NICHT ZEUS, NICHT PAN
Nicht Zeus, nicht Pan, nicht Taubengeist −
Nur Sonnenklarinetten.
Ich bin ein Tanz, der rhythmisch kreist,
Unsterblich die Planeten.
Ich war – nicht ich. Ein Traumgesicht,
Ringsum nur Klangesregen,
Das Kleid der Schpöpfungsfinsternis,
Und Hände, die mich segnen.
Ich bin erwacht – und ich bin Du:
Tief unten und hoch oben
Entbrennt und fliesst die Welt im Nu
In klangerfüllten Wogen.
Ich schaute in die Frühlingsglut:
Harmonische Planeten.
Da wusste ich: du bist nicht Wut −
Nur Sonnenklarinetten.
Ein prominenter polnischen Dichter des vergangenen Jahrhunderts, ein notorischer Maximalist, sagte einmal:
Unsere Literatur besteht vor allem aus Poesie.
Diese Bemerkung bezog sich auf eine Nationalliteratur, die keineswegs arm an Prosaschriftstellern war – im Gegenteil, wie zwei Literaturnobelpreisträger in ihren Reihen schon damals bezeugten. Aber die Bestimmung der Literatur als „Vor allem Poesie“ hatte eine tiefgreifendere, kategorische Bedeutung: Ohne die Poesie gäbe es überhaupt keine Literatur. Und, so war damit angedeutet, es gäbe auch „uns“ in dieser Form nicht.
Diese Maxime von Jarosław Iwaszkiewicz trifft in höchstem Masse auch auf die ukrainische Literatur zu. Aus historischen Gründen bot die Poesie eine der wenigen Chancen für das nationale, oder wenigstens das sprachliche Überleben. Die Dichtung und die Dichter gaben der ukrainischen Sprache die Möglichkeit, die Zeit der offiziellen Verbote und administrativen Geringschätzung zu überdauern. Glücklicherweise hängt die Poesie von allen Künsten am wenigsten von äusserer institutioneller Unterstützung ab. Sie kommt zwanglos wie der Atem auf – alles, was sie braucht, ist ein innerer Drang, und Begabung. Alles andere ist nicht so wichtig. Zudem haben Gedichte die vorteilhafte Eigenschaft, dass sie ein eigenständiges Leben ausserhalb offizieller Publikationen, ja sogar ausserhalb der Schrift führen können. Wie mein Freund, der Dichter Saschko Irwanez, einmal gesagt hat: Sie werden „Wie Küsse, von Mund zu Mund“ weitergegeben.
Ich wage die kühne These aufzustellen, dass zur Zeit der kolonialen Abhängigkeit nicht nur die ukrainische Literatur, sondern die ganze Sphäre des ukrainischen soziokulturellen Lebens poetozentrisch war. Die Poesie verkörperte einen eigenständigen „Raum des Seins“, der sich dem von autoritären Regimes aufgedrängten äusseren und materiellen „Raum der Existenz“ entgegenstellte. In Anbetracht einer völlig fehlenden Pressefreiheit und normalen pluralistischen Publizistik nahm die Poesie zudem, insbesondere in ihrer illegalen „Untergrund“-Form, auch ganz konkrete sozialkritische Funktionen wahr.
Und trotzdem bestand die Rolle der Versdichtung vor allem darin, eine der grundlegendsten Aufgaben des literarischen Schaffens zu erfüllen: die Verteidigung der Sprache, ihrer Phänomenalität, im Widerstand gegen ihre Endlichkeit und Zeitlichkeit. Wenn mir eine solche Metapher erlaubt ist, war es eine ununterbrochene geistige Wiederbelebung. Und es ging ja buchstäblich ums Überleben.
Von daher schöpfen die besten Leistungen der ukrainischen Dichtung ihren Perfektionismus von Form und Sinn. Das Gewebe jedes einzelnen Verses ist ein äusserst kompliziertes und wechselseitig determiniertes Geflecht, die einzig mögliche Verbindung von Klang und Bedeutung, eine wundersame Gewaltleistung in der einzig möglichen Sprache. Von daher kommt die weitverbreitete Meinung, dass „so etwas nicht übersetzt werden kann“. Diese Sprache ist ja die einzig, die allereinzig mögliche! Daher kann sie zwar mit Wörtern und Wortkombinationen einer anderen Sprache paraphrasiert werden, aber auch im besten Fall ergibt sich lediglich eine mehr oder weniger korrekte Information darüber, „wovon in einem gegebenen Gedicht die Rede ist“.
