Adonis: Wortgesang

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Adonis: Wortgesang

Adonis-Wortgesang

SUFISMUS UND SURREALISMUS

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Sufismus und Surrealismus – schon der Titel mag vielleicht Ablehnung oder doch zumindest Einwände hervorrufen, sowohl auf Seiten jener, deren Interesse dem Surrealismus gilt, als auch bei jenen, die sich mit der islamischen Mystik, dem Sufismus, beschäftigen. Unabhängig davon, ob dieses jeweilige Interesse positiv oder negativ motiviert ist, dürfte es für Verwunderung sorgen, jene beiden Richtungen in einem Atemzug genannt zu sehen.
Der Haupteinwand, den man in diesem Zusammenhang vorbringen könnte, lautet, dass der Sufismus Religiosität voraussetze und auf eine Erlösung religiöser Art abziele, während der Surrealismus eine atheistische Bewegung darstelle und keinerlei himmlische Erlösung im Sinn habe. Wie also sollten Religiosität und Gottlosigkeit miteinander vereinbar sein? Oberflächlich betrachtet ist solch ein Einwand berechtigt. Doch vermag er nicht grundsätzlich auszuschließen, dass es entlang des Pfades der Erkenntnis, den Sufismus und Surrealismus jeweils auf ihre Weise beschreiten, immer wieder zu einer Annäherung oder gar einem Zusammentreffen der beiden kommen kann. Atheismus impliziert nicht notwendigerweise die Ablehnung der Mystik, noch impliziert Mystik zwangsläufig den Glauben an die herkömmliche Religion bzw. den herkömmlichen Glauben an die Religion.
Auf jeden Fall kann jener Einwand durchaus nützlich sein, indem er denjenigen, der über das Thema forscht, dazu nötigt, die herkömmliche Bedeutung und Definition von Mystik einer Revision zu unterziehen und sie in einem völlig neuen Licht zu betrachten. Gleiches gilt für den Surrealismus. Es stimmt, dass Gott, wie ihn die Religion sich traditionellerweise vorstellt, im Surrealismus nicht vorkommt. Ebendies konstatiert auch André Breton, wenn er sagt, dass das Geheiligte, an welches er glaube, nicht religiöser Art sei, ja dass es völlig außerhalb der Religion stehe. Aber auch in der Mystik kommt Gott im herkömmlichen religiösen Sinne nicht vor. Oder sagen wir lieber: Er kommt in ihr nicht getrennt und isoliert von der Existenz vor, wie dies in der traditionellen religiösen Sichtweise der Fall ist, sondern in enger Verbundenheit mit jener – er und die Existenz bilden eine Einheit. Mystisch betrachtet kann Gott nur dadurch der „Eine“ sein, indem er der „Viele“ ist. Er ist in Bezug auf die Existenz der „erhabenste Punkt“, wie Breton es ausdrückt – der Punkt, in dem sich das, was wir die Materie, und das, was wir das Spirituelle nennen, vereinigen und in dem sich alle Widersprüche auflösen. Er ist nicht der „Eine“, der die Existenz von außen und ohne Verbindung mit ihr erschafft, er ist vielmehr die Existenz selbst in all ihrer Dynamik und Grenzenlosigkeit. Er ist weder im Himmel noch auf der Erde, sondern ist selber Himmel und Erde in einem. Uns auf die Reise zu ihm zu begeben erfordert nicht, die Existenz und unser Selbst zu verlassen, sondern im Gegenteil, immer tiefer in die Existenz und in unser Selbst vorzudringen. Das Unendliche liegt nicht außerhalb der Materie, sondern innerhalb von ihr: Das Unendliche ist der Mensch selbst, ist die Materie selbst. Gott befindet sich an einem nicht näher zu benennenden Ort, aber innerhalb dieses Orts. Er ist ein anderes Land, das aber um uns und in uns existiert.
Von daher müssen wir, wenn wir über den Sufismus sprechen, zunächst über den herrschenden Diskurs hinwegsehen, vor allem über die Deutung der religiösen Rechtsschulen.
Gehen wir also zu den Anfängen zurück. Ursprünglich wurde das Wort Sufi mit etwas Verborgenem, Unsichtbarem assoziiert. Der Hinwendung zum Sufismus liegt das Unvermögen des Verstands (und des religiösen Gesetzes) zugrunde, Antworten auf eine ganze Reihe tiefgründiger Menschheitsfragen zu geben – ein Unvermögen, das auch die Wissenschaft auszeichnet. Der Mensch hat das Gefühl, dass stets noch Fragen offenbleiben werden, die ihn umtreiben, selbst dann, wenn alle Probleme des Verstandes, des religiösen Gesetzes oder der Wissenschaft gelöst sind. Jene Dinge, die seit jeher einer Lösung harren, die sich stets der Erkenntnis entzogen haben, die allzeit unausgesprochen geblieben sind – sie sind es, welche die Triebfeder für die Hinwendung zum Sufismus bildeten und nach wie vor bilden. Und ebenjene trugen auch zur Entstehung des Surrealismus bei. War dieser doch primär mit dem Anspruch verbunden, eine Bewegung zu sein, die das bislang Ungesagte oder nicht Sagbare zur Sprache bringt.
Dreh- und Angelpunkt des Sufismus, so wie ich ihn verstehe, ist das Ungesagte, das Unsichtbare, das Unbekannte. Für den Sufi ist das letztendliche Ziel, eins zu werden mit jenem Verborgenen, also anders gesagt, mit dem Absoluten. Gleiches strebt der Surrealismus an. Dabei geht es aber nicht so sehr um die Identität jenes Absoluten, sondern um den Prozess der Einswerdung mit ihm, um den Weg dorthin – ganz gleich, ob es sich bei jenem Absoluten um Gott, den Verstand, die Materie, das Denken, die Seele usw. handelt. In jedem Fall liegt eine Rückkehr zum Ursprung der Schöpfung vor, wie auch immer dieser Ursprung beschaffen sein mag. Es handelt sich um eine Rückkehr, die zur Voraussetzung hat, dass der zum Ursprung Zurückkehrende eine Transformation durchmacht und gleichzeitig mit jenem eins wird. Anders gesagt: Der Ursprung bleibt immer derselbe, wenn er in seinen Geschöpfen Gestalt annimmt und diese zu ihm zurückkehren.

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Guy-René Doumayrou skizziert in einem seiner Artikel1 eine Unterscheidung zwischen Surrealismus und Esoterik, indem er Ersteren als Bewegung bezeichnet, die nach Erleuchtung durch ein unsichtbares Licht, ein Licht des Geistes (esprit) oder des Denkens, sucht und den wirklichen Ablauf dieser geistigen Vorgänge aufzudecken trachtet. Letztere versuche dagegen, die verborgenen Mechanismen der Natur zu enthüllen. Und während sich Ersterer darum bemühe, „dem Denken seine Freiheit wiederzugeben“, gehe es Letzterer um „spirituelle Befreiung“. Dem Autor zufolge ist jener „erhabenste Punkt“, von dem Breton spricht, nicht mystisch, wozu er aus einem der im Band Entretiens veröffentlichten Gespräche mit Breton zitiert:

Es versteht sich von selbst, dass dieser ,Punkt‘, an dem alle Widersprüche, die uns peinigen und uns verzweifeln lassen, dazu bestimmt sind, sich aufzulösen, und den ich in meinem Werk L’amour fou in Erinnerung an einen herrlich gelegenen Ort in den französischen Nieder-Alpen den ,erhabensten Punkt‘ genannt habe, in keinster Weise als mystisch gelten kann.2

So wie hier das Wort Mystik im Kontext dieses Artikels verwendet wird, scheint es mir in seiner Bedeutung ganz offenbar dem Wort Esoterik zu entsprechen.
Ferner sei der Surrealismus laut Doumayrou von Beginn seiner Entstehung an von den intuitiven Bildern, wie sie einem im Traum erscheinen können, fasziniert gewesen sowie vom expressiven und gestalterischen Automatismus. Daraus seien minutiös entwickelte Praktiken hervorgegangen, die mit Robert Desnos ihren Höhepunkt erlebten, der in der Lage gewesen sein soll, sich willkürlich in den Schlaf zu versetzen selbst in einem Café voller Stimmengewirr. Der Dichter Louis Aragon habe jene Praktiken bezeichnet als „erstaunliche Erfahrungen, die man – der Psychoanalyse zum Trotz – beinahe als metaphysisch deuten könnte“.3
Doumayrou weist darauf hin, dass der Begriff des „wirklichen Ablaufs des Denkens“ mittels eines „psychischen Automatismus“ jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung für den Surrealismus bis zuletzt den roten Faden gebildet habe, sowohl auf individueller als auch auf gemeinschaftlicher Ebene. Dies insbesondere in Bezug auf alles, was mit der Entdeckung von Möglichkeiten zu tun hatte, das Unbewusste über die Kanäle des Alltagslebens freizusetzen.
Weiter führt er aus, der Surrealismus sei stark am Irrationalen interessiert, gehe jedoch nicht so weit, irgendeinen Glauben an ein göttliches Wesen zu propagieren, wie dies Michel Carrouges und Pierre Klossowski versucht hätten.4 Auch sei der Surrealismus der Überzeugung, dass die Unterscheidung zwischen Imaginärem und Realem keine Bedeutung habe. Die Realität, so wie der Surrealismus sie verstehe, sei nicht die Realität gemäß den üblichen Fiktionen des Dualismus. Vielmehr sei die Imagination für den Surrealismus dasjenige, was dem Bewusstsein den Weg zum Epizentrum der „Grundvibrationen“ (les vibrations fondatrices) weise.5 Es drehe sich in Wirklichkeit alles um eine Welt voller Schwingungen, wie Spezialisten auf dem Gebiet der Auren immer wieder konstatiert hätten. Ja einige behaupteten sogar, dass jede Person von drei Ebenen von Schwingungen umgeben sei – nämlich Farbe, Ausbreitung und Bedeutung. Aber „wenn wir Carlos Castaneda und seinem Zauberer vom Stamm der Yaqui-Indianer Glauben schenken sollen, dann erfordert eine mehr als zufällige Wahrnehmung dieser Dinge eine äußerst harte Übung“.6
D
oumayrou verweist auf Bretons Äußerungen über die Beziehung zwischen Surrealismus und Natur und unterstreicht dabei dessen Aussage, für die Surrealisten sei die Vorstellung einer dem Menschen feindlich gegenüberstehenden Natur schwer zu akzeptieren. Vielmehr gingen sie davon aus, der Mensch habe „die Schlüssel verloren, in deren Besitz er ursprünglich war und die ihm einen engen Kontakt mit der Natur ermöglichten“. Von da an probiere er ohne Erfolg andere Schlüssel aus.7
Dazu zitiert er Breton weiter:

Die wissenschaftliche Naturerkenntnis wird überhaupt erst dann einen Wert haben, wenn die Berührung mit der Natur wieder über poetische, ja ich möchte sogar sagen, über mythische Wege erfolgt.8

Schließlich gesteht Doumayrou zu, dass im Zweiten Manifest des Surrealismus auch die esoterische (also hermetische, verborgene) Dimension und die des Wissens um Magie und Okkultismus auf den Plan treten, was er mit einer allgemeinen Krise der Menschheit begründet.9 Diesbezüglich mache Breton auf die „bemerkenswerte Analogie“ aufmerksam zwischen dem, wonach der Surrealismus, und dem, wonach die Alchimie suche, denn „der Stein der Weisen ist nichts anderes als das, was die Einbildungskraft des Menschen dazu bringt, an allen Dingen schlagende Rache zu nehmen; und nach jahrhundertelanger Unterwerfung des Geistes und dumpfer Resignation versuchen wir nun erneut, diese Einbildungskraft durch eine lange, gewaltige und wohlüberlegte Verwirrung aller Sinne endgültig zu befreiene.10

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Ich bin so ausführlich auf diesen Artikel eingegangen, weil es sich dabei um den aktuellsten zum Thema der Beziehung zwischen Surrealismus und dem Übersinnlichen, der verborgenen Welt, handelt. Alles in diesem Text verweist auf die Intensität und die fundamentale Bedeutung dieser Beziehung – im Positiven wie im Negativen. Wobei das Übersinnliche und das Verborgene hier losgelöst von der religiösen Dimension zu betrachten sind, die ihnen traditionellerweise zugeschrieben wird. Die Mystik, so wie ich sie sehe und in dieser Studie zu präsentieren versuche, zeichnet sich genau dadurch aus, dass sie dieser Dimension entbehrt und dass sie dagegen opponiert, vor allem auf der Ebene der Erkenntnis. Ich glaube aber dennoch, dass der Widerspruch, auf den ich anfangs verwiesen habe, bestehen bleiben wird. Denn der Surrealismus ist in seiner Eigenschaft als literarisch-künstlerische Bewegung mit ihren Werken auf den Gebieten Dichtung, Prosa und bildende Kunst bekannt geworden, während man den Sufismus als religiöse Bewegung kennt. Mit dessen Werken hat man sich bisher nur in ihrer Eigenschaft als Dokumente beschäftigt, die den religiösen Sichtweisen und Überzeugungen des Sufismus Ausdruck verleihen. Hinzu kommt, dass zwischen den beiden Bewegungen im Allgemeinen keinerlei Verwandtschaft auf sprachlicher, zeitgeschichtlicher und kultureller Ebene besteht. Dies alles wirft ein bezeichnendes Licht auf den dürftigen Forschungsstand in Bezug auf den Sufismus, und es verdeutlicht ganz allgemein, wie dürftig das theoretisch-wissenschaftliche Niveau mancher Studien ist, die sich mit arabischer Kultur beschäftigen, wie dürftig das Bild, das uns von ebendieser Kultur bislang präsentiert wurde.
Dennoch lege ich Wert auf die Feststellung, dass in diesem Essay nicht die Behauptung aufgestellt werden soll, Sufismus und Surrealismus seien ein und dasselbe oder der Sufismus habe, da er zeitlich vorausgehe, den Surrealismus direkt und indirekt beeinflusst. Mein Ziel ist es, aufzuzeigen, dass die Existenz über eine verborgene, unsichtbare, unbekannte Dimension verfügt, dass deren Kenntnis nicht mit logisch-rationalen Methoden erlangt werden kann, dass der Mensch ohne jene Dimension und ohne den Versuch, zu ihr vorzudringen, ein Wesen ist, dem es an existentieller Substanz und Erkenntnis fehlt, dass die Wege dorthin spezifisch und individuell sind und dass wir daher Verwandtschaftsbeziehungen und Übereinstimmungen zwischen sämtlichen Richtungen finden, die jenes Übersinnliche zu schauen trachten, darunter insbesondere Sufismus und Surrealismus. Die großen Erlebnisse im Hinblick auf das Erkennen der verborgenen Dimension des Seins konvergieren auf die eine oder andere Weise jenseits des Sprachlichen, des Zeitlichen und der kulturellen Unterschiede. Ich werde versuchen, diese Begegnung zwischen Sufismus und Surrealismus zu beschreiben und zu verdeutlichen, dass beide den gleichen Weg der Erkenntnis einschlagen, wenn auch unter verschiedenen Namen und mit unterschiedlichen Zielen. Das Muster ist jeweils das gleiche, und die Ähnlichkeiten bei dessen Umsetzung in die Praxis sind so zahlreich, dass sie einen zu der Feststellung verleiten könnten, beim Surrealismus handele es sich um einen heidnischen Sufismus, einen ohne Gott, dessen Ziel die Einswerdung mit dem Absoluten sei, und beim Sufismus handele es sich um einen Surrealismus auf der Basis einer Suche nach dem Absoluten und einer ebensolchen Einswerdung mit ihm.
Ja, bisweilen verspürt der Mensch das Bedürfnis nach jemandem oder etwas, mit dem er jenseits der Bücher, des Verstands und der Wissenschaft reden kann. Dies mag ein Baum, ein Stein, ein Berg oder auch ein Fluss sein.
In einem solchen Moment spürt der Mensch, dass sich sein Denken nicht nur in seinem Kopf abspielt, sondern in seinem ganzen Körper. Ja es mag zuweilen vorkommen, dass es stärker in seinen Füßen präsent ist als in seinem Kopf. Er spürt, dass das Denken die tiefe Einheit zweier Körper, nicht zweier Gedanken ist und dass er beispielsweise ein größeres Bedürfnis danach hat, mit einer Welle eins zu werden, als mit einem anderen Menschen zu sprechen.
Und es überkommt ihn in einem solchen Moment die Gewissheit, dass die Wahrheit nicht von außen kommt – nicht aus Büchern, religiösen Dogmen, Gesetzen, Ideen oder Lehren. Vielmehr kommt sie aus dem Inneren heraus, aus der konkreten Erfahrung, aus der Liebe und aus der aktiven Kommunikation mit den Dingen und mit dem Universum. Es wird ihm klar, dass der Mensch stets danach dürstet, zu inkorporieren und inkorporiert zu werden, nicht danach, abzutrennen und abgetrennt zu werden. Dass er nach Vereinigung statt nach Isolation dürstet, nach Kooperation statt nach Dominanz. Und er gelangt zu folgender Überzeugung: Wenn Gott sich außerhalb der Existenz befände und wenn seine einzige Verbindung zu dieser im Akt der Schöpfung und in der Ausübung seiner Herrschaft bestünde, dann wäre diese Welt nichts weiter als eine Sphäre aus Staub, die es nicht verdiente zu existieren oder, besser gesagt, nicht verdiente, von jenem großartigen Wesen bewohnt zu werden, welches der Mensch ist. Jenem Geschöpf, das trotz allem wichtiger wäre als sein Schöpfer. In aller Selbstverständlichkeit könnte man dann proklamieren: Wenn die Existenz nur in der Alternative Paradies oder Hölle bestünde, dann wäre sie nichts weiter als ein Wettspiel, welches stumpfsinnig und lächerlich wäre und dem Menschen nicht gerecht würde.
Ferner verstärkt sich in einem solchen Moment beim Menschen die Gewissheit, dass tief in seinem Inneren ein grenzenloser Ozean schlummert, der von Dämmen und Hürden aller Art umgeben und im Zaum gehalten wird, und dass sein Leben nichts als Schaum bleiben wird, solange er nicht dorthin hinabsteigt und jene Dämme und Hürden durchbricht, um das bisher Ungesehene zu sehen, das bisher Ungedachte zu denken und etwas zu fühlen, von dem keiner geglaubt hätte, dass es jemals jemandem zu fühlen vergönnt sein würde. Durch das Eintauchen in jenen Ozean wird sich ihm eine Welt eröffnen, die nicht durch Dinge begrenzt ist, sondern einzig und allein durch Gedanken und Phantasie.
Vielleicht handelt es sich bei einem solchen Moment um den Moment der Liebe par excellence: Denn in der Liebe gehen Mann und Frau gleichermaßen über ihre Individualität hinaus, in Form eines Einsseins, welches ihnen das Gefühl verleiht, dass sie zusammen mehr sind als nur die Summe von ihnen beiden, dass sie sich gegenseitig ergänzen wie das Konkrete und das Absolute, das Sein und das, was jenseits davon liegt. In jedem der beiden erscheint das jeweils andere, offenbart sich für ihn, in ihm, aus ihm, über ihn, mit ihm und so als wäre es das Andere.
Genau dieser Moment ist der Bereich, in dem sich Sufismus und Surrealismus begegnen.

