MYSTIZISMUS UND SURREALISMUS (1989)
I.
Um meine Analyse des Mystizismus zu erklären, bin ich wiederholt darauf gekommen, mich auf einen Vergleich mit den Werken des Surrealismus zu stützen. (Wenn ich von Surrealismus spreche, meine ich die Theorie von André Breton selbst und nicht die künstlerische oder literarische Produktion, die sie umgibt.) Ich möchte zuerst einmal den Sinn eines solchen Vergleiches präzisieren, den ich als Hypothese für die Lesweise vorschlage, die einem anderen Werk gewidmet werden sollte, welches sehr stark die Surrealisten im Okzident beeinflußt hat: dem Rimbauds, ihrem Vorläufer, der auch den arabischen Mystikern ein sehr naher Verwandter war.
Weil sie darauf abzielt, das Verborgene zu entschleiern, das Unbekannte, und sich denen entgegenstellt, die sich an den Buchstaben, den heiligen Text halten und sich als die ausschließlichen Besitzer des Wortes betrachten, erscheint die mystische Erfahrung wie literarische Ketzerei. Der Mystiker könnte sich nicht an das „Stammwort“ halten, und er könnte auch den Traditionalisten nicht dienen, wie sie es von ihm verlangen. Ganz im Gegenteil gibt er vor, es zu benutzen, um eine nicht institutionelle, undoktrinäre Wahrheit mitzuteilen, die sich nur durch Symbole, Andeutungen und Anspielungen auszudrücken vermag. Durch ihre „ketzerische“ Natur, durch die Schaffung eines unterschiedlichen Raumes für die Wörter wird die mystische Literatur dem surrealistischen „Ketzertum“ verwandt.
Selbstverständlich ist eine solche Annäherung nur dann möglich, wenn man die mystische Erfahrung als eine Denkweise betrachtet und nicht etwa nur als eine religiöse Erfahrung. Wenn man zugeben will, daß sie nicht das Privileg einiger weniger ist, sondern lebenswichtig für jeden Menschen, der sich von den Ketten der materiellen Welt befreien möchte, so kann man vielleicht mit Recht im Surrealismus ein Abenteuer sehen, das dem Mystizismus ebenbürtig ist, wenn auch nicht völlig ähnlich oder gleich.
Die surrealistische Erfahrung besteht in der Nutzung und Erfindung einer anderen Sprache, die ein Klima schafft und Signale benützt, die denen des Surrealismus entsprechen. In seiner Annäherung an das Reale lenkt uns das mystische Experiment von ausgetretenen Wegen ab und stößt uns in Richtung Weite und Reichtum. So sieht es die bekannte Realität als durchaus störendes Hindernis an. Es inkarniert eine Ablehnungskraft, die alles, was dominierend, vorherrschend und institutionell ist, negiert. Es erscheint also vordringlich als eine Kraft, die allem, was besser und schöner ist, entgegendrängt in Richtung auf eine nicht kodifizierte Schönheit. Die mystische Sprache stellt den heiligen Text in Frage, um die verborgenen Bedeutungen hervorzuheben und um die eigentliche Bewegung der Sprache wiederzufinden, aus der sie geboren wurde, eine Sprache der Erfindung und der Schöpfung. Ebenso überholt das surrealistische Experiment den „Text“ in seiner Realität und die anerkannten Bedeutungen, damit eine festgefahrene, durch die Tradition überlieferte Sprache platzt und das „Über-Reale“, das aus dem Höheren Kommende, erscheint. Das also, was für den Mystiker das Verborgene, das Unbekannte, das Unsichtbare, die Transzendenz ist, bedeutet in der surrealistischen Erfahrung die Welt des Unbewußten, das kaum wahrnehmbare Unbekannte des Lebens, das aber, einmal wahrgenommen, nach immer tiefgehenderer Erforschung ruft. Hinzu kommt, daß das mystische Experiment eine ablehnende Kraft gegen alles darstellt, was kulturelle Einordnung, religiöse Institution ist, und damit also auch gegen die islamische, politische Welt. Auch das surrealistische Experiment führt, wie man weiß, dazu, die soziale Ordnung und die etablierte Kultur vehement abzulehnen und nach der Revolution zu rufen.
