Ahmad Schamlu: Blaues Lied

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ahmad Schamlu: Blaues Lied

Schamlu-Blaues Lied

NEBEL

Die Wüste ist über und über mit Nebel bedeckt.
Verborgen des Dorfes Licht.
Eine warme Woge durchzieht der Wüste Blut.
Müde die Wüste
aaaaaaaaaaamit stummen Lippen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaagebrochnem Atem
im Fieberwahn des Nebels rinnt ihr Schweiß
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaus jeder Öffnung.

„Die Wüste ist über und über mit Nebel bedeckt.“
aaaaaaaaaaaaaaaaa(sagt sich der Wanderer).
Still die Hunde im Dorf.
In die Kutte des Nebels gehüllt
erreiche ich das Haus. Golku ist ahnungslos.
Erblickt mich plötzlich in der Tür.
Mit einer Träne im Auge, einem Lächeln um die Lippen
wird sie sagen:
„Die Wüste ist über und über mit Nebel bedeckt …
im Stillen dachte ich: Wenn der Nebel nur
bis ins Frühlicht reichte,
könnten die Tapferen
zurückkehren, ihre Liebsten zu sehen.“

Die Wüste ist
aaaaaaaaaaaüber und über
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaamit Nebel bedeckt.
Verborgen des Dorfes Licht,
eine warme Woge durchzieht der Wüste Blut.
Müde die Wüste mit stummen Lippen gebrochnem Atem
im Fieberwahn des Nebels rinnt ihr Schweiß
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaus jeder Öffnung…

 

 

Ahmad Schamlu, 1925 in Teheran geboren

und im Sommer 2000 in Karadj gestorben, gilt durch seine über 30 Gedichtbände als wichtigster Wegbereiter einer neuen zeitgenössischen iranischen Lyrik. Als früher Opponent des Schah-Regimes bekam er wiederholt Publikationsverbot und wurde mehrfach inhaftiert. Nach der Revolution stand er in kritischer Distanz zu den neuen Machthabern. Neben seinem schriftstellerischen Werk, zu dem Erzählungen, Märchen und Übersetzungen (z.B. von Gedichten Rilkes und Lorcas) ebenso gehören wie das sozial-enzyklopädische Kulturpanorama „Kutscheh“ (Die Gasse) und die Herausgabe zahlreicher Kultur- und Literaturzeitschriften, hat er Fernsehfilme über die Lebensgewohnheiten und die Folklore in den persischen Provinzen produziert. In seinen Gedichten, in denen wie selbstverständlich Alltagswörter und Kinderverse neben klassischen Vokabeln und Zitaten stehen, verbindet er die traditionelle Poesie Persiens mit der Poetik der Moderne. In Farhad Showghi, dem in Hamburg lebenden Arzt und Dichter, hat er einen kongenialen Übersetzer gefunden. Seine Auswahl bietet einen Querschnitt durch Ahmad Schamlus Werk. Neben den persischen Originalen enthält die Ausgabe auch eine Audio-CD, auf der Ahmad Schamlu die hier vorgestellten Gedichte rezitiert.

Urs Engeler Editor, Ankündigung, 2002

 