(…)

 

 

 

Der Dichter als Essayist. Mit Adonis Denken

Seit der ägyptische Romancier Nagib Machfus (1911–2006) im Jahr 1988 den Nobelpreis für Literatur erhielt und noch einmal verstärkt nach dem 11.9.2001 haben die deutschen Leserinnen und Leser die arabische Literatur ein zweites Mal entdeckt. Bedenkt man, dass die erste Entdeckung der orientalischen Literaturen, ausgehend von Herder und Goethe, gipfelnd in den Übersetzungen von Friedrich Rückert, sich bereits im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert vollzog, hat es bis zu dieser Wiederentdeckung recht lange gedauert. Anders als vor zweihundert Jahren ist es diesmal vor allem die zeitgenössische Literatur, die im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Wir lesen die Romane und Gedichte von Autoren unserer Lebenszeit, wir laden sie ein, hören ihnen zu, diskutieren mit ihnen, während weder Goethe noch Rückert einen einzigen muslimischen Autor ihrer Gegenwart kannten, geschweige denn gelesen oder getroffen hätten. Die Einseitigkeit jener Zeit spiegelt sich seitenverkehrt in unserer: Die große Unbekannte ist heute die klassische arabische Literatur, abgesehen vom Spezialfall Tausendundeine Nacht Die ältere orientalische Literatur jenseits davon wird heutzutage bei uns nicht mehr gelesen und kann mangels lieferbarer Übersetzungen auch gar nicht gelesen werden.
Der andere blinde Fleck in unserer Rezeption der arabisch-islamischen Kulturen liegt auf dem Feld des Denkens, der Philosophie und der Essayistik. Unter den rund fünfhundert Büchern von etwa zweihundert arabischen Autoren, die derzeit auf Deutsch vorliegen, findet man sehr viele Romane, einige Gedichtbände, aber nur eine Handvoll theoretischer Schriften. Die fiktionale Schlagseite in unserer Rezeption der arabischen Kultur ist ein Politikum: Sie spiegelt nicht nur die weitverbreitete Auffassung, der Islam kenne keine Aufklärung, sie ist für dieses Zerrbild auch mit verantwortlich.
Angesichts solcher Rahmenbedingungen dürften die vorliegenden Essays von Adonis ein wahrer Augenöffner, eine kleine Offenbarung sein. Hier tritt ein zeitgenössischer orientalischer Dichter als eminenter Kulturkritiker und Essayist auf; hier werden vor dem staunenden Leser die Schätze des arabischen Denkens und Dichtens über einen Zeitraum von fast eintausendfünfhundert Jahren ausgestreut, neu geprüft und bewertet – Schätze, die selbst die Romantiker aus der Fassung gebracht hätten, so unbekannt waren bei uns noch vor zweihundert Jahren die meisten der hier genannten Werke und Autoren.
Mit einem fast mehr an Nietzsche als an die Aufklärung gemahnenden Furor unterzieht Adonis in der hier präsentierten Auswahl aus seinen kulturkritischen Schriften die islamisch-arabische Kultur einer Fundamentalkritik, einer kompletten Revision. Wer bislang geglaubt hat oder sich hat einreden lassen, Kritik an der Religion sei in der islamischen Welt nicht möglich, wird hier stante pede eines Besseren belehrt. Wer trotzdem zweifelt, dem sei versichert: Alle Bücher, aus denen die hier übersetzten Aufsätze stammen, sind in der arabischen Welt erschienen, in fast allen Ländern frei zu kaufen und vom Verfasser dieser Zeilen ebendort erworben worden!

* * *

Adonis, freilich, ist nicht zuerst Kulturkritiker, sondern Dichter.11 Geboren wurde er 1930 im syrischen Alawitengebirge, dem Hinterland der Hafenstadt Lattatia, in einfachsten, bäuerlichen Verhältnissen. Sein Vater war der Imam des Dorfs, er leitete das Gebet. Von ihm lernte Ali Ahmad Said Esber, so sein eigentlicher Name, lesen und schreiben, bekam die Grundkenntnisse des klassischen, arabisch-islamischen Curriculums vermittelt: den Koran und seine Wissenschaften, das reiche Erbe der klassischen Dichtung. Wie jeder traditionell gebildete Araber kennt es Adonis bis heute auswendig – er ist also genauso wie Goethes Hafis ein hafis:

einer, der im Gedächtnis den Koran aufbewahrt.

Es handelt sich dabei um ein Verhältnis zur eigenen Tradition, wie es in unseren Breiten selbst gebildetere Zeitgenossen nicht mehr haben. Diese Tradition ist nämlich nicht angelesen oder anstudiert, sondern sozusagen mit der Muttermilch aufgesogen und wie eine Muttersprache intuitiv erlernt.
Ein glücklicher Zufall öffnet diese seit Jahrhunderten in sich verharrende Welt für den jungen Ali Ahmad: Der erste Präsident des 1941 formell aus der französischen Mandatsherrschaft in die Unabhängigkeit entlassenen Syrien, Shukri al-Quwatli (1891–1967), reist durch das Land. Als er das Alawitengebirge besucht, wird der aufgeweckte Junge ausgewählt, ein Gedicht aufzusagen. Der Präsident spendiert dem Jungen zur Belohnung den Besuch einer weiterführenden Schule in der benachbarten Hafenstadt Tartus. Es ist die Schule der französischen Laienmission. Zur klassisch islamischen Bildung gesellt sich nun die westliche, eine Verdopplung der kulturellen Identität, die wir unter den Gebildeten vieler ehemals kolonisierter Länder finden und die sowohl einen (gerade im Vergleich zur abendländischen Kultur) erweiterten Horizont als auch eine starke Prädisposition zur Identitätskrise zur Folge haben kann.
Dieser Sprung im Alter von vierzehn Jahren aus dem Dorf in die Hafenstadt ist ein Sprung in die Welt und eröffnet dem Jungen zugleich Einblick in die aktuellen kulturpolitischen Debatten des neugegründeten, künstlichen Staates.12 Die Meinungsführerschaft hat eine Gruppe um den charismatischen Antun Saadeh (1904–1949) inne, Gründer und Vordenker der sogenannten Syrischen Volkspartei (PPS, Partie Populaire Syrien). Die in der Opposition befindliche Bewegung versprach, die Identitätskrise des gerade erst aus der Mandatherrschaft entlassenen, nach dem Ersten Weltkrieg künstlich aus den Trümmern des Osmanischen Reiches geschaffenen Staates Syrien zu lösen. Ihnen schwebte ein sogenanntes Großsyrien vor – eine Vorstellung, die nicht mit derjenigen unserer Urgroßväter von Großdeutschland zu verwechseln ist, sondern schlicht die traditionelle Einheit des östlichen Mittelmeerraums (mit den heutigen Ländern Syrien, Libanon, Jordanien, Israel / Palästina und Zypern) in einem Staat zusammenfassen und damit die artifizielle Aufspaltung rückgängig machen wollte, die im Vertrag von Sevres entsprechend französischen und englischen Kolonialinteressen beschlossen wurden war. Dabei sollte die ethnische und religiöse Heterogenität nicht übertüncht oder glattgebügelt werden, wie es später die Staaten in der Region versucht haben und versuchen ( einschließlich Israels, das sich bekanntlich als explizit jüdischer Staat versteht), sondern sie sollte auf einen älteren, ja den ältesten gemeinsamen Nenner zurückgeführt werden: Phönizien und seine vorderorientalischen Nachfolgereiche. Saadehs „Großsyrien“ war als Staat des Mittelmeers konzipiert, nicht des Orients. Diese Vision wirkt bis heute suggestiv und grenzt sich nicht zuletzt gegen die Vereinnahmung durch den Islam ab. Wenn sie gegenwärtig allzu phantastisch klingt, muss man sich klarmachen, dass Mitte der vierziger Jahre die nahöstlichen Grenzen noch jung waren und nur wenig weiter südlich, in Palästina, heiß umkämpft (wie ja zum Teil noch heute).
Wichtig für unseren späteren Dichter Adonis ist dabei ein Detail. Im Zuge der Entdeckung des vorderorientalischen Erbes und des Versuchs seiner Wiederbelebung (also einer künstlichen, ideologisch motivierten Renaissance) wurde auch die vorderorientalische Mythologie neu gelesen, nicht zuletzt die Wiederauferstehungsmythen von Tammuz und Adonis (arabisch Adûnîs). Vor diesem Hintergrund wählte der junge Dichter sein Pseudonym, und es brachte ihm Glück – schon als Schüler konnte er unter diesem Namen seine ersten Gedichte veröffentlichen. Mit der Zeit verblasste die politische Konnotation, und Adonis, der Dichter, ist heute bekannter als die nahezu vergessene politische Strömung, der er seinen Namen verdankt.
Vom weiteren Werdegang muss hier nicht jedes Detail interessieren. In Damaskus studierte Adonis Literaturwissenschaften und knüpfte Kontakt zu Schriftstellerkreisen. Er lernte die Frau kennen, mit der er bis heute verheiratet ist, die Literaturwissenschaftlerin Khalida Said. Vom zweijährigen Militärdienst verbrachte er wegen politischer Aktivitäten (für die genannte PPS) elf Monate im Gefängnis. Dann entzog er sich der zunehmenden Enge und politischen Unterdrückung in Syrien und ging nach Beirut, das im Begriff war, sich in das „Paris des Nahen Ostens“ zu verwandeln, und wo für zwei Jahrzehnte, bis zum libanesischen Bürgerkrieg (1975–1990), Prosperität und kulturelle Freiheit zusammenfanden. Mit dem aus den USA zurückgekehrten libanesisch-christlichen Dichter Yusuf al-Khal (1917–1987) gründete er 1957 die heute legendäre Literaturzeitschrift Sbi’r („Dichtung“), in der fast die gesamte dichterische Avantgarde der arabischen Welt publizierte und gegen die alten Formen und Themen in der Dichtung aufbegehrte. Die Zeitschrift war auch die erste Adresse für die ins Arabische übersetzte abendländische Lyrik. Sogar deutsche Dichter wurden hier publiziert, vor allem in der Übersetzung des auch bei uns als Dichter bekannten Fuad Rifka (1930–2010).
1960 ging Adonis mit einem Stipendium für ein Jahr nach Paris, wo er seit der zweiten Hälfte der achtziger Jahre hoch über der Stadt in einem der Wohnsilos des Wolkenkratzervororts La Defense wohnt – eine eigenwillige, architektonischen Neuerungen gegenüber sehr aufgeschlossene Art des Elfenbeinturms. Wer ihn dort oben besucht, beginnt zu ahnen, dass es keine graue Theorie ist, wenn Adonis über die Moderne redet. Was die französische Kultur insgesamt betrifft, wird Adonis’ intensive Beziehung zu ihr im Rahmen der hier publizierten Aufsätze vor allem in „Sufismus und Surrealismus“ deutlich.
Der zweite große westliche Einfluss auf das Werk von Adonis ist jedoch, vielleicht zur Überraschung vieler, deutsch!
Nietzsche und Heidegger in der Philosophie, Novalis, Rilke und Benn in der Literatur sind die Namen, auf die sich Adonis immer wieder beruft. In den hier vorgelegten Texten sind die Nachwirkungen von Nietzsche und Heidegger kaum zu übersehen – die Nietzsches in der Kritik der Religion und der erstarrten Tradition, diejenigen Heideggers im Ringen um einen anderen Begriff der Modernität, in der Kritik an der rein äußerlichen Übernahme der Technik, einem Umgang mit der technisierten Lebenswelt, der seelenlos und kulturlos ist. Aber auch die Neigung zur deutschen Philosophie verdankt Adonis seinem ersten Paris-Aufenthalt in den sechziger Jahren. Das erstaunt nicht. Husserl, Heidegger und Nietzsche waren prägende Gestalten für fast alle nach dem Zweiten Weltkrieg bedeutenden französischen Intellektuellen wie Sartre, Foucault und Derrida. Wer 1960 in Paris war und sich für Philosophie interessierte, konnte diesen deutschen Einfluss gar nicht verpassen.
Mit der vertieften Aneignung westlichen Gedankenguts legte Adonis in Paris die Fundamente für die sich nach seiner Heimkehr in den Libanon vollziehende Rückkopplung mit dem älteren arabisch-islamischen: Adonis gab eine bis heute unübertroffene Auswahl aus der klassischen arabischen Dichtung in einer dreibändigen Anthologie heraus. Nichts Besonderes, mag der arglose deutsche Leser denken, der alle paar Jahre von Philologen und Kritikern mit einer umfangreichen Auswahl aus unserer Lyrik beschenkt wird. Aber mit Adonis tat dies jemand, der als Dichter nicht zu Unrecht als ein die Traditionen auf frivole Weise umdeutender Bilderstürmer galt, einen, der auf das Alte nicht viel zu geben schien; nun aber schien er gerade dieses Alte pflegen zu wollen! Die neue arabische Lyrik, die bessere jedenfalls, der sich auch Adonis verpflichtet fühlte, kann ihre Möglichkeiten, ihren sprachlichen Reichtum nur erschließen, indem sie sich ihrer Geschichte bewusst ist, lautete die Botschaft dieser Rückeroberung des literarischen Erbes – sich ihrer bewusst ist, ohne an sie gekettet zu sein.
Dazu muss man wissen, dass die arabische Sprache, jedenfalls die hochsprachliche Literatur- und Schriftsprache, seit ihrer Kodifizierung durch Koran und Koranphilologie im siebten und achten Jahrhundert nach Christi (dem ersten und zweiten Jahrhundert der 622 anhebenden islamischen Zeitrechnung), morphologisch gleich geblieben ist. Entwickelt haben sich allein die verschiedenen Dialekte, die jedoch nur in Ausnahmefällen verschriftlicht werden, etwa in bestimmten literarischen Genres, dem Theater, der Dialektdichtung, der volkstümlichen Erzählung; oder wie kurzzeitig einmal im Versuch, den libanesischen Dialekt, geschrieben mit lateinischen Buchstaben, als unabhängige Sprache festzuschreiben (vgl. den Essay „Sprache und Identität“ in diesem Band). Aufgrund dieser Sprachgeschichte ist das Hocharabische zwar niemandes eigentliche Muttersprache und muss gelernt werden wie etwa Deutschschweizer Hochdeutsch lernen müssen. Wer diese Sprache aber einmal beherrscht, dem steht ein Vokabular, eine Ausdrucksfülle und eine Tiefe der literarischen Tradition zu Gebote, die mit nichts in der westlichen Hemisphäre vergleichbar ist: Eintausendfünfhundert Jahre ununterbrochene Sprach- und Literaturgeschichte, von der vorislamischen Lyrik bis ins 21. Jahrhundert.
Klar ist aber auch, dass man sich von einem derart übermächtigen, überpräsenten Erbe erst einmal befreien und loslösen muss, bevor man es auf eine genuin moderne Weise neu fruchtbar machen kann. Viele arabische Dichter geben diesen schwierigen Weg heute nicht mehr. Sie bleiben dem Erbe, besonders den traditionellen Formen in der Dichtung, unkritisch verhaftet, stehen in einer naiven Kontinuität zu ihm. Oder – dies ist der Fall vieler Jüngerer – sie kappen die Nabelschnur zur Tradition völlig oder haben überhaupt nie Gelegenheit oder Interesse gehabt, diese vertieft kennenzulernen. Das Resultat ist entweder eine weitgehend verwestlichte oder aber eine oberflächliche, dem unmittelbaren Zeitgeist verhaftete Lyrik. Es ist jedoch offensichtlich, dass beide Haltungen defizitär sind und fast zwangsläufig in eine poetische Identitätskrise münden, sobald sie reflektiert werden. Adonis aber tut in den hier versammelten Essays genau dies: Er reflektiert die verschiedenen arabischen Positionen zur Tradition, zur Dichtung, zur Religion; thematisiert, indem er die Widersprüche aufzeigt, die Identitätskrise selbst. Indem er die Problematik der althergebrachten und unreflektierten Weltanschauungen offenbart, ermöglicht dieser von Adonis vollzogene Perspektivwechsel zugleich eine sehr originelle Lösung.

