EIN GRAB FÜR NEW YORK
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Walt Whitman
ich sehe Briefe an dich durch die Straßen von Manhattan fliegen. Jeder Brief ist ein Wagen voller Hunde und Katzen. Das 21. Jahrhundert steht Katzen und Hunden an; dem Menschen steht die Auslöschung an:
Es ist das amerikanische Jahrhundert!
Whitman
dich sah ich nicht in Manhattan, obwohl ich alles sah. Der Mond ist eine Schale, die aus dem Fenster geworfen wird, und die Sonne eine elektronische Orange. Als aus Harlem ein schwarzer Weg in die Umlaufbahn eines Mondes eintrat, der sich auf seine Wimpern stützte, erschien hinter dem Weg ein Licht, das über den ganzen Asphalt fiel und wie Saatgut in die Erde sank, nachdem es Greenwich Village erreicht hatte, dieses andere Quartier Latin – ich meine das Wort, auf das man kommt, wenn man unter den ersten Buchstaben des arabischen Worts für ,Liebe‘ hubb – einen Punkt setzt: ,Zisterne‘ – djubb. (Ich entsinne mich, dies im Restaurant Viceroy in London geschrieben zu haben, als ich nichts bei mir hatte außer ein bißchen Tinte. Und die Nacht nahm an Volumen zu wie das Gefieder eines Spatzen, der sich plustert.)
Whitman
„Die Uhr verkündet die Zeit“ (New York – die Frau ist Abfall, und der Abfall ist eine Zeit, die zur die Asche strebt)
„Die Uhr verkündet die Zeit“ (New York – Pavlovsches System, die Menschen sind Versuchshunde… im Krieg, im Krieg, im Krieg!)
„Die Uhr verkündet die Zeit“ (Ein Brief aus dem Orient. Ein Kind schrieb ihn mit seinen Venen. Ich lese ihn: Die Puppe ist keine Taube mehr. Die Puppe ist eine Kanone, eine Maschinenpistole, ein Gewehr… Leichname auf Wegen aus Licht, die Hanoi mit Jerusalem und Jerusalem mit dem Nil verbinden.)
Whitman
„Die Uhr verkündet die Zeit“ und ich
„ich sehe was, das du nicht siehst, ich weiß etwas, das du nicht weißt“,
ich bewege mich auf einer ungeheuren Fläche aus Konservendosen, die nebeneinander liegen wie gelbe Krebse in einem Ozean aus Millionen von Personen-Inseln, jede einzelne eine Säule mit zwei Händen und Füßen und zertrümmertem Kopf
Und du
,Verbrecher, Flüchtling, Emigrant‘,
du bist nur noch ein Kopfschmuck, den Vögel tragen, die Amerikas Himmel nicht kennt!
Whitman, mögen jetzt wir an der Reihe sein! Ich mache aus meinen Blicken eine Leiter. Ich nähe aus meinen Schritten ein Kissen, dann werden wir warten. Der Mensch stirbt, aber er ist beständiger als das Grab. Mögen jetzt wir an der Reihe sein. Ich warte darauf, daß die Wolga zwischen Manhattan und Queens entlangfließt. Ich warte darauf, daß der Hwangho dort mündet, wo der Hudson mündet. Du erstaunst? Mündet der Orontes nicht in den Tiber? Mögen jetzt wir an der Reihe sein. Ich vernehme eine Erschütterung, einen Einschlag. Wall Street und Harlem begegnen sich – die Blätter begegnen dem Donner, der Staub begegnet dem Sturm. Mögen jetzt wir an der Reihe sein. Die Muscheln nisten in den Wogen der Geschichte. Der Baum kennt seinen Namen. In der Haut der Welt gibt es Löcher, es gibt eine Sonne, die die Maske und das Ende verändert und im Auge eines Schwarzen weint. Mögen jetzt wir an der Reihe sein. Wir können uns schneller drehen als das Rad, wir können das Atom zertrümmern und in ein Elektronenhirn hinüberfließen, das matt oder glänzend ist, leer oder voll, wir können den Spatz zu einer Heimat machen. Mögen jetzt wir an der Reihe sein. Ein kleines rotes Buch steigt auf, nicht die Bretter, die unter den Wörtern verrottet sind, sondern jene, die sich weiten und wachsen, das Brett des weisen Wahns, und das Regenwetter, das aufklart, um die Sonne zu beerben. Mögen jetzt wir an der Reihe sein. New York ist ein Felsblock, der über die Stirn der Welt rollt. Seine Stimme ist in deinem und meinem Kleid, seine Kohle schwärzt meine und deine Glieder… ich könnte das Ende sehen, aber wie überzeuge ich die Zeit davon, mich zu verschonen, bis ich es wirklich sehe? Mögen jetzt wir an der Reihe sein. Und möge die Zeit im Wasser der folgenden Gleichung schwimmen:
New York + New York = ein Grab oder irgend etwas aus einem Grab
New York – New York = die Sonne.
Adonis – Name eines zeitgenössischen arabischen Dichters? Der Sage nach war Adonis der von Aphrodite und Persephone zugleich umworbene schöne Jüngling, der auf der Jagd von einem Eber tödlich verwundet wurde. Als sich nach seinem Tod die Herrin der Unterwelt und die Göttin der Liebe um ihn stritten, sprach Zeus ein Machtwort und entschied, daß er bei jeder ein halbes Jahr verbringen solle. Dank seiner alljährlichen Wiederauferstehung aus dem Todesreich konnte Adonis so zur Symbolfigur des zyklischen Absterbens und Wiedererwachens der Natur werden und war Gegenstand zahlreicher Fruchtbarkeitskulte im östlichen Mittelmeerraum.
Der Adonismythos ist wie so viele der bei uns als griechisch bekannten Götter keineswegs hellenischer Abstammung. Bereits der Name kommt aus dem Semitischen: Das phönizische Adôn bedeutet ,Herr‘ und hebräisch Adonáj ist einer der Ersatznamen für den jüdischen Gott, der bei seinem wahren Namen JHWH nicht genannt werden darf. Die Figur des Adonis weist Berührungen mit dem mesopotamischen Tammûz auf, der als Wiederauferstehungsgott ebenfalls Gegenstand eines weitverbreiteten Fruchtbarkeitskultes war.
Ali Ahmad Said Esber, wie unser Dichter mit bürgerlichem Namen heißt, wurde 1930 in dem Dorf Qgssâbîn nahe der nordsyrischen Hafenstadt Lattakia geboren. Glückliche Umstände erlaubten es, daß Ali Ahmad in Tartous, der nächstgrößeren Stadt, von seinem vierzehnten Lebensjahr an das französische Gymnasium besuchen konnte. Der Pubertierende schreibt, wie alle seines Alters, Gedichte, die er an Zeitschriften schickt, und die, wie könnte es anders sein, abgelehnt werden. Eines Tages, so berichtet er Jahre später in einem Interview, habe er in einer Zeitschrift vom Adonis-Mythos gelesen. Er habe sich mit dem Jüngling identifiziert, der für ihn die durch eine brutale Gewalt zerstörte Liebe symbolisierte. Sein nächstes Gedicht sandte er unter dem Pseudonym Adonis ein – es wurde sofort gedruckt, wie auch alle weiteren, bis heute. Diese Anekdote, so schön sie ist, unterschlägt, indem sie die Namenswahl als spontane, nicht tiefer durchdachte Handlung darstellt, die weitreichende Bedeutung dieses Pseudonyms, dasjenige, was dieser im arabischen Raum zu evozieren vermag: Denn er tritt an die Stelle eines muslimischen, genauer gesagt, schiitischen Allerweltsnamens und ersetzt dessen Genealogie und kulturellen Kontext durch einen mediterranen, nach Europa hin orientierten. Dies im Hinterkopf, können wir den Namen dann aber freilich auch arabisch aussprechen: ’Adûnîs.