Schöner Nebel

– Der grosse iranische Dichter Shamlu in einer kleinen Auswahl. –

Grosse Lyriker, die in nichteuropäischen Sprachen schreiben, kommen selten noch zu ihren Lebzeiten in den Genuss einer Übertragung. Der Iraner Ahmad Shamlu hatte es immerhin zu mehreren Beiträgen in deutschen Anthologien und Literaturzeitschriften gebracht, bevor er im Juli 2000 fünfundsiebzigjährig starb. Dass ein eigenes Buch von ihm, und auch ein kleines nur, erst jetzt kommt, verwundert trotzdem. Denn berühmter als Shamlu kann ein Autor in seiner Heimat nicht sein, und selbst wenn man bedenkt, dass so manche Dichtung, die im Persischen wie reiner Gesang klingt, in der Übersetzung kaum der Rede wert ist, so beweist die jetzt bei Urs Engeler vorgelegte Auswahl, dass Shamlu auch auf Deutsch noch ein sehr grosser Dichter sein kann.
Schwäche und Stärke zugleich des deutschen Shamlu ist die oft nur diffuse Bedeutung, die inhaltliche Vagheit der Texte, die zuweilen anmuten wie im Traum gestammelt. Das erste Gedicht des „Blaues Lied» betitelten Bandes, als wollte es die Tonart der Unbestimmtheit für den Rest der Auswahl vorgeben, trägt den Titel „Nebel». Ein orientalischer Nachfahre Trakls scheint zu sprechen, wenn es dort heisst: „Müde die Wüste mit stummen Lippen gebrochenem Atem / Im Fieberwahn des Nebels rinnt ihr Schweiss aus jeder Öffnung.» Was später mit Entschiedenheit als soziales Engagement zutage tritt, versteckt sich hier noch in der expressiven Metaphorik eines personalisierten waste land. Deutlicher wird der soziale Anspruch im Refrain eines anderen Textes, der lautet: „Zwei Kinder im Hof vor welchem Haus, wärmt sie jetzt ihr Traum vom Feuer? / Drei Kinder in welcher Pflasterbodenkälte? / Hundert am Hang welchen taufeuchten Bergs?“ Indessen ist auch hier das Leid eher in einer Kunstwelt als in der Realität angesiedelt, wenngleich es dadurch womöglich nur umso stärker zur Geltung kommt.
Zwar hat sich Shamlu gerade in seiner Frühzeit immer auch als Erwecker des Volkes verstanden, doch sein Sinn für sprachliche Bilder hat ihn weitgehend davor bewahrt, in Parolen zu dichten und der bitteren iranischen Wirklichkeit allzu sehr auf den Leim zu gehen. Berühmt wurde er 1957 mit einem balladenhaften Gedicht, das im Ton volkstümlicher Legenden allegorisch von der Erleuchtung und Befreiung des Volkes erzählt. Der Ruhm, den er sich in den Zeiten des Schah-Regimes als Dichter des Volkes erwarb, verlieh ihm selbst zu Zeiten der Mullahs, als er nur noch wenig schrieb und sich weitgehend zurückzog, weitgehende Immunität. Wie viele persische und arabische Dichter seiner Generation berief er sich auf Lorca. Aller westlichen Einflüsse ungeachtet wurde ihm jedoch nachgesagt, am meisten von Hafis beeinflusst zu sein. Ihm gelang der Balanceakt, die persische Sprache von der Bürde traditioneller Rhetorik und Poetik zu befreien und ihr zugleich verpflichtet zu sein wie sonst nur wenige der Modernen.
Ahmad Shamlu gilt daher nicht nur als einer der eingängigsten, sondern auch als einer der schwierigsten Dichter persischer Sprache. Wie dieses Paradox möglich ist, kann dank der dem Buch beigelegten CD auch der deutschsprachige Leser ansatzweise nachvollziehen. Die teils von Shamlu selbst, teils von einem persischen Sprecher vorgetragenen Verskaskaden machen deutlich, wie sehr diese Gedichte von ihrer Melodik zehren und dass sich ihre Leistung an der Intensität der Stimmung bemisst, die sie verbreiten, weniger am nackten Inhalt, dessen Symbolgehalt sich dem Uneingeweihten ohnedies kaum erschliesst. Shamlus Poetik wäre daher in westlichen Kategorien am ehesten als romantisch zu beschreiben. Farhad Showghi hat diese Sprachgebilde behutsam, in knapper Diktion und doch mit genügend innerem Leuchten übersetzt, so dass zusammen mit den Tonaufnahmen ein nachhaltiger Eindruck dieser fremdartigen poetischen Diktion und der ihr zugrunde liegenden Gefühlswelt vermittelt wird.

Stefan Weidner, Neue Zürcher Zeitung, 18.12.2002

Arabien, Persien: Lyrik von Fuad Rifka und Ahmad Schamlu.