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Das theoretische Werk von Adonis geht zwar von der Dichtung aus und steht in ihrem Dienst. Aber da die Dichtung nach Adonis ein Humanum ist, eine anthropologische Grundkonstante, ein zentraler Faktor der menschlichen Existenz, ein Ideenkraftwerk, ja die Manifestation von Kultur überhaupt – deswegen ist das Reden, das Ausgehen von der Dichtung, ein Reden über die Kultur und das Dasein überhaupt. Vielleicht ist dies das für uns Überraschendste und Gewöhnungsbedürftigste an den hier versammelten Texten. Dichtung, wenn nicht die Literatur insgesamt, gelten als randständig, als marginal in der Gesamtheit unserer Kultur.
Sogar unsere Dichtung selbst erhebt kaum noch den Anspruch, mehr sein zu wollen, und ihre Bescheidenheit ist realistisch. Eine Theorie der Kultur würde bei uns von der Medialität insgesamt ausgehen, und die Marginalisierung der Dichtung in unseren Breiten ist womöglich nichts anderes als eine mediale Verdrängung, welche der arabischen Welt erst noch bevorsteht und die sich in Gestalt der Facebook-Revolten und der omnipräsenten Satellitenfernsehsender bereits lautstark ankündigt.
Als Kritik an der inhaltsleeren Technisierung der Welt, der Vermittlung auf allen Kanälen, aber der Vermittlung von nichts wird freilich auch diese Medialität von Adonis reflektiert. Und schließlich tritt die Dichtung bei Adonis, wir lesen es aus diesen Essays von Anfang an heraus, in Konkurrenz zur Religion, ein Gedanke, der natürlich auch in unserer Literatur nicht unbekannt ist. Er findet sich bereits bei Herder angelegt, wenngleich dort die Poesie immer noch im Dienst der Religion, des „Gefühls“ steht. Wir finden ihn weitgehend emanzipiert in der deutschen Frühromantik wieder. Und im zwanzigsten Jahrhundert, das heißt postnietzscheanisch, finden wir ihn im Surrealismus, aber auch bei so hochgradig nüchternen Schriftstellern wie Hermann Broch und Robert Musil, mit dem die denkerischen Positionen von Adonis, wie wir noch sehen werden, verblüffende Schnittmengen aufweisen.
Dichtung und Religion sind die beiden Pole, zwischen denen sich in diesen Artikeln eine Spannung aufbaut, die sich im Begriff der Modernität schließlich entlädt. Literaturgeschichtlich mit zahlreichen Belegen abgesichert, findet sich diese Denkbewegung beispielhaft in den vier Vorlesungen, die Adonis 1984 am Collège de France gehalten hat. Sie wurden unter dem Titel „Einführung in die arabische Poetik“ auf  Französisch und Arabisch als Buch veröffentlicht, mit ihnen beginnt die hier vorgelegte Auswahl.
Die ersten drei Vorlesungen skizzieren die Polaritäten, zwischen denen sich die traditionelle arabische Kreativität seit ihren Anfangen in der vorislamischen Dichtung bewegt hat. Sie skizzieren sie aber nicht mit den Augen eines modernen, westlichen Kritikers, sondern exakt so, wie sie von der mit den ersten Koranforschungen anhebenden arabischen Philologie gelesen und gedeutet wurden. „Geschichte der arabischen Dichtung“ bedeutet hier also das, was über die arabische Dichtung im Laufe der Geschichte gesagt und geschrieben wurde, wie sie gelesen und verstanden wurde, wie sie kategorisiert und bewertet wurde. Es ist eine Geschichte der Rezeption in Gestalt von Poetiken.
Eine eigentliche Einführung in die arabische Dichtung im Sinne einer kleinen Literaturgeschichte sind diese Vorlesungen daher nicht, wollen sie nicht sein. Stattdessen wird vor dem verblüfften westlichen Leser das Füllhorn der mittelalterlichen arabischen Philologie ausgeschüttet. Die Vielzahl fremder Namen, der Reichtum der Diskurse, der dabei nur angedeutet wird, überrascht, ja überfordert womöglich im ersten Moment. Freilich ist diese Überforderung nichts anderes als das Indiz eines Wahrnehmungsdefizits, einer veritablen Bildungslücke. Denn der Reichtum an philologischer Forschung, an Diskursen über Sprache und Literatur in der arabischen Welt seit dem siebten Jahrhundert, mit den Zentren Bagdad, Aleppo, Kairo und Córdoba, übertrifft an Fülle und intellektuellem Gehalt nicht nur alles, was in Europa bis weit ins Hochmittelalter hinein gedacht und geschrieben wurde, er muss nicht einmal einen Vergleich mit der griechischen und römischen Antike scheuen. Jenseits orientalistischer Fachkreise weiß davon in unseren Breiten selbst der literaturwissenschaftlich Interessierte nichts, es fehlen die Sprachkenntnisse, die Übersetzungen, die zusammenfassenden Darstellungen. Auch insofern ist gerade dieses Werk von Adonis so wichtig. Es vermittelt uns nicht nur Einblicke in den Umgang eines arabischen Schriftstellers mit seinem Erbe, es lässt auch, gleichsam wie mit der Kamera aus der Luft aufgenommen, dieses Erbe in einem breiten Panorama an uns vorbeiziehen. Welche Landschaften! Und dabei ist das nur der Blick aus dem Flugzeug. Wie wäre es erst, wenn man mittendrin stünde?