Nach dem Schulabschluß 1950 nimmt Adonis in Damaskus das Studium der Philosophie auf Hier dürfte er auch mit der PPS, der „Syrischen Volkspartei (Parti Populaire Syrien – al-Hizb al-Qaumi al-Suri), in Berührung gekommen sein, einer Partei, die anstelle der willkürlichen, im Vorderen Orient von den europäischen Kolonialmächten geschaffenen Grenzen ein Großsyrien schaffen wollte, das die heutigen Staaten Syrien, Libanon, Palästina/Israel und Jordanien umfassen sollte. Diese Partei verwarf islamische und panarabische Staatsmodelle und bemühte sich um die Wiederbelebung einer eigenen vorderorientalischen Identität, wozu sie vor allem auf die phönizische Zeit und ihre Mythologie zurückgriff. Einer dieser Mythen war der Adonis-, bzw. Tammûz-Mythos. Es ist also historisch gesehen kein Zufall, daß Ali Ahmad Said in den vierziger Jahren in einer Zeitschrift die Geschichte des schönen Jünglings Adonis las. Denn ihre Renaissance und Verbreitung in weite Bevölkerungsschichten verdankte diese Mythologie nicht zuletzt der Propaganda von Parteien wie der PPS. Auch nach dem frühen Ende von Adonis’ parteipolitischem Engagement wirkt der Mythos vom wieder auferstehenden Gott in seinen Dichtungen unterschwellig fort.
Nach Studium und Militärdienst geht Adonis 1956 mit seiner Frau in das weltoffenere und freizügigere Beirut, wo er von der politischen Aktivität Abstand nimmt. Spätestens seit Adonis 1957 zusammen mit Jussuf al-Khal die avantgardistische Literaturzeitschrift Shi’r, Dichtung, gegründet hatte, zählte er in Beirut zu den tonangebenden Literaten. Der Durchbruch zu einer ganz und gar eigenen Sprache gelingt ihm jedoch vollends erst mit dem Gedichtband, mit dem das vorliegende Buch beginnt. 1961 erschien der Gedichtband Aghânî Mihyâr ad-dimashqi, „Die Gesänge Mihyârs des Damaszeners“. Diese Gedichtsammlung, die den Ruhm von Adonis bis heute begründet, gilt nicht nur als früher Höhepunkt seines dichterischen Schaffens, sie ist auch einer der Wendepunkte der modernen arabischen Literatur. Der Gedichtband mag dem abendländischen Leser zugleich befremdlich und vertraut anmuten. Wenn hier eine Leseempfehlung gegeben werden darf: Man sollte alles über Bord werfen, was man über die orientalische Lyrik bisher weiß oder zu wissen glaubte, und nichts, was Goethe im West-östlichen Divan schreibt, taugt zum Verständnis moderner arabischer Lyrik. Sie ist deshalb nicht unverständlich – sie ist nur so zu lesen, wie wir moderne abendländische Lyrik lesen. Viel näher an Brecht oder Celan als an Hafis, beeinflußt von Rimbaud und T.S. Eliot mehr als von Abu Nuwas oder Omar Khayyam. Die Machart dieser Dichtung, ihre Poetik, ist die einer universellen Moderne; orientalisch ist hingegen ihr Echoraum, ihr Bezugsrahmen. Das mag im ersten Moment verwundern und verwirren. Bis man merkt: Dies sind alles andere als unverständliche Gedichte. Zwar stößt man immer wieder auf schwer nachvollziehbare Bilder und rätselhafte Formulierungen, doch verglichen mit manch anderer moderner Lyrik bieten die Texte dem Leser erfreulich viele Anhaltspunkte. Bereits der erste Text des Bandes, ein Prosagedicht, weist die Spur (S. 11):
Er naht wehrlos wie der Wald, und wie die Wolken wird er nicht zurückgeschlagen.
Gestern trug er einen Kontinent und rückte das Meer von der Stelle. (…)
aaaUnd da verkündet er die Kreuzung der Extreme und ritzt auf die Stirn unseres Zeitalters das Zeichen der Magie. (…)
aaaBeginnend bei sich, schafft er seinesgleichen – er hat keine Vorfahren, und seine Wurzeln sind in seinen Schritten.
aaaEr wandert im Abgrund und hat die Gestalt des Windes.
Hier tritt einer wie ein Naturereignis auf und richtet Chaos an. Indem er auf die Stirn, also den Sitz der Ratio, das Zeichen der Magie graviert, scheint er so etwas wie die Wiederverzauberung des entzauberten „Zeitalters“ einläuten zu wollen. Von ihm wird ferner behauptet, er sei ein absoluter Anfang. Und nicht nur hat er keine Herkunft im zeitlichen Sinne, sondern ebensowenig im räumlichen: seine Wurzeln sind in seinen Schritten. Und trotz seiner windigen Gestalt schwebt er nicht über den Dingen, sondern „wandert im Abgrund“. Der Text ist eine Beschwörung der Revolte mit dem Ziel eines radikalen und vitaleren Neubeginns in der Gestalt eines Hymnus oder eben „Psalms“ auf eine fiktive Erlöserfigur, deren göttliche Herkunft, jedenfalls im arabischen Original, durch den Verweis auf seine Windgestalt eindeutig ist. Das arabische rîh (Wind) ist mit dem arabischen Wort für Geist (rûh) ebenso verwandt wie mit dem hebräischen „ruach“, dem Pneuma, und darin mit dem Heiligen Geist.
Der Gedichtband zerfällt in sechs Teile, und alle, bis auf den letzten, haben zum Auftakt ein derartiges Prosagedicht. Im ersten Teil tritt uns der Mihyâr in der dritten Person entgegen, und so auch in den übrigen Gedichten dieses ersten Teils. Vom zweiten Teil an taucht er vorwiegend in der ersten Person auf. Es scheint, als sollte er uns zunächst vorgestellt und vertraut gemacht werden, bevor er selbst als Sprechender auftritt – fast als wolle der Dichter uns deutlich machen, daß es sich bei „ich“ nicht um ihn, den Dichter handele, sondern daß ein sogenanntes ,lyrisches Ich‘ spricht. So unkonventionell der Text für arabische Verhältnisse daherkommen mag – in dieser feinsäuberlichen Trennung der Sprechweisen könnte man ein Zugeständnis an die Lesegewohnheiten vermuten: Eine Trennung von lyrischem Ich und der Person des Dichters kennt die klassische orientalische Lyrik nicht – jedenfalls nicht als Konzept, und das heißt: Wer in der Lyrik „Ich“ sagt, ist der Dichter, und sonst niemand.
Der Name Mihyâr geht auf den 1037 verstorbenen Mihyâr ad-Dailami (d.h. aus der Region Dailam im Nordwesten des heutigen Iran) zurück, einen der letzten großen klassischen Dichter, der wie Adonis der schiitischen Glaubensrichtung des Islams angehörte und deshalb sowie aufgrund seiner zoroastrischen Herkunft bei den Sunniten als Häretiker galt. Die Religion Zarathustras wurde auf dem Gebiet des heutigen Iran nach der Eroberung durch die Araber im späten 7. Jahrhundert bald durch den Islam verdrängt, allerdings vielfach nur oberflächlich. Zoroastrische Traditionen lebten teils unter dem Deckmantel einer oberflächlichen Islamisierung (vor allem in Gestalt der islamischen Mystik), teils im Untergrund weiter fort – übrigens bis in die Gegenwart der Islamischen Republik). Derjenige Mihyâr, von dem Adonis redet, ist freilich durch die Benennung ad-dimashqî „der aus Damaskus“ als fiktive Gestalt und zugleich als alter ego des Damaszeners Adonis – gekennzeichnet. Von ihm heißt es in „Mihyârs Gesicht“ (S. 17):
Mihyârs Gesicht ist ein Feuer
Das die Erde der vertrauten Sterne verbrennt.
Seht, wie er die Grenzen des Kalifats überschreitet
Und das Banner des Untergangs hißt
Jegliches Haus zertrümmernd
Seht, wie er das Imamat verwirft
Und seine Verzweiflung läßt als Zeichen
Auf dem Gesicht der Jahreszeiten.
In diesem Gedicht macht sich dieselbe Tendenz zur Revolte bemerkbar wie im ersten Text. Doch der kulturelle Kontext wird deutlicher, und das Gedicht wird dadurch brisanter. Imamat und Kalifat, die traditionellen weltlichen und religiösen Herrschaftsformen der Muslime, werden abgelehnt. Der Zerstörungswille greift auf die „vertrauten Sterne“ über, Häuser werden zertrümmert und der Untergang wird verkündet. Was sich im ersten Gedicht andeutete, wird nun explizit: der unversöhnliche Bruch mit den überlieferten Ordnungsvorstellungen. Mihyâr, dessen ,Gesänge‘ wir lesen, ist ein Ikonoklast.