Und in der Tat – wie kann man Pawlo Tytschyna übersetzen? Besonders den sogenannten „frühen“ Tytschyna? Denn der „frühe“ Tytschyna stellt für jeden Kenner der ukrainischen Poesie einen ganzen Komplex von Mythen dar. Er verkörpert in erster Linie den Mythos des sakralen Dichters, der sich unmittelbar vor seiner brutalen Vertreibung an den Zweigen des Gartens von Eden festklammert. Er liefert auch das tragische Gleichnis von einem grossartigen Anfang und schlussendlichen Scheitern. Wie kann die Übersetzung diese unglaubliche Musikalität, den feinnervigen Impressionismus, die verlegene und erschrockene Sanftmut bewahren? Wie kann man dieses riskante Spiel von Vierteltönen an der Grenze zum Infantilismus wiedergeben, wenn ihre Transposition in eine andere Sprache sogleich in schändlichsten Kitsch umzuschlagen droht?
Oder wie soll man Maxim Rylsky übersetzen mit seiner etwas stilisierten, an die Parnassier gemahnenden altväterlichen Manier, und zwar so, dass dieser Eindruck des „Altmodischen“ das Gefühl einer absoluten stilistischen Frische bewahrt? Rylskys Dichtung ist klar und einfach, und seine Mitgliedschaft in der Gruppe der Kiewer „Neoklassiker“ war mehr als nur eine Episode seiner Biografie, sie stellt ein ganz offensichtliches Symbol seiner dichterischen Selbstbestimmung dar (oder, pathetischer ausgedrückt, seines dichterischen Schicksals). Aber wie kann die Übersetzung nicht nur diese Einfachheit, sondern auch die Raffmesse dieser Einfachheit wiedergeben? Wie kann sie nicht die einzig mögliche (schon wieder!) Aufrichtigkeit der Intonation verlieren, die riskiert, in den Wörtern einer anderen Sprache plötzlich eine schreckliche Flachheit und Oberflächlichkeit anzunehmen?
Und schliesslich Bohdan Ihor Antonytsch, dieser wundersame, kurzlebige Besucher aus einer anderen Welt, ein Geschöpf seiner eigenen poetischen Fantasie. Wie kann man den schon fast übergrossen Reichtum seiner Metaphern, mehrstufig wie kosmische Raketen, übertragen? Oder diese ständige filigrane Reibung zwischen Phonetik und Semiotik? Oder die völlig unerwarteten Explosionen seiner surrealistischen Wortschwalle? Wie kann man seine syntaktischen Konstruktionen vertikal und stabil herüberretten, wenn jede davon in den Händen eines ungeschickten Übersetzers jederzeit in tausend Stücke zerschmettern und den Übersetzer zusammen mit dem Autor unter ihren schweren Trümmern begraben kann?
Auf alle diese „wie“-Fragen habe ich keine Antwort. Und es scheint mir, dass der Grund dafür nicht in mir liegt – es ist eine prinzipielle Antwortlosigkeit.
Aber Adrian Wanner hat das Unmögliche getan. Jeder der drei Dichter bleibt in seiner Übersetzung ein grosser Dichter, und – was nicht weniger wichtig ist – jeder bleibt er selbst. Sein Tytschyna hat tatsächlich ein absolutes musikalisches Gehör. Sein Rylsky verblüfft tatsächlich mit seiner Reinheit und Klarheit. Sein Antonytsch pulsiert tatsächlich mit übernatürlicher Sehnsucht nach der jenseitigen Heimat.
Ein deutschsprachiger Leser wird ohne Zweifel spüren, wie verschieden diese drei Stimmen sind. Dabei kann er sicher sein:
Es sind jene Stimmen, von jenen Dichtern. Adrian Wanner hat seine übersetzerische Arbeit sauber ausgeführt – man merkt nichts von der sicher grossen Anstrengung, die dazu nötig war. Der beste Übersetzer ist derjenige, den man nicht sieht, hat einer meiner Lehrer einmal gesagt. Er muss wie eine Glasscheibe zwischen dem fremdsprachigen Autor und dem Leser stehen. Darin liegt die besondere Würde des Übersetzers.