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„Poetik und vorislamische Mündlichkeit“, „Poetik und Koran“, „Poetik und Denken“ lauten die Überschriften der ersten drei Vorlesungen, der drei Pole, zwischen denen es so sehr knistert. Dabei hatten nach Mohammeds Tod zumindest die frühe arabische Dichtung und der Koran in den Augen der späteren arabischen Philologen eine Art Modus Vivendi gefunden, eine Allianz gebildet, um den unliebsamen Dritten, den eigentlichen Störenfried, die intellektuelle Dynamik nämlich, außen vor zu halten. Die dreibändige Studie zur arabisch-islamischen Geistesgeschichte, die Adonis Anfang der siebziger Jahre in Beirut unter dem Titel Das Statische und das Dynamische vorlegte, entdeckt in diesem Gegensatz ein Leitmotiv der arabischen Kultur, das sich zu den verschiedensten Epochen und Bedingungen immer wieder bemerkbar macht. Dabei wäre die Annahme grundfalsch, dass etwa die religiösen Elemente pauschal die verharrenden und rückschrittlichen Kräfte repräsentierten, die dichterischen und denkerischen pauschal die Kräfte der Erneuerung. Nicht Religion an sich ist dies oder das, sondern wird als statisch oder dynamisch gelebt und verstanden. Das Religionsverständnis der Sufis zum Beispiel ist eines von äußerster geistiger Beweglichkeit. Die Dichtung hingegen, wenn sie nicht mehr sein will als die Nachahmung des Althergebrachten, kann ein Hort des Rückschrittlichen werden und sich dabei hervorragend mit einem starren, dem eigenständigen Denken abholden Verständnis des Korans paaren. Für beide Einstellungen fanden und finden sich die entsprechenden Philologen und Propagandisten. Zentrale Kampfbegriffe sind dabei die (unerlaubte) Neuerung (badi’; vor allem von den Gegnern dieser Neuerung benutzt) und „Modernität“, ein eher positiv besetzter Begriff.
So irritierend es für westliche Leser sein mag, für die der Begriff des Modernen erst im 18. Jahrhundert Gestalt annimmt (etwa in der mit den mittelalterlichen arabischen Diskussionen vergleichbaren „Querelle des anciens et des modernes“), wenn er nicht gleich erst mit der Kunst und Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts assoziiert wird: Die Moderne ist eine arabische Erfindung und absolvierte ihren ersten Auftritt in Bagdad im ausgehenden achten Jahrhundert! In den Hauptrollen: der Kalif Harun Ar-Raschid, der Dichter Abu Nuwas und eine ganze Armee von Frömmlern und Bewahrern. Das Tragische an dieser Uraufführung der Moderne bestand nun darin, dass sie unmittelbar mit den politischen Auseinandersetzungen der Zeit zusammenhing und von ihr instrumentalisiert wurde: Es gab keine Unschuld in den ästhetischen Fragen, in der Interpretation des Korans, ja nicht einmal in der Philologie und im Aufsagen von Versen. Dies wiederum hängt nicht damit zusammen, dass der Islam einen größeren politischen Anspruch hat und weltliche und religiöse Macht hier nicht ordentlich getrennt wären, sondern liegt an der Instrumentalisierung der Religion durch die Macht, was auch Adonis beklagt. Zum Beispiel in der dritten Vorlesung, wo er schreibt:

Zwar existiert innerhalb der arabischen Gesellschaft ein Bestreben nach Trennung der Religion von jedweder Art von Herrschaft. Im Gegensatz dazu steht jedoch das Bestreben der Herrschenden, die Religion, da von Gott offenbart, als Grundpfeiler im Leben der Araber und als deren vollkommenstes Wissen zu verstehen. Deshalb ist für sie die Religion auch ein fundamentales Element zur Gewährleistung der Stabilität des politischen Systems, ja Politik und Religion gehen in dieser Hinsicht eine beinahe organische Verbindung ein. Man erkennt hier ganz klar, dass die Freiheit des Hinterfragens und des beharrlichen Nachforschens vor dem Hintergrund eines Systems, das so sehr jene Verbindung betont, ein Ding der Unmöglichkeit ist – umso mehr, wenn diese Freiheit auf den religiösen Bereich bezogen wird. Auf diese Weise wird Politik praktisch zu einer Art von religiöser Unterwerfung und einem Glaubensbekenntnis gegenüber dem herrschenden System. Alles andere wird automatisch als eine Art Abfall vom rechten Glauben und als Gotteslästerung hingestellt.

Fortschrittliche und rationale religiöse Strömungen wie die Mu’tazila haben sich dabei ebenso für die Despotie vereinnahmen lassen wie die frömmlerischen und reaktionären Kräfte und nicht zuletzt die Dichter: Panegyrik, das Herrscherlob als eine der wichtigsten Untergattungen der arabischen Lyrik seit alters her, stammt aus der Feder von guten wie schlechten, „modernen“ wie konventionellen, archaisierenden Dichtern. Die „moderne“ Schule jedoch, hier mit Adonis immer verstanden im Sinne der ersten arabischen Moderne des achten und neunten Jahrhunderts in Bagdad, stellt sich den Fragen der Zeit und begreift Kultur, Identität und Weltanschauung als dynamisch, im Fluss befindlich. Sie stellt Fragen, statt Antworten zu geben, sie eröffnet einen Raum von Möglichkeiten und Perspektiven, in dem sich die Gesellschaft ebenso wie das Individuum weiterentwickeln können.
In der inspirierten Auseinandersetzung mit dieser alten „Moderne“ gewinnt Adonis die Maßstäbe für eine autochthone Kritik der arabischen Kultur der Gegenwart. Die alte Moderne war eine rein kulturelle, ihr fehlten diejenigen Aspekte, die unsere spätere Moderne ausmachten: Industrialisierung, Technisierung, Ökonomisierung, Medialisierung. Geistig und kulturell, poetisch, philosophisch und philologisch waren alle Errungenschaften der späteren Moderne jedoch bereits präsent, unabhängig von den heute mit der Moderne assoziierten soziologischen und ökonomischen Begleitumständen.
Mit dem Konzept der rein kulturellen Moderne leistet Adonis zweierlei: Zum einen wird Moderne, verstanden als geistige, weltanschauliche Offenheit, als Möglichkeitssinn und Fragelust denkbar auch unabhängig von den potentiell negativen Begleitumständen der heutigen industriellen und technischen Moderne. Zum anderen wird es damit möglich, das rein technische, äußerliche Verständnis von Moderne zu attackieren, das in der gegenwärtigen arabischen Welt – und wohl nicht nur dort – dominiert. Fragt Musil im Mann ohne Eigenschaften,13 warum die Menschen, wo sie doch Wolkenkratzer bauen, sich nicht auf Wolkenkratzer, sondern immer noch auf Pferde setzen, wenn sie posieren wollen (eine Frage, die von heute aus und mit Adonis betrachtet eher an die Emire der Golfstaaten gerichtet scheint, die ja wirklich noch mit Pferden renommieren, während sie zugleich die höchsten Häuser der Welt bauen, als an das Wien der Gründerzeit, in dessen architektonischem Kosmos der Mann ohne Eigenschaften spielt), so dreht Adonis dieses Bild um und verstärkt es: Das Bewusstsein muss nicht zur Moderne aufschließen, sondern die (technische, veräußerlichte) Moderne muss allererst zu Bewusstsein kommen, ihre geistigen Vorbedingungen kennenlernen. Nicht der Geist muss sich der Technik angleichen, sondern der Gebrauch der Technik soll geistvoll werden.
Es ist klar, dass diese Umkehrung nur im Kontext einer Kultur gedacht werden kann, die innerhalb eines Jahrhunderts aus weitgehend mittelalterlichen Verhältnissen in die Moderne geschleudert wurde, wo also die Diskrepanz zwischen modernem Sein und vormodernem Bewusstsein noch weitaus größer, spürbarer und schmerzlicher ist als in Europa. Und wo gleichzeitig die Erinnerung an eine vormoderne Vergangenheit mit einem modernen Bewusstsein noch irgendwie lebendig, wenn auch nicht wirklich gelebt ist.
So macht Adonis bei der Lektüre Baudelaires die verblüffende Entdeckung: Das kenne ich doch, das hatten wir bereits, zum Beispiel in Gestalt von Abu Nuwas. Wir haben es nur vergessen. Die Moderne ist keine europäische Erfindung, geschweige denn ein europäischer Besitz. Sie stürzt die arabisch-islamische Kultur auch nur dann in eine Identitätskrise, wenn diese ihr eigenes vormodern-modernes Erbe verleugnet, also Wolkenkratzer baut, auf Pferden posiert, aber das Reiten schon lange verlernt hat und die neuste Technik mit einem mittelalterlichen Bewusstsein (miss-)braucht. Diese Rückbesinnung auf ein alternatives, verdrängtes Erbe entdeckt die kulturelle Moderne als menschliche Grundkonstante, die nicht nur keiner Kultur, sondern auch keiner Zeit spezifisch eignet. Abu Nuwas etwa steht einem Baudelaire ebenso nah oder fern wie einem Catull oder einem Li Tai-bo, der den Wein ein halbes Jahrhundert vor Abu Nuwas in China nicht weniger schön besungen hat.

