Adonis: Kultur und Demokratie

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Adonis: Kultur und Demokratie

Adonis-Kultur und Demokratie

VOM „SCHWIERIGEN“ GEDICHT (1991)

I.
Um sich mit den potentiellen Gefahren einer sogenannten „schwierigen“ Literatur und den Risiken einer „leichten“ Literatur zu befassen, möchte ich lieber von meiner eigenen Erfahrung ausgehen, die sich auf die arabische Gesellschaft und Kultur bezieht, und mich außerdem auf das Gebiet der Poesie beschränken, das am geeignetsten ist, um mein Thema darzustellen, indem ich hoffe, daß die Lehren, die sich daraus ziehen lassen, gleichzeitig die Probleme aufhellen, denen sich heute die Literatur in anderen Ländern der Welt gegenübersieht. Das Wort „schwierig“ und die verschiedenen Interpretationen, denen es in der vorislamischen Poesie unterliegt, liefern uns eine ganze Anzahl dazugehöriger Bilder, welche die Beziehungen zwischen Gedicht und Autor dieser Zeit definieren. Wenn der Araber jener Zeit das Wort „schwierig“ vernahm, ergaben sich für ihn bestimmte Assoziationen: die Besteigung einer steilen Felswand, eine rebellierende Kamelstute, die sich nicht zähmen lassen will, eine begehrenswerte, aber unerreichbare Frucht. Seine natürliche Neigung trieb ihn zu einer Dichtung, die sich im Gegensatz zu diesen negativen Bildern befand; die ohne Anstrengung aufnehmbare Poesie, die er suchte, sollte einen leicht zu beschreitenden Weg weisen, eine ohne Anstrengung zu erntende Frucht, eine unterwürfige Kamelstute. Der Araber forderte, vor dem Islam, vom Gedicht diese „Einfachheit“, die ihm gestattete, es aufgrund seiner geistigen Fähigkeiten zu beherrschen, indem er jedes Gedicht, das dieser Forderung nicht entsprach, ablehnte; er schätzte es als „schwierig“ ein, häufig ein abwertendes Wort. So sagte man von einem schwierigen Dichter, daß er einen „Felsen bearbeite“, während der leichte Dichter „aus dem Meer schöpfe“.

II.
Vor dem Islam, also in der Zeit mündlicher Weitergabe, sieht das Verhältnis zwischen Gedicht und Publikum so aus. Dies zieht sich dann bis in die Zeit des Islams hinein und nimmt mit dem Auftreten der geschriebenen Literatur eine neue Dimension an, die man, wenn auch unter dem Risiko eines Anachronismus, mit Ideologie vor dem Buchstaben bezeichnen könnte. Man muß tatsächlich bei jeder Abhandlung über die arabische Poesie sehr genau das Verhältnis beachten, das der Moslem zu seiner Sprache hat. Die vor dem Islam ja heidnische arabische Sprache ist durch das Ereignis der Verkündung des Korans „heilig“ geworden; wobei sie sich nicht etwa deswegen verändert hätte. Sie ist Gebärmutter oder Mutter des Wortes Gottes, dies war sie freilich auch vorher für die ganz und gar heidnische Poesie. Jetzt aber, sobald die heilige Verkündung die poetische Inspiration ersetzen will, präsentiert sie sich als einzige Quelle des Wissens und verjagt die Poesie und die Dichter aus ihrem Reich. So hörte die Dichtkunst auf, das zu sein, was die Poeten vorher für sich in Anspruch genommen hatten: das Wort der Wahrheit. Allerdings hat der Islam nun nicht die gesamte Poesie als Form und Ausdrucksweise ausgemerzt. Er hat ihr lediglich ihre Wissensform genommen, indem er ihr eine neue Rolle vorschrieb: die Wahrheit der Offenbarung des Korans zu preisen und zu predigen. So enthob der Islam die Poesie ihrer Hauptcharakteristika, der Intuition und der Fähigkeit der Entdeckung. Er machte aus ihr ein vermittelndes Werkzeug, könnte man sagen. Als Offenbarung vereinigt der Islam das Wort mit der Tat, daher seine politische Tragweite, die sich auf dem Gebiet der Literatur zweifach niederschlägt: zuerst durch eine Annäherung der Poesie an die anderen schriftlichen Formen, die der Verbreitung der islamischen Botschaft dienen, und zugleich durch ihre Entfernung, sprich Hintansetzung, ihren Ausschluß und sogar durch Verbote all dessen, was nicht genau dieser Botschaft dient. Vielleicht kann man hier die Vorgänger einer ideologischen Anwendung der Kunst entdecken. Man sollte festhalten, daß in der arabischen Gesellschaft die Konkurrenz der Poesie nicht die Wissenschaft oder die Philosophie ist sondern eindeutig die Religion. Vor dem Islam war die Dichtkunst ja Inspiration, das heißt prophetisch, aber nichts unterworfen, fern jeder Institution oder Norm. Man müßte eine besondere Studie anstellen, um zu erforschen, wie und warum die Poesie in der arabischen Gesellschaft dahinzusiechen begonnen hat, als der Islam kam, wie sie mehr und mehr verkümmerte, je mehr sie sich in den Dienst der Religion stellte, der Bekennungssucht, des politisch-ideologischen Engagements. Wir wollen hier einen Satz des Kritikers al-Asma i (VIII. Jh.) zitieren, der in diesem Zusammenhang interpretiert werden muß; er sagt:

