher für die neuere arabische Literatur, so wird eine Beschreibung der einzelnen, schon für sich genommen herausragenden Merkmale kaum ausreichende Antwort geben können. Die über ein bloßes literarisches Phänomen hinausweisende Tragweite dieser und der folgenden, späteren Gedichte des Autors bis heute ist nur dann angemessen zu erfassen, wenn man sie als Einlösung eines heimlichen Versprechens begreift, eines Versprechens, das die zahllosen Experimente, Irrwege und Teilerfolge einer Generation arabischer Dichter seit der Jahrhundertmitte gerechtfertigt hatte. Es verhieß, die arabische Dichtung könne modern sein, auf der Höhe der – vom Abendland vorgegebenen – Zeit, ohne dadurch ihre Identität als arabische aufzugeben, ohne ihre lange und mitunter glorreiche Geschichte ein für allemal zu verleugnen.
Dabei stand mehr auf dem Spiel als nur die arabische Dichtkunst. Seit vorislamischer Zeit gilt die Dichtung den Arabern als der Gipfel und das Aushängeschild ihrer Kultur. Und sofern man unter Literatur mehr versteht als ein bloßes Spiel mit Formen und Strukturen, als den Ausdruck dessen, was den Menschen, bewußt oder unbewußt, am grundsätzlichsten bewegt, so geht es bei dem Versuch, die arabische Dichtung als arabische ihrer Zeit gemäß sein zu lassen, um nichts weniger als die Frage, ob, und dann wie, die arabische Welt imstande ist, den Einbruch der Moderne für sich fruchtbar zu machen, sie zu integrieren und von ihrer Seite aus wiederum zu bereichern und bereichert der Welt zurückzugeben, sei es auch (nur?) als Dichtung, wie es jetzt, hier, mit Adonis geschieht.
Als Alî Ahmad Sa’îd 1956 mit seiner Frau in die weltoffene libanesische Hauptstadt zog, war er in der nahöstlichen Literaturszene kein Unbekannter mehr. 1930 im Dorf Kassâbîn in den nordsyrischen Küstengebirgen geboren, hatte er von seinem Vater eine traditionelle arabisch-islamische Bildung erhalten und dürfte einen Großteil des religiösen und literarischen Erbes auswendig gekannt haben, bevor er im Alter von vierzehn Jahren zum ersten Mal eine Schule besuchte. Bereits Ende der vierziger Jahre erschienen in Zeitungen erste Gedichte von ihm unter dem nom de plume Adonis. Fasziniert vom Mythos um den bei der Eberjagd umgekommenen Schützling Aphrodites, habe er, so berichtete er später in einem Interview, das spektakuläre Pseudonym gewählt, um seine Gedichte leichter publizieren zu können. Doch für diese Namenswahl sind auch schwerwiegendere, programmatische Gründe ausschlaggebend gewesen: Ende der vierziger Jahre hatte sich Adonis der PPS (Parti Populaire Syrien, auch unter der englischen Abkürzung SSNP bekannt) angeschlossen, einer Partei, die unter Führung des charismatischen Libanesen Antûn Sa’âdah anstelle der willkürlichen, von den Mandatsmächten geschaffenen Grenzen im Vorderen Orient ein Großsyrien errichten wollte, das in etwa die heutigen Staaten Syrien, Libanon, Israel, Jordanien und Zypern umfaßt hätte. Zwar wurde Sa’âdah 1949 hingerichtet, und seine Anhänger waren immer wieder der Verfolgung ausgesetzt, doch die kulturpolitischen Schriften, in denen er eine eigene großsyrische Identität beschwor, übten auf die junge Generation von Intellektuellen einen kaum zu überschätzenden Einfluß aus. Davon zeugt die Wahl des Künstlernamens Adonis. Sa’âdah versuchte, die großsyrische Identität vor allem im Rückgriff auf das antike Phönizien zu begründen, und der Adonis-Mythos ist vorderorientalischer Herkunft, der Name geht auf das phönizische Wort „Adon“ (Herr) zurück. Der schöne Jüngling, der dem Mythos zufolge je ein halbes Jahr bei Persephone in der Unterwelt und ein halbes Jahr bei Aphrodite unter den Lebenden weilte, galt, vielleicht noch in Erinnerung an die antiken, mit seiner Figur verbundenen Fruchtbarkeitskulte im östlichen Mittelmeerraum, als Wiederauferstehungssymbol und damit als Symbol für die wiederzubelebende Größe Phöniziens, das heißt Großsyriens. Mit diesem Verständnis des Mythos wurde das Pseudonym Adonis im Osten der arabischen Welt in den fünfziger Jahren assoziiert. Aber auch jenseits dieser Assoziationen, die sich im Wandel der politischen Verhältnisse abschwächten, besitzt die Namenswahl ein programmatisches Gewicht: „Adonis“ tritt an die Stelle eines muslimischen, genauer gesagt schiitischen Allerweltsnamens, ersetzt dessen Genealogie und kulturellen Kontext durch einen mediterranen, nach Europa hin orientierten und markiert so einen provokanten Bruch mit dem eigenen Herkommen.
In Beirut fand Adonis bald Aufnahme im Kreis um den Literaten Yûsuf al-Khâl (1917–1987), der 1955 von einem mehrjährigen USA-Aufenthalt mit zahlreichen Anregungen für die Wiederbelebung der arabischen Literatur heimgekehrt war und nun versuchte, die literarische Avantgarde um sich zu sammeln. 1956 gründeten er, Adonis und einige andere junge Autoren die Literaturzeitschrift Shi’r (Dichtung), deren erste Nummer im Frühjahr 1957 erschien. Bald entwickelte sich die Zeitschrift zum Organ der neuen Lyrik im gesamten Nahen Osten. Im Unterschied zu den meisten Periodika jener Zeit hatte sich Shi’r keiner politischen Richtung verschrieben. Zwar waren viele ihrer Mitarbeiter ehemalige Sympathisanten der großsyrischen Partei gewesen, doch die politische Realität, die die Verwirklichung &s PPS-Progamms immer unwahrscheinlicher werden ließ, hatte sie eine gesunde Skepsis gegen die florierenden Ideologien und besonders gegen eine allzu plakative Vermengung von Literatur und Politik gelehrt. So bot Shi’r ein Forum für alle diejenigen, denen es vordringlich um die Literatur selbst und die Erneuerung der arabischen Dichtkunst zu tun war.
Das Erscheinen von Shi’r als gänzlich der Avantgarde gewidmete Zeitschrift war das Ergebnis eines Entwicklungsprozesses der arabischen Dichtung, der zehn Jahre zuvor von der Irakerin Nâzik al-Malâ’ika (geb. 1923) und ihrem Landsmann Badr Shâkir as-Sayyâb (1926–1964) einen entscheidenden Anstoß erhalten hatte und wenig später in die sogenannte Free verse-Bewegung mündete. Die Free verse-Dichter, von den geglückten Versuchen der beiden Iraker ermutigt, hielten sich nicht mehr an die von der klassischen Prosodie festgelegte Anzahl von Versfüßen pro Vers, sondern wählten deren Zahl frei entsprechend den internen Erfordernissen des Gedichts. Der das ganze Gedicht durchziehende Monoreim der klassischen Kasside wurde aufgegeben und durch mehrere verschiedene Reime in freier Abfolge ersetzt. Diese Revolution der lyrischen Ausdrucksform war gepaart mit einer intensiven Rezeption der modernen abendländischen Dichtung. Die meisten der jungen Autoren verfügten über Fremdsprachenkenntnisse, und Shi’r wurde eine der wichtigsten Publikationsstätten für Übersetzungen aus den westlichen Sprachen, vor allem aus dem Englischen und Französischen. Die neue dichterische Form erleichterte die Adaption der Möglichkeiten, die die abendländische Literatur aufzeigte. Die arabische Dichtung wurde, fast könnte man sagen über Nacht, politisch, sozialkritisch, wirklichkeitsnah. Aber zugleich wurde sie abstrakter, symbolverliebt, mythophil, sie gewann an Komplexität. Was ein Gedicht aussagte, erschloß sich nicht mehr beim ersten Hinsehen, sondern forderte vom Leser eine eigene Aktivität. Mit einem Wort, die Dichtung wurde das, was man gemeinhin unter ,modern‘ im literarischen Sinne versteht. Sowenig dies auf alle Free verse-Dichtungen gleichermaßen zutraf, lag doch darin das eigentliche Novum, welches die Rezeption dieser Literatur vermutlich stärker erschwerte als die neuartige, aber doch immer noch eingängige, mit Metrum und Reim arbeitende Form.
Gegen Ende der fünfziger Jahre hatten sich aus den Anfängen der Free verse-Bewegung die ersten Schulen und Stilrichtungen herauskristallisiert. Der Iraker Abd al-Wahhâb al-Bayyâtî (geb. 1926) etwa und viele seiner Landsleute hatten sich dem Sozialismus verschrieben. Al-Malâ’ika, welcher der Stein, den sie angestoßen hatte, zu weit gerollt war, zog sich auf eine Minimalposition zurück und griff die Avantgarde an. Autoren wie Adonis und Yûsuf al-Khâl sammelten sich, nachdem sie sich von der PPS-Ideologie halbwegs emanzipiert hatten, um die Zeitschrift Shi’r und vertraten, sofern dieser Ausdruck auf die arabische Lyrik übertragbar ist, noch am ehesten eine „l’art pour l’art“- Position. 1960 erschienen im Verlag von Shi’r Die Regenhymne, der wohl reifste Gedichtband des frühverstorbenen as-Sayyâb, und ein Jahr später dann Die Gesänge Mihyârs des Damaszeners, vielleicht der Höhepunkt, sicher ein Wendepunkt dieser frühen Phase der neuen arabischen Dichtung.
Die sprachliche Gestaltung des Mihyâr liefert ein gutes Beispiel für die Verstechnik der Free verse-Bewegung und geht zugleich, deren Möglichkeiten bis ans Äußerste ausnutzend, richtungsweisend darüber hinaus. Von den Prosatexten der die Kapitel einleitenden „Psalmen“ abgesehen, finden sich in allen Gedichten Reime, jedoch ohne festes Schema. Statt dessen wiederholen sich manche Reimpaare quasi leitmotivisch und bilden das innere Gerüst, die sprachlichen Gelenkstellen des Bandes. Dazu gehören die Reimkombinationen Mihyâr – „nâr“ (Feuer) – „ghubâr“ (Staub) – „yahâr“ (er ist verwirrt) – „nahâr“ (Tag, als Gegensatz zur Nacht) und ähnliche Bildungen, vor allem die zahlreichen Plurale auf „-âr“. Dies bewirkt, daß Mihyâr stets dort, wo eines der genannten Reimwörter im Text vorkommt, implizit präsent ist und als Reimpartner selbst dann erwartet wird, wenn er nicht genannt ist. Zu diesen Schlüssel- und Reimwörtern zählen unter anderem auch „Allâh“ (Gott) – „tâh“ (er verirrte sich); „ard“ (Erde; Land) – „rafd“ (Verweigerung); „djunûn“ (Wahnsinn) – „djufûn“ (Augenlider). In metrischer Hinsicht bleibt Adonis im Rahmen der von der Free verse-Bewegung eingeführten Neuerungen, nutzt diese aber mit großer Konsequenz und verwendet auch innerhalb mancher Gedichte verschiedene, freilich miteinander harmonierende Metren.
Nicht nur wegen der strukturbildenden Verwendung des Reims und des gänzlichen Verzichts auf Gedichte nach den Regeln der klassischen Prosodie, die etwa in as-Sayyâbs Gedichtband Die Regenhymne noch mehrfach vorkamen, verdient der Mihyâr, einer der ersten Gedichtzyklen der modernen arabischen Literatur genannt zu werden. Inhaltlich erweist sich seine Kohärenz zuvorderst an der Titelfigur. Der Name stammt von Mihyâr ad-dailamî (gest. 1037) ab, einem der letzten großen klassischen Dichter der Schiiten, der aufgrund seiner zoroastrischen Herkunft und seines späteren schiitischen Glaubens bei den Sunniten als Häretiker galt. Seine Außenseiterposition macht ihn für Adonis, der seinerseits der schiitischen Sekte der Alawiten, also einer Minderheit innerhalb einer Minderheit entstammt, zur Identifikationsfigur, aber davon abgesehen ist der historische Mihyâr ad-dailamî für seinen literarischen Namensvetter „Mihyâr addimashki“ (der Damaszener) nur ein literarisches Vorbild von vielen. Mihyâr ist ein Kunstgeschöpf und durch die Beifügung „der Damaszener“ deutlich als ein solches gekennzeichnet.