Die Übersetzung eines genialen Dichters in eine andere Sprache – und ich habe allen Grund, anzunehmen, dass jeder der drei in dieser Sammlung vertretenen Dichter ein Genie war – das ist, so scheint es, eine Unmöglichkeit. Dazu müssen zu viele Faktoren zufällig zusammentreffen. Dazu ist es nötig, mit den Wörtern einer anderen Sprache fehlerlos den Rhythmus, den Klang, die Bedeutung, die Sensibilität, das Unter- und Überbewusste zu treffen, und, am wichtigsten, die Auslassungen und Pausen, das, was zwischen den Zeilen und den Wörtern steht. Kann sich jemand eine kompliziertere und unmöglichere Aufgabe ausdenken?
Hier kann nur ein Wunder helfen. Wie einer meiner Freunde, der Dichter Viktor Neborak, einmal gesagt hat: „Eine gelungene dichterische Übersetzung ist ein Beweis für die Existenz Gottes.“
Lassen wir das quasireligiöse Pathos dieser etwas ironischen Bemerkung beiseite und einigen wir uns wenigstens darauf, dass Adrian Wanner mit diesem Buch von Übersetzungen einen nicht weniger wichtigen Beweis erbracht hat – den Beweis von der Erhaltung und Unzerstörbarkeit der Materie. Der poetischen Materie.
Juri Andruchowytsch, Vorwort
Die Ukraine ist ein junges Land mit einer alten Geschichte. Obwohl die Wurzeln der ukrainischen Kultur über Hunderte von Jahren zurückreichen, ist die Ukraine, abgesehen von einem kurzen Zwischenspiel nach der Russischen Revolution, erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 zu einem selbstständigen Staat geworden. Im Bewusstsein des europäischen Lesepublikums ist die ukrainische Literatur wenig präsent und steht immer noch im Schatten des grossen russischen Nachbarn. In jüngster Zeit sind einige Vertreter der ukrainischen Gegenwartsliteratur wie Juri Andruchowytsch auch im deutschsprachigen Raum bekannt geworden, aber im allgemeinen ist die ukrainische Dichtung weitgehend eine terra incognita geblieben. Das ist umso bedauerlicher, als das Land über eine reiche poetische Tradition verfügt.
Die vorliegende Ausgabe stellt in deutscher Erstübersetzung drei führende Lyriker der ukrainischen Moderne vor. Der von den Gedichten abgesteckte Zeitraum – ca. 1910 bis 1936 – war eine Zeit dramatischer historischer, politischer und kultureller Umwälzungen, gekennzeichnet von Weltkrieg, Revolution, Bürgerkrieg und Hungersnot. Die alten Imperien verschwanden von der Landkarte Europas und machten nach einem Intervall der Freiheit neuen totalitären Diktaturen Platz. Gleichzeitig signalisiert die Zeit am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts europaweit einen künstlerischen Aufbruch zu neuen Ufern, was in Stichworten wie „Abstraktion“ und „Atonalität“ zum Ausdruck kommt. Im Anschluss an den französischen Symbolismus entstand auch in Osteuropa eine modernistische Kunst und Literatur, die überkommene Vorstellungen von bürgerlicher Kultur mit zunehmender Radikalität in Frage stellte. Der gebürtige Ukrainer Kasimir Malewitsch schuf mit seinem suprematistischen „Schwarzen Quadrat“ von 1915 das ikonische Sinnbild der Avantgarde schlechthin.
