DIE KANALBAUER IM MARS
Auf euerm acherontischen Stern
Ihr in Wasserstiefeln von Dreimannshöhe,
Pioniere im Mutterleib, mit der Zugabe
Einer Schlammschaufel am Rücken
Geboren.
Schwimmen die Kontinente
Euch auf den Wellen davon,
Ihr phählt
Späne von Urwald, Masten aus Schachtelhalm,
Und die Saurier tauchen euch zwischen die Kniee?
Teilt sich die Sintflut,
Sehn wir in Tiefen von Dampf
Meerstraßengarten,
Schnalzt der Morast
Und knarrt’s von der bangen Verschalung.
Als führen ins Erdgeschoß
Riesiger Warenhäuser
Überseedampfer.
Nasses Aquarium,
Dunkelt das Glas eurer Städte.
Wassermänner, Phahlbauer,
Schichtet ihr Metropolen spiegelnder Wolkenkratzer,
Neptunische Knechte
Stechen die Spargeln im Sumpf
Und aus rieselndem Wald des Salates.
Wie auf der Scheibe der Finger des Knäbleins
Zeichnet ihr naß in naß
Kosmische Geometrien, leitet ihr Ozeane
Dahin und daher über
Dunkel ertrunkenen Globus.
„Auch für mich ist es ausgemacht: nur Kunst ist Weltschichte. Ich döse hier auf Wachtposten (Gewehr I, am Fuße des Gonzen, Passatiwand, von Sargans Richtung Cantine Passatiwand in ¼ Std. zu erreichen, Gruppe Gefr. Sutter) Es wäre nett, einmal wieder zu plaudern…“ Feldpost: Ter. Füs. Kp. III/185 Kdo. Zg. 27. Mai 1940. Schreiber dieser austauschheischenden Zeilen ist der Landsturmjäger Füsilier Albin Huldreich Zollinger, im Zivilstand Schulmeister im Zürcher Arbeitervorort Oerlikon und zugleich Schweizer Dichter. Ihr Empfänger: Traugott Vogel, hühnenhafter Lehrer- und Schriftstellerkollege, nur um Monate älter, aber in der schweren Rolle des väterlichen Ohrs für alle Herzenskümmernisse des kleingewachsenen, zierlichen Freundes. Vogel, den Zollinger 1929 im Umkreis des Literarischen Klubs kennenlernte, bot ihm über Jahre das Seelennest und wurde ihm so zum wichtigsten Vertrauten, dem er sich mündlich oder in Briefen offenbarte. Diese Briefe, neben denen an seine Frau und den Schriftsteller Ludwig Hohl, gehören zu den wichtigsten Quellen über Leben und Denken Zollingers, dessen Biographie in ihrer inneren wie äußeren Entwicklung als zeittypisch für die Situation des Schriftstellers in der Schweiz der dreißiger Jahre gilt. Die dreißiger Jahre sind denn auch das entscheidende Jahrzehnt im Leben Albin Zollingers, der trotz anfänglicher und wiederholt nachfolgender erzählerischer Produktivität sein wohl Bestes als Autor von vier Gedichtbänden leistete, die zwischen 1933 und 1939 erschienen. Das scheint eine extrem kurze Spanne, selbst wenn man bedenkt, daß Dichter wie Arthur Rimbaud oder Georg Heym ihr Wesentliches innerhalb von vier beziehungsweise zwei Jahren herausschleuderten. Wie deren jähes Leben ist Zollingers vergleichsweise stille, ereignisarme Existenz trotzdem reich an Brüchen und Zusammenbrüchen.
