Albert Ostermaier: Polar

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Albert Ostermaier-Polar

Ostermaier-Polar

TRISTESSE D’ÉTÉ

von neuem ohne aufschub sich ins verderben stürzen
der kanarienvogel vergisst seine farben im dunkeln
zusehen wie die stunden ein sinnloses leben
aaaaaverkürzen
hinter vorhängen im schatten im auge kein funkeln

der gluten weisser glanz und immer gleiches
aaaaaschwingen
die zigaretten die schuhbänder die krawatte der schweiss
der asphalt wie eine wüste aus schwarzem sand sie singen
in den kellern ein ballett aus nackten knien keiner weiss

welche strasse der nächste morgen ausspielt die letzte
hier taucht sie ins nichts das dir so unbekannt nie war
wenn dir die blanke angst dein herz aus der brust hetzte

man hat es eilig mit dem leben der tod zahlt aus in bar
der kanarienvogel springt auf der leiter und fliegt nicht
die schatten suchen die sonne was sie finden ein gesicht

 

 

 

Nachwort

Vom französischen Regisseur Jean-Pierre Melville heißt es, er habe seine Tage im Bett verbracht und sei erst nachts mit Stetson und dunkler Sonnenbrille vor die Tür gegangen, um mit seinem weißen Ford Galaxy die Bars an den Champs-Elysées abzuklappern und dann mit Freunden bis zum Morgengrauen durch die Außenbezirke von Paris zu fahren, in deren Ödnis sich die Sehnsucht nach einem anderen Kino eingenistet hatte – als wollte er jene Spuren nachzeichnen, die zahlreiche amerikanische Gangsterfilme in seiner Erinnerung hinterlassen hatten. Sie waren also unterwegs in einem Zwischenreich, in dem die Grenzen zwischen Kino und Wirklichkeit verschwimmen. Sie suchten nach dem einen und fanden das andere und konnten wahrscheinlich gar nicht mehr unterscheiden, was eigentlich was war. Und vielleicht muß man sich die Gedichte von Albert Ostermaier ähnlich vorstellen – als könne man sich in ihrem Fond niederlassen und in jenem Zustand schmerzhafter Wachheit, der sich am Ende der Nacht einstellt, vor den Fenstern die Bilder der Filme von Jean-Pierre Melville und seinen französischen Kollegen vorbeiziehen sehen.
Die Franzosen haben für diese Art von Kino und Kriminalroman das schöne Wort Polar geprägt. Man muß dem Wort nur nachschmecken, um seine Kälte auf der Zunge zu spüren und zu begreifen, daß es die Welt in einem bestimmten kalten Licht erscheinen läßt, das den Menschen, Beziehungen und Dingen eisig scharfe Konturen verleiht. Wobei die Art und Weise, wie sich das französische Kino dieses Genres bemächtigt hat, bei aller kristallinen Schärfe immer auch von Sehnsucht handelt und davon, wie Gefühle verwischen, was klar vor Augen steht. Es waren die Franzosen, die für eine gewisse Stimmung im Hollywood der Kriegs- und Nachkriegsjahre den Ausdruck Film Noir geprägt haben, und die Düsternis in der Schattenwelt ihrer Vorbilder haben sie dann in andere Farbtemperaturen überführt, in ein bläuliches Licht, das gut mit den grauen Pariser Dächern harmonierte und einen perfekten Hintergrund für alle wärmeren Farben abgab. All diese Filme definierten sich also weniger durch Erzählmuster als durch eine bestimmte Atmosphäre, in der amerikanischer Way of Life in französisches Savoir-Vivre umgemünzt wurde und all das Neigen von Herzen zu Herzen schon deshalb einen anderen Stellenwert besaß.
Womöglich sind Albert Ostermaiers Gedichte der einzig gangbare Weg, wirklich abzubilden, was diese Filme und ihre Geschichten mit uns anstellen, wie sie in uns weiterwirken und welche Abdrücke sie in unserem Empfinden hinterlassen. Weil sie den seltsamen Wegen nachspüren, mit denen die Bilder uns in ihren Bann schlagen. Als wären es Spuren im Schnee unserer Erinnerung. Sie zeichnen keine Geschichten nach, und wer die Filme kennt, denen sie sich verdanken, wird feststellen, daß sich die Gedichte zu ihnen verhalten wie Fahndungsplakate zu dem Fall, auf den sie verweisen. Eine gewisse Unschärfe in der Abbildung des Gesehenen macht ihren Reiz aus, weil womöglich nur so eingefangen werden kann, daß diese Filme vor allem ein Sprungbrett für die Imagination sind. Denn bei aller Schärfe schreiben sie nicht etwas fest, sondern lösen es auf in jene Ungewißheit, die man Leben nennt.
Man kann hundertmal zusehen, wie Alain Delon in Le Samouraï geradezu geometrisch präzise seinem Rendezvous mit dem Tod entgegengeht, aber gerade die fast abstrakten Konturen dieser Geschichte eröffnen einen Raum, in den hinein wir uns immer wieder zu träumen versuchen. Und doch werden wir diesen eiskalten Engel nie verstehen, weil er aus nichts als der Sehnsucht zu bestehen scheint, in einer Geschichte aufzugehen, die von der totalen Einsamkeit handelt, aber mit größtmöglicher Zärtlichkeit erzählt wird. Melvilles Samouraï ist eigentlich selbst schon ein Gedicht, aber bei Ostermaier wird daraus eine Zeile, die Melvilles Poesie durchaus gewachsen ist:

… die
glühbirne vergeudet sich an die
kälte seiner augen

Aber Weil es bei ihm ohne Punkt und Komma weitergeht, muß man fortfahren:

… der lärm von
absätzen auf der treppe er spielt
als letzter aus warum sollte er
einen betrug verzeihen

Denn die Gedichte sind ja selbst auf der Flucht, wie Delon vor seinen Auftraggebern und der Polizei, die Wortkaskaden und Bilder eilen tatsächlich wie Absätze auf der Treppe dahin, deren Nachhall uns immer einen Moment später erreicht als das Bild, das sie erzeugen.
Man kann tausendmal Miles Davis zuhören, wie er Jeanne Moreau in L’ascenseur pour l’échafaud über den regennassen Asphalt begleitet, während sie auf ihren Geliebten wartet, der nie kommen wird, und schafft es doch nie, sich an ihre Seite zu drängen, um sie mit einem Kuß aus ihrer Hölle zu erlösen und in ihren Mundwinkeln das Rätsel ihrer Traurigkeit zu ergründen:

und
die sonne wird aufgehen ohne dass
du sie berührt hast sie berührt nur
dich die nacht in dir die noch immer
durch die Strassen in die sackgassen
läuft und ein gitter mit den schritten
zieht aus dem du dich nie mehr
befreien wirst

Immer ist in Ostermaiers Gedichten zusammengedacht, was passieren wird und was passiert ist, was man gesehen und was man gefühlt hat. Zur Doppelbelichtung, mit der sich das französische Kino die amerikanischen Vorbilder wie einen Regenmantel überwirft, kommt ein weiterer Belichtungsvorgang hinzu, bei dem Ostermaier die Filme in das Entwicklerbad seiner Empfindungen taucht:

eine hand
zieht das weisse photopapier durch
das bad das bild entwickelt sich es
kommt an die oberfläche es wird
der letzte kuss sein