In einem anderen Gedicht (S. 29) heißt es:
Ich verbrenne mein Erbteil, sage, daß meine Erde
jungfräulich, daß in meiner Jugend keine Gräber
Und schreite über Gott und Satan hin
(Mein Wegführt weiter
Als die Wege Gottes und Satans) – (…)
Ich rufe: Nach mir kein Fall, kein Paradies
Und tilge die Sprache der Sünde.
Wieder sehen wir den Bruch mit der Vergangenheit und daneben zwei weitere große Themen, die sich nach der Zertrümmerung des im Weg stehenden Alten entfalten können: Die existentielle Geworfenheit, illustriert an der problematischen Beziehung zum Göttlichen, und die Sprache. Ebenso, wie die überkommenen Herrschaftsformen zertrümmert und dann erneuert werden sollen, soll die Sprache der alten Ordnung mit ihren Kategorien von Sünde und Heil ausgemerzt werden. In dem Gedicht „Der neue Bund“ – auch dies natürlich wieder ein religiös konnotierter Titel – wird die Sprachproblematik näher gefaßt. In den beiden ersten und den letzten Zeilen heißt es dort:
Er versteht sich nicht auf diese Sprache
Die Stimme der Steppen versteht er nicht
(…)
Denn er ist die Sprache, die unter Masten wogt
Denn er ist der Ritter fremder Worte.
Das Idiom, das der alten, mit dem Lebensraum Wüste assoziierten Sprache entgegengesetzt wird, ist zugleich das Element der Reise und der Entdeckungsfahrten, ist ein bewegtes, ein wogendes Element. Was genau wir unter dieser Sprache zu verstehen haben, dafür sind die Gesänge Mihyârs selbst die beste Erläuterung. Die Sprache, die an die Stelle der Sprache von islamischer Theokratie und altarabischem Nomadentum, wie es die vorislamische Dichtung gefeiert hat, treten soll, sie wird in den Gedichten gepflegt. Sie wird nicht nur postuliert oder negativ als das Gegenteil der gängigen Sprache beschrieben, sie tritt vielmehr selbst in Aktion. Der innovative Umgang mit der Sprache dient dabei als das Medium der erstrebten existentiellen Unstetigkeit, die die Erstarrung der Gesellschaft aufheben soll. Entgegen der klassischen arabischen Poetik, bei der es auf die Klarheit und Kunstfertigkeit der Aussage ankam und die vor allem gefallen wollte, wird die von Adonis betriebene und propagierte Schwerverständlichkeit der dichterischen Sprache als produktives, jeden einzelnen auf seinen eigenen Verständnishorizont verweisendes Moment begriffen.
Selbst wenn die Töne, die in diesen Gedichten zu vernehmen sind, heute und in der Übersetzung in unseren Ohren vielleicht gar nicht mehr so unerhört klingen, Anfang der sechziger Jahre hatten sie in der arabischen Welt diese Unerhörtheit, das Aufbrechende und Bewegende durchaus. So sind die fünf mit „Psalm“ überschriebenen Texte reinste Prosagedichte, wie sie zu jener Zeit von sehr wenigen nur gewagt wurden. Und trotz des teilweise rätselhaften, teilweise schockierenden und ikonoklastischen Charakters der Gedichte bleibt ihre Sprache verblüffend natürlich und zugleich von einer kunstfertigen Schönheit – wenngleich nicht von der Schönheit, wie sie die klassische Poetik verlangt.
Auch die existentielle Geworfenheit, von der eben die Rede war, wird unmißverständlich thematisiert. Dabei wird die metaphysische Haltlosigkeit nach dem Tod Gottes dem Glauben an falsche Götter vorgezogen.
Ich ersetzte den blinden Gott des Steins
Und den Gott der sieben Tage
Durch den toten Gott.
Ähnlich wie bei Nietzsche wird der Tod Gottes nicht gefeiert, vielmehr wird versucht, aus der Not eine Tugend zu machen und sich im Abgrund, in der Entwurzelung, auf der Welle einzurichten. Nicht umsonst ist das Reisen eine der Schlüsselmetaphern für den Mihyâr:
In der Hoffnungslosigkeit, im wüsten Land
Im Schrecken und im Untergang
Entsteigt vielleicht meinen Tiefen ein Gott. („Ein Gott ist gestorben“, S. 27)
Falls es überhaupt einen neuen Gott geben sollte, so die These, wird er aus dem eigenen Inneren geboren. Das Auf-sich-selbst-Gestelltsein bewirkt ein schöpferisches Potential, das auch den größten Verlust, eben den Tod Gottes, in einen Vorteil zu verwandeln vermag. Mihyâr ist ein Geistesverwandter von Zarathustra. Bedenkt man überdies, daß der libanesische Christ Gibran Khalil Gibran (1881–1931), der Autor des vielgelesenen Weisheitsbüchleins Der Prophet und erste große Bewunderer Nietzsches unter den arabischen Intellektuellen, von Adonis zu seinen Vorbildern gezählt wird, so darf man den vorliegenden Gedichtband als eines der bedeutendsten Zeugnisse arabischer Nietzsche-Rezeption bezeichnen. Die große Leistung von Adonis besteht darin, ein an Nietzsche geschultes Denken den Umständen des neuen, arabisch-islamischen Kontextes anzuverwandeln und eine eigenständige Bildlichkeit dafür zu entwickeln.
Die erste nach dem Mihyâr erschienene Gedichtsammlung von Adonis, Das Buch der Verwandlungen und der Wanderung in den Gefilden des Tages und der Nacht von 1965, bleibt den Errungenschaften des Vorgängerbuchs treu, bereichert sie jedoch um den Versuch, die arabisch-islamische Kultur noch grundlegender in die neue Dichtung zu integrieren und diese darin stärker zu verankern, also das, was Adonis an der Überlieferung wertvoll erscheint, fortzusetzen und in seinem Sinne mitzuprägen. 1962 erschien in einer Literaturzeitschrift derjenige Text aus dem drei Jahre später publizierten Gedichtband, der zu einem der berühmtesten und vielleicht dem beliebtesten seines ganzen Werkes avancieren sollte: Die Tage des Falken, das Gedicht über Abd ar-Rahmân I. (geboren in Damaskus 731, gestorben in Cordoba 788), den Gründer der andalusischen Umayyadendynastie. Es war – und ist – eines der ganz wenigen modernen arabischen Gedichte, das auf ungeteilt positiven Anklang stieß. Adonis hätte kaum ein geeigneteres Sujet wählen können, um die arabischen Sehnsüchte und Aspirationen zu bündeln und zugleich in eine Bahn zu lenken, die die Dichtung nicht an eine Ideologie oder politische Mode verrät. Abd ar-Rahmân I. leitete durch sein staatsmännisches Geschick die Blütezeit des arabischen Andalusien ein und begründete damit eine Ära, die im Geschichtsbewußtsein der Araber kaum zurücksteht hinter derjenigen der sogenannten ,Rechtgeleiteten Kalifen‘, die nach dem Tode des Propheten Mohammed den Islam durch ihre Eroberungen im ganzen Nahen Osten verbreiteten, oder hinter der Blütezeit des abbasidischen Kalifats in Bagdad unter dem legendären Kalifen Harûn ar-Rashîd.