Der Mystiker geht von seinem eigenen Leben aus, um zu sehen und zu leben; auch der Surrealist betrachtet seine Erfahrung zuerst als persönliches Abenteuer und als Veränderung seiner Existenz. Der „Ekstase“ des Mystikers entspricht die „Erhellung“ des Surrealisten – diese Bezeichnung ist für den einen wie den anderen gültig. Beide sind vom Unbekannten besessen, beide arbeiten an der Entschleierung und wollen, daß ebendiese Entschleierung zum Extremen führt, also zu einer radikalen Veränderung der üblichen Art zu sehen und zu wissen. Die ungewöhnlichen Bilder, die durch dieses Experiment entstehen, werden vom einfachen Leser abgelehnt, ebenso wie sie im Falle des Mystikers vom Gesetz abgelehnt werden. Ob es sich im einen Falle nun um ein Delirium handelt, das durch ein methodisches Eintauchen ins Unbewußte provoziert wird, und im anderen Falle um eine Ekstase, durch die die Welt versteckte Bedeutungen erkennen läßt, jedenfalls hat man es immer mit einem Irrationalismus zu tun, der die Natur der gelebten Erfahrung selbst erfordert, weil es sich genau darum handelt, den Rahmen der Vernunft zu sprengen.
Jeder wirkliche Dichter ist irgendwo ein Mystiker oder ein Surrealist. Er hofft auf eine Welt, die sich außerhalb des täglichen Universums befindet, und er ist sich bewußt, daß er sie nicht erreichen kann als unter zwei Bedingungen. Die erste ist, sich vollständig von poetischen Begriffen zu befreien, die zur Gewohnheit geworden sind, damit seine Sprache und sein Wesen durchsichtig werden. Die zweite ist, sich von dieser Durchsichtigkeit in Richtung auf das Unbekannte der Sprache und der Welt tragen zu lassen. Auf solche Weise zeigt uns das Gedicht das, was man nicht sieht, ohne deswegen irreal zu werden, es erreicht einfach eine andere Realität, es ist nicht völlig von der sichtbaren Wirklichkeit abgeschnitten, sondern geht mit ihr auf andere Weise um als die geläufige Sprache.
Es entsteht so eine wahre „Wirksamkeit“ des Gedichts: Das Reale, das sich entschleiert, ist realer als das banal Sichtbare, weil es, wenn man einmal das Offensichtliche hinter sich gelassen hat, zeigt, was in ihm verborgen liegt, und es verändert so unser erlangtes Wissen und unsere Art zu leben. Der gemeinsame Ausgangspunkt des Mystizismus und des Surrealismus ist die Ablehnung der Endgültigkeit der menschlichen Beschaffenheit. Der Surrealismus stützt sich auf den Traum, um zu entfliehen. Der Traum als Sprache des Unterbewußtseins par excellence vernebelt die Sinne und pfeift auf die Grenzen der Logik. Das automatische Schreiben ist eine Art Äquivalent im Wachsein, in ihm werden wie im Traum die Zensur der Vernunft und des Bewußtseins ausgelöscht.
Jedenfalls bleibt ein großer Unterschied zwischen dem Surrealismus und dem Mystizismus bestehen, die Orientierung des ersteren auf das Äußere, die Dimension seiner ständigen Suche nach der Verbesserung der konkreten Lebensbedingungen. Das mystische Experiment ist in seinem ablehnenden Charakter lediglich eine Konsequenz, sicherlich unvermeidbar, aber nicht für sich selbst gesucht. Weiterhin ist der Mystizismus zuerst Erforschung seiner selbst und all dessen, was sich außerhalb befindet, ist Erfahrung der inneren Leere. Der Surrealismus verbleibt in einer Forscherposition, bindet sich aber trotzdem vor allem an Entdeckungen, die vom eigenen Ich tangiert werden. Das ändert nichts an der Tatsache, daß beide übereinstimmen darin, daß ihr Einfluß sich nicht auf die Literatur beschränkt, sondern daß diese nichts als ein Zeugnis und die Spur einer Unternehmung ist, die viel tiefer geht, nämlich einer neuen Verhaltensweise. Sie treffen sich auch bei der gemeinsamen Auffassung von der Armut der positivistischen Vision von der Welt und in ihrem Wunsch, den Menschen von der technischen Endlichkeit der Welt zu befreien. Sie versuchen sicherlich nicht auf gleiche Weise, den Menschen zu verändern, aber beide versuchen, ihm die Schlüssel zu einer neuen Harmonie zu übergeben. Für den Mystiker ist diese Harmonie die des Sichtbaren und des Unsichtbaren, des Offensichtlichen und des Verborgenen; für den Surrealisten ist es die Vereinigung der Kräfte der Wachheit und der Instinkte des Traums, die frei ausgesprochen werden.