Man mag hier frösteln in Erinnerung an den Film von Louis Malle, man kann sich aber auch einfach dem Zeilenfall überlassen, der immer wieder neue Bilder zutage fördert, die sich übereinanderlegen und der Sprache zu ihrem eigenen Recht verhelfen. Das Kino mag eine Maschine sein, die in Bildern denkt – das Gedicht ist eine Form, die anders tickt. Ostermaiers Blick aufs Kino ähnelt deswegen dem des Fahrers, der im Rückspiegel sieht, was er überholt und hinter sich gelassen hat und was ihm auf den Fersen bleibt und sich nicht abschütteln läßt. Was außerhalb dieses Rückspiegels liegt, ist die Wirklichkeit, durch die er sich bewegt. Denn wenn auch sein Buch sich vor einer bestimmten Art von Filmen verneigt, entspricht der Anteil des Kinos an seinen Gedichten wahrscheinlich in etwa dem Verhältnis zwischen dem, was der Rückspiegel zeigt, und dem, was er durch die Windschutzscheibe sieht. Schon deswegen unterwerfen sich die Gedichte nicht ihren Vorbildern, sondern begleiten sie nur ein Stück des Wegs durch unsere Erinnerungen, um dann ihrem eigenen Pfad zu folgen und sich an einem gemeinsam verabredeten Ziel zu treffen – oder auch nicht. Manchmal sind es gerade die verpaßten Begegnungen, die am nachhaltigsten fortwirken. Schließlich handeln auch die Filme immer wieder von verpaßten Gelegenheiten und jenen Zufällen, die wir nur allzugern für Schicksal halten.
Albert Ostermaier hat es sich nicht zur Aufgabe gemacht, das Kino des Polar schärfer zu fassen, als es der Filmkritik gelungen ist. Wenn man sich auf die Suche nach einer bestimmten Atmosphäre macht, an der man sich bei aller Kälte wie an einem Kaminfeuer wärmen möchte, dann stellt man bald fest, daß das Genre keine Grenzen kennt. Denn wie all die Geschichten, die davon erzählen, wie uns das Kino immer einen Schritt voraus ist, wie alles, was wir erleben, tausendfach gefiltert ist durch das Kaleidoskop filmischer Erinnerungen, tendiert auch der Polar dazu, mit seinem Lebensgefühl alles zu infizieren, was an seinen Rändern liegt. Da kann auf einmal jeder Blick und jeder Kuß tödlich sein und jedes Herz bluten, sobald man ihm zu nahe kommt. Die Gedichte in Polar sind – um einen allerletzten Vergleich zu wagen – wie der Lippenstift, den die Frauen im Kino auftragen, wenn sie sagen wollen: Verführ mich! Man darf sich dann aber nicht wundern, wenn ihre Lippen kälter sind als der Tod. Denn immer gilt:

das ist nicht ganz das leben
von dem ich geträumt habe
da ist nicht ganz dieses beben
weil ich was zählt versäumt
habe da war ein sinnloses
streben weil ich nie etwas
von mir selbst gegeben habe
das war nicht ganz vergebens
aber zeit meines lebens eine
narbe quer über dem herzen

Michael Althen, Nachwort

 

Inhalt

Polar ist eine Hommage an das französische Kino der sechziger und siebziger Jahre.
Albert Ostermaier taucht hier, im Gedicht, die Welt in ein kaltes Licht, das den Menschen, Beziehungen und Dingen eisigscharfe Konturen verleiht. Das „kühle“ französische Kino hat jedoch bei aller Schärfe immer auch von Sehnsucht gehandelt und davon, wie Gefühle verwischen, was klar vor Augen steht.
Für eine gewisse Stimmung im Hollywood der Kriegs- und Nachkriegsjahre haben die Franzosen den Ausdruck film noir geprägt und die Düsternis in der Schattenwelt der Vorbilder in andere Farbtemperaturen überführt, in ein bläuliches Licht, das mit den grauen Pariser Dächern harmoniert. All ihre Filme haben sich weniger durch Erzählmuster definiert als durch ihre Atmosphäre. Albert Ostermaiers Gedichte erzählen davon, was diese Filme und ihre Geschichten mit uns anstellen, wie sie in uns weiterwirken und welche Abdrücke sie in unserem Empfinden hinterlassen. Weil sie den seltsamen Wegen nachspüren, mit denen die Bilder uns in ihren Bann schlagen.

Suhrkamp Verlag, Ankündigung

 

Wenn der Papierkorb zum Leichenschauhaus wird

– Eiskalt, okay – Albert Ostermaier zeigt in seinem Gedichtband Polar alte Filme und serviert dazu einen doppelten Wondratschek on the rocks. –