Sucht man in der abendländischen Literatur nach einem Vergleich für die Bedeutung der Figur Mihyârs, so könnte man sie als die Zarathustra-Gestalt in Adonis’ Werk bezeichnen. Die Affinität zum Denken Nietzsches geht über die bloße Rede vom „toten Gott“ deutlich hinaus. Es ist vor allem die Feier des schöpferischen, alles Herkommen radikal in Frage stellenden Individuums, die den „Mihyâr“ mit Nietzsche verbindet. „Er hat keine Vorfahren, und seine Wurzeln sind in seinen Schritten“, bereits dieser Satz aus dem ersten, einleitenden „Psalm“ stellt in der sich vorwiegend an traditionellen Werten orientierenden arabisch-islamischen Gesellschaft einen Affront dar. Dieser Beginn erfährt eine Steigerung, wenn die Zerstörung der überkommenen gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen ganz explizit verkündet wird:
Seht, wie er die Grenzen des Kalifats überschreitet
[…]
Jegliches Haus zertrümmernd
Seht, wie er das Imamat verwirft
(S. 15).
Aber die Ablehnung der Tradition ist keine gedankliche Anleihe, sondern hat ihre innerislamische Vorgeschichte: Einer der zentralen Begriffe des „Mihyâr“, „rafd; (Verweigerung, Ablehnung, vgl. Anm. zu S. 38) verweist auf die älteste Oppositionsbewegung gegen den orthodoxen Islam, das Schiitentum. Adonis nutzt die hergebrachten Konnotationen und das geschichtlich-politische Gewicht dieses Begriffs zur Verstärkung seiner eigenen, allerdings differierenden Aussageabsicht.
Der Tod Gottes, der dem Glauben an überkommene und falsche Götter vorgezogen wird („Und ersetzte den blinden Gott des Steins / Und den Gott der sieben Tage / Durch einen toten Gott“, S. 52), begründet einerseits Verzweiflung und existentielle Haltlosigkeit und wird andererseits als Chance für einen im Individuum wurzelnden Neuanfang begriffen:
In der Hoffnungslosigkeit, im wüsten Land
Im Schrecken und im Untergang
Entsteigt vielleicht meinen Tiefen ein Gott
(S. 25).
Der Fruchtbarkeitsmythos des Adonis, der in den fünfziger Jahren vor allem für das Wiederaufblühen Großsyriens stand, wird nun auf das Individuum als dem Nukleus eines jeden gesellschaftlichen Neubeginns verlagert; die „Anemonen“, die der Sage nach aus den Blutstropfen des tödlich verwundeten Adonis sprossen, künden nicht mehr, wie in der großsyrischen Interpretation des Mythos, von der baldigen Auferstehung des Gottes als des Retters der Nation, sondern sind nur noch „eine Zier“, die das lyrische Ich „kleidet“ (S. 85). An diesen Beispielen wird deutlich, wie sehr die scheinbar importierte These vom Tod Gottes in einen autochthonen Kontext eingebettet ist und sich entfalten kann, und zwar mit einer Stoßrichtung gegen zwei einander opponierende, die Rede von Gott instrumentalisierende Ideologien: zunächst und am offensichtlichsten gegen die islamische Tradition, dann aber ebenso, etwa an dem Umgang mit dem Anemonenmotiv erkenntlich, gegen die großsyrische Wiederauferstehungsideologie, der das Frühwerk von Adonis verschrieben war.
Auch die dem Mihyâr beigesellten koranisch-biblischen Gestalten verkörpern anschaulich die Inversion der herkömmlichen religiösen Vorstellungen. So, wie Adam das Paradies nie gesehen haben will (S. 86), verwirft „der neue Noah“ (S. 90) die Ratschläge des alten Gottes und sehnt sich, im krassen Widerspruch zur Überlieferung, zumal der islamischen, nach einem „neuen Gott“. Als ein ewig auf der Sintflut Umhersegelnder teilt dieser „neue Noah“ sein Schicksal mit Odysseus, sicherlich diejenige der herbeizitierten Gestalten, deren Schicksal das den „Mihyâr“ bestimmende existentielle Grundgefühl am deutlichsten versinnbildlicht:
Selbst wenn du heimkehrtest, Odysseus
[…]
bleibst du auf einer Erde ohne Rückkehr
(S. 39).
Angesichts einer Heimkehr, die keine wäre, ist die Reise, die Irrfahrt, die Odyssee, ist die darin inbegriffene permanente Veränderung der einzige als beständig und in gewisser Weise verläßlich erachtete Zustand. Schon Mihyâr selbst hatte ja seine Wurzeln „in seinen Schritten“ (S. 10). Die Reise, das Bild für die existentielle Haltlosigkeit, ist genau das Gegenteil der Bodenständigkeit und des Nationalismus, der so viele Gedichte der Free verse-Bewegung und auch das frühere Werk von Adonis prägte. Aber ebensosehr wie ein Symbol des Verstoßenseins und der Heimatlosigkeit ist die Reise das Zeichen der Befreiung, der Unabhängigkeit und der Sehnsucht nach Neuem, der Abenteuerlust, des Keine-Schranken-anerkennen-Wollens:
Mir sind keine Grenzen.
(S. 34)
Der metaphorische Gehalt der Reise trägt aber noch weiter, er erstreckt sich auf die Sprache, in der diese zunächst thematisiert worden ist. In einer bis dahin in der arabischen Literatur unbekannten Weise wird die Sprache zum Thema der Dichtung, zu ihrem heimlichen Helden, und in dem Gedicht „Der Neue Bund“ wird sie mit Mihyâr gleichgesetzt. In der dichterischen Sprache äußert sich somit nicht nur die existentielle Haltlosigkeit, sondern sie vollzieht sich in ihr. Sie ist das Medium der Reise, das Meer, auf dem sich die Odyssee abspielt:
Denn er ist die Sprache, die unter Masten wogt
Denn er ist der Ritter fremder Worte
(S. 14).
Der „Ritter“ ist hier zugleich, mit dem Doppelsinn, der im Deutschen verlorengegangen ist, der „Reiter auf fremden Worten“, mit ihrer Hilfe sich fortbewegend, und Mihyâr ist als „Ritter fremder Worte“ zugleich natürlich ein „ritterlicher Held fremder Worte“, von ihnen thematisiert, aber auch, wie ihr Autor, um ihretwillen auf dem Kreuzzug befindlich. Es versteht sich, daß diese „fremden Worte“ nichts anderes als „Die Gesänge Mihyârs“ sind. Sie stellen, zumal im Vergleich zur Dichtung ihrer Zeit, wahrlich unerhörte Klänge dar, aber dies ist nachrangig. Entscheidend ist, daß die Sprache dieser „Gesänge“ und ihr Gehalt zu einer Einheit verschmelzen. Die dichterische Verkündung von Gottes Tod und die Auflehnung gegen eine in Traditionen erstarrte Gesellschaft wirkt vor allem deshalb authentisch, weil die sprachliche Faktur selbst von einer solchen Erfahrung kündet. Die ,Verweigerung‘ ist keine bloße Behauptung, sondern wird vom Text gegenüber dem Leser unmittelbar verwirklicht: Die Gedichte verweigern sich mit ihrer relativen Schwerverständlichkeit dem instrumentellen Gebrauch der Sprache, der auf eine möglichst ungestörte Kommunikation, auf Informationsaustausch angelegt ist. Unter der Oberfläche schöner Reime und, sosehr sie auch im Vergleich zur klassischen Prosodie eine Neuerung darstellten, eingängiger Rhythmen lauert das oftmals kaum zu entwirrende Rauschen der Bedeutungen. Die Gedichte der Free verse-Bewegung enthielten, wenn sie mehr waren als die Wiedergabe persönlicher, romantisierender Stimmungen, meist eindeutige Botschaften (mochten sich diese auch erst auf den zweiten Blick erschließen) und waren auf die Gesellschaft hin orientiert, wenn nicht gar expressis verbis für eine zu erneuernde Gesellschaft geschrieben. „Die Gesänge Mihyârs“ wendet sich dagegen immer nur an den einzelnen Leser, und seine ,Botschaften‘, können durchaus verschieden interpretiert werden. Jeder Leser wird auf seinen eigenen Verständnishorizont verwiesen und emanzipiert sich durch den Akt der Lektüre von vorgegebenen Deutungsmustern, von einer eindeutigen, sinnstiftenden, sei es vom Autor, sei es von einem Gott abgeleiteten Autorität. Mihyâr ist „Kein Stern […], keine Offenbarung eines Propheten“ (S. 10).
Dennoch ist auch der zeitgeschichtliche Kontext, in dem der „Mihyâr“ steht, für eine ausgeglichene Bewertung in Betracht zu ziehen. Mihyâr ist nicht umsonst „der Damaszener“, und als Damaszener ist er nicht nur ein Landsmann seines Autors, sondern, was das Problem der Heimat angeht, sein Schicksalsgenosse. Unter den drei arabischen Hauptstädten, die in den Gedichten genannt werden, Beirut, Bagdad und eben Damaskus, ist die syrische Hauptstadt die einzige von übergeordneter, auf den ganzen Band ausstrahlender Stellung. Ist Bagdad nur als Heimat des Mystikers al-Hallâdj eine Erwähnung wert („Totenklage für al-Hallâdj“, S. 96) und erscheint Beirut in „Die Rabenfeder“ (S. 87f.) deutlich negativ, als sterile, den einzelnen zur Einsamkeit verdammende Metropole, so erlangt Damaskus in dem mittleren, vierten Abschnitt des Bandes, „Iram mit den Säulen“, eine beinahe mythische Dimension. Die Haßliebe, mit der es gesehen wird, kommt in dem Gedicht „Heimat“ (S. 66f.) besonders prägnant zum Ausdruck. Wenn es dort in der letzten Zeile heißt: „dies alles ist meine Heimat, nicht Damaskus“, jedoch „dies alles“, das heißt das vorher Aufgezählte, gerade im zeitgenössischen Damaskus vorzufinden ist, mithin Damaskus eigentlich zur Heimat machen müßte (hätte es nicht gerade wegen ,diesem allem‘, das heißt dem Elend, das Damaskus als politische Größe und Stadt mit ruhmreicher Geschichte dann doch zuläßt, die Bezeichnung Heimat nicht verdient), so bewirkt diese Dialektik, die das Verhältnis des Dichters zu seiner Heimatstadt prägt, letztlich deren Apotheose. Das zeitgenössische, das reale Damaskus, „Die Stadt“, wie es oft nur heißt, findet sich durchgängig negativ konnotiert, zumal, wenn das ganze von ihr repräsentierte „prostituierte Land“ (S. 63) gemeint ist, also Syrien oder das erträumte Großsyrien oder der Nahe Osten insgesamt. Dieser realen, nach Adonis’ Verständnis heruntergekommenen Stadt steht ein mythisch-utopisches Damaskus entgegen, die „Stadt mit den Säulen“ aus der altarabischen Sage (vgl. Anm. zu S. 70). Sie hat mit dem wirklichen Damaskus letztlich bloß den Namen gemein, und auch dies nur versteckt. Als solche aber, als „Stadt mit den Säulen“, ist sie, ist das so gedachte Damaskus „die Heimat derer, die verzweifelt sind / Die Heimat der Verweigerer“ (S. 70). Das utopische Damaskus und die Hauptstadt des ,prostituierten Landes‘ sind im Bewußtsein des Dichters auf tragische Weise miteinander verwoben. Erwägt man, wann diese Gedichte geschrieben und vor welchem zeitgeschichtlichen Hintergrund sie gelesen wurden, ist ihre konkrete politische Dimension unübersehbar. Man glaubte zu wissen, daß da, wo von ,Heimat‘ und ,Land‘ die Rede war, Syrien gemeint sei, das gerade zu diesem Zeitpunkt, von 1958–1961, einen Staatenbund mit Ägypten eingegangen war, der von dem sozialistische und panarabische Ideen propagierenden ägyptischen Staatschef Nasser dominiert wurde. Von einer eigenen vorderorientalischen Identität unter der Vorherrschaft Syriens war man weiter denn je entfernt. So ließ sich also die Rede vom ,prostituierten Land‘ ohne weiteres auf jenes Syrien beziehen, das sich an Nasser sozusagen verkauft hatte, und die Rückkehr des Frevlers Shaddâd in „die Heimat der Verweigerer“ konnte, am Rande der in die häretische und rebellische Gesamttendenz des Mihyâr sich fügenden Assoziationen, als Aufruf zur ,Verweigerung‘, zum Widerstand gegen die nasseristische Vereinnahmung verstanden werden. Daß Adonis sich im Laufe der sechziger Jahre selbst der panarabischen Vision Nassers zuwenden würde, ahnte er damals wohl kaum.