Hanser, Suhrkamp, Ammann, DuMont – man braucht nicht die Finger einer Hand, um die ersten Häuser aufzulisten, die sich um ein konsequentes Lyrik-Programm bemühen. Wenn man sich anschaut, dass hierzulande nicht einmal die amerikanische Gegenwartsdichtung auch nur in allergröbsten Zügen erschlossen ist, mag man das Ausmass des Mangels erahnen. Kleine, spezialisierte Verlage erwerben sich beträchtliches Verdienst, indem sie einspringen, mitunter durch vorbildlich aufgemachte Ausgaben. Diesmal wären die Straelener Manuskripte zu nennen, die den arabischen Dichter Fuad Rifka in einer liebevoll aufbereiteten zweisprachigen Fassung vorstellen, und Urs Engeler Editor aus Basel, der den persischen Poeten Ahmad Schamlu ebenfalls zweisprachig präsentiert.
Fuad Rifkas Gedichtband „Das Tal der Rituale“ ist auf schlichte Weise edel gestaltet und entspricht dem tradierten, aber nicht oft gepflegten Bild des stimmigen Buches. Dazu gehört freilich, dass Gestalt und Gehalt sich bedingen: die Gedichte wirken gereift, bedacht und weise, allerdings wird man hier kaum Kühnheit finden, verstörende Bilder oder irritierende Sprachkraft. Im ersten Kapitel, „Tagebuch eines Holzsammlers“, kann man sich einlesen in Rifkas poetische Sicht, und im Verlauf des Buches begegnet man ihr in vielfältigen Variationen wieder, um dann erst im titelgebenden Schlussabschnitt auch eine vorsichtig erweiterte, hymnische Ausdrucksweise kennen zu lernen.
„Tagebuch eines Holzsammlers“, „Gedichte eines Indianers“, „Der Krug des Samariters“, „Die Ruine des Sufis“, „Das Tal der Rituale“ – die Namen der Buchabschnitte sprechen für eine dezente Naturmystik. „Wer ist dein Freund, / Holzsammler?“, heisst es in einer Frage-und-Antwort-Passage:

Der Leib der Erde.
Wo ist dein Weg?
Wo es keine Wege gibt.

In dieser Welt sind die Erscheinungen nicht so abgrenzbar wie im Profanen: „Er wandert durch den Wald, / sein Hemd die Äste, / sein Stock eine Lampe“, mit dieser Vorstellung des Holzsammlers beginnt die Auswahl Stefan Weidners, der zusammen mit Ursula und Simon Yussuf Assaf die Gedichte übersetzte und sich im Nachwort für seinen Autor stark macht, der wie kein anderer arabischer Dichter mit der deutschen Kultur verbunden ist: 1965 promovierte der nun über Siebzigjährige, der auch als Übersetzer von Goethe, Hölderlin, Novalis, Rilke und Trakl vermittelnd wirkte, zu Heideggers Ästhetik, in Tübingen.

Schon die Aufmachung von Ahmad Schamlus Blaues Lied ist ein Faszinosum: ein Mix aus orientalischer Ästhetik und modernster des Westens: Grundlage des Titelbildes scheint ein Autorengemälde zu sein aus der persischen Heimat des Dichters, darauf ist eine CD befestigt, in einem ähnlichen Blauton wie der Portraithintergrund, von einer Folienhülle geschützt. Auch hier stimmen Form und Inhalt überein – die nur 16 Gedichte, das letzte umfasst freilich zehn Seiten, lösen Be- und Verwunderung aus. Hier dürfen wir eine poetische Stimme hören – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn –, die wir noch nicht recht verorten können, so dass nur eines gewiss ist: dass sich von diesen durch Farhad Showghi übertragenen Gedichten ein Sog ausbreitet, ein Glanz und zaubrische Schönheit. Kennen wir nicht die Assoziationshöfe und aufgerufenen Begleiter einer fremden Sprachkultur, ist Staunen das beste, was eine erste Begegnung schenken kann.
„Die Wüste ist über und über mit Nebel bedeckt“, mit diesem Satz, der im Selbstgespräch des Wanderers wiederholt wird und von Golku, von der wir in einer Fussnote erfahren, das sie ein weiblicher Vorname, „den Schamlu ein einziges Mal in der nordostiranischen Stadt Gorgan hörte“, und dann noch einmal vom Autor wie zu Beginn, von diesem hypnotisch wiederholten Satz wird die Atmosphäre des Gedichts aufgebaut: eine geradezu fiebrig schwitzende Landschaft mit Blut. Golku sagt und mehr als das Grundmotiv, sie fügt noch hinzu:

Wenn der Nebel nur
bis ins Frühlicht reichte,
könnten die Tapferen
zurückkehren, ihre Liebsten zu sehen.