II.
Mystizismus und Surrealismus sind beide auf der Suche nach dem „höchsten Punkt“, wo sich diese Einheit vollzieht, nach einem idealistischen Punkt, der keine „Gegend“ ist der abstrakt ist und dem allgemeinen Verständnis entgeht. In ihm vereinen sich Anfang und Ende, Herkunft und Rückkehr, das Sichtbare und das Verborgene in einer Einheit. Ein solcher Punkt kann nur in der Vorstellung erreicht werden, keinesfalls durch die Vernunft. Einen solchen Punkt zu erreichen, ist eher ontologisch als konzeptionell, es läuft auf die Erlangung der „Einheit des Wesens“ hinaus. Um dort anzukommen, wird eine Transformation der psychologischen und gefühlsmäßigen Fähigkeiten notwendig. Man muß auf die eine oder andere Weise ihre Aktivitäten außer Kraft setzen, damit sich die Imagination voll ausweiten kann. Der Körper wird schwebend und bekommt ungewöhnliche Fähigkeiten. Das ist der Punkt, wo der Makrokosmos sich dem Menschen so zeigt, als sei er in seinem eigenen Mikrokosmos enthalten.
Für den perfekten Menschen, wie ihn der Mystiker sieht, sind das Universum und sein Körper eins, und das Unbekannte ist im Herzen seiner selbst.
Am Anfang lebt der Mensch im Exil, weit entfernt von diesem „höchsten Punkt“. Dieses Gefühl ist gemeint, das Rimbaud übersetzt, wenn er schreibt:
Das wahre Leben ist abwesend.
Wie die surrealistische Literatur ist auch der mystische Text eine Beschreibung der Reise, die in diesem Exil beginnt und zum höchsten Punkt führt. Die Ankunft an diesem Punkt bedeutet für den Mystiker das, was Sohrawardi das „okzidentale Exil“ nennt. (Sohrawardi: Philosoph und Mystiker im Persien des XII. Jahrhunderts, der eine Verbindung zwischen der Philosophie Platos und dem Sophismus herstellen wollte.)
Für den Surrealisten geht es darum, sich von der Technisierung und von den religiösen Werten zu trennen, die dieses andere Exil darstellen – sozusagen „okzidental“. Bei Sohrawardi ist der Begriff Okzident völlig innerlich; das mystische Abenteuer vollzieht sich zwischen zwei Polen: dem höchsten Punkt der Erleuchtung, das ist der „Orient“, und unserer Befangenheit in der Welt der Dunkelheit hier unten, das ist der „Okzident“. Der mystische „Bericht“ besteht aus drei Stufen: Die erste ist die Gefangenschaft, wo „die Ketten und die tiefen Kerker ohne Grenzen sind und wo sich Finsternis an Finsternis fügt“; dies entspricht bei den Surrealisten dem normalen allgemeinen Leben, wo der Mensch Sklave von religiösem Aberglauben und ökonomischen Zwängen ist. Die zweite Etappe ist die der Flucht in den Orient; der höchste, der herrlichste Punkt ist die Ankunft, der Moment, wo man das erreicht hat, was Sohrawardi „die Quelle des Lebens“ nennt.