Die Poesie ist ein Mißgeschick und beginnt mit dem Bösen; sobald sie ins Gute einzudringen versucht, zerstört sie sich.

Wir können uns vorstellen, was unter solchen Bedingungen das Abenteuer darstellte, das die Poesie innerhalb einer „heiligen“ Sprache zu bestehen hatte, in einer Welt, deren soziale, kulturelle und politische Strukturen auf einer Verkündung beruhen, die in der gleichen Sprache ausgedrückt wurde.

III.
Während sich die Verkündung durch Institutionen manifestierte, die in der Poesie lediglich ein Instrument in ihren Diensten sahen, haben sich im Alltagsleben zwischen den Dichtern und ihrem Publikum neue Beziehungen hergestellt, neue Arten des Verständnisses, neue Werte und andere Beurteilungskriterien. Die politisch-religiöse Institution übte ihre Macht als treuer Wächter der koranischen Verkündung aus, in der festen Überzeugung, daß diese Verkündung ein für allemal, völlig klar und ohne möglichen Irrtum oder Unzulänglichkeit den Menschen und das Universum beschrieben und definiert hat. Eine solche Überzeugung war bestimmend für die Bildung des moslemischen Individuums innerhalb eines absoluten Glaubens und eines absoluten Textes, wobei jede Befragung dieses Textes nach Authentizität, die unterschiedliche Interpretationen hervorrufen könnte, verboten war. Unter diesen Bedingungen konnte der Zweifler nicht mehr erwähnt werden. Der Islam hat als letzte Botschaft Gottes an die Menschen das heilige Wort besiegelt, keinerlei Wort kann Neues hinzufügen. Jede zusätzliche Botschaft unterstellt, daß die Verkündung unvollständig sei und unvollendet. Auf dem Gebiet der Seele muß sich das Wort also auf das Lob und die Verehrung der verkündeten Botschaft beschränken, geistig kann diese nur als die letzte Erklärung der Dinge betrachtet werden. Die Dichtkunst als höchste Ausdrucksform hat so keinen anderen Wert als den ihres äußeren Aspekts. Sie muß sich dieser „Leichtigkeit“ als Lehrmittel unterwerfen, weil das gestattet, sie weiterzuverbreiten und sie somit letztlich zu einem Artikel des Verbrauchs zu machen. Indem sie das poetische Erinnerungsvermögen anruft, erzeugt sie die Illusion, Gegenwart und Vergangenheit miteinander zu vereinen und den wirklichen Bedürfnissen der Leute zu entsprechen. In Wirklichkeit befreit sie ihre Leser nicht sondern betäubt sie, so als wenn sie den Getreuen beibringen würde, ihre eigenen Gefängnisse zu bauen und durch ihre eigenen Wünsche und Notwendigkeiten ihre Ketten selbst zu schmieden. Diese „Einfachheit“ schickt den Menschen zurück in die Vergangenheit anstatt die Energien freizusetzen, die ihn in die Zukunft vorantreiben. Dies erklärt übrigens teilweise die Vergangenheitsgläubigkeit der arabischen Mentalität. Darunter verstehe ich hier die Ablehnung und die Angst vor dem Ungewöhnlichen. Einer Dichtung gegenüber, die nicht behandelt, was sie kennt, und die nicht einmal erlangten Kenntnissen entspricht, versucht diese Rückständigkeit zuerst einmal im Vergleich mit ihrem religiösen und sprachlichen Erbe Zugang zu finden, das heißt genauer gesagt, daß sie mit dem verglichen wird, was man kennt. Je größer der Unterschied ist, für umso fremder und gefährlicher hält die traditionelle arabische Mentalität diese Produktion, für eine Bedrohung des heiligen Erbes. Das wichtigste für sie ist, daß eine gerade und saubere Linie die Gegenwart mit der Vergangenheit verbindet. Auf solche Weise ist das Endziel der Poesie vor allem, die Botschaft zu überbringen, deren Trägerin sie ist, anstatt das Ich des Dichters zu entschleiern und seine persönliche Vision vom Menschen und von der Welt zu zeigen. Der Wert des Dichters besteht vor allem aus seiner Wirksamkeit im Dienste der Botschaft und in der Befriedigung, die er erreicht. So wird die Poesie selbst einer Institution ähnlich; sie ist die Ehe und nicht die Liebe, sie ist die Ankunft und nicht das Abenteuer, sie ist das Objekt und nicht das Subjekt. Die Dichtung wird Promotion der geerbten Werte und Wächterin ihrer Kontinuität. Die sprachliche Produktion unterscheidet sich durch nichts von einer handwerklichen Aktivität, und die Erhaltung der dichterischen Sprache ist nicht mehr als eine Arbeitsmethode unter vielen anderen. Und ebenso wie die Arbeit des Handwerkers einen Austauschwert besitzt, stellt das Gedicht ein Produkt des Sprachhandwerkers dar, auch eine Ware. Ihr Wert besteht von nun ab in ihrer Fähigkeit, zu verführen, zu gefallen und anziehend zu sein.