Das wirkt in der Mitte des Gedichts nicht hermetisch-verrätselt, eher selbstverständlich, so wie im nächsten Text die ins Gedicht hineinführende Wendung „Nicht führen will ich dich durch den Turm aus Seide, / nicht tanzen lass ich dich auf den Bühnen aus Elfenbein“, die fugenhaft variiert werden wird, wie auch die weiteren Motive dieses Poems: die Kinder im Hof vor welchem Haus, die auf dem kalten Pflastersteinthron, die hundert am Hang, schliesslich im feucht erstorbenen Sand.
„Nicht führen will ich dich in die Weiten eines fernen Wunsches, / Nicht tanzen lass ich dich zum rauchenden Ambra des Hoffens“, dahin wird das Eingangsmotiv geführt, von dem es in der Mitte noch heisst: „Nicht stossen will ich dich über den Samt einer vagen Idee, / Nicht rollen will ich dich ins weiche Lager eines unbestimmten Glaubens.“ Was Schamlu (1925-2000), der als einer der wichtigsten Erneuerer der persischen Dichtung gilt, seinen Lesern im Iran damit mitteilte, was solche magischen Sprachbilder in ihnen freisetzen, davon habe ich nicht die vageste Vorstellung. In der suggestiven Schönheit der Showghi-Übertragung laden sie uns ein, einen neuen Raum der Weltpoesie zu betreten: es sind Weite erzeugende Wortgebilde, und das tut dem deutschsprachigen Lyrikleser gut wie nichts sonst. Sie verunsichern uns enorm, sofern wir ihren Bedeutungshintergrund nicht adäquat einschätzen können, und sie belehren uns über Poesie, geben sie einem doch das sichere Gefühl, verlässliche Meisterwerke vor sich zu sehen. Dann: die persischen Schriftzeichen, delikate Zeichnungen für uns, und die Musik dieser kehligen Stimmen, wir hören sie im „Blauen Lied“. Es gehört zu den leuchtendsten, flirrendsten Lyrikpublikationen der letzten Jahre.

Dieter M. Gräf, Basler Zeitung, 31.1.2003

Im Ringen mit dem Schweigen.

-Irans prominentester Lyriker Ahmad Schamlu schreibt Gedichte des Lebens.-

„Gedichte habe ich nie geschrieben“, pflegte der bedeutendste Dichter der modernen Poesie Irans, Ahmad Schamlu (1925–2000) immer zu sagen, „sie haben mich geschrieben“, betonte er stets. Denn er sah sich nur als ein befähigtes Medium zur Übertragung seiner poetischen Phantasie. So, wie Schamlu sein Verständnis von der modernen Lyrik andeutete, hieß das aber nicht, dass er dem Dichter eine passive Rolle während des kreativen Prozesses zuschreiben wollte. Im Gegenteil. Er glaubte an das aktive „Vorstellungsvermögen des Dichters“, an „dessen poetische Kreation“, die durch gesellschaftlich und natürlich bedingte Impressionen ausgelöst wird. Aus dieser künstlerischen Quelle produzierte er insgesamt 17 Lyrikbände, seine 45 weiteren Bücher umfassen Kurzgeschichten, Märchen, literarische Essays und Übersetzungen (unter anderem von Majakowskij, Rilke, Lorca), hinzu kommen neun Kinderbücher und die auf den Umfang von rund 50 Bänden angelegte Sozialenzyklopädie Das Buch der Gasse (Keta-e Kutsche), von der bisher sechs erschienen sind.
Der vor kurzem veröffentlichte zweisprachige (Persisch/Deutsch) Lyrikband Blaues Lied beinhaltet einige ausgewählte Gedichte von ihm, die zwischen den Jahren 1968-2001 in seiner Heimat publiziert wurden. Im Ringen mit dem Schweigen ist das einzige im Iran noch nicht erschienene Gedicht, das Schamlus turbulentes Leben widerspiegelt. Eine außergewöhnlich schöpferische Kraft, innovative Gedanken, Ruhm, Widerstand gegen Ungerechtigkeit, Gefängnis und Exil markieren sein 75 Jahre langes Leben, dessen düstere Seite das Gedicht „Im Ringen mit dem Schweigen“ offenbart:

Bamdad bin ich
am Ende
müde
eines Kampfes, der, gegen mich allein gerichtet,
erschöpfender ist als jeder andere
(bevor du noch das Ross besteigst, bist du gewiss,
dass eines Geiers mächtiger Schatten
mit breiten Schwingen
das Feld überquert,
Schicksal
deine
blutüberströmte Zauberpuppe
begraben hat,
der bleibt
kein Entkommen
aus Scheitern und Tod)
Bamdad bin ich.