Die hier vorgestellten Gedichte sind in diesem doppelten Kontext der historischen und künstlerischen Turbulenz entstanden. Pawlo Tytschynas erster Gedichtband, Sonnenklarinetten, erschienen 1918, ist ein programmatisches Werk, das mit der bewussten Absicht entstand, eine spezifisch ukrainische Form des Symbolismus zu lancieren. Der sogenannte „Klarinettismus“ ist Tytschynas Versuch, die von den historischen Ereignissen ausgehende Elementargewalt in harmonische, lichtdurchflutete Klangwelten umzusetzen. Die ukrainische Natur, wo „die Erde dröhnt wie eine Orgel“ („Zur Kathedrale“), wird in Tytschynas dichterischer Vision zu einer Art von kosmischem Musikinstrument. Tytschyna hatte im Priesterseminar eine professionelle musikalische Ausbildung bekommen, die ihm später auch bei seiner Tätigkeit als Chorleiter zugute kam. Nebst den kunstvollen Klangfiguren und Alliterationen und den subtil gestalteten Rhythmen in Tytschynas Gedichten fällt die Verwendung von musikalischen Fachausdrücken auf. Die „Enharmonie“ wird zum Gleichnis für die multidimensionale Welt eines dichterischen Werkes, das je nach Kontext auf unterschiedliche Weise gedeutet werden kann. Auch formal beschreitet Tytschyna neue Wege, indem er in einer innovativen Verstechnik die traditionelle Metrik mit freien Versen kombiniert. Im Gedichtband Anstelle von Sonetten und Oktaven, erschienen 1920, ist die Abkehr von der klassischen metrischen Tradition schon programmatisch im Titel ausgedrückt. Auf die Gräuel des nach der Russischen Revolution ausgebrochenen Bürgerkrieges antwortet Tytschyna mit einer gebrochenen Form, welche die gebundene lyrische Rede mit „unpoetischer“ Prosa montiert, während die Abfolge von Strophen und Antistrophen an die antike Tragödie gemahnt.
Tytschynas vier Jahre jüngerer Dichterkollege Maxim Rylsky, ein ausgebildeter Philologe, hat seine Wurzeln ebenfalls im europäischen und russischen Symbolismus, und auch seine Dichtung ist von exquisiter Musikalität geprägt. Im Gegensatz zu Tytschynas dynamischem Überschwang ist er aber ein Dichter des leisen Kammertons und der impressionistischen Nuance, wie schon aus den eher verhaltenen als lärmig-deklarativen Titeln seiner ersten Gedichtbände hervorgeht: Auf weissen Inseln (1910), Am Waldrand: Idyllen (1918), Unter den Herbststernen (1918), Die blaue Weite (1922). In der Verstechnik blieb Rylsky weitgehend ein Traditionalist – er bevorzugte regelmässige Metren und klassisch strukturierte Formen wie das Sonett. Obwohl temperamentmässig ein Vertreter der „reinen Kunst“, wurde aber auch er in den Sog der historischen Ereignisse hereingezogen. Seine Antwort auf die Schrecken des Bürgerkrieges ist bezeichnenderweise ein mit „Musik“ betiteltes und dem russischen Symbolisten Innokentij Annenskij gewidmetes Gedicht. Die Kunst wird für Rylsky zur letzten Zuflucht in einer aus den Fugen geratenen, brutalen Welt, emblematisch dargestellt in seinem Sonett „Im Dickicht“. Seine künstlerische Bestimmung findet Rylsky im Dialog mit der klassischen Antike und mit geliebten Vorbildern aus der europäischen Literatur wie Shakespeare, Heine, Baudelaire und Nietzsche, denen er in dichterischen Vignetten seine Reverenz erweist.
Bohdan Ihor Antonytsch, der dritte und jüngste der hier vorgestellten Dichter, stammte aus der Lemko-Region in Polen und übersiedelte später in die westukrainische und damals zu Polen gehörende Stadt Lemberg (ukr. Lwiw), wo er slawische Philologie studierte. Bis zum Zweiten Weltkrieg stellte Lemberg ein faszinierendes multikulturelles Mosaik und Völkergemisch aus ukrainischen, polnischen, jüdischen und deutschen Elementen dar. Mit seinem zweisprachigen polnisch-ukrainischen Hintergrund hätte Antonytsch auch ein polnischer Dichter werden können – die ukrainische Sprache war für ihn eine bewusste Wahl. Im Gegensatz zu anderen westukrainischen Dichtern aus jener Zeit sah aber Antonytsch sein Programm nicht in einem plakativen ukrainischen Nationalismus. Eher ging es ihm darum, die ukrainische Literatur mit einer modernistischen Ästhetik auf neue Bahnen zu bringen. In Antonytschs unikaler Dichtung verbinden sich folkloristische, metaphysische und alltäglichbanale Motive in einer surrealistisch anmutenden Synthese. In einer metrisch innovativen Form, gekennzeichnet durch überlange, acht- bis zehnfüssige Verszeilen, wird er zum Sänger der ukrainischen Natur, der dynamischen Grossstadt und der kosmischen Sphärenklänge Gottes. Die zunehmende Gefährdung durch den roten und braunen Totalitarismus bringt Antonytsch in beklemmenden apokalyptischen Bildern zum Ausdruck. Die Erfüllung seiner Prophezeiungen, als die Westukraine 1939 von Stalin annektiert und zwei Jahre später von Hitlers Armeen überrollt wurde, erlebte er schon nicht mehr.