An dem Aufgreifen und der Anverwandlung der Sage von Iram zeigt sich unter anderem, wie sehr Adonis es bereits in Die Gesänge Mihyârs verstand, die Tradition für die von ihm beabsichtigte Aussage umzudeuten. In dem epilogartigen letzten „Totenklagen“-Kapitel, das in nucleo mit seinen sieben Gedichten noch einmal den siebenteiligen Aufbau des Bandes wiederholt, erweist Adonis der klassischen Literatur in Gestalt dreier Dichter die Referenz, die er in seiner eigenen Poetik, wie er sie in seinen theoretischen Schriften im Laufe der sechziger und siebziger Jahre entworfen hat, als Vorbilder für eine innovative, nicht in Traditionen erstarrte arabische Dichtung nennt. Die Gesänge Mihyârs des Damaszeners reihen sich damit abschließend selbst in die arabische literarische Tradition ein und präsentieren sich als deren Erbe und Nachfolger.
Die erste nach dem Mihyâr erschienene Gedichtsammlung von Adonis, Das Buch der Verwandlungen und der Wanderung in den Gefilden des Tages und der Nacht von 1965, versucht, die arabisch-islamische Überlieferung noch tiefgreifender in die neue Dichtung einzubinden und zeitgemäß zu interpretieren.
Diejenigen, die einen Blick dafür hatten, konnten diese Entwicklung bereits im Mihyâr angelegt finden. Dennoch galt Adonis weiterhin als der Autor aus dem Umfeld der großsyrischen Partei, als der er bekannt geworden war. Seit aber Nasser 1956 als moralischer Sieger aus der Suez-Krise hervorgegangen war, erschien es als ein Gebot der politischen Korrektheit, expressis verbis proarabische Positionen, und das hieß vor allem die panarabischen Visionen Nassers zu vertreten. Jeder auch noch so schwache Anklang an die PPS-Ideologie mit ihrer Forderung nach einem unabhängigen Großsyrien und einer eigenen vorderorientalischen, also nicht primär arabischen Identität wurde mit Mißtrauen beobachtet, und solange Shi’r, zu deren berühmtesten Mitarbeitern Adonis zählte, keine klaren Positionen bezog und sich, dem Namen treu, nur für Dichtung interessierte, blieb die Zeitschrift verdächtig. Nicht zuletzt die zahllosen in Shi’r erschienenen Übersetzungen aus westlichen Sprachen und die vorbehaltlose Propagierung des bei vielen als unarabisch geltenden Free verse wurden als Verrat an der arabischen Sache angesehen. Vor diesem Hintergrund erschien es wie eine Überraschung, als Adonis 1964 eine Anthologie klassischer arabischer Dichtung veröffentlichte und sich damit unmittelbar zum literarischen Erbe bekannte. Allerdings legte Adonis neue Wertmaßstäbe an dieses Erbe an und nahm die Textauswahl nicht, wie bei den herkömmlichen Anthologien alter arabischer Dichtung, nach dem Kriterium der Vorbildlichkeit der klassischen dichterischen Sprache oder der politisch-religiösen Korrektheit der Inhalte vor, sondern ließ sich dabei von der existentiellen Wahrhaftigkeit und zeitlosen Lebendigkeit der Gedichte leiten. Das Ergebnis war ein neuer, und wenn auch recht subjektiver, so jedenfalls erfrischender Blick auf das literarische Erbe. Damit war klar, daß die Kritik, die Adonis unterstellte, keinen Bezug zur arabischen Kultur zu haben, gegenstandslos war. Auch die ihrem Selbstverständnis nach unpolitische Shi’r-Gruppe konnte sich der wachsenden Polarisierung und Politisierung der Beiruter Literaturszene nicht entziehen: 1963 kündigte Adonis die Zusammenarbeit mit der Zeitschrift auf, sei es, weil er sich stärker von der immer noch unter dem Verdacht der PPS-Affiliation stehenden Gruppe distanzieren wollte, sei es, weil das interne Arbeitsklima von Shi’r durch den äußeren Druck und die ständigen finanziellen Engpässe vergiftet war. Ein Jahr später wurde das Erscheinen der verdienstvollen Zeitschrift zunächst ganz eingestellt, bis sie 1967 unter der alleinigen Ägide von Yûsuf al-Khâl noch einmal für vier weitere Jahre auflebte.
Aber bereits 1962 war in Shi’r dasjenige Gedicht erschienen, das zu einem der berühmtesten und vielleicht dem beliebtesten von Adonis’ ganzem Werk avancieren sollte: „Die Tage des Falken“, das Gedicht über Abd ar-Rahmân den Ersten, den Gründer der andalusischen Umayyaden-Dynastie. Es war – und ist – eines der ganz wenigen modernen arabischen Gedichte, das auf ungeteilt positiven Anklang stieß. Adonis hätte kaum ein geeigneteres Sujet wählen können, um die arabischen Sehnsüchte und Aspirationen zu bündeln und zugleich in eine Bahn zu lenken, die die Dichtung nicht an eine Ideologie oder politische Mode verriet. Abd ar-Rahmân leitete durch sein staatsmännisches Geschick die Blütezeit des arabischen Andalusien ein und begründete damit eine Ära, die im Geschichtsbewußtsein der Araber kaum hinter der der sogenannten ,Rechtgeleiteten Kalifen‘, die nach dem Tode des Propheten Mohammed die junge Religion konsolidierten und durch ihre Eroberungen im ganzen Nahen Osten verbreiteten, oder hinter der Blütezeit des abbasidischen Kalifats in Bagdad unter dem legendären Kalifen Harûn ar-Rashîd zurücksteht. Der unwiderrufliche Verlust Andalusiens im Zuge der Reconquista ließ es zur nostalgischen Chiffre für eine verherrlichte, historisch belegbare, doch als Modell für eine zukünftige Gesellschaft sicherlich unrealistische arabische Größe werden. Im Unterschied zu manch anderen zeitgenössischen Dichtern, die Andalusien thematisieren, vermeidet es Adonis allerdings, auf der Klaviatur der Andalusien-Nostalgie zu spielen: Andalusien kommt als geographische und geschichtliche Größe in dem Gedicht überhaupt nicht vor. Statt dessen nutzt Adonis die dem Wort „Andalusien“ im Arabischen aus den genannten Gründen eignende evokative Kraft und bindet sie statt an die arabische Nation zurück an das Individuum, das seine Blütezeit einleitete, dessen Rolle dabei neu definierend. Die Persona des Gedichts errichtet nicht wie das historische Vorbild einen neuen Staat oder eine ,Große Moschee‘ (die von Abd ar-Rahmân in Cordoba), sondern das „Andalusien der Tiefen“, und dieses, so darf man Adonis verstehen, ist die wahre Ernte, die der Osten dem Westen bringt, wie der Held des Gedichts (S. 129). Die Bedeutung des Orients ist für Adonis nicht politisch, sondern geistig: Er ist die Heimat der Religionen, der Mystik, einer besonderen Weisheit des Inneren und des Gefühls. Die Flucht Abd ar-Rahmâns, die das Gedicht zunächst zu schildern scheint, entpuppt sich als Reise ins Innere, durch eine Landschaft aus Traum, Sehnsüchten und einem Streben, die zugleich ganz den Zielen der Dichtung von Adonis entsprechen. Die mehrfach wiederholte Formel: „Verstünde ich wie ein Dichter…“, vom Dichter Adonis seiner lyrischen Maske in den Mund gelegt, verkündet ebenso den höchsten Zweck, der in der Poetik von Adonis dem Dichtersein zukommt, wie auch durch den Konjunktiv (im Arabischen sogar dem Irrealis) den utopischen Charakter seiner Realisierung. So konnte „Die Tage des Falken“ einerseits als Rückgriff und Besinnung auf die arabische Geschichte und als Einladung verstanden werden, dort und nicht in einem vorarabischen Mythos, wie dem von Adonis oder Tammûz (vgl. Anm. zu S. 85), oder in der abendländischen Mythologie nach Identifikationsfiguren zu suchen, andererseits aber wurde dieser neue Held gänzlich im Sinne von Adonis umgewertet und, dem Programm des Mihyâr treu, als ein Plädoyer für die Kräfte des Individuums und einer der Tendenz nach poetisch-mystischen Weltanschauung gestaltet. „Die Tage des Falken“ zählt somit zu einer der reinsten Einlösungen der eingangs erwähnten Verheißung, mit der die neue arabische Lyrik in den fünfziger Jahren angetreten war. Bedurfte diese Dichtung gegenüber denen, die befürchteten, sie würde das Eigene, das Arabische – was immer dies im einzelnen sein sollte – dem Vergessen überantworten und gegen literarische Importe eintauschen, nach dem Mihyâr, nach so manchen Gedichten al-Bayyâtis und as-Sayyâbs noch einer Rechtfertigung, „Die Tage des Falken“ lieferte sie.
Adonis’ verstärkte Hinwendung zum eigenen literarischen Erbe zeigt sich im Buch der Verwandlungen freilich nicht nur im Aufgreifen und in der Anverwandlung eines Stoffes aus der arabischen Geschichte. Das erste Kapitel, „Die Blume der Alchimie“, wartet mit zwei bemerkenswerten Motti auf, die den Werken eines lange Zeit beinahe vergessenen, in den dreißiger Jahren von einem englischen Orientalisten edierten und schließlich von Adonis für die arabische Literatur und vor allem seine eigene Dichtung gleichsam wiederentdeckten Mystiker entstammen, an-Niffarî. Wie auch al-Hallâdj (vgl. Anm. zu S. 96), einer der geistigen Vorläufer an-Niffarîs, zeichnete sich dieser durch völlige Unbekümmertheit gegenüber den Dogmen des orthodoxen Islam aus und kannte bei der Aufzeichnung seiner mystischen Erlebnisse keine Tabus. Die Originalität seiner Schreibweise und das im ersten Motto zum Ausdruck kommende Bewußtsein von der Unzulänglichkeit der Sprache bei der Vermittlung außergewöhnlicher Bewußtseinszustände dürften Adonis fasziniert haben. Es verwundert daher nicht, daß die dreizehn Gedichte aus „Die Blume der Alchimie“ zum Hermetischsten gehören, was Adonis bis heute geschrieben hat, an Schwierigkeitsgrad die Gedichte des Mihyâr weit hinter sich lassend. Es sind zugleich die Texte von Adonis, die dem Surrealismus am nächsten stehen und bei denen nicht nur surrealistische Techniken und Bilder für bestimmte Aussagen instrumentalisiert werden, wie bei den an den Surrealismus erinnernden Passagen aus dem Mihyâr und späteren Gedichten. Doch bei Adonis vom Surrealismus zu reden heißt, vom Sufismus zu reden; in einer recht eigenwilligen, obschon in Aspekten sicher zutreffenden Deutung dieser beiden Bewegungen betont Adonis gerne deren innere Verwandtschaft. In dem Anliegen, mittels der Sprache auf neue Wahrnehmungsebenen vorzustoßen, läßt sich das Schreiben von Adonis vielleicht wirklich mit manchen Sufi-Dichtern und diese wiederum mit manchen Surrealisten vergleichen. Allein, die Differenz dürfte kaum zu überbrücken sein, wenn es um die Natur oder die Einordnung dieser ,anderen‘ Wahrnehmung geht, und so wird der Deutungshilfen suchende Leser auch hier, so manchen Interpretationsvorschlägen des Autors zum Trotz, auf die Texte selbst zurückverwiesen. Werden im „Kapitel der Bäume. Totenklagen und Grabsteine für den Falken“ sufische und christliche Elemente zu einer diffusen Sozial- und Gewaltkritik eingesetzt, so lassen sich die Texte aus „Die Blume der Alchimie“ kaum einer bestimmten Aussageabsicht zuordnen und noch am ehesten beschreiben als Experimente hin zum Überschreiten, zum sprachlichen Durchbrechen zu einer anderen Wahrnehmungsebene, als „Alchimie des Worts“ (Rimbaud) mit dem von Adonis in zahlreichen Manifesten geäußerten Ziel, die Logik der Alltagssprache und die alltägliche Sicht auf die Dinge zu überwinden und so vielleicht zu einer Wiederverzauberung der Welt beizutragen.