Der Mystiker sucht während dieser Reise sich selbst, sein wirkliches Wesen, das er mit dieser Quelle des Lebens erreicht; und um dort anzukommen, muß er zuerst das konkrete „Ich“ verändern, von dem er ausgeht, diese Form, in der der Mensch unter den konkreten Bedingungen des Lebens existiert. Er sucht zuerst das Ich als Fremdes, wie einen Teil von sich, der ausgebürgert ist aus dem wirklichen Wesen. Dieses Ich ist nichts anderes als eine Trennung zwischen Subjekt und Objekt, ja, es definiert sich nur durch diese Separation. Die Ankunft im „Orient“ ist nun der Moment, wo das Exil endet, wo der Mystiker „EINS“ wird, der individuelle Mensch und die Existenz sind endlich vereint; der Mensch hört auf, „ich“ zu sein, und wird „ER“, das heißt Gott. Diese Unternehmung, die zum wahren, nicht existenten Leben führt, fordert den „Tod“ des Okzident. Das Unbekannte wird durch die Revolution des Herzens entschleiert, einer Revolution der Einheit, die das Ich überflügelt und Tiefen des Wesens erforscht.
Als Erben der Romantiker, die manchmal eine solche Vereinigung der Gegensätze begriffen haben, gibt es für die Surrealisten keinen Zweifel, daß sie die Fackel dieser Suche nach der Einheit des Wesens ergriffen haben, auch wenn sie dem „höchsten Punkte“ nicht den gleichen metaphysischen und religiösen Wert eingeräumt haben wie die Mystiker. Die Automatische Literatur – die der ekstatischen Schreibart im arabischen Mystizismus entspricht – ist die totale Abwesenheit jeder Zensur, konsequenterweise ist sie die Explosion der inneren Welt. Sie sagt alles, „was man nicht sagt“, und um dort anzukommen, zerreißt sie methodisch die überkommene Sprache und die Ordnung, die sie bestimmt. Sie nimmt sich vor, das Unbekannte im Inneren des Menschen zu entdecken. Sie ist nicht mehr ein Instrument, um einem vorher existierenden Text eine mehr oder weniger gute Form zu geben, sie ist in sich selbst der befreiende Schritt. Sie ist ihr eigenes Objekt. Die Frage ist also nicht, ob sie in sich künstlerisch „schön“ ist oder ob sie Kriterien entspricht, die äußerlich sind, sondern lediglich, inwieweit sie reich an Sinn ist, fähig, das Unbekannte zu entschleiern. Sie hat nichts mehr mit „literarischen“ Fragen zu tun, die sich mit Form oder Tiefe befassen. Sie ist ein Zerplatzen des Sinns, Übergang zu multiplen, überbordenden Sinnen, die Entschleierung einer endlosen Welt innerhalb des Menschen, eine Wanderung in eine verborgene, mysteriöse Welt im Inneren. Auf dieser Wanderung ist sie Ekstase, Verlorenheit, Verirrung, Unvernunft. Sie zeigt den Wahnsinn des Menschen in seinen Versuchen, die äußere Welt beherrschen und mit ihr kommunizieren zu wollen, aber sie ist auch die Erringung eines anderen Wissens und eines anderen Heils als des von den institutionellen Religionen gepriesenen. Der Mensch ist alles in dieser Literatur, und sie umfaßt ihn ganz, unabhängig von allen ästhetischen Theorien, frei von allem, was lediglich einen Teil des Menschen erfassen kann: nur seine Vernunft oder vereinzelte Gefühle. Sie entwickelt sich zwischen der Realität und dem Traum; sie schlägt die Brücke zwischen diesen beiden.
III.