Anders als der im Alter von achtundzwanzig Jahren frühzeitig verstorbene Antonytsch lebten Tytschyna und Rylsky noch bis in die sechziger Jahre, aber der Preis für ihr Überleben war ihre politische Kapitulation vor der Ästhetik des Sozialistischen Realismus. Nachdem Tytschyna in den späten zwanziger Jahren von offizieller Seite als „bourgeoiser Nationalist“ gemassregelt worden war, schwenkte er auf die Parteilinie ein und schrieb fortan stalinistische Lobeshymnen mit Titeln wie „Die Partei führt uns an“. Rylsky wurde 1931 von der sowjetischen Geheimpolizei verhaftet und ein Jahr später mit der Auflage freigelassen, fortan nur noch politisch und ästhetisch genehme Werke zu verfassen. Sowohl Tytschyna wie Rylsky machten darauf äusserlich glänzende Funktionärskarrieren – beide waren Abgeordnete des Obersten Sowjets der UdSSR, Tytschyna wurde Leiter des Literaturinstituts and Bildungsminister der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik, während Rylsky als Präsident des ukrainischen Schriftstellerverbandes, Direktor des Folkloreinstituts und Mitglied der Akademie der Wissenschaften fungierte. Aber als Dichter waren sie bedeutungslos geworden.
Insgesamt präsentiert sich das Schicksal von Tytschyna, Rylsky und Antonytsch als Teil einer tragischen Literaturgeschichte – sie alle gehören, um einen berühmt gewordenen Ausdruck Roman Jakobsons aufzugreifen, zu einer „Generation, die ihre Dichter vergeudet hat“. Der Modernismus als Kunststil ist von der totalitären stalinistischen Diktatur gewaltsam abgewürgt worden. Seine kurze poetische Blütezeit hat aber ein dichterisches Potential aufgezeigt, das für die zeitgenössische postsowjetische ukrainische Literatur wegweisend geworden ist. Entgegen dem vor allem in Russland immer noch verbreiteten Klischee von der angeblichen ukrainischen Provinzialität demonstrieren diese Dichter eine beeindruckende Weltoffenheit. Bei aller Verschiedenheit lassen sich gewisse Konstanten ausmachen. Nebst der allen drei Dichtern gemeinsamen Musikalität wäre hier etwa der Rückgriff auf antike Formen, Metren und Mythen zu nennen oder die emotionale Beziehung zu der ukrainischen Landschaft und der Welt des ukrainischen Dorfes, die aber nie in sentimentalen Kitsch abgleitet, und nicht zuletzt eine unkonventionelle, aber tiefe Religiosität, eine Art von kosmischem Natur-Pantheismus, die den Absolventen des Priesterseminars Tytschyna mit dem Priestersohn Antonytsch verbindet. Die modernistische künstlerische Innovation ist für alle drei Dichter mehr als nur ein formales Experiment, ein Spiel mit der Sprache – sie wird zum Ausdruck einer Suche nach geistiger Sinngebung. Die wahre Heimat des Dichters, so deutet Antonytsch in einem programmatischen Gedicht von 1936 an, liegt nicht im materiellen Hier und Heute, sondern in einem transzendenten „Haus hinter den Sternen“.
Adrian Wanner, Nachwort
Die ukrainische Literatur ist im Bewusstsein des europäischen Lesepublikums wenig präsent, obwohl das Land über eine reiche poetische Tradition verfügt. Der Klang von Sonnenklarinetten stellt in ukrainischer Sprache und in deutscher Erstübersetzung 65 Gedichte von drei führenden Lyrikern der ukrainischen Moderne vor: Pavlo Tytschyna (1891–1967), Maxim Rylsky (1895–1964) und Bohdan Ihor Antonytsch (1909–1937). Der von den Gedichten abgesteckte Zeitraum – ca. 1910 bis 1936 – war von dramatischen historischen und politischen Umwälzungen gekennzeichnet. Gleichzeitig signalisiert die Zeit am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts europaweit einen künstlerischen Aufbruch zu neuen Ufern. Die hier vorgestellten Gedichte sind in diesem doppelten Kontext der historischen und künstlerischen Turbulenz entstanden. Die modernistische Innovation ist für alle drei Dichter mehr als nur ein formales Experiment – sie wird zum Ausdruck einer Suche nach geistiger Sinngebung in einer aus den Fugen geratenen Welt.