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Mit den durch die Beschäftigung mit dem verdrängten dichterischen Erbe gewonnenen Maßstäben einer kulturellen Moderne durchleuchtet Adonis in den auf die Vorlesungen am Collège de France folgenden Essays die unterschiedlichsten Aspekte der arabisch-islamischen Kultur der Gegenwart. Das Resultat ist immer ein neuer, ebenso inspirierender wie kritischer Blick auf vermeintlich abgehandelte Themen: Der Koran? Ein hochmoderner, gar nicht auszuschöpfender Text nur dass man, um dies zu festzustellen, kein Gläubiger sein muss, schon gar kein Fundamentalist. Man muss nur… Dichter sein! Dann aber empfiehlt es sich sehr, vom Koran zu lernen, sich an ihm zu messen, ja ihn möglichst zu übertreffen, wie dies so mancher mittelalterliche arabische Dichter versucht hat. Es gilt dabei, den Text lebendig zu halten, ihn zu schützen vor den immer schon fertigen, vorgängig festgelegten Interpretationen, mit anderen Worten, vor Missbrauch.
Die politische Dimension dieser neuen Lesart des Erbes und des Korans ist in den vorliegenden Essays unübersehbar. „Wenn die Religion dem freien Nachdenken über Gott, den Menschen und die Welt kein Forum bieten kann, wozu ist die Religion dann da, und worin liegt ihr Nutzen?“, schließt Adonis seinen „Aufsatz zur Erneuerung im Islam“. Was Adonis in seinem Blick auf die Religion vom typischen abendländischen Islamkritiker unterscheidet, liegt genau darin, dass er für seine Kritik einen anderen Hintergrund, ein anderes Wissen und eine ganz andere Vision hat als die engstirnigen Ideologien, Nationalismen und Fundamentalismen, die unserer Islamkritik zugrunde liegen.
Die Kritik an den reaktionären Kräften im Islam schließlich ist es auch, die Adonis im letzten und jüngsten der hier vertretenen Texte bei seiner Einschätzung des Aufstands in Syrien eine gewisse Zurückhaltung diktiert. Diese Zurückhaltung ist für westliche Leser freilich zunächst kaum spürbar. Der Text scheint explizit, kritisiert unzweideutig die herrschende Baath-Partei und ihr System der Einparteienherrschaft nach dem Vorbild der ehemaligen Ostblockstaaten, fordert zu Gewaltlosigkeit, Reform und freien Wahlen auf. Übelgenommen wurde ihm von syrischen Oppositionellen gleichwohl, dass der Präsident in den Augen von Adonis noch nicht vollständig diskreditiert scheint, denn er ist es, der die Reformen – von oben – in die Wege leiten soll:

All diese Fragen müssten von Präsident Assad zum Gegenstand intensiver Debatten erkoren werden, und zwar im Zuge eines allgemeinen nationalen Dialogs.

Eine vom Präsidenten initiierte Demokratie ist jedoch in den Augen der erstarkten syrischen Opposition keine echte.

Allerdings werden die Befürchtungen von Adonis gegenüber einer islamisch-fundamentalistischen Machtübernahme nach dem Sturz des Regimes oder angesichts bürgerkriegsähnlicher Zustände wie in Irak auch von vielen Syrern, nicht zuletzt vielen Christen geteilt. Seine Stimme ist daher durchaus als authentische Stimme zu würdigen, wenn sie auch nicht die Stimme der zu allem entschlossenen Opposition ist.

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Die Essays von Adonis, vor allem sein Konzept der kulturellen Moderne, seine rélecture des klassischen und religiösen Erbes, haben unter arabischen Intellektuellen eine weitreichende Wirkung entfaltet und die Beschäftigung damit vor allem auch unter den säkularen Bildungseliten rehabilitiert. Dabei ist der einzige unter den hier versammelten Texten, der explizit für ein westliches Publikum geschrieben wurde (wenngleich nachher mit großem Erfolg auf Arabisch publiziert), die „Einführung in die arabische Poetik“. Alle anderen Texte sind zuerst auf Arabisch publiziert worden und richten sich vornehmlich an ein arabisches Publikum. Wen die Offenheit, ja Dreistigkeit wundert, mit der Adonis die Religion und religiöse Traditionen relativiert, ja teils angreift, unterschätzt die Freizügigkeit, mit der nicht erst seit dem Revolutionsjahr 2011 in der arabischen Welt öffentlich über die Religion diskutiert werden kann und diskutiert wird. Die Beschränkungen, die es gibt, sind schon aufgrund der Größe und Vielgestaltigkeit der arabischen Welt punktuell und lassen sich leicht umgehen. Das einzige Land, in dem Adonis nicht auftreten könnte, wenn er wollte, ist Saudi-Arabien – der engste arabische Verbündete des Westens.
Die Texte wurden in Absprache mit Adonis ausgewählt, der dabei Herausgeber und Übersetzer großzügig freie Hand ließ, und sind hier in chronologischer Anordnung präsentiert, wobei sich die Einteilung in die drei Themenblöcke Poesie, Religion und Politik nahezu von allein ergeben hat. Die Texte müssen aber nicht in der vorliegenden Reihenfolge gelesen werden, im Gegenteil: Jeder steht für sich und enthält eine geschlossene Argumentation. Mögen sich die Leserinnen und Leser den Gedankenreichtum nach den eigenen thematischen Vorlieben erschließen!

Stefan Weidner, Vorwort

 

Inhalt

– DER DICHTER ALS ESSAYIST. MIT ADONIS DENKEN
Vorwort von Stefan Weidner

– EINFÜHRUNG IN DIE ARABISCHE POETIK

1. Vorlesung: Poetik und vorislamische Mündlichkeit
2. Vorlesung: Poetik und Koran
3. Vorlesung: Poetik und Denken
4. Vorlesung: Poetik und Modernität

– SUFISMUS UND SURREALISMUS

– DER KORANISCHE TEXT UND DIE HORIZONTE DES SCHREIBENS
Ergänzende Fragestellungen und Betrachtungen

– SPRACHE UND IDENTITÄT

– TEXT UND WAHRHEIT

Reflexion / Denunziation
Dialog / Toleranz
Zur Erneuerung im Islam

– DER AUGENBLICK SYRIENS

Textnachweise
Zu Umschrift und Aussprache
Anmerkungen

 

Adonis

ist der wichtigste arabische Dichter und Vermittler zwischen Ost und West. Wie kein anderer schafft er eine Synthese zwischen der großen Tradition der arabischen Dichtung und der modernen westlichen Lyrik. Sufismus und Surrealismus bestimmen seine eigene Dichtung genauso wie die Antike und der Symbolismus. In der arabischen Dichtung sieht Adonis seit jeher eine gesellschaftliche Aufgabe: die des Gesprächs. Aufgrund ihrer Mündlichkeit soll im dichterischen Vortrag nicht nur die Seele des Vortragenden, sondern auch des Zuhörers zum Schwingen gebracht werden. In ihr findet Zwiesprache statt, in dem sich das Leben offenbart.
Die Dichtung soll schulen: die Emotionen ebenso wie den Verstand, die Kritikfähigkeit ebenso wie die Kreativität. Adonis geht es um eine tief menschliche Haltung, die anerkennt, dass das leben nicht auf ein Wort reduziert werden kann. Daher befassen sich arabische Dichter seit 1.500 Jahren mit einer Poetik der Schrift und des Lauts, des Auges und des Ohrs.

In seinen Essays eröffnet Adonis uns den wunderbaren Kosmos einer der ältesten Dichtungen der Welt, deren Sprache wie „ein Pulsieren des Herzens erscheint, wie ein körperlicher Prozess, welcher sich in völligem Gleichklang mit der Bewegung des Kosmos vollzieht“. Im mündlichen Vortrag bringt die Dichtung nicht nur die Seele des Vortragenden, sondern auch die des Zuhörers zum Schwingen. In ihr findet Zwiesprache statt, in dem sich das Leben offenbart.

S. Fischer Verlag, Klappentext, 2012

 

 

Denken im ganzen Körper

– Der syrisch-libanesische Dichter Adonis kämpft für eine kulturelle Moderne. In seinen Essays erklärt er das Geheimnis der arabischen Poesie – und drückt sich doch um offene politische Bekenntnisse. –

Dem Rezitieren und Memorieren kam in der vorschriftlichen arabischen Lyrik eine wichtige Rolle zu. Der Poet trug, was er ersonnen hatte, in der Regel selbst vor. „Der dichterische Vortrag ist nichts anderes als eine Art von Gesang“, erklärt Adonis in seiner „Einführung in die arabische Poetik“, in der es viel um „vorislamische Mündlichkeit“ und deren Systematisierung geht. Man wollte sich damit in einem von hellenistischen, orientalischen und arabischen Einflüssen gemischten Milieu ein Regelwerk schaffen, das für den Sprachgebrauch nützlich sein konnte.
Wenn es um kulturelle Identitäten geht, um das Verhältnis des Orients zur Moderne, ist der Dichter Adonis Experte.
In vielen seiner Schriften entwirft er eine Art Kulturkritik des Ostens, ausgehend von seiner Kenntnis der westlichen Moderne. Dass sie keine europäische Erfindung war, ist ein Kerngedanke einer Auswahl von Adonis’ theoretischen Schriften unter dem Titel Wortgesang – Von der Dichtung zur Revolution.
Das wird besonders deutlich im stärksten Text der Sammlung, „Sufismus und Surrealismus“. Darin macht der Autor verblüffende Parallelen zwischen mystischer Religiosität und künstlerischer Avantgarde aus. Beide haben nach Adonis „den gleichen Weg der Erkenntnis eingeschlagen, wenn auch unter verschiedenen Namen und mit unterschiedlichen Zielen“. Beim Surrealismus handele es sich um einen „heidnischen Sufismus, einen ohne Gott“, beim Sufismus um einen „Surrealismus auf der Basis einer Suche nach dem Absoluten“.
Das wirft auch ein Licht auf Adonis’ Überzeugung, dass die Imagination Vorrang vor dem Faktischen habe. Das Imaginäre komme schließlich dem Bedürfnis des Menschen nach einer Begegnung mit Gegebenheiten jenseits der Bücher, des Verstandes und der Wissenschaft entgegen:

In einem solchen Moment spürt der Mensch, dass sich sein Denken nicht nur in seinem Kopf abspielt, sondern in seinem ganzen Körper.