Vielleicht war der erste Vertreter dieser Gattung Wolf Wondratschek. Der setzte sich, auf dem Höhepunkt der siebziger Jahre, an den Bühnenrand und streckte den Leuten lässig seine Cowboystiefel entgegen. Sein Sound plätscherte cool und abgeklärt dahin, ganz der Mann, der wusste, wie und was gespielt wird und wie das dabei so vor allem ist als Mann. Das ließ sich in dieser Originalqualität natürlich nicht lange aufrechterhalten, bald wurde alles immer weniger überschaubar. In letzter Zeit hat Albert Ostermaier versucht, in diese Fußstapfen zu treten: soundbestimmte Texte, widersprüchliche Gefühle um die Zärtlichkeit eines Machos.
Seine Gedichtbände haben kurze, prägnante Titel, die die Effektivität einer Hitsingle zitieren: Heartcore, Autokino, Solarplexus und jetzt Polar. Man muss sich dazu immer langbeinige Frauen in zerrissenen Nylons vorstellen. Das ist eine Ästhetik, die wunderbar nach München passt, in diese Spielart des Pop mit Schwabing, Giorgio Moroder und dem Olympiastadion. Dazu gehört automatisch eine gewisse Leichtigkeit und das Wissen, alles nicht ganz so eng zu sehen.
Polar sieht wieder ganz wunderschön aus, im Format jener Kladden, die damals bei Wondratschek und Zweitausendeins zum Erfolgsrezept gehörten. Heute ist aber natürlich alles viel edler gemacht, das Coverfoto lebt von einem grauschlierigen Hellblau, das sofort Eiseskälte assoziiert und Männer mit Trenchcoats und Schlapphüten auftreten lässt. Wenn durch diese Schmutzschicht dann auch noch diffus das rote Rücklicht eines Straßenkreuzers dringt, ist das Vollbild komplett.
„Polar“ ist die Bezeichnung für ein bestimmtes Genre des französischen Kinos und Kriminalromans aus den sechziger und siebziger Jahren, der dortigen Weiterführung der „Schwarzen Serie“ Hollywoods. Albert Ostermaiers Gedichtband entpuppt sich vor diesem Hintergrund als eine Art Konzeptalbum: die Texte haben allesamt französische Titel, die zum Teil mit den Original-Filmtiteln identisch sind, und spüren der Atmosphäre jener Streifen nach – den „Flics“ also, den kleinen und den großen Nutten und den Schwarzweißgefühlen. Diese sind hier, wie der Filmkritiker Michael Althen in seinem Nachwort nachweist, in ein „bläuliches Licht“ getaucht, „das gut mit den grauen Pariser Dächern harmoniert“.
Zwielicht also, Verlorenheit, scharfe Konturen, verschwimmende Gefühle. Ostermaier zwingt die Filme, den Samurai beispielsweise, den Fahrstuhl zum Schafott oder den Monsieur Hire in sein Maß, in seine Notate ohne Satzzeichen. Diese sind meist kurz, korrespondieren aber nicht mit den Zeilenenden, Schnitt folgt auf Schnitt. So entsteht etwas Artifizielles, das die Stilisiertheit der Filmsprache aufzunehmen sucht und Ostermaier als einen Autor zeigt, der mit Suggestionen spielt, mit der rauen Oberfläche des Pop. Er will nach bewährter Disco- oder Videojockey-Art die Filme samplen, einen Remix herstellen, lyrische Zeitlosigkeit.
So bestehen die Texte aus einer eigenwilligen Mischung von Inhaltswiedergabe und emphatischer subjektiver Aufladung einzelner Szenen, sie leben vom Genre. Der geheime Geist, der diese Zeilen bewegt, ist derjenige Alain Delons, des Mannes, den man „eiskalter Engel“ nannte. Ab und zu taucht er auch direkt auf. Dass Männerphantasien sich an einer so konkreten Vorlage abarbeiten, kann ihnen zuweilen ganz gut tun: der Raum ist begrenzt. Gelegentlich merkt man aber die Mühen sehr stark, die es Obermaier kostet, das Geheimnis zu fassen, Sound, Zeilenfall sowie Bild und Wort zu koordinieren. Etwa im Anfang von „morgue pleine“:

der papierkorb quoll nicht gerade
über er war leer wie sein blick auf
die tür an der aussen unter dem
spion seine visitenkarte klebte
so man überhaupt das treppen
haus bis zu ihm hochlief
(…)

Das ist offenkundig sehr gewollt. Man kann sie leicht unterschätzen, die Probleme, die auftauchen, wenn man den Reiz der Oberfläche und des Arrangements durch Kleinarbeit aufrechterhalten muss. Aber es ist dabei von Nutzen, dass mittlerweile viele Jahre ins Land gingen, Jahre, die die ursprünglichen Gefühle angereichert und vieldeutiger gemacht haben. Und auch Wolf Wondratscheks Cowboystiefel sind in Albert Ostermaiers Polar-Visionen erheblich ausdifferenziert worden – es ist doch nicht das Schlechteste, wenn das dabei herauskommt.