Der unwiderrufliche Verlust Andalusiens im Zuge der Reconquista ließ diese Ära zur nostalgischen Chiffre für eine verherrlichte, historisch belegbare, doch als Modell für eine zukünftige Gesellschaft sicherlich unrealistische arabische Größe werden. Anders als manch andere der zeitgenössischen arabischen Gedichte, die Andalusien thematisieren, vermeidet es Adonis allerdings, auf der Klaviatur der Andalusien-Nostalgie zu spielen: Andalusien kommt als geographische und geschichtliche Größe in dem Gedicht überhaupt nicht vor. Statt dessen nutzt Adonis die dem Wort ,Andalusien‘ im Arabischen eignende evokative Kraft und bindet sie statt an die arabische Nation zurück an das Individuum, das diese Blütezeit einleitete, dessen Rolle dabei neu definierend. Die Persona des Gedichts errichtet nicht wie sein historisches Vorbild einen neuen Staat oder eine ,Große Moschee‘ (wie die von Abd ar-Rahmân in Cordoba), sondern das „Andalusien der Tiefen“, und dieses, so darf man Adonis verstehen, ist die wahre Ernte, die der Osten dem Westen bringt, wie der Held des Gedichts (S. 131). Die Bedeutung dieses Orients ist für Adonis daher nicht politisch, sondern spirituell, als die Heimat der Religionen, der Mystik, und einer besonderen Weisheit des Inneren. Die Flucht Abd ar-Rahmâns aus Damaskus, die das Gedicht zunächst zu schildern scheint, entpuppt sich als Reise ins Innere, durch eine Landschaft aus Traum, Sehnsüchten und einem Streben, die zugleich ganz den Zielen der Dichtung von Adonis entsprechen. Die mehrfach wiederholte Formel: „Verstünde ich wie ein Dichter…“, vom Dichter Adonis seiner lyrischen Maske in den Mund gelegt, verkündet ebenso den letzten Sinn, der in der Poetik von Adonis dem Dichtersein zukommt, wie auch durch den Konjunktiv (im Arabischen sogar dem Irrealis) den utopischen Charakter seiner Realisierung. So konnte Die Tage des Falken einerseits als Rückgriff und Besinnung auf die arabische Geschichte und als Einladung verstanden werden, dort und nicht in einem vorarabischen Mythos, wie dem von Adonis oder Tammûz, geschweige denn im Westen nach Identifikationsfiguren zu suchen. Andererseits wurde diese andere Identifikationsfigur gänzlich im Sinne von Adonis umgewertet und, dem Programm des Mihyâr treu, zu einem Plädoyer für die Kräfte des Individuums und einer der Tendenz nach poetisch-mystischen Weltanschauung. Bedurfte die moderne, an westlichen Formen geschulte arabische Lyrik gegenüber denen, die befürchteten, sie würde das Eigene, das Arabische – was immer dies im einzelnen sein sollte – dem Vergessen überantworten und gegen literarische Importe eintauschen, noch eine Rechtfertigung, Die Tage des Falken lieferte sie.
Die Hinwendung von Adonis zum eigenen literarischen Erbe zeigt sich im „Buch der Verwandlungen“ freilich nicht nur im Aufgriff und der Anverwandlung eines Stoffes aus der arabischen Geschichte. Das erste Kapitel, „Die Blume der Alchimie“, wartet mit zwei bemerkenswerten Motti auf, die den Werken eines lange Zeit beinahe vergessenen, in den dreißiger Jahren von einem englischen Orientalisten edierten und schließlich von Adonis für die arabische Literatur und vor allem seine eigene Dichtung gleichsam wiederentdeckten Mystiker entstammen, an-Niffari. Wie auch al-Hallâdj (Vgl. Anm. zu S. 98), einem der geistigen Vorläufer an-Niffaris, zeichnet sich dieser durch völlige Unbekümmertheit gegenüber den Dogmen des orthodoxen Islam aus und kannte bei der Aufzeichnung seiner mystischen Erlebnisse keine Tabus. Die Originalität seiner Schreibweise und das in dem ersten Motto zum Ausdruck kommende Bewußtsein von der Unzulänglichkeit der Sprache zur Vermittlung außergewöhnlicher (Gottes-) Erfahrungen dürften Adonis fasziniert haben. Es verwundert daher nicht, daß die dreizehn Gedichte aus „Die Blume der Alchimie“ zum Hermetischsten gehören, was Adonis bis heute geschrieben hat, an Schwierigkeitsgrad die Gedichte des Mihyâr weit hinter sich lassend. Es sind zugleich die Texte von Adonis, die, einmal von einigen Experimenten im Frühwerk abgesehen, dem Surrealismus am nächsten sind.
Doch bei Adonis vom Surrealismus zu reden heißt, vom Sufismus zu reden, denn im Rahmen seiner theoretischen Schriften vergleicht der Autor diese beiden Bewegungen gerne. In dem Anliegen, mittels der Sprache auf neue Wahrnehmungsebenen vorzustoßen, läßt sich das Schreiben von Adonis in der Tat mit manchen Sufi-Dichtern und diese wiederum mit manchen Surrealisten vergleichen. Allein, die Differenz dürfte kaum zu überbrücken sein, wenn es um die Natur oder die Einordnung dieser ,anderen‘ Wahrnehmung geht, und so wird der Deutungshilfen suchende Leser auch hier, so manchen Interpretationsvorschlägen des Autors in seinen theoretischen Texten zum Trotz, auf die Texte selbst zurückverwiesen. Werden im „Kapitel der Bäume. Totenklagen und Grabsteine für den Falken“ sufische und christliche Elemente zu einer ungefähren Sozial- und Gewaltkritik eingesetzt, so lassen sich die Texte aus „Die Blume der Alchimie“ kaum einer bestimmten Aussageabsicht zuordnen und am ehesten noch beschreiben als Experimente hin zum Überschreiten, zum sprachlichen Durchbrechen zu einer anderen Wahrnehmungsebene, als „Alchimie des Worts“ (Rimbaud) mit dem von Adonis in zahlreichen Manifesten geäußerten Ziel, die Logik der Alltagssprache und die alltägliche Sicht auf die Dinge zu überwinden und so vielleicht zu einer Wiederverzauberung der Welt beizutragen.
Als ein in vieler Hinsicht experimenteller Text ist auch „Die Verwandlungen des Liebenden“ zu verstehen, der die hier vorliegende Auswahl aus dem Buch der Verwandlungen… beschließt. So intensiv wie nie zuvor zieht dabei Adonis Texte der klassischen arabischen Literatur gerüstartig in die neue Dichtung ein, die dadurch in weiten Teilen zur Collage gerät. Das Gedicht behandelt ein Thema, das im weiteren Werk von Adonis immer wichtiger wird. Körperlichkeit und Sexualität sind in der zeitgenössischen arabischen Literatur Tabu. Doch dies ist es nicht, was Adonis daran reizt, und der Text enthält sich, anders als Die Gesänge Mihyârs…, jeder direkten Provokation, so eindeutig manche Passagen auch sein mögen. Dasjenige, worum es Adonis eigentlich geht, ist die Substitution der Orientierung an religiöser Jenseitigkeit und transzendenten Prinzipien durch Immanenz und Leiblichkeit, in gewisser Hinsicht eine Fortsetzung der nietzscheanischen Tendenzen des Mihyâr. Eine klassische Schilderung der Pilgerfahrt nach Mekka wird plötzlich zu einer Reise „auf dem Weg der Frauen“ (vgl. Anm. zu S. 147) und statt daß, wie bei an-Niffari, die Sonne „mit dem Stift des Herrn“ geschrieben ist, wird bei Adonis die Frau „mit dem Stift des Verliebten geschrieben“. Das religiöse Paradigma der Sufi-Dichtung oder der Pilgerfahrterzählung wird profanisiert und dem Profanen, hier Leiblichkeit und Sexualität, wird eine ursprünglich dem Heiligen vorbehaltene Anwendung der Sprache zuteil – eben die Schilderung des mystischen Erlebnisses oder die Pilgerfahrterzählung –, und somit die Stellung eines, wie Gott für die Mystiker, Unfaßlichen, sich der Darstellung seiner Erfahrung, seiner ,Vision‘ Entziehenden, wie Niffari es im von Adonis zitierten Motto sagt:
Je größer die Vision, desto schwieriger ist es, sie auszudrücken.
Eine derartige Erfahrung ist nicht an eine von sexuellen Tabus bestimmte Gesellschaft gebunden, sondern allgemein. Und so kann man tatsächlich von einer Verwandlung durch die Dichtung, von einer Alchimie des Wortes reden: Mit der Macht der am Numinosen geschliffenen Sprache wird dem Menschlichen ein neuer, vielleicht nie dagewesener Stellenwert verliehen.