Das bedeutet auch, dass die Sprache der Sufis als „poetische Sprache“ im Gegensatz zur religiös-dogmatischen Sprache steht, „wo die Dinge völlig eindeutig sind“.
Der 1930 unter dem Namen Ali Ahmad Said im syrischen Alawitengebirge geborene Dichter meidet Dogmen aller Art. Die arabisch-islamische Kultur steckt für ihn in einer tiefen Krise, weil ein religiöser Text „gleichzeitig ein kultureller, gesellschaftlicher und politischer Text ist. Die darin enthaltene Wahrheit ist die ,Mutter aller Wahrheiten‘, gegen die es kein Opponieren und kein Auflehnen gibt. So ist sie wie ein Gesetz, das sowohl das Leben als auch das Denken bestimmt. Wer dagegen verstößt, wird nicht als jemand betrachtet, der seinen Verstand gebraucht, sondern schlicht und einfach als Ungläubiger“.
Mit Blick auf die westliche Kultur dekonstruiert der Dichter das „Konzept der Toleranz“, in dem gleichfalls ein grundsätzlicher Fehler stecke, insofern nämlich, als die Toleranz häufig nur darauf abziele, „mit der Schminke der Heuchelei“ die Unterschiede zwischen Mehrheit und Minderheit zu kaschieren. Gleichheit, nicht Toleranz sei wesentlich für jede demokratische Ordnung.
Adonis ist erklärter Laizist. Der Dialog zwischen den Kulturen ist für ihn nur möglich in der Überzeugung, „dass es in erster Linie um den Menschen geht und nicht um das Sakrale, die Religion oder die Nation“. Dichtung und poetische Wahrheit bilden für ihn einen totalen Gegensatz zu Religion und religiöser Wahrheit. Die monotheistischen Religionen sollten, so Adonis, ihr „Welt- und Menschenbild einer Prüfung unterziehen“. Geschehe das nicht, bleibe jeder Dialog nur „kultiviertes Geplänkel“, seine Sprache nichts weiter als „leeres Geschwätz“.
Bis zum Fall Bagdads im Jahre 1258 habe der Elan, Neues auszuprobieren, in der arabischen Kultur fortgelebt, hält der Dichter in seinem Essay „Zur Erneuerung des Islam“ fest. Mit der Herrschaft der Osmanen seien diese Werte zusehends von der Bildfläche verschwunden und richtig problematisch sei es im 19. und frühen 20. Jahrhundert geworden: „Hätten die Araber doch sich die im Westen stattfindenden Umwälzungen in Wissenschaft und Technik zu Nutzen gemacht und gleichzeitig an die in der arabischen Geschichte vorhandenen Werte der Erneuerung und Modernisierung angeknüpft!“, ruft er aus.
Am deutlichsten wird Adonis in seinem im Mai 2011 in der Tageszeitung Al Hayat erschienenen Artikel „Der Augenblick Syriens“:

Ja, was nun passiert, war – für mich zumindest – zu erwarten gewesen.

Mit diesem und ähnlichen Texten kam er allerdings auch ins Gerede. Als ihm 2011 der Goethe-Preis zugesprochen wurde, flammte eine Debatte darüber auf, ob diese Ehrung so kurze Zeit nach dem Arabischen Frühling den Richtigen treffe. Grund zur Skepsis gaben den Kritikern vor allem jene Äußerungen in Al Hayat, in denen er seinen Glauben an eine Reformierbarkeit des syrischen Staates von oben, also auf Initiative von Präsident Assad, bekannte. Noch Anfang August 2011 hatte der Dichter gegenüber der in Kuwait erscheinenden Zeitung Al Ray zu Protokoll gegeben:

Ich glaube, der Präsident ist fähig zu Reformen.

Adonis hat mehrfach bekannt, dass er nichts so sehr fürchte wie eine Übernahme der Macht in seinem Land durch fundamentalistische Kräfte. Das könnte einiges verständlicher machen. Adonis sei kein Anhänger des diktatorischen Regimes, kommentiert sein Übersetzer Stefan Weidner denn auch die Ereignisse, aber er scheine „wie so viele von der Entwicklung überraschte Autoren schlicht den Glauben an die Zukunft verloren zu haben“.
Bedauerlich sei es trotzdem, so Stefan Weidner, der in seinem Vorwort zu der Essaysammlung betont, diese könnten unter Umständen „ein wahrer Augenöffner, eine kleine Offenbarung“ für deutschsprachige Leser sein. Vielleicht hält man sich also lieber daran statt an Adonis’ tagespolitische Äußerungen.

Volker Sielaff, Der Tagesspiegel, 3.2.2013

Befreiung durch den Wortgesang

– In seinen Essays widmet sich der Dichter Adonis nicht nur der Poesie und der Politik der Araber – er zeigt vor allem, wie sich in der arabischen Welt aufklärerische Ideen verbreiten lassen. –

Dichter seien Leute, die sich weigerten, die Sprache zu benutzen, schrieb Jean-Paul Sartre einmal. Der französische Philosoph und Literat votierte damit keinesfalls für ein unverbindliches l’art pour l’art, sondern meinte damit, dass der Lyriker, im Unterschied zum Prosaautor, Sprache nicht zur direkten Kommunikation von Inhalten einsetze. Die Sprache der Poesie bilde eine Ausdruckswelt für sich, die zunächst einmal nicht nützlich sei.
Wie sehr dies vor allem für die lyrische Dichtung der Araber gilt, macht Stefan Weidner im Vorwort eines Buches, das Essays und Artikel von Adonis enthält, deutlich, wenn er schreibt:

Da die Dichtung nach Adonis ein Humanum ist…, ist das Reden, das Ausgehen von der Dichtung ein Reden über die Kultur und das Dasein überhaupt.

Bis heute ist die Poesie jene Kunst, in der sich die Araber am besten wiedererkennen – was angesichts einer großartigen, im Abendland kaum bekannten Tradition auch eine Last sein kann. Dichtung grundiert arabische Identität.
Adonis, der mit bürgerlichem Namen Ali Ahmad Said Esber heißt, ist der bedeutendste Lyriker der zeitgenössischen arabischen Literatur, dazu einer der brillantesten Intellektuellen aus dem nahöstlichen Raum. Wer ihn persönlich erlebt, wird von seiner geistigen Präsenz beeindruckt sein – selbst im hohen Alter von mittlerweile mehr als achtzig Jahren. Der 1930 in einem syrischen Dorf des Alawiten-Gebiets geborene Schriftsteller wurde in den vergangenen Jahren regelmäßig unter die Kandidaten für den Literaturnobelpreis gerechnet; im vorigen Jahr erhielt er den Goethepreis der Stadt Frankfurt, was – Insider ausgenommen – leider wenig Resonanz hervorrief. Dabei ist Adonis, der seine syrische Heimat unter dem Druck der Verhältnisse früh verließ und in den liberaleren Libanon übersiedelte, ehe er sich schließlich in Paris niederließ, momentan die gewichtigste Stimme Arabiens jenseits der offiziellen Politik.
Sein großes Thema ist Tadschdid, Erneuerung, nicht allein in der arabischen Poesie und Literatur, zu der er mit seinem Werk wesentlich beigetragen hat, sondern vor allem in Religion, Politik und Gesellschaft. Sein Dichtername „Adonis“ bezieht sich denn auch ganz folgerichtig auf den babylonisch-syrischen Gott des „Stirb und Werde“, der im Semitischen auch Tammuz heißt. Der Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Auswahl von Vorlesungen und Abhandlungen in deutscher Sprache könnte brisanter nicht sein, denn die blutigen Ereignisse in der syrischen Heimat von Adonis illustrieren manche seiner Thesen und machen die geistigen Aufbrüche, zu denen er – aus dem Geist der Sprache und der Poesie heraus – auffordert, umso dringlicher.
Betrachtungen über Geschichte und Wesen der arabischen Dichtung sowie das systematische Nachdenken arabischer Philologen über sie bilden den Hauptteil des Bandes. Vier Poetikvorlesungen setzen mit der mündlich vorgetragenen und überlieferten vorislamischen Beduinendichtung ein, die eher als emphatische Musik und Gesang (tarab) der Seele empfunden wurde denn als ausgepichtes „Sprachkunstwerk“. Der Islam ist bis heute eine Kultur des Hörens. Ihr Vorbildcharakter – der auch zur poetischen Erstarrung führen konnte – wurde erst später schriftlich festgelegt. In steter Auseinandersetzung, ja bisweilen sogar Konkurrenz mit der – an sich als unnachahmlich geltenden – Sprache des Korans (die nach dem Dogma Gott selbst verwandte) schufen die Araber einen poetischen Kosmos, der Europa – ganz anders etwa als die klassische persische Dichtung zur Zeit Goethes und der Romantiker – im Grunde unbekannt und verschlossen blieb.
Umso überraschender ist für den westlichen Leser Adonis’ Darstellung einer arabischen „Moderne vor der Moderne“, denn der syrisch-libanesische Dichter hat selbst für sein Werk nicht nur von den großen Franzosen des Symbolismus und Surrealismus im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert – Baudelaire, Rimbaud, Valéry, Mallarmé oder Breton – gelernt, sondern auch von den arabischen Dichterkönigen der klassischen Zeit der Abbasiden, einem Abu Nuwas, al Mutanabbi oder Abul Ala al Maarri (in dessen Heimatstadt Maarrat al Numan unlängst heftige Kämpfe zwischen den Truppen Assads und den Rebellen stattfanden). Speziell die philosophisch-skeptische Dichtung al Maarris mutet modern an. Die Araber hatten schon vor tausend Jahren ihren eigenen Baudelaire, in Gestalt des Bagdader „Skandalpoeten“ Abu Nuwas, dessen inhaltliche Freizügigkeit und Unangepasstheit Sprache und Denken befreiten. Die poetischen Überlieferungen aus alter vorislamischer Zeit schufen im Verein mit der Sprache des Korans ein dichterisches Instrumentarium, das nach Adonis ins Freie führen kann, zu poetischer Kreativität und Erneuerung. Modern war diese Epoche, wie Adonis ausführt, auch durch ihren hohen Grad an Reflexion über Sprache, über das Idiom des Dichters, die Bedeutung und Verwendung von Metaphern. Einzig die technische Moderne ging ihr ab.
Hinzu kam die Sprache der Sufis. Adonis gehört seit langem zu jenen reflektierenden Lyrikern, die – vom sprachlichen Standpunkt aus – die islamische Mystik, den Tasawwuf, und den modernen Surrealismus zusammendenken. Auf den ersten Blick mag das befremden, denn die Sufis (deren beschauliche Bewegung nach ihrer Meinung so alt ist wie der Islam selbst) strebten nach der inneren Erfahrung Gottes in der Seele, nach der unio mystica und dem „Entwerden“ (fana) des Ichs, nach der Hereinnahme der Transzendenz noch zu Lebzeiten also, während die Surrealisten dem Atheismus huldigten. Dazu Adonis:

Atheismus impliziert nicht notwendigerweise die Ablehnung der Mystik, noch impliziert Mystik zwangsläufig den Glauben an die herkömmliche Religion bzw. den herkömmlichen Glauben an die Religion.