Helmut Böttiger, Süddeutsche Zeitung, 22.1.2007

Fahrstuhl zum Sonett

Lyrik des Samurai: Albert Ostermaiers Poetik des Film noir. –

Auftragsmörder haben Pflichten: töten, keine Spuren hinterlassen, den Auftraggeber verschweigen, abtauchen. Trenchcoat, Hut und Revolver gehören zur Berufskleidung, Vereinzelung und Selbstkontrolle zur Gaunerehre. „Es gibt keine größere Einsamkeit als diejenige des Samurai“, heißt es über den Krieger, der im Auftrag tötete. Le Samouraï – das ist Jef Costello, ein aparter, von Alain Delon gespielter Killer in dem gleichnamigen Film des französischen Regisseurs Jean-Pierre Melville (deutsch Der eiskalte Engel, 1967).
Wie keine zweite Figur steht Costello für ein Genre: für den französischen Film noir vor allem der sechziger und siebziger Jahre, für eine unpolitische Nouvelle vague jenseits der Ära Godard mit ihrer filmischen Sozialkritik. Der Film noir zeichnet sich durch Formstrenge, eine klare Handlungsführung und eine geradezu graphische Ästhetik aus, die ihre Figuren als bloße Schemen einer undurchsichtigen Halbwelt entwirft. Aktuellen Sehgewohnheiten entspricht das Genre nicht mehr: Setzt der Thriller der Gegenwart auf Schießereien und Action, zählen Melodramatik und Psychologie zu den Qualitätsmerkmalen des Film noir.
Für Albert Ostermaier wird der Film noir zum Gegenstand und Vorbild einer lyrischen Samurai- und Detektivkunst. Sein neuester Lyrik-Band Polar handelt nicht nur vom Film noir, er setzt ihn auch in eine gleichsam polare Poetik um: der scharf konturierten Form, der Kühle, der unterdrückten Sehnsüchte, des Bösen. Das Vorhaben ist gewagt: Jedes Remake dieser nahezu poetischen Filme könnte bloßes Imitat werden. Ostermaier reagiert auf dieses Problem mit einer Kombinationsgabe.
Gerade deshalb haben Publikum und Kritik einen schwierigen Fall zu lösen. Aber der Band liefert einige Interpretationshilfen gleich mit: Filmfotos und ein Nachwort von Michael Althen. Damit geht Polar über einen gewöhnlichen Lyrik-Band hinaus; er wird zum bimedialen Text, bei dem großformatige Filmbilder nicht nur als Illustrationen dienen, sondern vielmehr eine eigene ästhetische Qualität vermitteln: der Billardtisch aus Vier im roten Kreis von Melville, das leere Kugellager des Revolvers aus Le Samouraï, vermummte Bankräuber auf der Flucht über eine leere Strandpromenade (Der Chef, auch von Melville, 1972). Je vier Fotos rahmen die vier Kapitel des Bandes, auf die sich etwa gleichgewichtig zweiundvierzig Gedichte verteilen. Sie handeln zumeist und ihrer Überschrift gemäß von einem bestimmten Film: Melvilles Der Teufel mit der weißen Weste (1962) und Die Millionen eines Gehetzten (1963) stehen wie Alain Corneaus Im tödlichen Kreis (1975), Jacques Derays Der Swimmingpool (1969) und Louis Malles Fahrstuhl zum Schafott (1958), Das Irrlicht (1963) für den frühen Film noir. Seine Helden heißen Alain Delon, Lino Ventura, Cathérine Deneuve und Romy Schneider. Claude Chabrols Analysen bürgerlicher Machenschaften kennzeichnen spätere Phasen des Genres (Die Unschuldigen mit den schmutzigen Händen, 1975). Jüngeren Datums sind die Filme von Patrice Leconte; sie zählen zwar zu den genretypischen Gangsterfilmen, gehorchen der strengen Ästhetik des Film noir aber nicht mehr. Polar verhält sich ebenso unorthodox. Das gleichnamige Eingangsgedicht erläutert seine Poetik, und gleich der erste Vers deutet das Filmgenre mit den Mitteln der Punkästhetik um: „ich finde dich zum kotzen“ – kein fulminanter Einstieg, aber ein Kontrast zu den übrigen, genregemäßen Versen über Männer und Frauen, Sex and Crime, die Hydraulik des Citroën, Badewannen voller Schaum, wo sich „er küsste“ auf „die küste“ reimt. Um filmisch seriell, schnell und zeitgemäß locker zu schreiben, wählt Ostermaier – wie schon in seinem Lyrik-Band Autokino (2001) – als Form das Zeugma, die Worteinsparung. In „polar“ klingt das Ergebnis so:

er lächelt die schaltmusik der
überdrehten gänge bis zum ende
der strasse

Diese Lyrik zelebriert die schöne Oberfläche des Film noir und verschreibt sich einer schlaksigen Sachlichkeit. Aber gerade die Form schickt den Leser auch auf eine andere Fährte: Bei zwei Gedichten handelt es sich um Sonette. Sie orientieren sich am Vorbild großer Sonett-Dichter des neunzehnten Jahrhunderts. Der offen ausgestellte Bezug auf den Film noir gibt nur die halbe Wahrheit zu Protokoll, denn die kühle Oberfläche folgt einer symbolistischen Tiefenstruktur. „Le Ciel est mort“ – so und anders lauten die Überschriften der vier Kapitel von Polar. Auf den ersten Blick beschreiben sie typische Szenen: den Anbruch der Nacht im fahlen Licht der Straßenlaternen, Schritte auf dem Trottoir, die einem verbrecherischen Ziel entgegengehen. Doch handelt es sich bei diesen Überschriften um Zitate. Wenn „der Himmel tot ist“, heißt es bei Mallarmé, dann bleibt nur das Nichts. Es wird zum Ausgangspunkt des Schönen; nur das Nichts kann – eventuell – Sinn stiften.
Ostermaiers eindrucksvolles Gedicht „le samouraï“ und seine Variation „tristesse d’été“ nehmen diesen symbolistischen Impuls auf. Wie die übrigen Poeme führt „le samouraï“ in die Szenerie des gleichnamigen Films ein. Bilder und Szenen des Melville-Films werden in schneller Folge aneinandergereiht: das fahle Gesicht Costellos, die Deckenlampe im Verlies der Falschspieler, „das glücksspiel des schlüsselbundes“, mit dem Costello Autos knackt, die Garage, in der er das Nummernschild wechseln lässt, der Lärm im Hintergrund, als er mit dem Revolver auf die Pianistin zielt – und von der Polizei erschossen wird. Diesmal war sein Revolver gar nicht geladen: Der Samurai hat sich um seiner Ehre willen gewissermaßen selbst getötet – „ihm fehlt herz“, so deutet Ostermaiers Sprecher an, verzichtet aber auf eine Deutung der umstrittenen Szene.
„Tristesse d’été“ hingegen hält ein Erklärungsmodell bereit. Der Text fragt nach der Motivation des Auftragsmörders – mit Blick auf den Kanarienvogel, der Costello durch aufgeregtes Piepen vor den Polizeispitzeln warnt, und auf Stéphane Mallarmés gleichnamiges Sonett. Ostermaiers Traurigkeits-Sonett erweist sich als radikale, für diesen Band zentrale Neufassung des Mallarmé-Textes. „Von neuem ohne aufschub sich ins verderben stürzen“, heißt es gleich im ersten Vers, „man hat es eilig mit dem leben der tod zahlt aus in bar“, vermerkt die letzte Strophe.
Sinnlosigkeit und Todestrieb unterlegen dem Film noir ein neo-symbolistisches Drehbuch. Umgekehrt zivilisiert seine graphische Strenge das L’art pour l’art. Ostermaier folgt dem lyrischen Ehrenkodex der Dandys des Fin de siècle und erfüllt zugleich die Pflichten des Samurai Costello: abtauchen, Spuren verwischen, eine gepflegte Oberfläche zur Schau stellen. Nur eines ist in diesem Poesiekrimi sicher: Der Mörder ist immer der Dichter.

Sandra Pott, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.7.2007

Das kalte Blau von Blicken

– Um ganz großes Kino geht es in Albert Ostermaiers Gedichtsammlung Polar, dessen Titel spiegelbildlich zwei Bedeutungen beinhaltet: arktisch, die Polargebiete betreffend und das französische Kino der 60er und 70er Jahre. Unglaublich wie Ostermaiers subtiler Sprachschliff den Angstschweiß seiner Filmhelden in unsere Nase zu lenken vermag. –