Als ein in vieler Hinsicht experimenteller Text ist auch „Die Verwandlungen des Liebenden“ zu verstehen, das die hier vorliegende Auswahl aus dem Buch der Verwandlungen abschließt. So intensiv wie nie zuvor zieht dabei Adonis Texte der klassischen arabischen Literatur gerüstartig in die neue Dichtung ein, die dadurch teilweise zur Collage gerät.
Das Gedicht behandelt ein Thema, das im weiteren Werk von Adonis immer wichtiger wird, den Körper. Körperlichkeit und Sexualität sind in der zeitgenössischen arabischen Literatur Tabu. Doch dies ist es nicht, was Adonis daran reizt, und der Text enthält sich, anders als Die Gesänge Mihyârs, jeder direkten Provokation, so eindeutig manche Passagen auch sein mögen. Das, worum es Adonis eigentlich geht, ist die Substitution der Orientierung an religiöser Jenseitigkeit und an transzendenten Prinzipien durch Immanenz und Leiblichkeit, in gewisser Hinsicht eine Fortsetzung der nietzscheanischen Tendenzen des Mihyâr. Eine klassische Schilderung der Pilgerfahrt nach Mekka wird plötzlich zu einer Reise „auf dem Weg der Frauen“ (vgl. Anm. zu S. 152), und statt daß, wie bei an-Niffarî, die Sonne „mit dem Stift des Herrn“ geschrieben ist, wird bei Adonis die Frau „mit dem Stift des Verliebten geschrieben“ (S. 145). Das religiöse Paradigma der Sufi-Dichtung oder der Pilgerfahrterzählung wird profanisiert, und dem Profanen, hier Leiblichkeit und Sexualität, wird eine ursprünglich dem Heiligen vorbehaltene Anwendung der Sprache zuteil – eben die Schilderung des mystischen Erlebnisses oder die Pilgerfahrterzählung – und somit die Stellung eines, wie Gott für die Mystiker, Unfaßlichen, sich der Darstellung seiner Erfahrung, seiner ,Vision‘ Entziehenden:
Je größer die Vision, desto schwieriger ist es, sie auszudrücken. (S. 115)
Eine derartige Erfahrung ist nicht an eine von sexuellen Tabus bestimmte Gesellschaft gebunden, sondern allgemein. Und so kann man tatsächlich von einer Verwandlung durch die Dichtung, von einer Alchimie des Wortes reden: Mit der Macht der am Numinosen geschliffenen Sprache wird dem Menschlichen ein neuer, vielleicht nie dagewesener Stellenwert verliehen.
Damit ist die Richtung vorgegeben, die das Werk, ohne sich dadurch beschränken zu lassen, fortan einschlägt. Die folgenden Dichtungen von Adonis werden und wurden an den Errungenschaften des Mihyâr und des Buchs der Verwandlungen gemessen. Aber wer diese Bände zu lesen verstand, der wußte zugleich, daß die Dichtung von Adonis, so wie sie sich selbst als stetig wandelnde definiert, von der Veränderung, von der immer neuen Erprobung ihrer Mittel lebt und ihre Grenzen ständig weiter hinauszuschieben versucht. In den folgenden Bänden der Ausgabe wird zu zeigen sein, an welche Gestade genau die Odyssee „Dichtung“ den Autor oder das Meer „Adonis“ die Dichtung dann verschlägt.
Stefan Weidner, September 1997, Nachwort
Diese auf zunächst vier Bände angelegte arabisch-deutsche Ausgabe der Lyrik von Adonis soll den deutschsprachigen Lesern durch eine großzügige Auswahl das Werk des vielleicht bedeutendsten arabischen Dichters der Gegenwart erschließen. Abgesehen vom in den fünfziger Jahren publizierten Frühwerk wird die Auswahl gut die Hälfte der von Adonis in Buchform publizierten Gedichte seit 1958 enthalten.
Die zweisprachige Präsentation der Ausgabe zielt nicht vorrangig auf Arabisten oder arabische Muttersprachler ab; sie möge den Lesern, die mit dem Arabischen oder auch nur seiner Schrift nicht vertraut sind, das Gefühl für die letztliche Unvermittelbarkeit wachhalten, die Übersetzung und Kommentierung zu tilgen bemüht sind.
Der arabische Text wurde auf Grundlage der sogenannten „endgültigen Fassung“ in Zusammenarbeit mit dem Autor erstellt. Dabei konnten zahlreiche Druckfehler der arabischen Ausgabe berichtigt werden. Die vorliegende Textfassung dürfte damit die derzeit zuverlässigste sein. Im einzelnen wird die Textgrundlage in den Kommentaren nachgewiesen.
Das Zustandekommen der Ausgabe beruht nicht zuletzt auf zahlreichen Helfern und Mitarbeitern. Adonis, Sargon Boulus, Jürgen Brôcan, Ulrike Burgi und allen anderen, die in Zürich, Paris oder Köln daran beteiligt waren, sei ebenso gedankt wie dem Land Nordrhein-Westfalen, das die Arbeit mit einem Übersetzerstipendium unterstützte.
ist von abendländischer wie von orientalischer Literatur geprägt. Gerade diese Polyphonie ist es, die Lesern verschiedener Herkunft einen Zugang zu seinem Werk ermöglicht. Er bezieht sein großes internationales Renommee nicht zuletzt daher, dass seine Gedichte auch in der Übersetzung Wesentliches von ihrem Reiz bewahren. Mit einer für zeitgenössische Leser schockierenden Offenheit wird den traditionellen islamischen Herrschaftsformen ein Individuum gegenübergestellt, das sich über alle Formen der Gemeinschaft hinwegsetzt. „Die islamische Kultur braucht einen Nietzsche, der ebenso rücksichtslos und rigoros die erstarrten Prinzipien der arabisch-islamischen Kultur zerstört und neue Prinzipien sichtbar macht für eine spirituelle und intellektuelle Renaissance“ (Adonis in einem Interview). Unter Berufung auf die Konzeptionen Rimbauds, Mallarmés und der Surrealisten spricht Adonis der Dichtung die Fähigkeit zu, einen essentielleren Zugriff auf das Sein zu haben als die gewöhnliche Sprache.
Die Gesänge Mihyârs des Damaszeners vereinigt die frühen Werke des Dichters, die Schwerpunkte bilden die beiden Hauptwerke Die Gesänge Mihyârs des Damaszeners und Das Buch der Verwandlungen und des Auszugs in die Gefilde des Tages und der Nacht.
Ammann Verlag, Ankündigung
handeln von den ewigen Themen der Poesie – Liebe, Tod, Gott, Natur – und sind eine rastlose, dem Leser Strophe um Strophe, Vers um Vers immer stärker involvierende Suche nach dem Ort des Menschen auf der Schwelle zum 21. Jahrhundert.
Ammann Verlag, Klappentext, 1998
Unter den Dichtern, die alljährlich als Kandidaten für den Nobelpreis gehandelt werden, wird immer wieder der Libanese Adonis genannt. Er gilt als der bedeutendste arabische Dichter der Gegenwart, als moderner Klassiker. Einige seiner Dichtungen wurden ins Französische und Spanische übersetzt, eine erste deutsche Auswahl (Der Baum des Orients) erschien 1989. Nun beginnt Ammann mit dem ehrgeizigen Unternehmen einer auf mindestens vier Bände angelegten arabisch-deutschen Gesamtausgabe. Eine gute Fee möge dabei helfen.
Diese Fee muß schon einmal tätig geworden sein. Als 1944 der Präsident der neu gegründeten Syrischen Republik das Dorf Kassabin besuchte, wo Adonis als Ali Ahmad Sa’id geboren wurde, durfte der Vierzehnjährige ein Gedicht vortragen. Der Präsident war beeindruckt, und der Knabe konnte sich etwas wünschen. „Eine Ausbildung“, war seine Antwort. Zehn Jahre später machte Ali Ahmad Sa’id in Damaskus seine Licence mit einer Arbeit über arabische Mystik.
Unter dem Druck der politischen Situation ging der junge Mann ins liberalere Beirut und arbeitete als Lehrer, Journalist und Literaturkritiker. 1957 wurde er Mitbegründer der Zeitschrift Shi’r (Poesie), die die arabische Welt mit der literarischen Moderne bekanntmachte. Als Autor befreite er sich von allem, was damals einen arabischen Intellektuellen belastete: von Familie, Clan und erstarrter Tradition. Der Dichter nahm eine andere Nationalität an – die libanesische – und gab sich einen neuen Namen: Adonis. Die Selbsttaufe im Namen einer alten Vegetationsgottheit sollte der islamischen Welt etwas vom Abglanz jenes Gottes mitteilen, „der starb und wiederauferstand – Symbol eines transtemporalen Orients, eines Orients, der vorchristlich, vorislamisch und gleichwohl postnietzscheanisch ist“.
Kein Wunder, daß dieser moderne Synkretismus die Hüter der Rechtgläubigkeit auf den Plan rief. Zumal auch der Poet Adonis mit der tradierten Rolle des Dichters als „Lobredner Gottes und der Herrschenden“ gebrochen hatte. Mit Gedichten war Adonis bereits in den fünfziger Jahren aufgetreten.
Das reife Werk beginnt 1961 mit den Gesängen Mihyârs, des Damaszeners, die nun die deutsche Ausgabe eröffnen. Die Persona des Zyklus leitet sich her von einem klassischen schiitischen Dichter, der bei den Sunniten als Häretiker galt. Sie ist die Zarathustra-Gestalt in Adonis’ Werk:
Mihyâr, der Damaszener, hat auf die gleiche Weise versucht, etwas zu provozieren, was ich die gute Zerstörung nenne: alles niederreißen, um alles neu zu erbauen.
Dieser Mythos von Erneuerung und Wiedergeburt bestimmt auch die dichterische Praxis. Adonis ist ein metamorphotischer Dichter, der sich vielen Einflüssen öffnet. Unbefangen, oft erstaunlich ungeniert bedient er sich bei Mystik und Surrealismus, bei Mallarmé und Heidegger. Doch der Synkretist ist kein Epigone. Adonis brach mit der klassischen arabischen Prosodie und favorisiert den freien Vers. Er attackiert die tradierten Vorstellungen von Sprache. Dichten ist für ihn der Versuch einer „Abschaffung der Namen“:
So müssen die alten Sachen samt ihren Namen sterben, damit ihr Leben, das Leben, beginnen kann.
Im arabischen Kontext hat eine solche Auffassung kulturelle und politische Sprengkraft.
Adonis ist klug genug, seine Radikalität ins Gewand überlieferter Mythen zu kleiden. Ein Beispiel ist das Poem „Die Tage des Falken“, das vom Begründer der andalusischen Umayaden-Dynastie handelt und die politische Utopie eines arabischen Andalusien, die noch in manchen Köpfen spukt, in eine poetische Vision transponiert, in ein „Andalusien der Tiefen“. Ähnlich bemerkenswert ist Adonis’ Versuch, der arabischen Liebeslyrik neue thematische Impulse zu geben. „Die Verwandlungen des Liebenden“, die mehrfach die altrömischen Gottheiten „Liber, Libera, Phallus“ beschwören, bringen erotische Motive, wie sie die arabische Literatur immer noch tabuiert.