Ich beschließe diesen kurzen Vergleich, indem ich, ohne tiefer darauf eingehen zu wollen, eine Richtung in der Forschung vorschlage, die neue Beziehungen zwischen Wissenschaft und Poesie erkennen läßt. Es scheint mir, daß eines der Hauptcharakteristika des Surrealismus darin besteht zu erfüllen, was die wissenschaftliche Erkenntnis nicht erreichen kann. Wenn er sich der rationalistischen westlichen Technisierung entgegenstellt, so stellt er sich doch nicht notwendigerweise gegen die Wissenschaft; er kompensiert ihre Unfruchtbarkeit und schafft dadurch eine andere Art von unabhängiger „Wissenschaft“. Dies kann man auch vom Mystizismus sagen. Tatsächlich sind die mystische Erfahrung und der Surrealismus weniger an der Entdeckung neuer Objekte oder einer neuen Schönheit interessiert, sondern eher an neuen Geheimnissen im Inneren des Menschen und im Universum. Man darf nicht vergessen, daß der Surrealismus im Kontext der großen wissenschaftlichen Revolution geboren wurde, die wiederum durch den Positivismus entstand. Einer Revolution, die alle Gebiete berührte und besonders die Mathematik und die Physik. Auch der Mystizismus entstand in einer arabischen Gesellschaft, die vom Gewicht der Tradition dominiert wurde. Im arabischen und islamischen Erbe stellt der Mystizismus die Öffnung neuer Horizonte dar, eine Erweiterung der Wahrnehmung sowohl für das Wissen wie auch für das Leben. Der Mystizismus bedeutet radikale Ablehnung der religiösen und der rationalen Tradition und öffnet dem Menschen verbotene Regionen, die von dieser Tradition ignoriert oder sorgfältig zurückgewiesen werden. Das ist der Grund, aus dem er ein Kriterium der Modernität bleibt; heute wie gestern kann kein Werk der arabischen Literatur „groß“ genannt werden, wenn es sich nicht ins Herz dieser Regionen begibt. Das gleiche kann man vom surrealistischen Schriftwerk des Okzidents sagen. Die Dokumente, die es uns bietet, zeigen kartografische Entdeckungen unbekannter Länder der Seele, die die Psychologie als rationale Wissenschaft nicht einmal hätte erahnen können und die letztendlich ein Studiengebiet für sie darstellen könnten. Sie würden wie ein Dokument von größter Wichtigkeit erscheinen und eine neue Konzeption von der menschlichen Seelenlandschaft ergeben, die den Menschen nicht als eine definitive Norm sieht, sondern in ihm eine Schöpfung erkennt, die immer wieder neu entsteht.
(…) Sein letztes Werk Das Gebet und das Schwert nimmt die Themen seiner Dissertation über Das Statische und das Dynamische in der arabischen Kultur wieder auf. Adonis erinnert uns daran, daß die Verteidigung der menschlichen Würde und der Demokratie mit dem Respekt vor den kreativen Kräften verbunden ist. Diese müssen jedoch frei sein von jeglichem institutionellen Druck, ob religiös oder politisch. Kultur und Demokratie, die Rolle der Auflehnung in der arabischen Poesie, eine neue Annäherung an den Mystizismus und die Bedeutung des Anderen und des Exils sind Themen, die dieser Essay behandelt. Adonis begrüßt stets neueste literarische Strömungen, zu denen er die arabische Mystik zählt. Als offener und toleranter Mensch prangert er die tyrannischen Tendenzen des Islams sowie die technologischen Exzesse der okzidentalischen Konsumgesellschaft an (…)
* * *
Jeune Afrique: Sie sind als einer der größten zeitgenössischen arabischen Dichter bekannt. Warum heute dieser Essay?
Adonis: Ich beabsichtige vor allem, die Frage der religiösen Struktur der arabischen Gesellschaft neu zu stellen. Ich unterscheide die Religion, die ich respektiere – als Weltanschauung, als persönliche Erfahrung – von der, die ich bekämpfe – die institutionalisierte Religion, die Religion als Parameter der Staatsangehörigkeit. Es ist unmöglich, eine Gesellschaft auf religiösen Prinzipien zu errichten. Die von mir sehr geschätzte Demokratie, Modernität und Rationalität stehen der herrschenden Interpretation des Islams entgegen.
Jeune Afrique: In Ihrem Buch verbinden Sie Kultur und Demokratie.
Adonis: Die Demokratie ist Pluralität auf allen Ebenen, ist Glaubensfreiheit. Jede religiöse Gesellschaft ist unbedingt tyrannisch. In einer nicht wirklich demokratischen Gesellschaft kann die Kultur nicht aufblühen, und das Fehlen der Demokratie ist für die kulturelle Krise der arabischen Welt verantwortlich.
Jeune Afrique: Sie bestehen auch auf der Rolle der Auflehnung in der arabischen Poesie.
Adonis: Ich versuche, neue Beziehungen zwischen Worten und Dingen, Menschen und Universum zu schaffen. In der literarischen Definition ist Auflehnung die Ablehnung alles Herrschenden und das Trachten nach einer besseren Welt. Ein Poet kann die Dinge nicht hinnehmen, wie sie sind. Sein Daseinsgrund besteht darin, über die Dinge hinauszugehen.
Jeune Afrique: Sehen Sie den Okzident als einen dem Orient entgegengesetzten Block?