IV.
Wenn wir jetzt einmal zur heutigen Welt übergehen wollen, so ist es notwendig festzustellen, daß die modernen Medien auf allen Gebieten auch die Schreibkunst – einschließlich der Poesie – darauf reduzieren, nur eine Information unter anderen zu werden. Indem sie eine Ohren- und Augenkultur einführen, verneinen sie den Wert des Schreibens und des Lesens und fördern eine neue Form des Analphabetismus. Die Produktivität tritt an die Stelle der Kreativität, und der Produzent ersetzt den Schöpfer. Dieser universelle Zustand übersetzt sich in der arabischen Welt in Phänomene, die die Wege ihres Traditionalismus beschreiten. Es ist die Gelegenheit für diese Gesellschaft, einmal mehr ihren beständigen Willen durchzusetzen, den Schöpfer zum Tode zu bringen. Mehr als jemals zuvor muß die Poesie auf ihre Rolle als Medium beschränkt werden. Der Dichter ist nichts anderes als der Vermittler zwischen der Religion, der Quelle, aus der jede Poesie zu entspringen hat, und der Gemeinde der Gläubigen, an die er sich wendet; ganz so wie der Prophet ein Mittler war zwischen Gott und dem Text, der die gesamte Verkündung enthält. Um es so zu sagen: Die Poesie der Araber des Vor-Islam ging von einer konkreten Situation aus oder besser von dem, was man das „Ereignis-Wort“ nennen kann. Das Wort war mit dem Leben, der Bewegung und dem Werk vollständig verbunden. Es war in seiner Herkunft fleischlich. Das Gedicht war eine Art Nahrung, es wurde aufgrund seines Wohlgeschmacks geschätzt. Die Leute mochten an der Poesie, daß sie ihnen Zugang zu ihren Beschaffenheiten bot, daß sie sich an das tägliche Leben wandte und sie auf ihre Wirklichkeit zurückführte. Die Realitätstreue war das wichtigste Kriterium. Das Verhältnis der Poesie zu dem, was sie mochten oder ablehnten, war viel stärker als ihr Entsprechen den rein ästhetischen Kategorien, dem Schön oder Häßlich. Die Verbindung zwischen dem Wort und dem Ding war der Ausdruck einer Situation – also eine ethische Frage und nicht eine ästhetische. So erklärt sich vielleicht die Wichtigkeit der „Norm“ in der arabischen Poesie, einer Dichtkunst, die vor allem aus Regeln und Prinzipien besteht. Die Idee des Schönen ist erst entstanden, als die Araber begannen, sich von der Realität zu entfernen, und der Vorstellungskraft eine schöpferische Rolle zuerkannten. Fügen wir noch hinzu, daß sich parallel hierzu auch die Sprache unter dem Einfluß von Modernität und Technik vom Körper und vom Leben entfernte. Die Sprache wurde zu einem Material der Umwandlung und die Literatur das Laboratorium für diese Umformung. Der Dichter wurde zum Hersteller, der die Worte zu einem Produkt umformt: zum Gedicht. Zwischen der Situation der Poesie zur Zeit der Mündlichkeit, ihrem Geschick in der ersten Zeit des Islam und ihrem heutigen Zustand der Technizität in der modernen Zivilisation stellt man fest, daß sich verschiedene Elemente zusammengefunden haben, die sich alle bemühen, das Sofortige und Augenscheinliche der Poesie zu verstärken, wobei immer mehr die Bekehrung und der ideologische Aspekt der arabischen Poesie in den Vordergrund tritt, woraus letztendlich die „Leichtigkeit“ des Gedichts resultiert, die man von ihm fordert. Aufbauend auf der Antwort und nicht auf der Befragung endet die durch die Institution dominierte arabische Kultur dabei, nur noch eine Poesie zu fördern die ausdrücklich ist und der Wiederholung des bereits Bekannten dient. So findet sich paradoxerweise die Schwierigkeit, der sich die arabische Poesie gegenüber sieht, in der Kultur der Einfachheit. Es ist genau die zugelassene Einfachheit der Dichtkunst, die das erste Hindernis jeder wirklichen Schöpfung darstellt, denn diese einfache Poesie erhöht den Anteil der Verbote und der Ablehnung. Sie hört nicht auf, zwischen dem Menschen und sich selbst einen Graben aufzureißen, zwischen dem Menschen und seinen Hoffnungen, seinen wirklichen Wünschen. Im Vergleich mit dieser erscheint freilich jede andere Poesie als „schwierig“ und schroff, denn sie muß zuerst einmal damit beginnen, die Sprache selbst umzubringen, so als ob sie sich durch ein Trümmerfeld, bestehend aus