Bamdad war Schamlus Pseudonym, als er, inspiriert von moderner Lyrik im Nima’schen Stil, zu dichten begann. Der Lyriker Nima Joschij (1897-1960), der den Namen Vater der modernen iranischen Lyrik zu Recht verdiente, gab 1922 mit der Veröffentlichung des Gedichtes Die Legende (Afssaneh) der modernen iranischen Lyrik den Kurs vor und versetzte den Traditionalisten einen Schock. Die Legende war der Anfang eines langen Abschieds von der klassischen, formstrengen Dichtung, die zum großen Teil in der Form durch Echoreim, höfische Lobeshymnen und epische Verse, im Inhalt von Rat (Moralpredigt) und Belehrung geprägt war, wenn man einmal von einigen großen weltbekannten Klassikern wie Omar Khyyam, Dschalal-ed-din Rumi, Hefiz und anderen Dichtern des Mittelalters absieht.
In der modernen Lyrik waren Verse von variabler Länge. Dies befreite den Dichter vom Zwang, gleich lange Verse zu schreiben und dadurch unnötige Worte zu fabrizieren. Freies Denken war der Ertrag dieser neuen Art der Dichtung. So rückten anstelle der Redetechnik die Freiheit des Denkens und die Utopien in den Vordergrund. Im Gegensatz zur alten Dichtung, wo jeder Vers eine in sich geschlossene Einheit bildete, stehen in der modernen Lyrik Irans alle Zeilen und Strophen in einer sowohl ästhetisch als auch inhaltlich strukturellen Verbindung.
In diesem Sinne setzte Schamlu den Weg Nimas fort. Anfang der fünfziger Jahre postulierte er dann die Notwendigkeit, das einfachste und leichteste Wort nicht zu scheuen und Wörter der Alltagssprache, Kindersprache und der Straße mit der über tausend Jahre alten Schriftsprache zu verknüpfen. So stehen in seiner Dichtung Alltagswörter und Kinderverse wie selbstverständlich neben klassischen Vokabeln. Schamlu hat über den Umweg der Moderne eine neue Brücke zur altiranischen Lyrik und Folklore geschlagen. Nach Nima wurde er selbst zum Wegbereiter einer neuen zeitgenössischen iranischen Lyrik, die dann später unter dem Begriff „Free Verse“ bekannt wurde.
Fast alle von dem Übersetzer Farhad Showghi ausgewählten Gedichte des Bandes Blaues Lied markieren diesen Stil. Im Gedicht der Nebel vom Jahre 1968 will der Dichter noch nicht auf alle Varianten der traditionellen Dichtung verzichten, wobei er in Blaues Lied, gedichtet im 2001, vollständig von Reim und Versmaß Abschied nimmt. „Diese Todesart“ – ein Gedicht aus dem Jahr 1987 – kennzeichnet den Beginn der Souveränität des Dichters in Sprache und Stil. Naturbezogene Metapher und Verschmelzung mit dem Naturgeist sind die wichtigen Elemente in Schamlus Dichtung. In diesem Sinne stellt Diese Todesart die phantasievolle und poetische Auseinandersetzung des Dichters mit dem Tod dar, mit dem er sich besonders in der letzten Phase seines Leben intensiver beschäftigt hat.
Schamlu schrieb zugleich, wie man aus dem vorliegenden Lyrikband entnehmen kann, über Menschlichkeit („Nicht tanzen lass ich dich dem blauen Rauche gleich…“ von 2001), Gerechtigkeit („Nachtlied“ von 1980), Widerstand („Hauptstadt des Durstes“ von 2001), über Einsamkeit, Vergeblichkeit und Scheitern („Im Ringen mit dem Schweigen“ von 1993).
In seinen ersten Gedichtbänden, insbesondere Frische Luft von 1957, versuchte er sein gesellschaftlich-politisches Engagement in seinen Gedichten widerzuspiegeln. „Ich bin der Dichter, der das ,Gedicht des Lebens‘ verkündet“, sagte Schamlu über sich selbst. Deshalb wurde er mehrmals ins Gefängnis gesteckt und musste von 1976 bis 1979 im Londoner Exil leben. Nach der islamischen Revolution (1979) kehrte er in seine Heimat zurück, geriet aber bald in politischen Konflikt mit den neuen religiösen Machthabern.
In Blaues Lied vermisst der mit den Werken Schamlus vertraute Leser seine brillanten Liebesgedichte, die besonders im Lyrikband Aida im Spiegel ihre poetische Vollkommenheit vorführen. Trotz der unleugbar großen Schwierigkeiten, Schamlus Gedichte wirklich adäquat zu übersetzen, wünschte man sich zuweilen eine inhaltlich präzisere Übereinstimmung der Übertragung mit dem Original. (zum Beispiel im Gedicht im Ringen mit dem Schweigen, bedeutet das Wort Godaseh „Glut“ und nicht „Zauberpuppe“. Im dritten Abschnitt heißt der erste Vers „nur wenn du mich rufst“ und nicht „nur wenn du mir ein Lied schenkst“. Dementsprechend muss man dann den Ausdruck „Flehgesang“ am Ende des Abschnittes „Flehruf“ übersetzen.)
Der persische Teil des Bandes ist nicht so sorgfältig und liebevoll gestaltet wie der deutsche. Das inhomogene Layout wirkt verwirrend. Manchen Gedichten fehlt der Titel (Nachtlied 3). Manche sind mit den unterschiedlichen nicht fett markierten Kalligraphiengrößen betitelt („Diese Todesart“, „Noch denke ich an jenen Raben“).
Dennoch muss man das beherzte Engagement des Übersetzers und des Verlages schätzen, das zur erstmaligen Herausgabe eines Lyrikbandes des prominentesten Dichter Irans geführt hat, der mehrmals für den Nobelpreis nominiert wurde. Eine CD, auf der die Gedichte des Bandes zum Teil mit der beeindruckenden Stimme des Dichters zu hören sind, macht nicht nur die Sammlung wertvoller, sondern zeigt auch, dass Schamlu im Ringen mit dem Schweigen die Oberhand gewann.