Albert Ostermaiers Textgebilde sind Seismographen, die den vielfältigen Erschütterungen im Innern auflauern, sie gierig aufsaugen und den Herzschlägen der Sprache überantworten. Bereits mit der Gedichtsammlung Herz Vers Sagen war ein Programm zu erkennen, das sich den nervösen Zuckungen der Sinnesorgane verpflichtet fühlt und sich nicht scheut, das Herz als klassisches Inventar lyrischen Sprechens zu bedienen. Titel wie fremdkörper hautnah (1997), Heartcore (1999) und Solarplexus (2004) haben dazu beigetragen, das Credo des Autors innerhalb eines Jahrzehnts anschaulich zu machen, ohne dabei den Leser zu schonen.
Denn kalt und reichlich schmerzvoll geht es in Ostermaiers Texten schon zu. Aber – und das mag paradox klingen – auch recht vergnüglich. Wie heißt es im Gedicht „stay“ aus Solarplexus:

die
luft strömt durch meinen
perforierten körper tanzen
tanzen nur mit den lidern

Mit „Solarplexus“, dem „Sonnengeflecht“ des menschlichen Nervensystems, gelang es ihm die oft geschmähte Herzmetapher ideenreich zu erweitern. Sein Blick macht sich diese Errungenschaft fortan zu nutze und nistet sich genau da ein, wo sich Übergänge und Grenzen andeuten und das Herz zu schmerzen beginnt.
In der vorliegenden Gedichtsammlung Polar widmet sich der 1967 geborene und 2003 mit dem Kleistpreis geehrte Autor einer weiteren Königsdisziplin: dem Auge. Bereits in Autokino von 2001 verschränkte sich der Bereich dieses Sinnesorgans mit dem der Grenze. Das Autokino als Grenzstation wird zur Arena, in der das Leben als „kleiner billiger film“ aufscheint, der nicht mehr „nachsynchronisiert“ werden muss. Um ganz großes Kino geht es indessen in Polar, dessen Titel spiegelbildlich zwei Bedeutungen beinhaltet: arktisch, die Polargebiete betreffend und das französische Kino der 60er und 70er Jahre.
Bei aller Eiseskälte ein Traumkapitel in der Nachkriegsgeschichte des Films, das mit Namen wie Jean-Pierre Melville und Alan Delon verbunden ist. So spielen Ostermaiers Texte mit unvergesslichen Szenen, Kameraeinstellungen, deren Dauer heute das Budget jeden Regisseurs strapazieren würde und mit dem kalten Blau von Blicken, für die nicht allein Delon verantwortlich zu machen ist. Wenngleich dieser stets einen Augen-Blick zu lang in die Kamera sah, so dass sich im Gedicht „le samouraï“ selbst die Glühbirne „an die kälte seiner augen“ vergeudet.
Unglaublich wie Ostermaiers subtiler Sprachschliff den Angstschweiß seiner Filmhelden in unsere Nase zu lenken vermag – „die angst lässt sich nicht aus den / hemden waschen ihr geruch bleibt am / kragen hängen sie steigt knopf für knopf / bis unter das kinn sein kehlkopf schmerzt“ („un flic et son étoile“) – und wie die Kälte langsam in uns aufsteigt, wenn da steht:

ich seh den schnee wie er in deinen
augen fällt wie mein spiegelbild
vereist in deinen blicken
(„la sirène“).

Flankiert wird Ostermaiers grandiose Gedichtsammlung von filmischen Abbildungen, die motivische Klassiker zeigen sowie einem Nachwort, das demjenigen auf die Sprünge hilft, der das französische Kino aus den Augen verloren hat.

Carola Wiemers, Deutschlandfunk Kultur, 7.2.2006

„die laternen zünden die / schritte der nacht“

– Ostermaiers Film Noir Szenerie zwischen zwei Buchdeckeln. –

sie hat keine miene verzogen
die reglosigkeit ihrer leicht
geöffneten geschwungenen lippen
als müsste jedes wort seine flügel
zwischen ihnen ausbreiten und
warte nur auf einen hauch
aus ihren lungen

Albert Ostermaier gehört zu den wichtigsten und produktivsten deutschen Dichtern der heutigen Zeit. Dabei hebt er sich mit seinen meist großformatigen Bänden auf äußert sympathische Weise von vielem anderen ab, vor allem thematisch.
In diesem Band geht es gezielt und allein um das frz. Kino der 60er und frühen 70er Jahre; Alain Delon, Louis Malle, Jean-Paul Bellmondo und ihre Krimis, Thriller und die Geschichten von Aussteigern und Verlorenen in der Spätzeit und Hochzeit des frz. Film Noir, eine Filmart, für die die Franzosen das zugleich gefühlsintensive und gefühlskalte (also perfekte) Wort „polar“ prägten.