Adonis ist in alldem ein Dichter von bemerkenswerter Grazie. Er gibt uns seine Ideen als Figuren, seine Gedanken als lyrische Kadenzen. Der neue Zarathustra ist auch ein neuer Orpheus. Am Anfang der Gesänge Mihyârs erscheint ein Verzauberer und Beweger der Dinge:
Er naht wehrlos wie ein Wald, und wie die Wolken wird er nicht zurückgeschlagen. Gestern trug er einen Kontinent und rückte das Meer von der Stelle.
Dieses orphische Wunder schimmert auch durch die Übertragung Stefan Weidners.
– Der eine lebte in Alexandria, ein gebürtiger Grieche, der in seinen Gedichten die lebendige Einheit der Levante im hellenistischen Altertum beschwor, die Einheit alexandrinischen, jüdisch-christlichen, syrisch-ptolemäischen, ionischen, persischen und byzantinischen Lebens im Zeichen griechischer Kultur. Der Traum des Konstantin Kavafis galt einer zum großen Augenblick geronnenen Geschichtswelt, in der die Herrscher kamen und gingen, Atriden, die kaiserlichen Statthalter Roms, Byzanz, die Diadochen, die Osmanen, während das Reich von Kunst und Wissenschaften zeitlos blühte. Es war der Traum vom Goldenen Zeitalter eines europäischen Orients. –
Unter umgekehrten Vorzeichen ist derselbe Traum bei dem in Paris lebenden Libanesen Adonis eine historische Tatsache. Adonis feiert das arabische Fundament der abendländischen Geistes- und Wissensgeschichte. In Versen, die den starren Reim- und rhythmischen Zwängen der klassisch arabischen Dichtung den Rücken kehren, besingt er Abd ar-Rahmân den Ersten, den Gründer der andalusischen Umayyaden-Dynastie:
Zwischen Beute und Reiter, über meinem Gesicht
Kamen die Lanzen zur Ruhe
Mein Leib wälzt sich hinab
Der Tod ist sein Treiber und die Winde
Baumelnde Leichen und ein Totengesang –
Als wäre der Tag
Ein Stein, der das Leben durchdrang
Als wäre der Tag
Eine Prozession aus Tränen.
Das Gedicht, das „Die Tage des Falken“ überschrieben ist, setzt in einem dem homerischen Epos verwandten epischen Gesang ein. Doch der Ton ändert sich, als das Rauschen des Euphrat hörbar wird. Stimmfarben, Tonfälle, impulsive Sprachgesten stellen sich ein. Neben die erzählende tritt eine Sprechstimme, deren refrainartige Anrufe dem „Falken der Koraish“ gelten, Abd ar-Rahmân. Abd ar-Rahmân, genannt „der Einwanderer“, lebte 731–788 n. Chr. und gehörte zur Herrscherfamilie der Koraish. Als ihr einziger Angehöriger überlebte er die blutige Machtübernahme der Abbasiden im heimischen Damaskus, indem er nach Spanien floh. Dort gründete er den andalusischen Zweig der Umyyaden-Dynastie und schuf die Grundlagen für die Blütezeit des arabischen Andalusien. Adonis feiert ihn in einem Gedicht, dessen opulente Metaphorik nicht der historischen Größe der Figur gilt:
Ich weiß, die getöteten Weiten zu erwecken
Und der Weg wälzt seine Schrecken und wird eng
Und der Weg, das sind Spiegel
Bücher und Spiegel
Ich durchsuche seine Ecken
Durchforsche sie genau
Ertaste in ihnen die Reste
Eines Ritters…
Adonis greift einen im Geschichtsbewußtsein der Araber nostalgisch verklärten Stoff auf, die arabische Eroberung und Herrschaft in Spanien, vergangene Macht und Größe. Doch das Gedicht beschwört das „Andalusien der Tiefe“:
Der Falke baut auf dem Gipfel, in der Tiefen Grund
Das Andalusien der Tiefen
Ein Andalusien, das von Damaskus aufsteigt
Und dem Westen die Ernte des Ostens bringt.
(…)
Wie ein Liebender, im rebellischen Bersten
In der Leidenschaft von Jugend und Erleuchtung
Errichtet er das Andalusien der Tiefen
Erbaut er für die Welt diesen neuen Tempel
Und alle Weiten sind ein Buch in seinem Namen
Und alle Weiten sind in seinem Namen Sang.
„Das Andalusien der Tiefe“ ist auf Landkarten nicht zu finden. Gemeint ist das geistig-spirituelle Vermächtnis, das der Orient dem europäischen Mittelalter in Spanien hinterließ, das Wissen, das arabische Gelehrte in Spaniens Bibliotheken, namentlich der von Toledo, niederlegten. Es wurde zur Grundlage der europäischen Philosophie und Naturwissenschaften.
„Die Tage des Falken“ erschien 1962 zunächst in der Literaturzeitschrift Shi’r, zu deutsch „Dichtung“. Stefan Weidner, der unentbehrliche Vermittler und sorgfältige Herausgeber und Übersetzer des Werks von Adonis, weist auf die eminente innerarabische und internationale Bedeutung des Periodikums hin. Shi’r ging 1957 aus einem Intellektuellenzirkel um den Literaten Yûsuf al-Khâl hervor, der, den Kopf voller Ideen zur Erneuerung der arabischen Lyrik, zwei Jahre zuvor von einem mehrjährigen USA-Aufenthalt nach Beirut zurückgekehrt war. Von seinesgleichen rundum im arabischen Raum unterschied Shi’r sich durch seine reflektierte Haltung zum Verhältnis von Kunst und Politik und die Konzentration auf das literarische Programm.
Innerhalb der Geschichte der arabischen Dichtung bildet Shi’r den Schlußpunkt unter eine Entwicklung, die unter starkem Einfluß der westlichen Moderne vom starren Reim- und rhythmischen Schema der klassischen Prosodie wegführte zum freien Vers. Shi’r wurde zum Organ der lyrischen Avantgarde des gesamten Nahen Ostens und zum Gelenk zwischen Ost und West.
Im Leben des Adonis bedeutete der Anschluß an den Kreis um Yûsuf al-Khâl den endgültigen Bruch mit seiner politischen Vergangenheit. Die Wahl seines Künstlernamens, der auf einen phönizischen Fruchtbarkeitskult zurückgeht, bezeugt die Bindung des jungen Damaszener Studenten an das Programm der Parti Populaire Syrien um den Libanesen Antûn Sa’âdah, der von der Erneuerung des phönizischen Reichs aus großsyrischem Geist träumte und auf die jungen Intellektuellen seiner Generation großen Einfluß ausübte.
Ich verließ Syrien 1956, weil die Lage dort unerträglich geworden war. Die faschistische Politik, von der Syrien regiert wurde und die natürlich auch auf das kulturelle Leben einwirkte, machte es mir unmöglich, dort zu bleiben. Es war damals nur ein völlig einsinniges Denken möglich. Das Land war ein Grab für die Freiheit und das freie Denken. (Adonis im Gespräch mit Stefan Weidner, Neue Rundschau, 3. Heft 1998, S. 100)
1962 wird er libanesischer Staatsbürger. Heute lebt Adonis, mit bürgerlichem Namen Ali Ahmad Sa’îd Esbir, 1930 in Kassâbîn, einem Dorf im nordsyrischen Küstengebirge geboren, ohne Schule aufgewachsen, doch von seinem Vater in der klassisch arabischen, vorislamischen und abbasidischen Dichtung unterwiesen und durch einen Glücksfall zu Gymnasialbildung gekommen – heute lebt er als Kulturrat der arabischen Delegation bei der Unesco in Paris. Gastdozenturen führten ihn nach Genf und Princeton. 1984 hielt er Vorlesungen am Collège de France, eine „Einführung in die arabische Poetik“. Inzwischen ist er Träger einer Reihe europäischer Literaturpreise.
Die Gesänge Mihyârs des Damaszeners erschienen 1961, ein Jahr nach seiner ersten Auslandsreise, einem Studienjahr in Paris, wo ein großer Teil der Gedichte des Bandes entstanden. Stefan Weidner bezeichnet sie in einem Werkgespräch mit Adonis als „die berühmtesten und berüchtigsten Gedichtbände der modernen arabischen Literatur.“
PSALM
Er naht wehrlos wie ein Wald, und wie die Wolken wird er nicht zurückgeschlagen. Gestern trug er einen Kontinent und rückte das Meer von der Stelle.
Er zeichnet den Nacken des Tages, erschafft einen Tag aus seinen Füßen und borgt sich die Schuhe der Nacht, dann wartet er auf das, was nicht kommt. Er ist die Physik der Dinge – er kennt sie und nennt sie mit Namen, die er nicht verrät. Er ist die Wirklichkeit und ihr Gegenteil, er ist das Leben und alles, was nicht ist.
Wo der Stein zu einem See wird und der Schatten zu einer Stadt, da lebt er – lebt und führt die Verzweiflung in die Irre, auswischend die Weite der Hoffnung, dem Boden vortanzend, damit er gähnt, und den Bäumen, damit sie schlafen.
Und da verkündet er die Kreuzung der Extreme und ritzt auf die Stirn unseres Zeitalters das Zeichen der Magie.
Hier, im Auftakt, und folgenden ersten Gesang, ist Mihyâr, der „Ritter fremder Worte“, noch der gefeierte Gegenstand, nicht die Stimme des Gedichts. Im dramatischen Stil der Bühne hält Adonis seine Figur zunächst zurück, um sie von außen zu bespiegeln, durch „Stimmen“, die neben die Innenstimme des Gedichts treten:
KÖNIG MIHYÂR
Ein König ist Mihyâr
Ein König, und der Traum ist ihm ein Schloß und Gärten aus Feuer.
Eine Stimme, die starb
Klagte heute über ihn bei den Worten.
Ein König ist Mihyâr
Er lebt in des Windes Reich
Und herrscht in der Geheimnisse Land.
EINE STIMME
Mihyâr – ein Gesicht, das die verrieten, die es lieben
Mihyâr – Glocken ohne Klang
Mihyâr – auf die Gesichter geschrieben
Als Gesang, der uns heimlich besucht
Auf weißen verworfenen Wegen.
Mihyâr – Glocke derer, die sich verirren
Auf dieser galiläischen Erde.
Erst im zweiten Gesang spricht er selbst, Mihyâr, der „Zauberer des Staubs“, der seine Brust verschnürt und verschwindend sich mit dem Wind verbindet, um im Zeichen des „toten Gottes“ wiederzukehren und Iram, die Stadt mit den Säulen, zu bauen. Als eine Feuersbrunst auf sie vorrückt, wandert er fort und kehrt als Reisender am Rande der Welt zurück. Mihyâr ist eine Gestalt des Wandels und ewiger Wiederkehr.
Adonis bezeichnet die Aufgesänge an der Spitze der sieben Gedichtzyklen als Psalmen. Die hymnischen Klänge der alttestamentarischen Kirchenlieder sorgen für die sakralen Untertöne einer Feier der Kunst, die nicht von ungefähr an die kunstreligiösen Tempelgesänge und Taumeltänze der europäischen l’art pour l’art-Avantgarde des späten 19. Jahrhunderts erinnern, an die Maldoror-Gesänge Lautréamonts und den Zarathustra Nietzsches. Im Gespräch mit Stefan Weidner kommt Adonis auf die Berührungspunkte zwischen den absoluten Traditionen der europäischen Literatur und traditionellem arabischen Kunstverständnis zu sprechen, der, wie er sagt, „ursprünglichen arabischen Auffassung der Sprache“:
… nach dieser Auffassung dient die Sprache nicht allein als Mittel zum Ausdruck des Seins, sondern in gewisser Hinsicht ist sie eben dieses Sein selbst.