In den spirituellen Erfahrungen der Sufis, von denen viele auch Dichter waren und die verschiedenen „Stadien“ und „Zustände“ des mystischen, Raum und Zeit transzendierenden kontemplativen Pfades in symbolischen Sprachspielen zu schildern versuchten, sieht Adonis eine Welt des Unsichtbaren, des Verborgenen und Geheimnisvollen, des „Trans-Realen“ in der Seele, des Zusammenfallens der Gegensätze, die sich mit den gnostisch anmutenden Entgrenzungen der Surrealisten berühren mögen. Wichtig für ihn sind besonders der im Jahre 922 nach Christus in Bagdad wegen Blasphemie hingerichtete Sufi und Poet al Husain Ibn Mansur al Halladsch, dessen teilweise paradoxe Sprache Ausdruck entgrenzter Freiheit seiner Liebesmystik war. Paradoxe Aussprüche waren überhaupt eine Spezialität der Sufis.
Auch in der Sprache des Korans „entbirgt“ Adonis, der Heideggers Werk studiert hat, einen Ozean an Bedeutungen, wenn man ihn nicht fundamentalistisch als bloße Religion versteht. Man muss dazu nicht gläubig sein:

Erneuerung und Modernisierung stehen also in Opposition zur Religion, während sie für die Dichtung ein essentieller Bestandteil sind, ohne den sie keine Dichtung wären.

Adonis’ Weg zur Freiheit führt über Texte; das hat er mit anderen Intellektuellen seiner Kultur gemein, die – wie der zu früh verstorbene Ägypter Nasr Hamid Abu Zaid – ganz auf hermeneutische Methoden setzen und auch den Koran vor allem als literarischen Text verstehen. Die hier vorliegenden theoretischen Arbeiten des Dichters wurden alle auf Arabisch publiziert, es ist also durchaus möglich, Kritik nicht nur an der Religion zu üben, sondern auch generell aufklärerische Ideen zu verbreiten.
In einem kurzen, in dieser Sammlung etwas fremd wirkenden Ausblick auf die Zukunft seiner syrischen Heimat, der den Band beschließt, spricht sich Adonis für umfassende demokratische Reformen in Syrien aus, die begleitet sein müssten von einer unbedingten Trennung des Religiösen von Staat und Politik, zudem aber auch vom traditionellen Clanwesen sowie der Ethnizität – jahrhundertealte Bindungen und Verfugungen, die nicht nur die syrische Gesellschaft bis heute pervertiert haben, sondern auf allen arabischen Ländern wie Blei lasten. Der Mensch komme allemal vor der Religion. Der Dichter appelliert an das Regime, zuvörderst an Präsident Baschar al Assad, in diesem Sinne „dialogisch“ zu handeln – ein gut gemeinter Aufruf, der freilich von den Paroxysmen der Gewalt in Damaskus und Aleppo, in Homs, Hama oder Deraa schon als hinfällig erwiesen wurde. Der Einzelgänger Adonis ist unlängst endgültig auf Distanz zur Opposition gegangen, deren islamischen Fundamentalismus er fürchtet.

Wolfgang Günter Lerch, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.11.2012

Die verschüttete Moderne

– Der syrisch-libanesische Dichter Adonis gilt seit Jahrzehnten als bedeutendster Vertreter der arabischen Gegenwartslyrik. In einem Essayband setzt er sich mit der Geschichte der arabischsprachigen Lyrik auseinander, die immer auch eine Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Tradition und Innovation war. –

Der Autor versteht es zu irritieren. Wenn Adonis von einer „arabischen Moderne im Mittelalter“ spricht und seine Gewährsleute in Baschar Ibn Burd (gest. 784) und Abu Nuwas (gest. 811) findet, konterkariert er damit die im Westen bis heute verbreitete Vorstellung, die arabisch-islamische Kultur sei, da ihr Reformation und Aufklärung fehlen, in ihren lähmenden Traditionen auf ewig gefangen und darum zur Moderne grundsätzlich unfähig. Von solchen Argumenten will der 1930 an der syrischen Mittelmeerküste geborene Dichter, der seit Jahren als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt wird, nichts wissen. Stattdessen entwirft er in seinen kulturkritischen Essays originelle Alternativen zur herkömmlichen Gegenüberstellung von westlicher Moderne und orientalischer Rückständigkeit.
Die arabische Kultur war, betont Adonis in seinen Vorlesungen zur „Einführung in die arabische Poetik“, die er 1984 am Collège de France hielt, schon immer eine „oral-auditive“. Seit vorislamischer Zeit sei die arabische Dichtung ein „Kind der Vortragskunst“ und erschliesse sich weniger durch Lesen als durch Hören. Der Parforceritt durch die Geschichte der arabischen Poetik überfordert den europäischen Leser gelegentlich mit seiner Vielzahl an Namen und Fachtermini, belohnt diese Mühe aber mit Einblicken in eine der reichsten poetischen Traditionen der Weltkultur, deren sprachtheoretisches Reflexionsniveau und religionsphilosophische Tiefenschärfe so gar nicht zu dem trostlosen Bild passen wollen, das die arabische Kultur gegenwärtig abgibt.
Mit der neuen islamischen Religion sah sich die arabische Dichtung seinerzeit weltanschaulich und ästhetisch gleichermassen herausgefordert, denn der Koran verfügte „neben seiner prophetisch-religiösen Dimension auch über eine literarisch-künstlerische“ und galt insbesondere in seiner sprachlichen Gestalt als unnachahmlich. Von der Sphäre des Religiösen hatte sich die Dichtung fortan ebenso abzusetzen wie von der Sphäre des Denkens. In dieser doppelten Konkurrenz sieht Adonis das Fundament der „modernen“ arabischen Poetik:

Aus der Perspektive des religiösen und philosophischen Wissens erscheint die Welt abgeschlossen, vollendet, weil sie zu einer Gewissheit, einer Überzeugung, einer Doktrin geworden ist. Aus der Perspektive der poetischen, also metaphorischen Erkenntnis ist sie hingegen offen und unbegrenzt, weil sie voller Möglichkeiten steckt, ein stetiges Suchen und Entdecken ist.

Erst mit der Eroberung Bagdads durch die Mongolen, den Kriegen gegen die Kreuzfahrer und der Osmanenherrschaft sei die frühe arabische Moderne zum Stillstand gekommen. Die dann seit dem 19. Jahrhundert lebhaft geführten Debatten über das Verhältnis der arabischen Kultur zur westlichen Moderne hätten die Krise auf literarischem Gebiet bloss fortgesetzt und vertieft, statt zu ihrer Überwindung beizutragen. Im Klammergriff von imitierendem Traditionalismus einerseits und blind nachahmender Verwestlichung andererseits habe sich die arabische Kultur selber aus den Augen verloren und ihre einstmalige Kreativität eingebüsst. Es gelte aber, sich auf die eigene, verschüttete Moderne zu besinnen. Adonis plädiert damit keineswegs für eine Rückkehr in die Vergangenheit. Atavistische Borniertheit ist ihm fremd, da er selbst am besten weiss, wie komplex und vielschichtig das Verhältnis von (westlicher) Moderne und (östlicher) Tradition ist. Längst sind beide nicht mehr voneinander getrennt zu haben. Für ihn selbst war es „die Lektüre von Baudelaire, die meine Rezeption von Abu Nuwas verändert und mir seine Poetik und Modernität enthüllt hat. Die Lektüre von Mallarmé war es, die mir die Geheimnisse der dichterischen Sprache und ihrer modernen Aspekte bei Abu Tammam vor Augen geführt hat.“
Aus der irreversiblen Verflechtung der Kulturen schlägt Adonis auch in seinem Essay „Sufismus und Surrealismus“ Funken. Beiden, der islamischen Mystik und der französischen Kunstbewegung, gehe es um „das Unsagbare, das Unsichtbare, das Unbekannte“. Der Sufismus sei grundverschieden vom „exoterisch-dogmatischen Verständnis“ des Islam:

Wenn die Existenz nur in der Alternative Paradies oder Hölle bestünde, dann wäre sie nichts weiter als ein Wettspiel, welches stumpfsinnig und lächerlich wäre und dem Menschen nicht gerecht würde.

Der Gegensatz schlägt sich nicht zuletzt in einem anderen Sprachverständnis nieder. Der religiös-dogmatischen Sprache, die die Dinge benennt, wie sie sind, stehe die metaphorische Sprache der Mystik gegenüber, die keine letztgültige Wahrheit für sich beanspruche. Mit ihrem Antinomismus habe die Mystik „eine andere Form der Erkenntnis, ein anderes kognitives Feld, begründet“, die, so hofft Adonis, den Kern für ein neues Denken bilden kann, „in dem die Gegensätze einander umarmen“.
Von der Skepsis gegenüber allen Alleingültigkeit behauptenden Systemen ist es nicht weit zu einem offenen Identitätsbegriff. Der Vorstellung von Identität als Abgrenzung vom Anderen stellt Adonis einen emanzipatorischen Identitätsbegriff entgegen, der die Selbstwahrnehmung des Einzelnen in der Abgrenzung „zwischen dem, was er ist und was er sein könnte“ verortet. In dieser Lesart ist Identität nicht mehr „Abspaltung und Rückzug in sich selbst“, sondern „ein Anknüpfen und Aussichherausgehen“, letztlich „ein grenzenloses Sichöffnen“. Das erlaubt weitere Perspektiven als der vielbeschworene Dialog der Kulturen, der für Adonis ohnehin bloss „auf eine Art Heuchelei hinausläuft“, da er von einem falschen Toleranzbegriff ausgehe. Indem er „auf das Vorhandensein eines Irrenden und eines Rechtgeleiteten, der so tut, als würde er den Irrtum übersehen“ gründe, beruhe er auf einem Überlegenheitsdünkel und stelle lediglich einen Gnadenakt dar, der die Unterschiede übertünche und damit letztlich festige. Die Literatur stehe dagegen für ein dialogisches Verständnis von Identität:

In der Dichtung liegt das Fremde ganz nah, und das Andere ist in ihr zugleich das Eigene.

Andreas Pflitsch, Neue Zürcher Zeitung, 23.5.2013

 

 

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Zum 80. Geburtstag des Autors:

Dichter Adonis wird 80
n-tv.de, 1.1.2010

Adonis: Syrischer Dichter feiert 80. Geburtstag
sarsura-syrien.de, 31.12.2010

Tilman Krause: Dichter Arabiens: Adonis wird 80 Jahre alt
Die Welt, 31.12.2009

Zum 90. Geburtstag des Autors:

Stefan Weidner: Ewige Wiederkehr
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.1.2020

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Adonis liest seine Gedichte auf dem Prager Schriftstellerfestival 2009.

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