Es empfiehlt sich, an dieser Stelle einen kurzen Blick auf das essayistisch-theoretische Œuvre von Adonis zu werfen, das im Rahmen dieser Neuedition im S. Fischer Verlag demnächst in einem eigenen Band vorgestellt wird. Als sein theoretisches Hauptwerk gilt die 1973 veröffentlichte Studie ath-thabit wa-l-mutahawwil, etwa zu übersetzen mit „Das Starre und das Veränderliche“. Das theoretische Raster, das darin entworfen wird, dürfte uns helfen, auch der zunehmend komplexeren Lyrik von Adonis näherzukommen. Die Studie geht aus von einer für die arabisch-islamische Geistesgeschichte als grundlegend erachteten Struktur, mit deren Hilfe einzelne Epochen und Werke näher beleuchtet und letztlich bewertet werden. Wie der Titel schon andeutet, handelt es sich dabei um die Dialektik derjenigen Kräfte in der arabisch-islamischen Geschichte, die auf Weiterentwicklung abzielen, und derjenigen, die möglichst unverändert das Althergebrachte fortsetzen wollen. Bis in die Abbassidische Zeit hinein, so Adonis, war die arabische Dichtkunst vom Paradigma der vorislamischen Dichtung geprägt, die als unübertreffliches Vorbild galt. Als endgültiger Leitfaden für Denken und Handeln wurden der Koran und die kanonisierten Aussprüche des Propheten angesehen. Gemäß der Auffassung der Traditionalisten, wie Adonis sie schildert, besteht die einzige Aufgabe der Zukunft in der Bewahrung der Überlieferung. Treue zum Text der Offenbarung und zu den poetischen Verfahrensweisen der Vorfahren ist oberstes Gebot. Gemäß dieser Denkhaltung, so Adonis, wird jede schöpferische Kraft des Menschen abgeleugnet. Der Mensch handelt nicht wirklich, sondern erhält seine Taten von Gott zugeteilt. Ebenso ist die Poesie nur eine Aneignung, bestenfalls Anverwandlung des vorislamischen Musters. Der Mensch, schreibt Adonis, wird als unfähig gedacht, seine eigenen Erfahrungen von Wirklichkeit zu machen und sie in einer eigenen Sprache auszudrücken. Versucht er dies dennoch, so gilt er als Frevler und Ungläubiger. Ungewöhnliche und schwer verständliche sprachliche Gebilde werden verworfen. Der Dichter steht im Dienst der Uroma, der islamischen Gemeinde, als Individuum zählt er nicht, so Adonis über die traditionelle Auffassung. Überhaupt hat die Uroma in jeglicher Hinsicht Vorrang vor dem Individuum. Daß ein Dichter den sprachlichen Konsens der Gemeinde nicht durch einen selbstherrlichen Umgang mit der Sprache zu untergraben habe, ergibt sich daraus.
Die mächtigste und wichtigste geistige Gegenströmung gegen den Traditionalismus ist nach Adonis der Sufismus, die islamische Mystik, und daneben die innovativen Dichter der Abbassidischen Epoche, wie Abu Tammâm, Abu Nuwâs, al-Mutanâbbi und andere. Im Gegensatz zu den Traditionalisten, so Adonis, begreift der Mystiker das Verhältnis des Menschen zu Gott als ein Lebendiges, Dynamisches und eben nicht Starres. Die Mystiker suchen die Wahrheit nicht mehr in den Buchstaben der Texte, sondern in deren Geist, so daß der Text unendliche und verschiedenste Interpretationen zuläßt. Während die Traditionalisten, wie Adonis sie schildert, alles wörtlich nehmen, hat die Offenbarung in der Perspektive der theologischen Erneuerer eine eher metaphorische, das wörtliche Verständnis übersteigende Qualität. Und der metaphorische Gebrauch der Sprache öffnet diese für neue, unerhörte Sinnwelten. Auch realisiert sich für den Mystiker die menschliche Existenz und das religiöse Heil nicht in der Uroma, sondern durch die Hinwendung auf das eigene Innere, die im Idealfall, so Adonis, zu einem Dialog mit Gott führt. Aus der These, daß für den Mystiker die Wahrheit in der Überschreitung des Sichtbaren und Eindeutigen liegt, leitet Adonis dann Grundzüge einer sufischen Sprachtheorie her, die für das Verständnis seiner eigenen Dichtungen herangezogen werden kann. Demnach unterscheiden die Mystiker zwischen Sinn und Bild, zwischen Bedeutung und Zeichen. Doch ist es ebenso unmöglich, sagt Adonis, die Bedeutung ohne das Zeichen zu denken wie etwa das Unendliche ohne Kenntnis des Endlichen. Ebenso ist auch das Unsichtbare mit dem Sichtbaren und Gott mit dem Menschen verbunden, so daß beide eins werden können. Diese Einheit zwischen Gott und Mensch bedeutet gleichwohl nicht, daß Gott ein Mensch ist, ebensowenig wie die Realisierung einer Bedeutung in einem Zeichen den Unterschied zwischen Bedeutung und Zeichen aufhebt. Durch das Denken einer Verschmelzung von Gott und Mensch, so Adonis, hat die Mystik dem Menschen das Bewußtsein zurückgegeben, ein frei handelndes, unabhängiges Wesen mit schöpferischen Kräften zu sein. Und als ein solches ist er in der Lage, eigene Erfahrungen in einer eigenen Sprache auszudrücken.
Ganz abgesehen von der Frage, ob Adonis’ Darstellung des Sufismus zutreffend ist oder nicht, dürfte klar sein, daß es sich dabei auch um einen Versuch der Erklärung und Rechtfertigung seines eigenen poetischen Verfahrens und seiner Weltsicht handelt. Wie die meisten der um die Literaturzeitschrift Shi’r versammelten Literaten sah sich auch Adonis als einer ihrer führenden Köpfe dem Vorwurf der Verwestlichung und des Verrats an der arabischen Kultur ausgesetzt. Gegen diesen Vorwurf macht er nun geltend, daß sich seine Dichtung keineswegs nur auf abendländische Vorbilder stützt, sondern daß es auch innerhalb der arabischen Kultur Strömungen gibt, aus denen sich sein poetisches Konzept herleiten läßt, nämlich der Sufismus und die poetischen Erneuerer der Abbassidenzeit. In seiner „Einführung in die arabische Dichtkunst“ von 1985, die im Rahmen dieser Ausgabe demnächst auf deutsch vorgelegt wird, geht Adonis sogar noch einen Schritt weiter und vertritt die These, daß das Problem der Moderne in der heutigen arabischen Welt ein Problem des Dialogs der Araber untereinander sei, nicht ein Problem der Auseinandersetzung mit dem Westen. Und zwar überraschenderweise deshalb, weil sich die arabische Welt viel früher, bereits im Mittelalter, mit dem Problem der Modernität auseinandersetzen mußte. Bezeichnet man die Moderne als Westimport, so handele es sich um eine gefährliche Verkürzung, die darauf hinauslaufen könnte, sie als etwas Fremdes abzulehnen, obwohl sie tatsächlich seit jeher der arabischen Welt zugehört. Die Araber, so könnte man als Fazit dieser Thesen schließen, haben also auch als Araber, als Muslime das Potential zur Moderne. Wenn sie sich für die Moderne aussprechen, geben sie ihre kulturelle Identität damit nicht preis.
Gleichwohl hilft uns der Verweis von Adonis auf die arabische Moderne nur teilweise beim Verständnis seiner Lyrik, wie sie sich uns seit Ende der sechziger Jahre darstellt. Angenommen, jemand wäre in der arabischen Literatur, auf die sich Adonis beruft, sehr belesen, in der heutigen Moderne jedoch gar nicht, und dieser bekäme nun Gedichte von Adonis vorgesetzt, er wüßte damit wohl nicht allzu viel anzufangen. Denn es scheint, daß diesem klassischen Leser eine wesentliche Voraussetzung fehlt, während jemand, der von der arabischen Literatur nicht die geringste Ahnung hat, jedoch vertraut ist mit der abendländischen Lyrik des 19. und 20. Jahrhunderts, sich von Adonis wesentlich stärker angesprochen fühlen dürfte als unser Sufi-Leser. Irgendwo auf dem Weg von den Sufi-Dichtern zu Adonis ist etwas verlorengegangen oder etwas geschehen, das die Vernetzung verhindert und diese beiden lyrischen Strömungen zunächst inkompatibel macht. Zwar ist es leicht, mit der Erfahrung moderner Literatur zurück auf die Mystik zu blicken und ihre erstaunliche Modernität zu erkennen, das Umgekehrte funktioniert jedoch kaum. Man kann nur spekulieren, wie die Sufis dieses verlorengegangene Etwas bezeichnen würden – vielleicht ganz einfach Gottvertrauen, Glauben.