ein vages gelände brachland
der festgefahrene schnee
die zugefrorenen spuren
die multiplizierte einsamkeit
der hochhausetagen die kälte
des betons gegen die kältes des
windes

Was machen diese sprödklaren Filme mit uns? Wenn Ostermaier über Alain Delon in Der eiskalte Engel schreibt „die/ glühbirne vergeudet sich an die / kälte seiner augen“, was entsteht da in uns?… Es ist die Essenz des Film Noir, diese halbfiktive, durch die Lammelen der Jalousie hereinfallende Nacht, gemischt mit Laternenlicht und kleinen Zigarettenglühpunkten in dem Nieseln und der schwarzen Asphaltregenschwärze. Dieses Gefühl versucht Ostermaier in seinen fließenden Gedichten, ohne Punkt und Komma, einzufangen, zu inhalieren und uns den Geruch und das verlorene dieser Augenblicke wieder erleben zu lassen. Als Überschriften und Anstöße zu seinen 43 auf und ab schwankenden, wie ein Filmband über den Projektor ablaufenden Nachempfindungen dienen 43 Filmtitel der Filmepoche, in der die Männer hart und kalt und die Frauen blass und noch stummer als die Männer waren.

die beiden männer wer sind sie
vielleicht in einem moment berühren
sie sich an ihren rändern und
das bild der nacht entwickelt sich
in ihrer dunkelkammer am ufer
des flusses vor dem ersten klaren
licht des morgens der es auslöschen
wird und in das leere album des tages
kleben mit einer träne auf dem
rücken des papiers

die
nacht ist eingebrochen in die
zuversicht der schwerelosen
stunden des nachmittags der
mond liegt wie eine mündung
auf die wand aus schwärze
gestützt die vögel schlafen in
ihren käfigen vor den fenstern
und verlieren unter ihren flügeln
die erinnerung an das fliegen

Ostermaier ist ein beeindruckendes Experiment mit Sprache und Wahrnehmung geglückt. Es sind nur Momente, aber in diesen Momenten, wenn man 5–6 Zeilen lang durch das Geschehen fließt, wie ein Wassertropfen entlang des Eiszapfens, dann kann man nur von großer Dichtung sprechen, eine Dichtung, die ihrer Diktion gerecht wird und erreicht, was sie erreichen wollte.

seine taschen sind leer
sein kopf voller bilder und drinks
ihre tränen wie eine laufmasche
im gesicht ihrer augen

dein bauchnabel ist das loch
in meinem herzen sonst liefe es
über ins leere und bliebe dort stehn
wie ein träumer den sein traum
vergessen hat

was
willst du glückliche liebe gibt
es nicht sie keimt aus den
leichenknöcheln und blüht in
der erinnerung des verlorenen du
trägst sie wie ein gift in dir das
nicht wirkt

Ich kann diesen Band nur jedem Empfehlen der Dichtung gerne als „Erleben erlebt“ und der sich auch ungezügelt in das geschlossene Auge einer solchen Dichtung begeben kann. Die große Kunst eines Gedichts bleibt es letztendlich, die Grenzen wegzuräumen, zwischen sich und dem Leser. Hier gelingt das zwar nur in einem Auf und Ab, aber auch das ist eine einzigartige, eindringliche Erfahrung. Chapeau, Herr Ostermaier!

bis
die tür aufsprang und alles zu ihm
kam als träumte er noch immer
zusammengekrümmt wie ein embryo
auf seiner schlafcouch leichenblass
wie das mädchen im türrahmen das
vor ihm stand und zu glühen schien
im gegenlicht des treppenhauses
bis sie fiel

P.S.: Außer den Gedichten sind auch noch zu jedem der vier Teile vier schwarz-weiß Fotos doppelseitig abgedruckt, die Szenen aus Filmen zeigen oder Kinokarten etc.

Timo, amazon.de, 30.10.2012

 

 

Albert Ostermaier spricht über den Begriff „Lyrik“

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + InstagramKLG+ IMDb +
PIAWeltpreis + Interview
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA +
Autorenarchiv Susanne SchleyerBrigitte Friedrich Autorenfotos

 

Albert Ostermaier liest sein Gedicht Zählerstände.

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