Fahimeh Farsaie, Der Freitag, 24.1.2003

Über Ahmad Schamlu

Seit über zwanzig Jahren gilt Ahmad Schamlu als unumstrittener Wegweiser der modernen iranischen Poesie.
1925 in Teheran geboren, verbringt er seine frühe Jugend in der Stadt Maschad (Nordosten) und in der Wüstenlandschaft der Provinz Balutschestan (Südosten). Diese fast imaginäre Landschaft und die unbeschreibliche Armut ihrer Bewohner, deren existenzielle Abhängigkeit von der Natur wie nirgends im Iran sichtbar ist, haben Schamlus spätere literarische Arbeiten stark beeinflußt.
„Für mich“, schrieb er später einmal, „muß sich die Poesie mit der Natur versöhnen. Sie darf sich nicht hinter den Menschen verstecken, sie muß uns vor die Augen treten und sich mit den Bäumen, der Sonne, dem Tag und allem, was wir sehen und mögen, vereinen.“
Zunächst aber spürt Schamlu eine große Affinität zur Musik. Doch der Wunsch, diese Kunst auszuüben, konnte nie erfüllt werden. „Kein Zweifel, die Poesie ist für mich ein Mittel gewesen, mein Verlangen nach Musik zu verdrängen“, sagt er in einem Interview. „So wie ich lange Jahre der Meinung war (und vielleicht noch bin), daß die tanzenden Muster der Perserteppiche in Wirklichkeit eine Reaktion darstellen auf die Verbotsschilder, die der Islam der Tanzkunst und der Musik entgegengestellt hat.“
Schamlu verläßt vorzeitig die Schule, die er immer wie ein Gefängnis empfand. Nach Teheran zurückgekehrt, beginnt er seine Laufbahn als Journalist. Seine stark nationalistische Einstellung, sein Widerstand gegen die Besetzung Irans durch die Alliierten während des zweiten Weltkriegs, brachten ihn, für länger als ein Jahr, ins Gefängnis. 1947 veröffentlicht Schamlu seinen ersten Gedichtband, AHANGHAJE FARAMUSCH-SCHODEH (Vergessene Melodien). 1951 und 1952 folgen zwei weitere Bände, BISTOSEH… (Dreizundzwanzig… ) und AHAN WA EHSAS (Eisen und Gefühle). Alle drei Bände sind, wie er später selbst resümiert, zu bewerten als „erste Schritte eines Kindes, das gerade anfängt, Laufen zu lernen“.
Die erste, bedeutende Arbeit, die ihn mit einem Schlag berühmt macht, ist HAWAJE TAZEH (Frische Luft). Sie erscheint 1975. Hier begegnen wir einem romantischen Dichter, der gerade seine Sturm- und Drang-Zeit erlebt. Beeinflußt von Nima Juschidj, dem Gründer der modernen Poesie Irans, rechnet Schamlu hier in Form und Inhalt mit der Tradition ab. Ein starkes politisches Engagement für die Unterprivilegierten und Entrechteten paart sich mit einer einzigartigen Naturschilderung.
„Unsere Verse“, schreibt er, „sind Klagerufe der Erniedrigten. Wir schreiben für Nackte und Prostituierte, für die, deren Hoffnungen sich auf die kalte Erde richten, für die, die den Himmel längst aufgegeben haben.“ Gerade diesen Menschen gilt auch sein Ruf, wenn er sagt: „Sein ist besser als Vernichtetwerden, vor allem im Frühling.“
Im selben Band unternimmt Schamlu den erfolgreichen Versuch, die iranische Folklore, Märchen und Musik, in Versen zu vereinheitlichen. PARIA (Feen) sind längere Verszyklen, die Schamlu die Gelegenheit geben, auch die Umgangs- und Kindersprache in die Literatur einzuführen. Diese Verse kennen viele Menschen im Iran auswendig.
Schamlus Werk zeichnet sich durch eine ständige Verwandlung, Erneuerung und Vertiefung aus. Diesen Umstand verdankt er nicht zuletzt dem Einfluß ausländischer Dichter und Schriftsteller. Er beschäftigt sich mit Lorca, Majakovsky, Aragon, Rilke, Pound, Eluard, Neruda u.a. und übersetzte teilweise ihre Werke ins Persische. Am meisten aber ist Schamlu zweifellos von Hafis beeinflußt. „Ich habe nie unter dem Einfluß der französischen Symbolisten gestanden, denn ich mochte sie nicht“, sagte er in einem Gespräch. „In der ersten Phase interessierte mich Lorca. Auch Majakovsky, wegen seiner Härte, und schließlich Eluard. Doch als ich sie alle miteinander vergessen hatte, nahm Hafis ihre Plätze ein.“ Schamlu ist mit allen seinen Adern an die Gegenwart gebunden, und seine Dichtung ist ein Echo unserer gesellschaftlichen Widersprüche, Entbehrungen, Bedürfnisse und Utopien. Dennoch hört man beim Lesen seiner Gedichte Hafis im Hintergrund.