Gedanken und der Wirklichkeit, hindurchkämpfen müßte. Als wäre sie vor allem ein Experiment mit der Grenzenlosigkeit des Unendlichen. Eine solche „schwierige“ Poesie hat sicherlich zu den verschiedenen Zeiten des Islam existiert und fährt fort, heute noch zu existieren, aber beiseite geschoben und abgelehnt. Diese Poesie zu lesen, die einzige, die diesen Namen verdient, ist nicht Verbrauch sondern Schöpfung. Daher stammt die Schwierigkeit der authentischen, poetischen Suche; das Licht, das diese Tätigkeit über dem Unbekannten ausbreitet, tut ja nichts anderes als dessen Dimensionen zu vergrößern anstatt sie zu verkleinern. Die dunkle Welt, die sich erhellt, zeigt nur mehr vom Dunkel der Welt, als ob sie die Dunkelheit durch die Bewegung des Lichtes selbst verstärke. Als ob die Poesie nie aufhörte, sich selbst immer mehr in Nacht zu verwandeln, sich der Grenzenlosigkeit der Nacht zu öffnen. So verstanden wird die Poesie eine Art, das Unbekannte zu beschreiben und nicht das Bekannte, sie wird keine erlernten Lehren wiederholen. Durch sie entkommt die Sprache dem Joch der Gewohnheit und das Wort seiner allgemeinen Anwendung. Je weiter man liest, umso weiter entfernt man sich im Rhythmus dieser Schrift, als gehe man dem Horizont entgegen, den man nie erreicht, oder als ob man sich in einer geheimen Welt bewege, die immer weiter wird, je weiter man liest. Dieses Unbekannte ist nicht fixiert, es ist Bewegung; es ist das Gegenteil einer definierten Richtung, die man ansteuern könnte. Indem sie die Bedeutung der Worte von einem Horizont auf den anderen verschiebt, schafft diese Schrift einen neuen Raum für die Sinne, die Freude einer anderen Erkenntnisfähigkeit. Indem sie die klassische Gegenüberstellung von Schlecht und Gut, von Explizit und Implizit beiseite schiebt, zerstört sie die unabwandelbaren Verbindungen zwischen dem Bezeichnenden und dem Bezeichneten, um andere Beziehungen zu erzeugen, welche die Mysterien der Existenz behandeln. Dieses Schreiben hält sich also an das Verborgene, an das Implizite, an das Mögliche und das Imaginäre im Gegensatz zu dem, was sicher und rational ist. Der Leser, aufgefordert, sich auch auf das Gebiet des Möglichen und des Imaginären zu wagen, verliert seine Beziehungspunkte und entwickelt sich im Rhythmus einer untypischen Schreibkunst. Er geht nicht mehr in das Gedicht hinein wie in einen Garten, in dem alle Früchte mit der Hand zu erlangen sind, sondern wie in eine Schlucht oder in ein Heldengedicht. Das, was er davon haben kann, kostet ihn Anstrengung, und er erlangt es nicht nur mit dem Herzen oder allein mit seinem Geist sondern mit seinem ganzen Wesen. Dieses Schreiben nimmt unbezeichnete Wege, um in andere Gegenden zu gelangen, die man nie erreichen kann, weil sie sich in ständiger Bewegung befinden.
Die Sprache läßt hier die anerkannten Formen und Kategorien hinter sich und unterwirft sich vollständig und dynamisch diesem Experiment und seinen Irrungen und Wirrungen. Eine solche Schriftform reißt unausbleiblich Risse in das religiöse und institutionelle Gewebe der dominierenden Kultur. Indem sie das Nicht-Gesagte suggeriert, dem Seltsamen Ausdruck gibt, erschüttert sie zugleich das Bild von der Sicherheit und die Sprache, die dem entspricht. Die Pforten zum Unsagbaren öffnend, besteht sie auf der Nicht-Existenz der Entsprechung von Wort und Ding. So stellt sie die Wahrheit infrage und jede Art von Rede, sei sie nun menschlich oder göttlich. Sie hört nicht auf, ständig Beispiele eines Textes vorzulegen, der offen und unvollendet ist und der sich in Gegensatz bringt zum festgeschriebenen religiösen Text. Daher kommt seine „Schwierigkeit“, die ich „Interpretations-Schwierigkeit“ nenne oder „Uferschwierigkeit“. Bei dieser Schrift hält sich Sprache tatsächlich an der Grenze zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren auf; es ist die Sprache der Ufer, ihrer Konturen, weil sie nur skizziert sind; es ist die Sprache des Fernen, des Brüchigen, eine Sprache, die die Wörter schindet und eben dadurch der Welt Ausdruck gibt, die sich außerhalb jeder vorher etablierten Sicherheit entdecken läßt.