Pano Verlag, Ankündigung
– Die ukrainische Lyrik der Moderne zwischen Tragik und Ekstase. –
Während die zeitgenössische ukrainische Literatur dank ihrer Vitalität und Vielfalt, nicht zuletzt aber auch aus Gründen der politischen Konjunktur im Westen mehr und mehr Gehör findet, beschränkt sich die Kenntnis ukrainischer Klassiker und Modernisten weitgehend auf Fachkreise. Dieses Manko ist bedauerlich und einem kulturellen Dialog mit der Ukraine keineswegs zuträglich, zumal diese in Zeiten postkommunistischer Turbulenzen und nationaler Identitätssuche ihre Klassiker besonders hochhält. Zu diesen gehören Namen wie Taras Schewtschenko, Iwan Franko, Lesja Ukrajinka, gehören die Modernisten Pawlo Tytschyna, Maxim Rylsky, Bohdan Ihor Antonytsch und andere.
Letztgenannte drei Dichter sind nun in einer sorgfältigen Auswahl und Übertragung von Adrian Wanner auf Deutsch zu entdecken, kommentiert vom Herausgeber, vorgestellt von Juri Andruchowytsch, der gewissermassen als Schutzherr, Gewährsmann und Vermittler fungiert. Andruchowytsch, selber Lyriker und – wie sein Roman Zwölf Ringe zeigt – ein glühender Verehrer des Exzentrikers Antonytsch, betont in seinem Vorwort, „zur Zeit der kolonialen Abhängigkeit“ sei nicht nur die ukrainische Literatur, „sondern die ganze Sphäre des ukrainischen soziokulturellen Lebens poetozentrisch“ gewesen. Im Klartext: „Die Dichtung und die Dichter gaben der ukrainischen Sprache die Möglichkeit, die Zeit der offiziellen Verbote und administrativen Geringschätzung zu überdauern.“
Den Anfängen untreu geworden
Studiert man die Biografien der drei Lyriker, tun sich allerdings tragische Widersprüche auf. Pawlo Tytschyna (1891–1967), der sich mit seinen frühen Gedichtbänden als führender Avantgardist etablierte, verschrieb sich später dem sozialistischen Realismus, machte Karriere als Literaturfunktionär und Propagandadichter und nahm 1941 den Stalinpreis entgegen. Sein Frühwerk konnte erst nach dem Ende der sowjetischen Zensur in ungekürzten Ausgaben erscheinen.
Auch Maxim Rylsky (1895–1964) wurde der „reinen Kunst“ seiner Anfänge untreu. 1931 verhaftet und auf die sozrealistische Ästhetik zwangsverpflichtet, betätigte er sich vor allem als Übersetzer, Wissenschafter und Funktionär, bis er nach dem „Tauwetter“ zu seinem ursprünglichen Ausdruck zurückfand.
Nur Bohdan Ihor Antonytsch (1909–1937) blieb infolge seines frühzeitigen Todes von der Entscheidung verschont, sich anzupassen oder aber Verfolgung in Kauf zu nehmen. Wobei das sprachlich und inhaltlich kühne Werk von Antonytsch, das neben Lyrik auch Essays und Prosa umfasst, in der Sowjetunion während Jahrzehnten totgeschwiegen wurde.
Wanners Anthologie Der Klang von Sonnenklarinetten konzentriert sich überzeugend auf das hochkarätige Frühwerk von Tytschyna und Rylsky und auf Antonytschs expressive Lyrik zwischen Mystik und Apokalypse. Drei Stimmen der Moderne – und drei poetische Welten von unterschiedlichem Zuschnitt.
Tytschynas musikalische Verse kreisen um Landschaft und Mythos, nach 1917 vermehrt auch um die zweifelhaften „Wunder der Technik“ und den Terror des Tötens, wie ihn die russische Revolution brutal praktiziert hat („Eine grosse Idee erfordert Opfer. Aber ist es wirklich ein Opfer, / wenn ein Tier ein Tier verschlingt?…“). Mit ihren liedhaften Wiederholungen, ihrem „feinnervigen Impressionismus“ (Andruchowytsch) und ihren oft abgründig-rätselhaften Bildern stehen die Gedichte für eine Zeit des Umbruchs, in der das Schöne und das Schreckliche unauflöslich verbunden sind.