Und zu seiner Sonderstellung im Kontext der arabischen Literatur:
Ferner trenne ich nicht zwischen Dichtung und Denken, im Unterschied zu dem Großteil der arabischen Leser und Kritiker – heute ebenso wie in der Vergangenheit. Vielmehr muß das Denken mit der Dichtung in der dichterischen Vorstellungskraft so verschmolzen werden, als würde der Gedanke aus der Sprache und Dichtung aufsteigen wie der Duft aus der Rose. (…) In großer Dichtung gehen das Sichtbare und das Unsichtbare eine unteilbare Einheit ein.
Der grundlegende Gedanke, der aus den Gesängen Mihyârs des Damaszeners aufsteigt wie der Duft aus der Rose, nimmt leitmotivische Gestalt an in jener „wachsenden Wunde“, aus der die Zeit fließt: die Vergänglichkeit der Existenz. Adonis holt den Zeitflucht-Gedanken in die Substanz und implantiert ihn seiner Figur als Geheimnis ihrer Wandlungen. Mihyâr der Damaszener ist eine Proteusgestalt in unaufhörlich wechselnden Masken, eine veränderliche Wanderergestalt auf der Schwelle zwischen morgen- und abendländischer Kultur.
Den Brückenschlag vollzieht der Nietzsche-Leser Adonis schon mit der Benennung seiner Kunstfigur. Der historische Mihyâr, Mihyâr ad-Dailami, war im orientalischen Mittelalter ein arabisch schreibender Perser, der als zoroastrischer Häretiker verschrieen war, als Anhänger des altiranischen Religionsstifters Zarathustra. Berühmt sind Mihyârs Totenklagen. Adonis huldigt ihnen in den sieben Totenklagen des Abgesangs. Sie gelten arabischen Klassikern und, die beiden letzten, einem, der nicht genannt werden muß, denn nun ist er bekannt, Mihyâr, der Zauberer des Staubs:
TOTENKLAGE
Toter auf der Bahre
Freund
Dein Antlitz malten die Blumen des Wegs
Und deinen Schritten folgte die Schwelle.
Die Zeit tritt über in eine neue Dimension, nun, da Mihyârs Leib zu Staub zerfallen, sein Geist aber in den Gedichten lebendig ist:
TOTENKLAGE
Der Staub besingt dich, richtet an dich seine Gedichte
Reicht den Schluchten deine Schritte dar Beweinend diese Reste
Deiner Lieder, deiner Träume.
Der Staub bedeckt die Scheibe der Jahreszeiten
Bedeckt die Spiegel
Bedeckt deine Hände.
Die Staubreste sind die letzte Gestalt der proteischen Menschheitsfigur Mihyâr, durch die in Abschied und Neugeburt die sterbliche Zeit hindurchfließt, um endlich, wenn der Kalender seine Gültigkeit verloren hat, die vierte Dimension zu gewinnen: poetische Zeit.
In der perspektivischen Flucht der Gesänge, in der die Zeit sich verjüngt, ist Mihyâr die zeitlose Existenz. Wo Identität durch ihren Wechsel porös wird, verlieren Raum und Zeit ihre Bedeutung. Universale Korrespondenzen stellen sich ein. Durch die Wechselgestalt Mihyâr ziehen die Hausgötter östlicher und westlicher Kunst, Orpheus, der arabische Klassiker und Freund Harûn ar-Rashîds Abu Nuwâs und der blinde Dichter Bashshâr Ibn Burd, der eines Spottgedichts wegen hingerichtet wurde; die ruhelos Reisenden Sindbad und Odysseus; die Wiederkehrfigur Mihyâr und der ewig sich verjüngenden Phönix; Noah und die Gründergestalt Shaddâd, eine südarabische Legendenfigur, die nach der Erlangung der Weltherrschaft die Stadt mit den Säulen baute.
Der ewige Wiederkunftsgedanke, die nihilistische Denkfigur Nietzsches, stiftet den Grundriß eines arabischen Hymnus an die Freiheit und brüderliche Universalität der Poesie. Der hellenistischen Levante des Griechen aus Alexandria, dem Geschichtsmodell des Konstantin Kavafis setzt Adonis eine Vision entgegen. Nicht positives Wissen, nicht territorial gebundenes koloniales Denken, nicht die Vernunft hat das Wort. Bei Adonis kommen Hoffnungen, Wünsche, Träume zum Ausdruck, ein Verlangen, dessen Ausdrucksgesetze irregulär sind, alogisch, bildhaft. Sie beschwören, Adonis würde sagen: die „Schicksals“-Gemeinschaft der Araber und Europäer im Raum der Existenz.
Wo Kavafis die griechische Fahne über Alexandria hißt, setzt Adonis die Flagge der Sehnsucht über einem imaginären Damaskus:
Er kam zurück, Shaddâd ben Âd
Also hißt die Flagge der Sehnsucht
Und laßt eure Verweigerung als Zeichen
Auf der Straße der Jahre
Auf diesen Steinen
Im Namen der Stadt mit den Säulen.
Sie ist die Heimat derer, die verzweifelt sind
Die Heimat der Verweigerer
Sie brachen das Siegel der Amphoren
Und verhöhnten die Drohung
Und die Brücken des Heils.
Sie ist unser Land und unser einziges Erbe
Wir sind ihre Söhne bis zum Jüngsten Tag.
Eine der unentbehrlichen Anmerkungen Stefan Weidners klärt darüber auf, daß Damaskus unter aramäischer Herrschaft Aram hieß, die Stadt mit den Säulen. Bei Adonis verwandelt sie sich in ein Sinnbild irdischer Obdachlosigkeit. Der reale Ort verbindet sich mit einer Welt jenseits der Sichtbaren. Auf die arabische Mystik, die sufischen Wurzeln seines Denkens, weist er selbst hin:
Wir können das Sichtbare nur in seiner Eigenschaft als Teil des Unsichtbaren wirklich erfassen oder verstehen. Die Präsenz ist sozusagen nur eine Verlängerung der Absenz, das Offensichtliche ist eine Erscheinungsweise des Verborgenen, um die Terminologie der Sufis zu benutzen. Wir können auch sagen: Die Welt, die wir sehen, ist nur ein Abbild der Bedeutungen, die wir nicht sehen. Es gibt also im Grunde keine Trennung zwischen Bild und Bedeutung.
Das demonstrieren Die Gesänge Mihyârs des Damaszeners Gedicht für Gedicht in der Auflösung der ästhetischen Alternativen von Denken und Duft, Wirklichkeit und Möglichkeit, auch von Erfindung und Tradition. Der Dichter könne zwar zwischen den Dingen und den Wörtern neue Beziehungen stiften, sagt Adonis, aber dies Neue entstehe als Erneuerung des Ererbten. Ohne die Totenklagen Mihyârs ad-Dailami wären Die Gesänge Mihyârs des Damaszeners nicht denkbar.
Mit ihnen komplettiert der Zürcher Ammann Verlag, der jüngst Konstantin Kavafis mit einer schönen Gesamtausgabe ehrte, seine kostbare Bibliothek der Moderne, eine großartige Plejade-Reihe moderner Klassiker, vergessener, verschollener, vergriffener, unbekannter oder unübersetzter Dichtung des Jahrhunderts. Stefan Weidner ist eine vorzüglich übersetzte und kommentierte Ausgabe zu danken.
Die kargen und metaphernreichen Gedichte von Adonis sind faszinierend. Es ist dem Schweizer Ammann-Verlag, der seine Geschäftstätigkeit leider aufgegeben hat, nicht hoch genug anzurechnen, dass er die Gedichte zweisprachig abgedruckt hat. Die Gedichte wurden vom hochsensiblen und begabten Islamwissenschaftler und Schriftsteller Stephan Weidner übersetzt und stehen, soweit ich das beurteilen kann, dem arabischen Text in nichts nach. Der Band Die Gesänge Mihyârs des Damaszeners eignet sich ausgezeichnet, um Arabisch zu lernen, was ich auch mache. Adonis eröffnet mit seinen Poemen, die anzusiedeln sind in der Nähe von Paul Celan, Friederike Mayröcker oder Else Lasker-Schüler, den Blick auf ein kühnes, radikal-künstlerisches und hochmodernes Arabien.
– Werkgespräch. –
ADONIS, mit bürgerlichem Namen Ali Ahmad Said Esbir, wurde 1930 in einem Dorf im nordsyrischen Küstengebirge geboren. Nach Studium und Militärdienst, von dem er elf Monate im Gefängnis verbrachte, ging er 1956 nach Beirut und schloß sich der literarischen Avantgarde um die Zeitschrift Shi’r („Dichtung“) an. Die Veröffentlichung seines dritten Gedichtbandes, Die Gesänge Mihyârs des Damaszeners begründete seinen Ruhm; seither gilt er als einer der bedeutendsten modernen arabischen Dichter. Er lebt in Paris und Beirut. Auf deutsch erschien unlängst im Ammann Verlag Die Gesänge Mihyârs des Damaszeners. Gedichte 1958–1965 (arabisch und deutsch).
Stefan Weidner: In Ihrem Buch mit Erinnerungen: Hâ anta ayyuha l-waqt („Da bist du, Zeit“) schreiben Sie, daß die klassische arabische Dichtung Ihre Kindheit in einem nordsyrischen Dorf tief geprägt hat und daß Ihr Vater dabei eine entscheidende Rolle spielte. Welche Bildung haben Sie erhalten, und welchen Anteil hatte Ihr Vater daran?
Adonis: Ich entstamme einer bäuerlich-dörflichen Umgebung. Eine Schule gab es in unserem Dorf nicht. Es gab allerdings eine elementare Koranschule (Kuttâb), die von einem sogenannten „Lehrer“ geleitet wurde, der auf traditionelle Weise die Kinder des Dorfes im Lesen und Schreiben unterrichtete. Diese Koranschule hatte natürlich auch kein eigenes Gebäude; lediglich im Winter fand der Unterricht in einem Haus statt. Zu allen anderen Jahreszeiten hatten wir unter freiem Himmel Unterricht, in der Regel unter dem größten Baum des Dorfes.
In dieser Koranschule lernte ich die Anfangsgründe des Schreibens, der Schönschrift und des Lesens. Zu Hause mit meinem Vater wurde dann das, was ich dort lernte, ergänzt und erweitert. Als ich abends aus der Dorfschule kam, lehrte er mich, die alte arabische Dichtung zu lesen, besonders die vorislamische und die abbasidische Dichtung. So las ich unter seiner Anleitung noch in meiner Kindheit die meisten großen Dichter der klassischen arabischen Literatur, wie Imru l-Kais, Abû Nuwâs, Abû Tammâm, Sharîf ar-Râdî, al-Bukhturî, al-Mutanabbî und al-Ma’arrî. Diese Lektürestunden mit meinem Vater wurden durch die verschiedenartigsten Erklärungen zu den Bedeutungen der – mir natürlich meist unbekannten – Wörter, zur Syntax und Morphologie und zu den sprachlichen Bildern ergänzt.
So wuchs ich einerseits inmitten der Natur auf, weit entfernt von jeder Stadt, andererseits in einer Atmosphäre, die von der Dichtung geprägt war.
Weidner: Bleiben wir bei dem Stichwort Natur. Auch wenn Sie keine Naturdichtung im engeren Sinne schreiben, so ist doch die Natur ein wesentliches Element Ihrer Dichtung, besonders in den fünfziger und sechziger Jahren, wo Sie eine Art Privatmythologie der Natur entwickeln, in der vor allem das zyklische Absterben und Wiederaufblühen eine große Rolle spielt. Da Sie dabei häufig auf mystisches Vokabular zurückgreifen, könnte man auch von einer Naturmystik sprechen. Sehen Sie die Wurzeln dieses schriftstellerischen Ansatzes ebenfalls in der Kindheit, oder kam das eher später, also gleichsam rational, bewußt? Was lehrte Sie die Natur?
Adonis: In der Kindheit war ich mir sicher nicht klar darüber, auf welche Weise ich von der Natur lernte oder was sie mir gab. Und wenn ich jetzt näher bestimmen sollte, was dies war, so müsste ich mich gleichsam in einen Forscher verwandeln, der die Erinnerung befragt und analysiert. Dennoch gibt es tief in meinem Inneren, in meinem Körper, in meinem Werdegang und in meinem Denken, Elemente und Dinge, die mir wie natürlich oder instinktiv vorkommen und von denen ich das Gefühl habe, daß sie der Natur entstammen und daß die Natur dabei meine erste Lehrerin war.
