Albert von Schirnding: Zu Günter Eichs Gedicht „Augenblick im Juni“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Günter Eichs Gedicht „Augenblick im Juni“ aus Günter Eich: Botschaften des Regens. –

 

 

 

 

GÜNTER EICH

Augenblick im Juni

Wenn das Fenster geöffnet ist,
Vergänglichkeit mit dem Winde hereinweht,
mit letzten Blütenblättern der roten Kastanie
und dem Walzer „Faszination“
von neunzehnhundertundvier,
wenn das Fenster geöffnet ist
und den Blick freigibt auf Floßhafen und Stapelholz,
das immer bewegte Blattgewirk der Akazie, –
wie ein Todesurteil ist der Gedanke an dich.
Wer wird deine Brust küssen
und deine geflüsterten Worte kennen?

Wenn das Fenster geöffnet ist
und das Grauen der Erde hereinweht –
Das Kind mit zwei Köpfen,
– während der eine schläft, schreit der andere –
es schreit über die Welt hin
und erfüllt die Ohren meiner Liebe mit Entsetzen.
(Man sagt, die Mißgeburten nähmen seit Hiroshima zu.)

Wenn das Fenster geöffnet ist, gedenke ich derer,
die sich liebten im Jahre neunzehnhundertundvier
und der Menschen des Jahres dreitausend,
zahnlos, haarlos.

Wem gibst du den zerrinnenden Blick, der einst mein war?
Unser Leben, es fähret schnell dahin als flögen wir
davon, und in den Abgründen wohnt verborgen das Glück.

 

Faszination

Begierig empfingen wir Zwanzigjährigen die lyrischen „Botschaften der Verzweiflung“, der „Armut“, des „Vorwurfs“, die Günter Eich 1955 in seinem Band Botschaften des Regens veröffentlichte. Freudige Nachrichten waren nicht gefragt, dem Positiven in der Dichtung galt unsere Verachtung. Natürlich suchten wir das Glück, aber es glänzte um so verlockender, je verborgener es in den Abgründen wohnte. Die letzte Zeile des Gedichts „Augenblick im Juni“ traf den Nerv meiner Lebensempfindung.
Daß Hiroshima vorkam und es trotzdem ein Liebesgedicht war, machte es besonders anziehend. Ich wollte einsam und, angeweht vom Grauen der Erde, unglücklich sein, und zugleich sehnte ich mich nach der großen Liebe. Liebe als Passion. Das Du ließ freilich auf sich warten, und auch im Gedicht kommt das Du erst spät, nach einem acht Zeilen umfassenden Wenn-Satz:

wie ein Todesurteil ist der Gedanke an dich.

In ihrer Behauptungs-Lakonik, die keinen Einspruch zuläßt, hat die Zeile selbst die Form eines Todesurteils. Unwiderruflich sind Liebe, Schuld und Tod in ihr verbunden. Ein Gedicht für Zwanzigjährige, und doch gehörte sein Autor der Generation der Eltern an. Die Walzerklänge, die mit dem Duft von Kastanienblüten und dem Blätterspiel einer vom Wind bewegten Akazie durch das geöffnete Fenster dringen, erinnern an den Anfang des Jahrhunderts: Der Schlager „Faszination“ eroberte das Europa um 1900.
Das Aroma einer Epoche steigt herauf, in der Fin de siècle-Müdigkeit und Fortschrittsstimmung, Kitsch und Kunst eine faszinierende Mischung eingegangen sind. Günter Eich ist 1907 geboren, und der da um die Mitte des Jahrhunderts am Fenster sitzt, verdankt sein Leben der längst verwehten Liebe derer, „die sich liebten im Jahre neunzehnhundertundvier“.
Das Kind ist erwachsen geworden, die Erinnerung geht über in den „Gedanken an dich“. Man erwartet etwas wie Wiederkehr im Vergehen der Zeit: Immer wieder ist Juni. Aber es kommt anders. Die kreisende Bewegung des Walzers bricht ab, und auf die Atempause, die nach dem langen Nebensatz fällig ist, folgt Endgültiges. Nach zwei Weltkriegen und Hiroshima ist Liebe, wie sie den Eltern noch möglich war, zum Anachronismus geworden.
In der Perspektive des Juni-Augenblicks wird eine ungeheure Zeitspanne sichtbar, zu der sich die Gegenwart in kein Verhältnis mehr bringen läßt: Der Erinnerung an die Liebenden vom Anfang des Jahrhunderts steht der Gedanke an die Menschen des Jahres dreitausend gegenüber. Die durch den Fensterausschnitt vermittelten Sinneseindrücke weichen dem Bild des doppelköpfigen Kindes; in seinem Schreien kündigt sich eine entsetzenerregende Liebeszukunft an. Mit der Liebe stirbt auch das Liebesgedicht. Seine Strophen werden immer kürzer, es verschlägt dem Dichter die Sprache. Erst die letzte Strophe mit ihrem Bibelzitat nimmt die tödliche Botschaft um eine Spur zurück.
Wir lasen Günter Eichs Gedichte nicht wie die eines Angehörigen der Eltern-Generation, sondern wie die eines älteren Bruders. Inzwischen ist die Faszination, die von diesem „Augenblick im Juni“ ausging, wohl ihrerseits so historisch geworden wie die des Walzers, den das Gedicht zitiert. Aber indem es die Erinnerung an den Zauber beschwört, der den Zwanzigjährigen gebannt hat, erfüllt es das Ohr des Lesenden noch immer mit abgründigem Glück.

Albert von Schirndingaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfzehnter Band, Insel Verlag, 1992

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