1959 erscheint BAGHE AJNEH (Garten des Spiegels). In diesem Gedichtband zeichnet sich bereits eine Wandlung ab. Zweifel an dem politischen und gesellschaftlichen Engagement treten immer deutlicher zum Vorschein. Und fünf Jahre später erreicht dieser Zweifel den Grad der Verzweiflung. In AJDA DAR AJNEH (Ajda im Spiegel), 1964, wendet sich Schamlu zornig von denjenigen ab, denen bis dahin seine „furchtbarste Liebe“ galt. Er flüchtet in die Einsamkeit. Seine einzige Rettung ist seine Frau Ajda, zu der er eine sehr intensive Liebe entwickelt. „Eine Liebe, die wie ein Segen des Himmels wirkte, da die Erde die Hoffnung, ihn zu retten, längst aufgegeben hatte.“ Für viele Kritiker war diese Wende in Schamlus Entwicklung unverständlich. Man warf ihm sogar Verrat vor. Diese harte Reaktion mag auch dadurch zu erklären sein, daß diese moderne Art der Innerlichkeit und Subjektivität ein Novum in der iranischen Literatur darstellte. Aber ohne diese Wandlung wäre Schamlu längst den politischen Dogmen zum Opfer gefallen und zwischen den politischen Fronten zermürbt worden. Dagegen ermöglichten ihm gerade die Reflexionen über das eigene Ich und über das reale und keineswegs als Symbolfigur begriffene Du, eine weitaus humanere Einsicht in die gesellschaftlichen und politischen Probleme. Während dieser Zeit schreibt Schamlu die schönsten Liebesgedichte der modernen persischen Literatur. Der nächste Gedichtband, AJDA, DARAKHT, KHANDJAR WA KHATEREH (Ajda, Baum, Dolch und Erinnerung), 1965 veröffentlicht, umfaßt, wie es auch schon aus dem Titel hervorgeht, ein Resümee des bisherigen Schaffens des Dichters. Als Vierzigjähriger erfährt er eine tiefe Krise. „In dem Umkreis meines Blickes, stehen, auf jeder Seite, hohe Mauern, so hoch wie die Hoffnungslosigkeit.“
Der philosophische, teilweise resignative Rückblick auf das eigene Leben, wird auch in der nächsten Gedichtsammlung, GHOGHNUS DAR BARAN (Phönix im Regen), 1966, fortgesetzt. „Ich bin verloren, doch, vergiß nicht, du umherirrendes Herz, daß wir, du und ich, die Liebe berücksichtigt haben…“
1969, in MARSIEH HAJE KHAK (Elegien der Erde) scheint Schamlu die tiefe Krise bereits überwunden zu haben. Hier und im nächsten Band, CHEKOFTAN DAR MEH (Blühen im Nebel), 1970, begegnen wir einem tiefsinnigen, scharfbeobachtenden, erfahrenen Dichter. „Sein oder Nichtsein, das ist hier nicht die Frage.“ Beim Sonnenuntergang sitzt der Dichter am Fenster, schaut hinaus in die weite Landschaft und betrachtet das Entstehen des Nebels. Er weiß schon, wie der Abend zu Ende geht, weiß, daß alles vorher bestimmt ist und der „Vorhang zu gegebener Stunde herabfallen wird“.
Doch die bei den letzten Veröffentlichungen, EBRAHIM DAR ATASCH (Abraham im Feuer), 1973 und DASCHNEH DAR DIS (Dolch auf der Platte), 1977, zeigen eine weitere, überraschende Wandlung in Schamlus Werk. Anders als in früheren Jahren, in denen vorwiegend tagespolitische Ereignisse sein gesellschaftliches Engagement motivierten, steht er nun, mit einem großen Weitblick und auf lange Erfahrungen zurückblickend, abermals auf Seiten derjenigen, die er vor zwei Jahrzehnten verlassen hatte. Er spürt das große Feuer, das unter der kalten, verwüsteten Erdoberfläche zum Ausbruch dringt, und lauscht der Stille, die unüberhörbar, mit tausend Zungen redet. Kein iranischer Dichter hat es bisher vermocht, mit so großer Sensibilität politische und gesellschaftliche Probleme darzustellen.