Zu diesen Dingen zählt eine gewisse Einfachheit im alltäglichen Leben, der Wunsch nach einem Leben in Freiheit ohne jegliche Fesseln sowie danach, frei denken und seine Gedanken frei ausdrücken zu können – als sei der Mensch nur ein anderer Name für die Dinge der Natur, für die Rose, für die Luft, für den Fluß oder für das Meer. Dazu gehört ein Gefühl der Harmonie im Umgang mit dem anderen, gleichwelche Meinungsverschiedenheiten ich mit ihm habe – so wie die Pflanzen auf einem Feld miteinander harmonieren, ungeachtet ihrer Vielfalt und Verschiedenartigkeit.
Schließlich, und besonders, die ständige Erneuerung der Natur in ihren Gestalten und Arten. Darunter verstehe ich, daß der Tod nur ein anderer Name für das Leben ist: Damit das Korn sprießt, muß es begraben werden. Denn wir leben nur, indem wir unseren Tod leben; und den Tod gibt es nur, weil wir leben.
Weidner: Noch einmal zurück zu Ihrem Bildungsweg: Als Sie vierzehn waren, haben Sie doch noch eine Schule in der Stadt besuchen können. Können Sie erzählen, wie es dazu kam?
Adonis: Bis zu meinem dreizehnten Lebensjahr hatte ich keine richtige Schule besucht, nicht nur, weil es in meinem Dorf keine richtige Schule gab, sondern auch, weil es die materiellen Möglichkeiten meines Vaters nicht erlaubten, mich auf eine Schule in der Stadt zu schicken. Ich verbrachte daher eine Zeit voller Unruhe und Orientierungslosigkeit, im Dilemma zwischen dem großen Wunsch, eine Schule zu besuchen, und der Unerfüllbarkeit dieses Wunsches.
1943 befreite mich ein sonderbarer Zufall aus diesem Zustand. Syrien war gerade unabhängig geworden, und der erste gewählte Präsident war Shukri al-Kuwatlî. Er hatte sich vorgenommen, nach seiner Wahl die verschiedenen Gegenden Syriens zu besuchen, um sie kennenzulernen, darunter auch meine Heimatgegend, das Bergland landeinwärts von Lattakia. Ich weiß überhaupt nicht mehr, wie ich auf die Idee kam – jedenfalls schrieb ich ein Gedicht, das ich bei seinem Besuch vortragen wollte, wobei ich mir dachte: Das Gedicht wird ihm gefallen. Dann, so malte ich mir weiter aus, würde er mir in die Augen blicken und mich fragen: „Brauchst du irgendeine Unterstützung? Was kann ich dir anbieten?“ Worauf ich ihm antworten würde: „Ich möchte eine Schule besuchen und studieren.“
Und genau so geschah es dann auch, wie eine Prophezeiung, die Wirklichkeit wurde. Man schickte mich dann zu einer Schule, die damals die beste in der Gegend war, die École de la mission laïque française in Tartus.
Weidner: Sie hatten also schon früh Gedichte gelesen; wie aber kamen Sie zu dem reichlich extravaganten Namen Adonis? Was bedeutete dieser Name für Sie, als Sie ihn annahmen?
Adonis: Seit ich richtig schreiben gelernt hatte, also etwa ab meinem dreizehnten Lebensjahr, schrieb ich kürzere Gedichte, die ich an Zeitschriften und Zeitungen zur Veröffentlichung schickte und mit meinem richtigen Namen unterschrieb: Ali Ahmad Said Esbir. Aber sie wurden immer abgelehnt oder einfach gar nicht wahrgenommen. Als ich siebzehn Jahre alt war, las ich zufällig etwas über den Mythos des Adonis: Wie schön er gewesen sein soll, wie er vom Eber getötet wurde und wie er jedes Jahr im Frühjahr vom Tod auferstand. Dieser Mythos faszinierte mich, und mir gefiel dieser Name: Adonis. Ich sagte mir, ich schreibe von jetzt an unter diesem Namen, und identifizierte mich mit der Gestalt des Adonis, wobei ich mir vorstellte, daß die Zeitungen und Zeitschriften, die mich „töteten“, indem sie meine Gedichte ablehnten, das Wildschwein waren.
Ich schrieb also wieder einen dichterischen Text, unterzeichnete ihn mit „Adonis“ und sandte ihn an eine der Zeitungen, die meine Gedichte immer abgelehnt hatten – und er wurde gedruckt. Daraufhin sandte ich gleich noch einen Text, und er wurde auf der ersten Seite gedruckt, zusammen mit dem Hinweis: „Der Verfasser dieses Textes wird wegen einer dringenden Angelegenheit gebeten, sich in der Redaktion einzufinden.“ Und so, wie ich damals herumlief, ging ich dorthin, armselig gekleidet und keineswegs den Eindruck erweckend, ich sei der Verfasser dieses Textes. Und zunächst glaubte auch keiner der Redakteure dort, daß ich derjenige sein könnte, den sie um sein Kommen gebeten hatten. Nun, schließlich mußten sie es wohl oder übel glauben.
Seit dieser Zeit trage ich den Namen Adonis. Ziemlich schnell wurde er, obwohl nur entliehen, mein richtiger Name. Dies war 1947 in Lattakia. Damals kannte ich noch nicht die kulturpolitische Bedeutung, die dieser Name auch hatte. Ich lernte sie erst allmählich kennen. Es gab starke Widerstände gegen diesen Namen, Widerstände von Seiten einer Ideologie des Arabertums und von seiten des arabischen Nationalismus, vorgetragen von Schriftstellern und Politikern, die in mir einen Abweichler zu erkennen glaubten, indem sie fragten: Warum ändert einer seinen Namen von dem schönen arabischen „Ali“ in „Adonis“?
Weidner: Nach Ihrem Studium in Damaskus und nach Ihrem Militärdienst, von dem Sie 11 Monate im Gefängnis verbrachten, sind Sie 1956 nach Beirut gegangen. War es nur Abenteuerlust und die große Faszination, die von Beirut ausging, weswegen Sie Syrien verließen, oder gab es auch andere Gründe?
Adonis: Ich verließ Syrien 1956, weil die Lage dort unerträglich geworden war. Die faschistische Politik, von der Syrien regiert wurde und die natürlich auch auf das kulturelle Leben einwirkte, machte es mir unmöglich, dort zu bleiben. Es war damals nur ein völlig einsinniges Denken möglich. Das Land war ein Grab für die Freiheit und das freie Denken.
Weidner: Sie waren zwar schon in Syrien bei weitem kein unbekannter Dichter mehr und hatten bereits zwei Gedichtbände veröffentlicht; doch die dichterische Phase, auf der Ihr Ruhm bis heute beruht, scheint untrennbar mit Beirut verbunden. Dort publizierten Sie 1961 einen der berühmtesten und berüchtigsten Gedichtbände der modernen arabischen Literatur Die Gesänge Mihyârs des Damaszeners. Schon der Titel provoziert einige Fragen: Wer ist Mihyâr, und wo liegt die Verbindung zwischen Ihrem Mihyâr und dem historischen Dichter Mihyâr aus dem Dailam des Mittelalters, einem Perser, der auf arabisch schrieb und als zoroastrischer Häretiker verrufen war?
Adonis: Einerseits wählte ich den Namen Mihyâr gleichsam im Gefolge des Namens Adonis, um den Übergang vom Eigenen zum fremden Anderen zu markieren; andererseits dient die Figur natürlich als künstlerisches Mittel, mit dem ich meine Gedanken und Gefühle ausdrücke, besonders mein Verhältnis zur arabischen Kultur und zu den Werten, auf die sie sich stützt oder die sie predigt. Die Wahl dieses Titelhelden für den Gedichtband resultiert ferner, wie ich glaube, aus dem Einfluß, den andere Symbolfiguren, wie Zarathustra, Hamlet, Maldoror usw. auf meine Poetik hatten.
Zwischen Mihyâr dem Damaszener und dem mittelalterlichen Mihyâr aus Dailam besteht nur eine Namensverwandtschaft. Der Mihyâr von Adonis ist eher verwandt mit Nietzsches Zarathustra oder anderen literarischen Symbolfiguren.
Weidner: Mihyâr als der arabisch-islamische Zarathustra?
Adonis: Mögen die Leser entscheiden!
Weidner: Bleiben wir bei Nietzsche: Wann haben Sie ihn zum ersten Mal gelesen?
Adonis: Ich muß gestehen, daß ich Nietzsche bis heute noch nicht vollständig gelesen habe. Den Zarathustra habe ich zuerst in einer arabischen Übersetzung kennengelernt, Mitte der fünfziger Jahre. Daraufhin begann ich alles zu lesen, was mir von seinen Büchern oder an Studien über sein Werk in die Hände fiel. Ich denke, daß Nietzsche mich in meiner Dichtung und in meinen Studien beeinflußt hat und auch weiterhin beeinflußt.
Weidner: Neben Nietzsche scheint mir Heidegger derjenige Philosoph zu sein, der auf Ihr Denken und Ihre Dichtung am stärksten eingewirkt hat, und zwar besonders, was die Rolle und den Stellenwert der Dichtung in der modernen Welt betrifft.
Adonis: Das ist richtig, besonders, was die Rolle der Dichtung in der Moderne und die Auffassung der Sprache betrifft, die gleichsam als das Sein selbst verstanden wird. Heidegger steht, scheint mir, der ursprünglichen arabischen Auffassung der Sprache sehr nahe. Denn nach dieser Auffassung dient die Sprache nicht allein als Mittel zum Ausdruck des Seins, sondern in gewisser Hinsicht ist sie eben dieses Sein selbst.
Ferner trenne ich nicht zwischen Dichtung und Denken, im Unterschied zu dem Großteil der arabischen Leser und Kritiker – heute ebenso wie in der Vergangenheit. Vielmehr muß das Denken mit der Dichtung in der dichterischen Vorstellungskraft so verschmolzen werden, als würde der Gedanke aus der Sprache und Dichtung aufsteigen wie der Duft aus der Rose.
Die wesentliche Frage in der Beziehung von Dichtung und Denken besteht also darin, wie wir den Gedanken ausdrücken, wie wir aus dem Denken reine Dichtung machen. Dichtung hingegen, die die Gedanken als Gedanken übermittelt, behagt mir nicht, ist doch die Dichtung dabei nicht mehr als ein bloßes Mittel oder Gefäß zur Übermittlung der Gedanken, und dann eigentlich keine Dichtung mehr, sondern Maxime, Meinung, Gedanke, die in einem Wagen namens Dichtung transportiert werden. Für meine Begriffe ist die wirklich große Dichtung in jeder Zeit und in allen Sprachen eine Dichtung, der das Denken und der Sinn für das Metaphysische, für die existentielle Sorge und das Schicksal innewohnt. In großer Dichtung gehen das Sichtbare und das Unsichtbare eine unteilbare Einheit ein.
Weidner: Doch zurück zu Die Gesänge Mihyârs des Damaszeners. Ein Großteil der Gedichte in diesem Band ist in Paris entstanden, wo Sie 1960 mit einem Stipendium der französischen Regierung ein halbes Jahr lebten. Es war Ihr erster Aufenthalt im westlichen Ausland. Wie wirkte die Zeit in Frankreich auf den Gedichtband ein?
Adonis: Ganz sicher hatte mein Aufenthalt in Paris großen Einfluß auf mein Schreiben und besonders auf die Entstehung des Mihyâr. Diese Zeit war eine Gelegenheit für mich, verstärkt auch die bildende Kunst zu erfahren, mich unmittelbar mit französischen Dichtern und Schriftstellern auszutauschen oder einfach nur für mich allein und völlig ungebunden durch diese faszinierende, einzigartige Stadt zu streifen. Vor allem aber war es für mich die Möglichkeit, die Kultur, der ich angehöre, aus einer Entfernung zu sehen, die mir geholfen hat, eine neuartige und objektivere Sicht auf sie zu gewinnen, sie umfassender und tiefer zu verstehen und schließlich sie zu fassen und zu durchdringen. Dies alles hatte Einfluß auf den Mihyâr und die darin vorgebrachte Sicht auf die arabische Kultur, auf die Menschen und die Dinge. Aber natürlich auch auf die Art, wie diese Sicht ausgedrückt wurde.