Von uns aus betrachtet könnten wir sagen, dieses verlorengegangene Etwas ist das Vertrauen in das stabile und verläßliche Verhältnis von Wort und Welt. Das Verhältnis von Zeichen und Bezeichnetem wurde zwar schon auf der Zunge der Sufis ein dynamisches, wie Adonis feststellte. Im Verhältnis zur traditionalistischen Position trat damit eine Erneuerung, oder, wie Adonis es nennt, Modernisierung ein. Diese neue Beweglichkeit an der Gelenkstelle zwischen Sprache und Welt war jedoch alles andere als eine Trennung beider. Für die Traditionalisten war diese Beweglichkeit zuviel, weil sie die festgefügte Ordnung ins Schwimmen brachte, weil sie einen gewissen Abstand zwischen Wort und Welt kundtat und dadurch verunsicherte. Für unser modernes Bewußtsein ist diese Beweglichkeit indes unerheblich, denn sie bedeutet immer noch Scharnier, Verbindung, Schnittstelle. Eine solche jedoch, lehrt uns die moderne Sprachtheorie seit de Saussure, existiert nicht. Moderne abendländische Dichtung ist in ihren Hauptströmungen Dichtung im Zeichen des Verlusts der Verbindung von Wort und Welt. Der Verlust des Sprachvertrauens und der Verlust des Gottvertrauens sind historisch verwandt. Als emphatischen Gläubigen war den Sufis wie selbstverständlich auch das Sprachvertrauen gegeben, obschon sie sich der Unzulänglichkeit der Sprache beim Ausdruck ihrer Erfahrungen bewußt waren. Dem modernen Dichter dagegen ist die Sprache oft nichts als Selbstzweck und Spielmaterial.
Anhand der Gedichte vom Anfang der siebziger Jahre im vorliegenden Band läßt sich leicht zeigen, wie Adonis einerseits den Verlust des Sprachvertrauens instrumentalisiert, andererseits aber für sich als Dichter beansprucht, dieses Vertrauen in einer eigenmächtigen Setzung von neuem zu begründen, und sei es nur für einen Moment. Die Kraft und die Ermächtigung zu dieser Neubegründung weist dabei Ähnlichkeiten auf mit der Ekstase des Sufis bei der Vereinigung mit Gott. Zugespitzt formuliert: so wie der Sufi zu Gott sich verhält, so der Dichter zur Sprache. Was aber meint hier Instrumentalisierung? Der Verlust der Verbindung zwischen Wort und Welt hat es ermöglicht, mit der Sprache völlig willkürlich und frei von jeglicher Ordnung der Logik und der Dinge zu verfahren. Die dichterische Sprache steht nicht mehr unter dem Zwang, etwas bedeuten zu müssen. Parallel dazu werden die Gesetze der Syntax als Grundlagen des vernünftigen Sprechens sinnlos. Positiv formuliert könnte man sagen, daß die Sprache endlich von der Starrheit der Grammatik und dem Mitteilungszwang befreit wird. Sie wird entfesselt. Adonis zerstört die hergebrachte Verbindung von Sprache und Welt, um sie eigenhändig neu zu stiften. Das von Gott entbundene Individuum nützt seine schöpferische Kraft und setzt an die Stelle der Leere sich selbst, dient momentlang als Brücke zwischen Wort und Welt, so könnte man die Poetik von Hadha huwa ismî, „Dies ist mein Name“ beschreiben, das 1971 erschien und bis heute zu den radikalsten Texten von Adonis zählt. Bereits der Beginn des Gedichts bricht mit allen Regeln der bisherigen arabischen Grammatik und poetischen Wohlerzogenheit (S. 247):
Ausmerzend alle Weisheit / hier ist mein Feuer /
Kein Zeichen bleibt – mein Blut ist das Zeichen /
Dies ist mein Beginn /
Ich drang in dein Becken ein Erde die sich um mich dreht deine Glieder
Strömender Nil wir trieben fort lagerten uns ab du hast dich in meinem Blut gekreuzt
Die Sätze sind abgehackt, ihre Verbindung ist nur mehr suggestiv. „Ausmerzend alle Weisheit“, der Text spricht hier nicht über etwas Drittes, über ein Ich oder Er, sondern, indem er beschreibt, was er tut, tut er es, er wischt alle Regeln der herkömmlichen Poetik vom Tisch. Wieder taucht das Motiv des Feuers als ein zerstörendes und aber durch seine Zerstörung zugleich läuterndes Element auf. Die reinigende Zerstörung: „Kein Zeichen bleibt“, ermöglicht den neuen Anfang, wo nur noch das factum brutum zählt:
Mein Blut ist das Zeichen.
Der Neuanfang mündet ohne Umschweife in einen unverblümt dargebotenen Zeugungsakt:
Ich drang in dein Becken ein.
Dem Ton nach erkennen wir den Dichter des Mihyâr nicht mehr wieder, die Motive jedoch kommen uns bekannt vor. Das zerstörerische Feuer, das geheimnisvolle, lebenspendende Blut, der radikale Neuanfang. In den Gesängen Mihyârs herrschte, wie der Titel schon sagte, ein liedhafter Ton vor. Mihyâr selbst war zwar eine aufmüpfige Figur, doch wurde diese Aufmüpfigkeit mit den schönsten Reimen und Metren beschrieben. Die Gedichte schufen Stimmungen, vermittelten Botschaften. Gegen die Lieder des Mihyâr nimmt sich „Dies ist mein Name“ aus wie ein Schrei. Dennoch handelt es sich hier nicht um ein völlig unverständliches Sprechen. Syntax und Metaphorik ähneln den schwierigsten Texten Rimbauds und der Surrealisten, doch im Gegensatz zu deren oftmals verspielter und schwebender Lyrik ist fast jedes Wort bei Adonis mit Bedeutung befrachtet. Dies war gemeint, als ich eben davon sprach, daß Adonis die Errungenschaften der Sprachskepsis nutzt, ohne diese Skepsis zwangsläufig zu teilen. Der Sprachskeptiker kennt Pathetik nur ironisch, als Parodie. Adonis jedoch ist es ernst. Feuer, Blut, Heimat, Geschichte, Nation, Liebe, Tod, all dies bedeutet bei ihm, was es immer schon bedeutete, obgleich im Bewußtsein der drohenden Verwässerung dieser Wörter. In der Dichtung von Adonis vermischen sich damit Elemente traditioneller lyrischer Aussageweisen, nämlich das emphatisch gebrauchte, bedeutungshaltige Wort mit den Errungenschaften der literarischen Moderne. Das Bekenntnis zur umwälzenden Kraft der Dichtung gipfelt in dem (an Nietzsches „Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit“ erinnernden) Satz:
Fähig zu verwandeln: Mine für die Zivilisation – dies ist mein Name.
Zugleich gibt das Gedicht die zwischen Revolte, Antiimperialismus und Identitätssuche schwankende Stimmung der Zeit zwischen den beiden arabisch-israelischen Kriegen von 1967 und 1973 eindrucksvoll wieder, wobei die verheerende arabische Niederlage im Sechs-Tage-Krieg der literarischen Befreiung und Radikalisierung Vorschub geleistet haben dürfte.
Der berühmteste Text des Bandes und eines der meistübersetzten Gedichte von Adonis überhaupt ist jedoch „Ein Grab für New York“. Der Kontrast zwischen New York und den Hauptstädten der arabischen Welt, die Anrufung des (gemäß der Deutung von Adonis) von seiner Heimat verratenen Walt Whitman und die Greuel des Vietnamkriegs veranlassen den Dichter, die Weltstadt und die durch sie repräsentierte technisierte Zivilisation zu verurteilen. Das 1971 geschriebene Gedicht, das die arabische Literaturwissenschaftlerin Salma Khadra Jayyusi in ihrer Anthologie Modern Arabic Poetry als „eines der majestätischsten und bewegendsten Werke der arabischen Literatur“ bezeichnet, erscheint vor dem Hintergrund der Ereignisse des 11.9.2001 geradezu als prophetisch.
Ist der Todesvogel zu dir gekommen, hast du das Ende des Röchelns gehört
(…)
Elende, die wie Staub in das Gewebe der Leere getaucht sind – Opfer, zu Spiralen verzerrt.
Die Sonne ist eine Trauerfeier
und der Tag eine schwarze Trommel
(…)
Der Wind weht ein zweites Mal aus dem Osten, er entwurzelt Wolkenkratzer wie Zelte.