vergeblich ist der Abend schön
wozu
aaaaaist der Abend schön
für wen
aaaaaist der Abend schön

1977, zwei Jahre vor der Revolution, verläßt Schamlu Iran und bleibt bis zum Ausbruch des Volksaufstands zunächst in den USA und später in England. Während dieser Zeit gibt er die Zeitung IRANSCHAHR in persischer Sprache heraus.
Unmittelbar nach dem Sturz des Schah kehrt er in den Iran zurück. Seine regen politischen Aktivitäten, die Arbeit im iranischen Schriftstellerverband, die Herausgabe einer wöchentlich erscheinenden Zeitschrift mit dem Titel KETABE DJOMEH (Buch des Freitag), lassen ihm kaum Zeit zur Fortsetzung seiner eigenen literarischen Arbeit. Unter seinem Namen erscheint lediglich 1979 eine kleine Sammlung mit siebzehn, meist älteren, politischen Gedichten, mit dem Titel KASCHEFANE FORUTANE SCHOKARAN (Bescheidene Entdecker des Schierlings).
KETABE DJOMEH hatte natürlich unter Chomeinis Herrschaft keine lange Lebensdauer. Sie wurde, einige Monate nach ihrem Erscheinen, verboten. Auch der Sitz des Schriftstellerverbands wurde von sog. Wächtern der Revolution gestürmt und geplündert. Einige Schriftsteller wurden verhaftet und später hingerichtet.
Seit 1980 ist von Schamlu, mit Ausnahme einiger Bände eines breitangelegten Lexikons für Umgangssprache und Redewendungen, nichts mehr erschienen. Schamlu schweigt. Aber selbst dieses Leben in Schweigen verdankt er seiner großen Popularität.

Bahman Nirumand, in: Akzente. Zeitschrift für Literatur, Heft 1, Februar 1985

 

 

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1 Antwort : Ahmad Schamlu: Blaues Lied”

  1. Aboozar Ahangar sagt:

    Hallo
    Guten Tag,
    Ich lebe im Iran und liebe seine Gedichte,
    Aber leider seinde Gedichte sind hier verboten und Niemad kann in öffentlichen Meiden über ihn sprechen.

    Danke

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