Weidner: Die Gesänge Mihyârs des Damaszeners, obwohl in Paris und in Beirut entstanden, haben unterschwellig Damaskus zum Thema und heimlichen Helden. Welche Vorstellungen waren für Sie mit Damaskus verbunden, als der Mihyâr entstand?
Adonis: Damaskus bedeutete für mich die arabische Kultur in ihrer Blüte und auch in ihrer Rückständigkeit. Aber natürlich auch die arabische Politik – in ihrer Toleranz ebenso wie als Unterdrückung, dort, wo sie Freiheit erlaubt, ebenso wie dort, wo sie versklavt. Damaskus verweist auf den arabischen Menschen in seinem Blick auf die Zukunft und das Unbekannte, in seinem Kampf gegen die physischen und metaphysischen Kräfte, die ihn am Vorankommen hindern, daran, seine schöpferischen Energien zu entfalten und sich völlig zu befreien, körperlich und geistig.
Weidner: Im Laufe der sechziger Jahre haben Sie sich verstärkt der klassischen arabischen Literatur zugewandt, was sich unter anderem in der Herausgabe einer großen, dreibändigen Anthologie der klassischen arabischen Dichtung niederschlug. Die mystische Literatur der Sufis wurde für Sie besonders wichtig. Worin sehen Sie die Bedeutung des dichterischen Erbes für die moderne arabische Literatur?
Adonis: Der Dichter kann zwar in gewisser Hinsicht neue Beziehungen zwischen den Dingen und den Wörtern entwerfen, doch ohne Bezug auf sein literarisches Erbe wird er nichts wirklich Neues schaffen können. Wie sollte ein Dichter in einer Sprache, deren Geschichte er nicht richtig kennt, irgendein neues, ästhetisch befriedigendes Sprachgebilde schaffen können? Darin, denke ich, liegt die große Wichtigkeit des literarischen Erbes und auch die Wichtigkeit einer Einbeziehung dieses Erbes in den schöpferischen Prozeß.
Besonders betrifft dies die sufische Literatur, denn die Erfahrung der Sufis beruht auf einer anderen Herangehensweise an den Menschen und die Existenz und dementsprechend auch auf einer völlig anderen Ausdrucksweise. In ihrer Perspektive und ihren Ausdrucksmöglichkeiten ist die sufische Dichtung innerhalb des arabischen dichterischen Erbes eine ganz eigene, sozusagen „neue“ Welt: einzigartig, von außergewöhnlichem Reichtum und gleichzeitig autochthon.
Auf einige Eigenschaften dieser sufischen Erfahrung, die unmittelbar mit der dichterischen Tätigkeit verbunden sind, möchte ich besonders hinweisen.
Erstens: Wir können das Sichtbare nur in seiner Eigenschaft als Teil des Unsichtbaren wirklich erfassen oder verstehen. Die Präsenz ist sozusagen nur eine Verlängerung der Absenz, das Offensichtliche ist eine Erscheinungsweise des Verborgenen, um die Terminologie der Sufis zu benutzen. Wir können auch sagen: Die Welt, die wir sehen, ist nur ein Abbild der Bedeutungen, die wir nicht sehen. Es gibt also im Grunde keine Trennung zwischen Bild und Bedeutung.
Zweitens: Die Wahrheit ist nicht einfach gegeben oder verfügbar. Sie bedarf einer fortwährenden Entdeckung – sie ist vor uns, nicht hinter uns. Die Wahrheit kommt immer aus der Zukunft. Die Betonung der Flexibilität und Beweglichkeit der Wahrheit richtet sich besonders gegen religiöse oder ideologische Vorstellungen, welche die Wahrheit in einen festgefügten Gesetzesrahmen oder in eine geschlossene Lehre einsperren.
Drittens: Das Schreiben läßt sich keinen vorgängigen Regeln unterwerfen. Die dichterische Aktivität beschränkt sich nicht auf die Prosodie oder andere sprachliche Gesetze, sondern sie ist eine ständige Explosion der Sprache, die die Wörter immer wieder erneuert, indem sie die Wörter anders benutzt, als es ihnen ursprünglich zugedacht war. Es gibt also keine vorgängigen, festgesetzten Formen des Schreibens. Das Schreiben schafft sich seine Formen, wie sich der Fluß sein Bett schafft oder das Meer seine Wellen.
Weidner: Eine Ihrer schönsten und berühmtesten Dichtungen, die auch unmittelbar in der arabischen Geschichte wurzelt, ist das Gedicht „Die Tage des Falken“ von 1962. Das Gedicht ist inspiriert von der Gestalt Abd ar-Rahmâns ad-dakhil, dem Begründer der andalusischen Omayyadendynastie und ersten Bauherrn der berühmten Großen Moschee in Cordoba, ohne jedoch Abd ar-Rahmân wirklich historisch darstellen oder deuten zu wollen. Was bedeutet diese Persona für Sie?
Adonis: Einerseits, und zunächst, deutet sie natürlich auf das Exil und die Emigration hin – denn Abd ar-Rahman mußte ja, nachdem seine Dynastie im Osten der arabischen Welt ausgelöscht war, nach Andalusien fliehen –, andererseits deutet sie, eben aufgrund ihrer Verbindung zum Exil, auf das Verhältnis des Eigenen zum Anderen hin. Das Exil wird in dem Gedicht zur Heimat, in dem das Eigene, dem zu entfliehen war, wiedergefunden wird, und eben so, durch das Exil, zur Blüte gelangt. Fast, als sei die Entwurzelung nur eine andere Form des Verwurzeltseins, oder als sei jene die höchste Stufe dieser. Ferner, zumindest nach dem Ideal der Poetik in diesem Gedicht, liegt das Verhältnis des Eigenen zum Fremden nicht allein in der Annäherung und Öffnung ihm gegenüber, sondern das Andere ist eine wesentliche Dimension des Eigenen. Das Eigene vollzieht sich daher nur durch dieses Andere wirklich, und kann sich selbst eigentlich nur durch das Andere erfahren. Das Andere ist die Kehrseite des Eigenen.
Weidner: Was Sie sagen, wird, denke ich, vor allem vor dem Hintergrund verständlich, daß „Die Tage des Falken“ auch ein Gedicht über die Beziehung von Orient und Okzident ist. So heißt es etwa von Abd ar-Rahmân: „Er bringt dem Westen die Ernte des Ostens.“ In einem Gedicht vom Anfang der neunziger Jahre kommen Sie auf diesen Gedanken noch einmal zurück. Dort schreiben Sie: „Der Orient sät, dem Westen kommt die Ernte zu.“ Was verstehen Sie unter dieser Ernte? Spielt die Dichtung eine Rolle dabei?
Adonis: Ja genau. Der Westen hier ist der Andere, über den ich gesprochen habe. Ich möchte hier wiederholen, was ich schon einmal in einem Aufsatz gesagt habe, nämlich daß „Der Orient“ und „Der Okzident“ politisch-ideologische Begriffe sind. Rein menschlich betrachtet, gibt es keinen Orient und keinen Okzident, nur die eine Menschheit. Und insofern es zwischen ihnen einen kulturellen Unterschied gibt, ist es ein Unterschied, der historisch gewachsen ist, also quantitativer, nicht qualitativer Natur ist. Was „Die Ernte des Ostens“ betrifft, so deutet diese Formulierung eher auf die Vergangenheit hin, das heißt auf den bedeutenden Beitrag der Araber zur Weltkultur. Die Dichtung gehört natürlich zum schönsten und reichhaltigsten dessen, wofür diese „Ernte“ steht.
Weidner: Wie viele bedeutende Dichter haben auch Sie sich auf dem Gebiet der Übersetzung hervorgetan. Besonders berühmt sind ihre Saint-John Perse Übersetzungen, die fast einhellig auch im Arabischen als dichterische Texte empfunden werden – was bei Übersetzungen moderner Literatur ins Arabische nicht gerade häufig vorkommt. Was empfinden Sie, wenn Sie Ihre eigene Dichtung in einer fremden Sprache lesen oder hören? Was halten Sie überhaupt von der Übersetzung von Gedichten?
Adonis: Zunächst sollten wir festhalten, daß die Besonderheiten der dichterischen Sprache, das heißt ihre Musikalität und das in jeder Sprache ganz eigene Verhältnis der Wörter untereinander, nicht übersetzbar sind. Was übersetzbar ist, sind die Gedanken und die Bilder – man kann also die Sichtweise des Dichters übertragen, seine Welt, seine Kunst jenseits der Ebene der Sprache. Und dies ist nicht wenig, besonders wenn die Übersetzung selbst dichterische Qualitäten besitzt. Und obwohl ich gerne zugestehe, daß es auch gelungene Übersetzungen meiner Dichtung in die verschiedenen Sprachen gibt, so lese ich jede Dichtung natürlich lieber in der Originalsprache, falls dies möglich ist. Aber wer beherrscht schon so viele Sprachen, daß er nicht irgendwann auch auf Übersetzungen angewiesen wäre? Daher bleibt die Übersetzung, was immer man darüber denken möge und was immer daran problematisch ist, eine unerläßliche und großartige Arbeit. Und oft erringt sie einen Grad an sprachschöpferischer Kraft, der an das Niveau des Originals heranreicht.
Weidner: Bei vielen, ja man könnte sagen, bei einem Großteil der arabischen Leser gilt Ihre Dichtung als dunkel. Das liegt sicher auch daran, daß die „Dunkelheit“ in der arabischen Dichtung noch nicht sehr lange heimisch ist und die Lesegewohnheiten sich den neuen dichterischen Ausdrucksweisen noch kaum angepaßt haben. Ihre Dichtung wird daher als elitär empfunden. In den westlichen Sprachen dürfte das Problem anders liegen. Das Publikum für Lyrik ist einerseits wesentlich kleiner, andererseits ist dieses Publikum schwierige Texte gewohnt. Dennoch, denke ich, besteht Ihrer Lyrik gegenüber in Deutschland (und vielleicht hier mehr als anderswo in Europa) eine Hemmschwelle, die sicher auch mit Ihrer Herkunft aus einer bei uns als fremd empfundenen Kultur zusammenhängt. In Frankreich dagegen, das aus geschichtlichen Gründen schon immer einen sehr intensiven Kontakt zur arabischen Welt pflegte, sind Sie derjenige zeitgenössische nicht-französische Lyriker, der am besten auf dem französischen Buchmarkt vertreten ist. Was würden Sie den deutschen Lesern sagen, um diese Hemmschwelle abzubauen?
Adonis: Ganz einfach, ich würde die Leser fragen: Ist meine Dichtung, auch als arabische, fremde, wirklich dunkler, unzugänglicher als die Dichtung Hölderlins, Novalis’, Stefan Georges, Gottfried Benns oder Paul Celans, um nur einige deutsche Dichter zu nennen? Ferner würde ich ihnen sagen, daß die dichterische Sprache, die ihnen einfach scheint, weil sie sie von ihrem kulturellen Hintergrund her leichter verstehen, oft nicht eine einfache oder leichtverständliche Dichtung bedeutet, sondern sehr viel Komplexität bergen kann. Und schließlich: Was ist denn schon klar oder verständlich an der Rose, die man in der Hand hält, wenn man sie jemandem bringt, den man liebt?
Aus dem Arabischen übersetzt von Stefan Weidner
Neue Rundschau, Heft 3, 1998
Dichter Adonis wird 80
n-tv.de, 1.1.2010
Adonis: Syrischer Dichter feiert 80. Geburtstag
sarsura-syrien.de, 31.12.2010
Tilman Krause: Dichter Arabiens: Adonis wird 80 Jahre alt
Die Welt, 31.12.2009
Stefan Weidner: Ewige Wiederkehr
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.1.2020
Adonis liest seine Gedichte auf dem Prager Schriftstellerfestival 2009.
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