Adonis: Niemals betrachtete ich den Okzident als einen Block. Es gibt viele Okzidente, so wie es auch viele Griente gibt. Ich kann den technologischen, expansionistischen und militärischen Okzident nicht akzeptieren, ebensowenig wie den politischen und religiösen Orient. Ich bewundere und liebe den mystischen und gastfreundlichen Orient.
Jeune Afrique: Warum wählten Sie Rimbaud als Brücke zwischen Orient und Okzident?
Adonis: Meiner Meinung nach steht Rimbaud für die Notwendigkeit des Austausches zwischen den Kulturen und für die Behauptung, daß Zivilisationen und Kulturen sich begegnen und sich begegnen müssen. „Ich, das ist ein anderer“ kann mit der arabischen Mystik: „Du bist du selbst, soweit du der andere bist“ verglichen werden. Durch die Kenntnis des anderen lernt man sich selbst besser kennen. Es gibt offensichtliche Ähnlichkeiten zwischen dem okzidentalischen und dem arabischen Mystizismus: Beide suchen nicht die Trennung des Sichtbaren vom Unsichtbaren, des Ichs vom Anderen, des Bekannten vom Unbekannten, des Realen vom Surrealen.
Jeune Afrique: Stehen deshalb Exil und Wüste im Mittelpunkt Ihrer Poetik?
Adonis: Ich betrachte mich nicht als einen Verbannten. Ich habe Paris als Stadt gewählt, denn sie ist offen, sie verfügt über einen unerschöpfbaren Charme, und ich habe eine tiefe Beziehung zu ihr. Man versteht seine Gesellschaft besser, indem man sich von ihr entfernt. Doch sollte ein Schriftsteller nie seine Wurzeln abschneiden sonst wird er zu einem vertrockneten Baum. Unsere Poesie ist in der Wüste geboren. Die Wüste ist Symbol der Freiheit, der direkten Verbindung mit den Dingen, der Welt, dem Menschen. Sie ist eine AntiInstitution, ein Naturzustand.
(Aus der Zeitschrift Jeune Afrique vom Juni 1993, Nr. 1694)
* * *
(…) Das Gebet und das Schwert vereinigt Adonis’ Texte, die über das intellektuelle und poetische Erbe der Araber und über die von der Religion und der Macht auf die gesamte islamische Gesellschaft ausgeübte Tyrannei berichten. Diese Verurteilung der Verbote enthält auch einen ebenso heftigen Angriff auf die okzidentalische Heuchelei sowie die wirtschaftlichen und kulturellen Modelle, die sie exportieren will. Adonis kritisiert die Komplizenschaft von Theologen und Händlern zur Herbeiführung einer Normalisierung, die danach strebt, „den Geist mit der Ware der theologischen Maschine zu ernähren und den Körper mit der Ware der technischen Maschine des Konsums“. (…) So stehen die arabische Kultur im besonderen und die okzidentalische Kultur im allgemeinen unter einem Druck von Uniformität und Abwesenheit von Unterschieden, der zu einer falschen Universalität führt.
(…) Adonis verwirft nicht das gesamte Erbe, sondern erforscht die Vielfalt der Quellen: Sumerer, Griechen, Phöniker, präislamische Dichter und Mystiker.
(…)
* * *
Adonis: Wenn man dem Geist der arabischen Poetik gehorcht, darf man ohne Schaden einige formelle Abweichungen riskieren. Beschließt man jedoch, gegen die traditionelle Prosodie zu schreiben, ist es eine andere Sache. Der freie Vers ist in der arabischen Sprache praktisch nicht mehr strittig, denn die musikalischen Gefüge bleiben davon unberührt. Das Prosagedicht ist dagegen ein radikaler Bruch und wird immer noch geschmäht. (…) Die traditionellen Strukturen abzulehnen, bedeutet eigentlich, den von der Religion aufgezwungenen Werten zu widersprechen. (…) Mit anderen Worten, die Sprache, ihre Gesetze, ihre Rhythmen und Verzierungen anzutasten heißt, Gott zu beleidigen und damit auch den Chef, ob er Emir, König, Diktator oder Präsident auf Lebenszeit ist.