Das negative Symbol, das New York für die Attentäter von 9/11 darstellt, weist allerdings nennenswerte Gemeinsamkeiten mit dem Bild New Yorks auf, das der säkularisierte, mit den linken Befreiungsbewegungen der Dritten Welt sympathisierende arabische Dichter dreißig Jahre zuvor gezeichnet hat, von der Kapitalismuskritik über die am amerikanischen Expansionsdrang und Militarismus – damals mit dem Vietnamkrieg begründet – das vorgeblich Seelenlose des hochtechnisierten Westens… Freilich hatte weder Adonis irgendeine Sympathie für die Attentäter – er steht selbst auf der Abschußliste der islamischen Fundamentalisten –, noch werden die Attentäter sich mit einem solchen Freigeist beschäftigt haben. Adonis steht in einer weitverbreiteten und ja durchaus nicht unbegründeten anti-amerikanischen Tradition von Dritte-Welt-Aktivisten, wie wir sie auch in den Schriften von Hans Magnus Enzensberger jener Zeit finden. Die Kontinuität zu den Attentätern des 11.9. liegt nur darin, daß sich die Islamisten Teile dieser Tradition zu eigen gemacht haben. Ist Adonis weltanschaulich mit diesem Gedicht seiner Zeit verhaftet, kann er literarisch auf zwei Vorläufer zurückgreifen: den im Gedicht selbst angerufenen amerikanischen Dichter Walt Whitman, der hier das positive Amerika symbolisiert, und Frederico García Lorca, an dessen Gedichtzyklus „Poeta en Nueva York“ der Text von Adonis in seiner Genremischung formal anzuschließen scheint. Schon Lorca, der sich ebenfalls auf Whitman beruft, hatte nicht gerade ein positives New York-Bild. Zugleich ist Lorca für die moderne arabische Dichtung einer der wichtigsten und verehrtesten europäischen Vorbilder. Salma Khadra Jayyusi macht in diesem Zusammenhang auf ein interessantes Phänomen aufmerksam. Ihr zufolge verrate dieses Gedicht nämlich auch eine „vorindustrielle Grundeinstellung“. Adonis’ „Haß, Furcht und Mißtrauen gegenüber dem wesentlichen Faktor der Moderne: der Technologie“ sei nur schwer mit seinem theoretischen Plädoyer für die Moderne in Einklang zu bringen. In der Tat neigt Adonis dazu, die Moderne ausschließlich als kulturelles Phänomen zu denken. Genau darin aber liegt auch ein utopisches Potential und zugleich die sich in diesen Gedichten eben auch vollziehende Auseinandersetzung mit dem Westen. Unterzieht Adonis nämlich seine eigene, arabische Kultur einer an Nietzsche geschulten (Selbst-) Kritik, so greift er, um das Andere, das heißt, das Westliche zu kritisieren, wie es sich am Eigenen manifestiert, auf einen anderen deutschen Denker zurück, der in Nietzsches Nachfolge steht: Heidegger. Heidegger liefert vor allem deshalb einen passenden Denkansatz, weil sich der Okzident im Orient besonders in derjenigen Form manifestiert, die Heidegger am vehementesten kritisiert – der Technik und der entseelten Moderne, wie sie sich für ihn in New York manifestiert.
Es gibt in dem vorliegenden Band (S. 237) ein sehr kurzes, sehr berühmtes Gedicht, an dem sich zeigt, wo Adonis die Gefahr dieses technisierten, industrialisierten Westens sieht, wenn er in die arabische Kultur eingreift:
DAS MINARETT
Das Minarett weinte
Als der Fremde kam
Er kaufte es ohne Not
Und baute darauf einen Schlot.
Das alte, religiösen Zwecken dienende Bauwerk wird als Fabrik mißbraucht, das heißt die Religion, das Eigene, wird ersetzt durch die Technik, die aus der Fremde kommt. Wir wissen aber aus Die Gesänge Mihyârs des Damaszeners, daß Adonis nicht in herkömmlicher Weise religiös ist. Das Religiöse steht hier nur stellvertretend für eine kulturelle Kompetenz, die auch die des Dichters sein könnte. Das geistige und ethische Potential des Menschen, die durch das Wort bewirkte kulturelle Machbarkeit, wird durch die technische, materielle verdrängt und überlagert wie im Gedicht das Minarett vom Schornstein und das vom Minarett aus dem Mund des Muezzins erschallende Wort durch den Rauch – also einem Abfallprodukt. Der Unterschied zwischen dem Fremden, wenn er sich der arabisch-islamischen Kultur bemächtigt, und dem Dichter, der ihr entstammt, wenn er sich seinerseits mit ihr auseinandersetzt, liegt auf der Hand: Jener sieht im Minarett einen Schornstein, ohne den eigentlichen Zweck zu ahnen, dieser hingegen versteht die außergewöhnliche Funktion dieses Bauwerks, steigt hinauf, stürzt den Muezzin der unglaubwürdig gewordenen religiösen Kultur hinunter, (wie es Adonis in Die Gesänge Mihyârs des Damaszeners tat) und spricht an Stelle des Muezzins aus einem erneuerten Geist. Der Dichter hält die kulturelle Funktion des „vom Turm herab Sprechens“, des Logos, für nützlicher als jede Fabrik und materielle Erfindung, wissend, daß dort, wo diese Funktion gewahrt ist, auch der Dichter noch eine besondere Rolle hat – womöglich die, die Heidegger vorschwebte, als er von Hölderlin sprach. Im Namen der Wahrung der Kulturtechnik, welche des Minaretts, der Kanzel, des Forums und anderer traditioneller Plätze des Sprechens – vielleicht auch des Parlaments? – bedarf, verwirft der Dichter die materielle Technik. Diese Technik, sehen wir, ersetzt die traditionellen ,Sprech-Plätze‘ durch ,Talk-Shows‘, also das Hören durch das Sehen, wie ja auch der Fremde das Minarett bloß optisch wahrnimmt und daran seine Funktion zu erkennen glaubt, weil es ihn an einen Schornstein erinnert, während seine eigentliche Funktion eine akustische ist. Diese Unterscheidung zwischen Hören und Sehen, zwischen der Wahrnehmung der Welt als einer gehörten und einer bloß gesehenen ist sehr wichtig. Adonis entstammt einer alten Kultur des Wortes und damit des Hörens, eines Wortes, das auch der Muezzin vom Minarett herab verkündet. Diese Bedeutung des Wortes, von welcher ja auch die Poesie und die Dichtung zehren, will Adonis bewahren und verteidigen. Er, der sich in Die Gesänge Mihyârs des Damaszeners so oft mit Odysseus verglich, segelt zwischen der Skylla der verworfenen eigenen Kultur und der Charybdis der ebenfalls kritisierten westlichen Kultur hindurch, indem er die Vision einer rein kulturellen Moderne herausarbeitet, einer Moderne, die ohne technische Kehrseite auskommt. Eine Moderne, anders gesagt, nur mit den Mitteln des Logos – also des Dichters –, nicht eine, die in die Materie eingreift und sich diese unterwerfen will.
Diese Idee erscheint uns vielleicht phantastisch, und in der Tat wurde sie im Okzident kaum je gedacht, weil sie zu kaum einem Zeitpunkt eine historische Gegebenheit war. Anders hingegen im Nahen Osten. Die historische Konstellation, aus welcher diese Idee, diese Vision, wie Adonis sie nennen würde, entspringt, ist eine sehr spezifische: Das ländliche Syrien in den dreißiger, vierziger, ja noch fünfziger Jahren war so traditionell wie Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende zuvor. Dort, in einem Dorf im Küstengebirge, wie eingangs erwähnt, verbrachte Adonis seine Kindheit und Jugend. Die rudimentäre Schulausbildung fand noch unter dem Baum in der Dorfmitte statt, weder gab es Elektrizität noch motorisierten Verkehr, und sein Vater war ein gebildeter, der Dichtung und dem unorthodoxen Sufismus aufgeschlossener schiitischer Imam. So traditionell dieses Leben im Alltag war, neue Ideen und vor allem einen ersten Eindruck von der modernen Literatur bekam Adonis in seiner Gymnasialzeit an der Mission laïque française in der beschaulichen syrischen Hafenstadt Tartus. Im Alter von siebzehn las er Baudelaire, aber nicht wie wir in den Haupt- und Vorstädten Europas, sondern wie Vergil ihn auf seinem Landsitz gelesen hätte, fern dem Weltgeschehen und etwaiger Zivilisation, fern aller Technik. Gemäß der Erfahrung, die Adonis in dieser Phase seines Lebens machte, waren die moderne Kultur und die Technik gänzlich unabhängig voneinander. Die technische Lebenswelt, die vom europäischen Epizentrum der Moderne aus betrachtet zur modernen Literatur untrennbar gehört, erschien angesichts dieser Erfahrung als eine überflüssige, unangenehme Nebensache. Die schönste Frucht der Moderne, nämlich die moderne Kultur, die Befreiung des Subjekts und des Begehrens, hatte ja, jedenfalls gemäß der Erfahrung von Adonis, auch ohne den Preis des Tauschs von Minarett gegen Schlot reifen können.
