– Zu Bertolt Brechts Gedicht „Der Radwechsel“ aus Bertolt Brecht: Die Gedichte. –
BERTOLT BRECHT
Der Radwechsel
Ich sitze am Straßenhang.
Der Fahrer wechselt das Rad.
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den Radwechsel
Mit Ungeduld?
Da sitzt es, das lyrische Ich, wo es sich am sichersten fühlt, am Straßenhang, wo es abschüssig ist, wo alles ins Rutschen kommen kann, wo jeder Halt nur ein vorübergehender ist. Über sich die Straße, nichts als eine Zeile, die einen trägt, von der man aber auch abkommen, auf der man ins Schleudern geraten kann, eine Straße voller Bremsspuren, Linien, Begrenzungen, Verbotsschildern, Orte miteinander verbindend. Am Rand, wo vielleicht einer verblutet sein mag, wo ein alter Fuchs es gerade noch schaffte, quer zu gehen und aus den Scheinwerferkegeln zu fliehen, sitzt man mit dem Rücken zur Straße. Wohin schaut man dann? In eine Richtung, in welche die Straße nicht führt, vielleicht nach innen, auf Abgründe, dass einem schwindelt. Wer ist der Fahrer, der das Rad wechselt? Warum fuhr, der dort sitzt, nicht selbst? Warum war er der Beifahrer? Warum hilft er nicht, den Wagen zu heben? Warum bleibt er im Abseits?
Wer dichtet, dichtet nicht allein, wie abgefahren das auch klingen mag. Da ist ein Ich, das macht die Drecksarbeit, legt Hand an, ist ein Arbeiter, ein Fahrer, und das andere Ich schaut und will grenzenlos sein. Wer bestimmt das Ziel, der Fahrer oder der Sitzende? Oder kann der Dichter nur das dichten, was ihm die Zeit, die Geschichte erlaubt, ist er von deren Fahrplan abhängig und dem, was oder wer zeigt, wo es langgeht? Und was ist das für ein Rad? Das Rad, das, wer dichtet, immer wieder neu erfindet?
Das Rad, an dem alle drehen? Das Ersatzrad, mit dem man zur nächsten Werkstatt fahren kann? Das lyrische Ich ist nicht gern, wo es herkommt, auch nicht, wo es hinfährt. Eine Epipher, deren Vorsilben variieren im ,hin‘ und ,her‘. Aber das Hin-und-Her heißt auch, dass es vor- und zurückgeht, dass eine Dialektik angesagt ist, dass es ein Schlagabtausch ist, dass man nicht vorankommt, außer: Man geht zu Boden oder wählt einen dritten Weg.
Wenn es so sitzt, das lyrische Ich, mit seinen freirhythmischen Versen, die für Brecht immer, was es viel besser trifft, ,eigenrhythmische‘ waren, dann ist es voller Ruheenergie und bei sich, oder wird es gequält von der Bewegungslosigkeit, dem Stillhaltenmüssen, obwohl es doch so vieles zu verändern gibt und gilt? Und wie kann er den Radwechsel sehen, wenn er am Hang sitzt? Sieht er ihn mit seinem dichtenden Auge? Wechselt er also doch auch das Rad? Und warum kann er plötzlich sehen, wie sich alles dreht? Sieht er etwas, was er vorher nicht sah, als er im Wagen saß und die Straßenhänge an ihm vorbeischossen? Ist der Dichter nicht am liebsten im Dazwischen, im Unterwegssein, an der Schreibmaschine, die sein Wagen oder bei Brecht besser: Sportwagen ist? Und die letzte Zeile, ist sie nicht auch ein Hin-und-Her? Sieht er den Radwechsel wirklich mit Ungeduld? Oder ist es eine andere Form der Ungeduld, mit der er sieht, was er sieht oder sehen muss? Was war eigentlich mit diesem Rad? Hatte es einen Platten, war ein Nagel drin, gab es einen Unfall, fuhr es in eine Scherbe? Oder war es das sich drehende Rad der Geschichte und aller Geschichten? Und dreht es sich besser und weiter als neues Rad? Bleibt sich alles treu in der Veränderung? Oder verändert sich nichts, weil alle Straßen letztlich zum gleichen Ziel führen? Wo die Engel der Hollywoodelegie warten mit ihren „kleinen Fläschchen mit Geschlechtsgeruch“ und nur die Hoffnung der Erfüllung des einstigen Ratschlags aus dem „Lesebuch für Städtebewohner“ bleibt:
Verwisch die Spuren!
Albert Ostermaier, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Achtunddreißigster Band, Insel Verlag, 2015
Schreibe einen Kommentar