Über dem Sumpf gesponnene Milch.
Ein schwarzer Rabe tief in Gedanken.
Ein grauer Rabe meditiert.
Er hackte Augen aus. Gott weiss wem.
Und von Osten kommt der Zorn mit Schwertern!
Der schwarze Rabe flattert auf.
Der graue Rabe fährt empor.
Er hackte Augen aus. Gott weiss wem.
(„Nebel“)
Maxim Rylskys Lyrik pflegt demgegenüber einen „parnassischen“, neoklassischen Ton, auch wo sie sich mit Nietzsche, Heine oder Shakespeare beschäftigt. Metrum und Reim, oft im Verein mit der Sonettform, sorgen für eine musikalisch-rhythmische Balance, die besonders den Naturgedichten zu stilllebenhafter Intensität verhilft:
Verfrühte Reife lebt in diesen Äpfeln,
Im Herzen kehrt verfrühte Stille ein,
Und gelblich monoton die Birkenwipfel,
Der Sommer ging vorbei…
Die formale Eleganz verschweigt freilich nicht, dass sie von Melancholie grundiert ist, der Melancholie eines erschöpften modernen Odysseus.
Dichter rauschhafter Ekstase
Neben Rylskys geschmeidig-gediegener Poesie der Vergeblichkeit wirken Antonytschs Gedichte wie Fanfarenstösse: kühn, überbordend, voll surrealer Bilder und explosiver Wortschöpfungen. Sie beschwören die Stadt als Ort der Exzesse – zwischen Jazz und Bohrmaschinen, zwischen Börse und Autofriedhof, zwischen „losen Mädchen“ und Polizeiorchester –, sie beschwören kleine und grosse Weltuntergänge und Gott, der „seine Hand auf das Weltenklavier“ legt. Als exzentrischer poète maudit (und Sohn eines Priesters) hält es Antonytsch durchaus mit dem Pathos: einem quasireligiösen, kosmischen Pathos („Dass Gott in allen Dingen gepriesen sei“), welches freilich auch das Ich mit einbezieht:
… Seltsam murmelt der Hain mit jeder Faser:
Das Gewehr der Nacht ist geladen mit Sternen-Schrot,
auf den Eschen zerhacken Kuckucke den Mond.
Es wächst Antonytsch, und es wachsen die Gräser.
(„Frühling“)
Bezaubernd der Reichtum an Bildern und Metaphern („Megaphon-Trompeten leuchten auf wie schwarze Tulpen“, „Marmorne Pferdeherden tummeln sich im flammend grünen Gras“, „Ich lege stumme Lippen in den Strophen-Schrein“, „Der Regen inspiriert gefangene Rebellen“), hypnotisierend die Wortmusik. Antonytsch ist ein Dichter rauschhafter Ekstase, der sich wie kein zweiter von Zwängen befreite, um einzig seiner poetischen Phantasie zu folgen. Es ist wohl diese Kompromisslosigkeit, die ihn zum Kultautor der heutigen ukrainischen Jugend bzw. der jungen Dichtergeneration gemacht hat. Wobei seinen „Wörter-Rosen“ und „Wörter-Funken“ keine Grenzen gesetzt sind.
Ich hätte vorgeschlagen, zum Vergleich, eine andere Version der Übersetzung des Gedichtes von Pavlo Tytschyna von mir, als Anfänger in Sachen Übersetzung:
Kein Zeus, kein Pan, noch Heiliger Geist
Nur Sonnenklarinetten
Ich bin der Schwung, wenn Rhythmus tanzt
Ein Ursprung von Planeten
Ich war – nicht Ich. Im Schlaf, verträumt…
Ganz nahe: Glockenklänge,
Der Schöpfung finsterer Chiton,
Verkünders sanfte Hände
Erwachte ich – schon bin ich Du
Ringsum auf allen Höhen
Die Welten rennen lichterloh
In Melodienströmen
Ich trug mehr Frühling achtsam in
Akkorde der Planeten
Und wusste nun – Du bist kein Zorn
Nur Sonnenklarinetten
Ich wäre hier für evtl. Hilfestellungen bzw. Kommentare dankbar.
Herbert Neufeld