Nun scheint die Geschichte zu lehren, daß Modernität im kulturellen Sinne nur durch einen technisch-wissenschaftlichen Unterbau, der die gesamte Gesellschaft beeinflußt, über längere Epochen Bestand haben kann. Die unnatürlich schnelle Rezeption der technischen Moderne in der islamischen Welt, die mehrere Jahrhunderte europäischer Entwicklung in wenigen Dezennien absorbieren mußte, hat zu einer fast ausschließlich auf die Technik beschränkten Modernerezeption geführt. Gegen diese einsinnige Wahrnehmung der westlichen Moderne richtet sich Adonis’ Kritik vorrangig: Sie ist nicht so sehr Fortschrittskritik als Kulturkritik. Adonis’ Absicht ist es daher auch nicht, die Technik abzuschaffen und die Schornsteine wieder aufzukaufen und in Minarette zurückzuverwandeln – dies wollen nicht einmal die Fundamentalisten, die übrigens sehr technikbegeistert, aber nicht gerade kulturbegeistert sind. Vielmehr geht es ihm darum, zu zeigen, daß die arabische Kultur die Moderne nicht importieren muß und daß die Moderne als Kultur – anders als die Fabriken – nichts Importiertes ist, sondern sich in den ältesten arabischen Texten findet und der islamischen Zivilisation als Möglichkeit inhärent ist. Die ,fremden‘, westlichen Leser werden ihrerseits aufgefordert, Adonis’ Erfahrung einer von der Technik unabhängigen Moderne in ihrem utopischen Potential anzuerkennen und sie in den Kanon, wie Moderne auch und anders gedacht werden kann, aufzunehmen.
Adonis hat den Mut zu dem Pathos, in seiner Dichtung die Vision einer menschlicheren Moderne einerseits gegen Erstarrung der arabisch-islamischen Kultur und andererseits gegen unkritische Rezeption westlichen Lebensstils zu entwickeln. Er verteidigt die Notwendigkeit des Wortes und seiner traditionellen Medien – Poesie, Minarett, Forum, Parlament – vor der bloßen Nützlichkeitserwägung des Technikers, der alles, einschließlich des Menschen, in Rohstoff und Material verwandelt. Wie Adonis 1997 in einem Aufsatz geschrieben hat:
Die Kritik an den Zuständen der Welt genügt nicht mehr, vielmehr geht es darum, eine tiefgreifende Verbrüderung des Menschen mit dem Unbekannten und der Unendlichkeit des Seins zu begründen. Vor diese Aufgabe gestellt, schreitet die Kunst wie ein entbergendes Licht auf den Wegen der Wissenschaft und atmet auch die Technik die Luft der Kunst.
Adonis’ Dichtung beruht auf dem Glauben an die umwälzende und regenerative Kraft der Poesie. Dieser Glaube setzt die traditionelle arabische Wertschätzung für die Dichtkunst fort und übertrifft sie, indem er die Poesie als gleichrangig erachtet mit der nach islamischem Verständnis erhabensten Erscheinungsweise der Sprache, der koranischen Offenbarung. Ebenso wie diese will die poetische Tätigkeit alle Lebensbereiche umgreifen und verändern. Adonis, so dürfen die Leserinnen und Leser dieses Bandes mit Verblüffung feststellen, führt damit das von der deutschen Romantik entworfene Konzept der Universalpoesie aus dem Orient heraus noch einmal in die Weltliteratur ein.
Stefan Weidner, Istanbul, August / Ramadan 2010 / 1431, Nachwort
Die zweisprachige Präsentation der Ausgabe zielt nicht vorrangig auf Arabisten oder arabische Muttersprachler ab; sie möge den Lesern, die mit dem Arabischen oder auch nur seiner Schrift nicht vertraut sind, das Gefühl für die letztliche Unvermittelbarkeit wachhalten, die Übersetzung und Kommentierung zu tilgen bemüht sind.
Der arabische Text wurde auf Grundlage der sogenannten „endgültigen Fassung“ in Zusammenarbeit mit dem Autor erstellt. Dabei konnten zahlreiche Druckfehler der arabischen Ausgabe berichtigt werden. Die vorliegende Textfassung dürfte damit die derzeit zuverlässigste sein. Falls die Textgrundlage in den Anmerkungen nicht einzeln nachgewiesen wird, folgt sie der Ausgabe: Adûnîs: Al-A’amâl ash-shi’riyyah al-kâmilah, Band 2, Beirut, Dâr al-’Audah 1988 (5. Auflage). Offensichtliche Druckfehler wurden stillschweigend korrigiert.
Das Zustandekommen der Ausgabe beruht nicht zuletzt auf zahlreichen Helfern und Mitarbeitern. Adonis, Sargon Boulus, Jürgen Brôcan, Ulrike Burgi und allen anderen, die in Zürich, Paris oder Köln daran beteiligt waren, sei ebenso gedankt wie dem Land Nordrhein-Westfalen, das die Arbeit mit einem Übersetzerstipendium unterstützte.
gilt als der bedeutendste arabische Dichter unserer Zeit – ein moderner Klassiker, der es wie kein zweiter versteht, eine Synthese zu schaffen zwischen der grossen Tradition der arabischen Dichtung und der modernen westlichen Lyrik. Gerade diese Polyphonie ist es, die Lesern verschiedener Herkunft den Zugang zu seinem Werk ermöglicht.
Adonis zeigt, dass der Orient sich durchaus für eine Moderne aussprechen kann, ohne seine kulturelle Identität preiszugeben, wie es die reaktionären Kräfte stets behaupten. Die alte arabische Tradition des Wortes und des Hörens eines Wortes, das auch der Muezzin vom Minarett herab verkündet, will er bewahren und verteidigen.
Anstatt die Kultur des Westens zu übernehmen, gilt es, dem Westen abzuschauen, wie man die eigene Kultur von innen heraus kritisiert. Und so sind denn Adonis’ Verse eine poetische Kampfansage an das religiöse Establishment, die rückwärtsgewandten Kräfte ebenso wie an die Vertreter der rein äusserlichen, technischen Rezeption westlicher Errungenschaften.
S. Fischer Verlag, Klappentext, 2011
Ich habe über diesen Autor im DLF gehört und war von seinem Denken angetan. Die Lektüre des Buches jedoch bereitet mir keine Freude. Eine Prosa der ich nichts abgewinnen kann. Kein bisschen konkret, schwammig, langatmig und langweilig und oft ohne erkennbaren Zusammenhang. Da liebe ich doch die europäischen Autoren. Orient und Okzident unterscheiden sich eben.
… mir gefällt diese Sprache sehr… die natürlich mit unseren Dichtern wohl wenig gemein hat! Es ist die Sprache des Orients, um es einmal etwas prosaisch auszudrücken! Ich habe mich mit dieser Form von Lyrik und Philosophie sehr auseinandergesetzt. Was auch damit zusammenhängen mag, dass ich den Orient bereist habe – weniger als Touristin, sondern aus sehr persönlichen Gründen. Wenn man gewisse Einblicke bekommen hat, mit den Menschen gesprochen hat… dann wirken diese Gedichte von Adonis gar nicht mehr so fremd! Man muss eintauchen in das Leben, Teil davon werden… für mich ein empfehlenswertes Buch!
Dichter Adonis wird 80
n-tv.de, 1.1.2010
Adonis: Syrischer Dichter feiert 80. Geburtstag
sarsura-syrien.de, 31.12.2010
Tilman Krause: Dichter Arabiens: Adonis wird 80 Jahre alt
Die Welt, 31.12.2009
Stefan Weidner: Ewige Wiederkehr
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.1.2020
Adonis liest seine Gedichte auf dem Prager Schriftstellerfestival 2009.
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