V.
Aber es gibt noch eine andere Schwierigkeit; diese hängt mit der arabischen Identität zusammen und hält sich hauptsächlich an die Sprache und die Religion. Die heute gelebte arabische Identität umfaßt eine Lektüre der Texte, die auf der Sehnsucht nach der ursprünglichen Einheit beruht, der Einheit von Nation, Sprache, Heimat und Macht.
Diese ideologische Lektüre nimmt den Text als ein Terrain des Konflikts zwischen den Ideen und Strömungen. Sie macht mit anderen Worten aus jedem Text einen politischen Text. Wenn es sich um einen poetischen Text handelt, ist sie unfähig, ihn auf seinen Sinn zu reduzieren, qualifiziert ihn als „schwierig“ ab und geht manchmal so weit, ihm jeden poetischen Status zu verweigern. Weil sie die Sprache der Identität angleicht und die Wahrheit der Macht, endet diese Leseweise damit, Wissen und Macht zu verwechseln. Hier wird das Konzept von der „Identität“ in einem einzigen und geschlossenen Sinne verstanden. Es ist dazu gemacht, die Illusion der Übereinstimmung der arabischen Welt zu erhalten, indem es ihre Diversität verneint, es besteht darin, die Gemeinsamkeit zu proklamieren, indem ganz einfach der Andere abgelehnt wird, und in der Proklamation von Selbstgenügsamkeit. Man sieht schon, welchen Schwierigkeiten eine Poesie sich gegenübersieht, die auf einer anderen Konzeption der Identität basiert, abgelöst von aller religiösen und ideologischen Problematik, auf einer pluralen, offenen, agnostischen und laizistischen Identität. Für eine solche Poesie ist die Identität ja nicht nur auf dem Gebiet des Bewußtseins zu finden, auch das Unbewußte gehört dazu. Nach diesem Konzept hört sie nicht beim Erlaubten auf, sie ist auch im Abgelehnten und Ungesagten, sie betrifft nicht nur das Effektive sondern auch das Potentielle. Diese Poesie sagt alles zugleich, das Stetige und das Unterbrochene, das Implizite und das Explizite.
Die wirkliche Poesie erzeugt also einen Bruch innerhalb der gemeinsamen und scheinbaren Identität. Die angebliche Einheit des Ichs ist nur scheinbar; dieses Ich ist im Grunde zerrissen. Der „Andere“ ist niemals einfach das Äußere des Ichs, er wohnt im tiefsten Inneren des Ichs; es gibt kein Ich ohne den Anderen. Die authentische und lebendige Identität hält sich innerhalb dieser doppeldeutigen und fruchtbaren Spannung zwischen den beiden auf. Eine Identität, der diese Spannung genommen wird, wäre die Identität eines Dings und nicht mehr die eines Menschen.