Sogar die laizistischen Staaten, die behaupten, Gegner des Islams zu sein, bewahren die autoritären und sektiererischen Reflexe derer, die sie bekämpfen. Ob er will oder nicht, der Dichter wird immer als eine Art Wortführer betrachtet. Die Mächte fühlen sich immer im Recht, sich seiner Dienste zu bedienen. Die Wahl des Dichters ist einfach: entweder Handlungsgehilfe zu sein oder zur Zielscheibe zu werden. Es ist in der arabischen Welt bis auf wenige Ausnahmen nicht möglich, sich herauszuhalten. Sobald man Sprache benutzt, wird man mit hineingezogen, eingereiht oder genötigt. (…) Für die Mehrheit der Araber gleicht die Poesie einem Amt, das auf allen Ebenen des sozialen Lebens einschließlich der Politik eine Rolle spielt.
Le Monde: Gibt es zwischen Handlungsgehilfe oder Zielscheibe tatsächlich keine weitere Möglichkeit?
Adonis: Es gibt eine. Sie wird immer häufiger gewählt, es ist das Exil.
Le Monde: Aber es bleiben doch einige wahrhaftige Poeten in den arabischen Ländern?
Adonis: Selbstverständlich, und sie widerstehen dem von mir beschriebenen Druck. Es handelt sich vornehmlich um die vielversprechende Generation von 30jährigen, die man in solch verschiedenen Ländern antrifft wie SaudiArabien, Syrien, Ägypten, Marokko und den Golfstaaten. Bei ihnen findet sich die instinktive Ablehnung einer religiösen oder politischen Einreihung. Sie interessieren sich für den Alltag, für die Dinge des Lebens, übertragen ihre persönlichen Erfahrungen, mißtrauen großen Dingen und hassen Slogans, Verhaltensmaßregeln und Messages.
Le Monde: Sie nennen Dichter verschiedener Länder in einem Atemzug, als ob die nationale Zugehörigkeit für Sie keine Rolle spielen würde?
Adonis: Die Dichter, von denen ich rede, stehen tatsächlich über dem Lokalpatriotismus. Trotzdem gleichen sie sich nicht und fühlen sich keiner Schule zugehörig. Was sie von den Wortführer- Dichtern unterscheidet ist der Wille jedes einzelnen, nur von sich selbst zu berichten. Ihre Gedichte können realistisch, lyrisch, surrealistisch, träumerisch oder all das auf einmal sein. Sie können in Versen oder in Prosa schreiben. Sie sind zunächst Dichter-Individuen und nicht Propagandisten oder Papageien.
Le Monde: Sie erwähnen lediglich Schaffende, die sich religiösen Einflüssen entziehen.
Gehen denn aus den „integristischen“ oder „fundamentalistischen“ Bewegungen keine Poeten hervor?
Adonis: Diese Bewegungen streben eine Gesellschaft an, in der nur Spezialisten der islamischen Jurisprudenz, Polizisten und Regierende ihren Platz finden werden. Poeten sind in ihren Augen nur Boten des Teufels oder, damit gleichbedeutend, des Auslandes.
(…) Das Exil wird vielleicht gerade zu dem entscheidenden Ort der arabischen Poeten. London, Paris, Berlin und sogar Budapest gehören heute neben Beirut, Rabat und Kairo zu den Zentren der Ausstrahlung ihrer Poesie. Übrigens handelt es sich dabei um ein breites Phänomen. Schreiben ist etwas Höheres als ein Zugehörigkeitsgefühl. Nationale Grenzen können die Schreibkunst nicht mehr aufhalten.
(…) Was mich betrifft, ich fühle mich in der arabischen Sprache verwurzelt, aber der Baum, mit dem ich mich identifiziere, breitet sich in alle Richtungen aus.
(Nach einem Interview mit Le Monde vom 20.5.1994)
Reportage von Axel Reitel: Wer war Siegfried Heinrichs?
Dichter Adonis wird 80
n-tv.de, 1.1.2010
Adonis: Syrischer Dichter feiert 80. Geburtstag
sarsura-syrien.de, 31.12.2010
Tilman Krause: Dichter Arabiens: Adonis wird 80 Jahre alt
Die Welt, 31.12.2009
Stefan Weidner: Ewige Wiederkehr
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.1.2020
Adonis liest seine Gedichte auf dem Prager Schriftstellerfestival 2009.
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