Die Identität kommt nicht aus dem Inneren, sie ist eine lebendige und kontinuierliche Interaktion zwischen dem Inneren und dem Äußeren. Die Identität ist nicht so sehr im Unwandelbaren und Impliziten wie im Wandel und dem Expliziten. Anders gesagt, ist die Identität ein Sinn, der ein ständig bewegtes Bild belebt; sie manifestiert sich vor allem in einer Richtung der Bewegung, mehr als durch den Rückweg zu sich selbst; sie ist mehr Offenheit als Geschlossenheit, sie ist Angriff und nicht Rückzug.
Die Poesie befaßt sich auf bevorzugte Weise mit der Identität. In der Sprache der Poesie ist die Identität ewige Befragung. In der schöpferischen Erfahrung ist der Mensch nur dann er selbst, wenn er aus dem, was er ist, herausgeht. Seine Identität ist dialektisch, ständiger Austausch zwischen dem, was sie ist, und dem, was sie werden wird. Sie ist eher vorangehend als hinter ihm, denn der Mensch ist vor allem Willen zur Schöpfung und zur Veränderung. Der Mensch schafft im Gegensatz zu anderen Kreaturen seine Identität, indem er sein Leben und sein Denken schafft und nicht indem er es erträgt.
Es scheint, daß in der dominierenden arabischen Kultur die sogenannte „Schwierigkeit des Gedichts“ nicht vom Text herkommt und auch nicht aus diesem entsteht. Diese „Schwierigkeit“ ist nichts als die Konsequenz des Niveaus und der Qualität dieser Kultur und an zweiter Stelle erst aus der Fähigkeit des Verständnisses durch den Leser, seiner Fähigkeit des Lesens des Gedichts. Hat man unter diesen Bedingungen nicht das Recht zu sagen, daß die Poesie nur dann „schwierig“ wird, wenn sie sich von der Einfachheit und dem Offensichtlichen befreien muß, die die kulturellen Gewohnheiten und das Gewicht der politischen und religiösen Institutionen von ihr fordern?
Haben wir nicht das Recht, den Schluß zu ziehen: Nein, es gibt keine schwierige Poesie?

 

 

 

 

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Kalliope
Nachrufe auf Siegfried Heinrichs: Tagesspiegel ✝︎ collegium novum

 

Reportage von Axel Reitel: Wer war Siegfried Heinrichs?

 

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Dichter Adonis wird 80
n-tv.de, 1.1.2010

Adonis: Syrischer Dichter feiert 80. Geburtstag
sarsura-syrien.de, 31.12.2010

Tilman Krause: Dichter Arabiens: Adonis wird 80 Jahre alt
Die Welt, 31.12.2009

Zum 90. Geburtstag des Autors:

Stefan Weidner: Ewige Wiederkehr
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.1.2020

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Adonis liest seine Gedichte auf dem Prager Schriftstellerfestival 2009.

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