Dem zweitgeborenen von drei Söhnen eines Metallarbeiters aus dem Zürcher Oberland wurde 1895 an seiner Wiege kein poetisch Zukunftslied gesungen. Gewiß, sein Vater, der lungenkranke Bauernsohn Alfred Zollinger, frönte als junger Mensch ausgeprägt musischen Neigungen, stellte diese aber wie seinen ursprünglichen Lithographenberufswunsch zugunsten der brotträchtigeren Lehre eines Eisendrehers zurück. Seine schöpferische Ader floß in Verbesserungsvorschläge und in selbstgebaute Photoapparate, nach deren Lichtbildern er feierabends und sonntags malte, wie auch nach Exponaten der heimischen Museen. Vom enggewordenen väterlichen Erbbauernhof zog er in den Industrieort Rüti, wo er in der Fabrik seine Frau kennenlernte. Gewillt, die Launen der so gegensätzlichen, koboldischen, extrovertierten, humorvollen und lebenshungrigen Ida Affeltranger zu ertragen, der Literatur und Kunst wenig bedeuteten, die lieber im Garten oder bei Bauern auf dem Felde arbeitete und sich in der Ehe mit dem stillen, in sich zurückgezogenen Mann zunehmend eingesperrt fühlte, ertrug er auch ihre Ausbrüche. Während der älteste und der jüngste Sohn ganz nach der Mutter kamen, lese- und schreibfaul blieben, das Leben praktisch zu meistern suchten und früh der Schweiz den Rücken kehrten, um in Amerika ihr Glück zu machen, geriet das Siebenmonatskind Albin nicht zum siegessicheren Draufgänger. Eher glich es einem in sich gekehrten, furchtsamen Stubenhocker, der mit Zeichenstift, Papier und Büchern Umgang pflegte. Sinnliche Eindrücke gruben sich dem empfindsamen Jungen aber doch überreich ein, besonders bei den zahlreichen Besuchen im Bauernhaus des Großvaters Kaspar Zollinger bei Unterottikon. In einem Brief an Rudolf Hägni beschreibt er das Zürcher Oberland, seine zwischen den waldigen Höhenzügen des Pfannenstiels und des Bachtels gelegene Geburtslandschaft, als eine „schöne, etwas nach der Rückseite der Welt sich weglehnende Landschaft…, die mein Inneres, also die Art meines Künstlertums, gemacht hat. Ich würde mich getrauen, wesentliche Teile meines Seelischen in Parallele mit meinet Heimat zu setzen – wobei ich mich höchstens zu fragen hätte, ob dieses Land mich gefärbt oder ob ein und derselbe Urgrund uns beide bedingt hat. An meine Kindheit zurückdenkend, bin ich mir allzeit bewußt, daß ich nur damals eigentlich, im Innern so richtig lebte, alles erlebte, was jetzt zur Gestaltung drängt.“ Im Großvaterhaus mit der vergrasenden Weinbergtreppe befand sich die Holzkammer mit dem gewürfelten Bettzeug, hier „verhüllte das Dunkel mich in seine herbsüße Phloxluft, ein laufender Brunnen plauderte, im Stalle murrten die Kühe mit ihrem wohligen Laut“. Diese Erinnerungen an eine vollkommen schöne, weil in sich ruhende Bauernwelt, in deren gleichmäßigem Rhythmus der Atem der Jahrhunderte spürbar war, bieten den leuchtenden Grund seines Schreibens. Aus ihm bezieht er seine Kraft. Nicht vergessen werden darf in diesem Zusammenhang ein anderes großes Erlebnis: die Auswanderung der Familie nach Argentinien im Jahre 1903, die zwar Episode blieb – man kehrte in die Schweiz zurück −, jedoch eine von nahezu fünf Jahren. Besserer Verdienst und selbständige Stellung bewogen den Vater. Die Mutter lockte das Abenteuer. So kam es, daß der Junge Salzwasser eher kennenlernte als Alpengras. Die Überfahrt, dritter Klasse auf dem Zwischendeck von Boulogne aus, inmitten Hunderter glücksuchender Italiener, blieb unauslöschlich wie die angelaufenen afrikanischen und südamerikanischen Häfen, wie der Ozean, die Albatrosse. Da die Farm, auf der man schließlich unterkam, in der baumlosen, flachen Unendlichkeit der Pampa mehr als drei Stunden vom nächsten Dorf entfernt lag, besuchten die Kinder keine Schule. In Koniferenduft, unter südlichem Sternenhimmel schliefen sie im Freien auf einem Feld. Die Tage gehörten dem Abenteuer. Die Knaben verwilderten zusehends, wozu das wiederholte wochenlange Fortbleiben der liebesdurstigen Mutter erheblich beitrug. Es verfinsterte alles Licht und belastete die Mutter-Sohn-Beziehung lebenslang. Die 1907 ohne ihren ältesten Sohn zurückkehrende Familie konnte ihren alten Platz wieder einnehmen, und auch Albin mußte dort anfangen, wo er geendet hatte: in der 3. Primarklasse. Auffallende Leistungen befähigten ihn, die Lücke zu schließen und seine Altersgefährten, klassenüberspringend, scheinbar wieder einzuholen.
Der Lehrerberuf bot eine der wenigen Aufstiegschancen, die begabten Kindern aus unteren Schichten offenstanden, und Zollinger ergriff sie – obwohl er Zeichenlehrer werden wollte – zunächst durch die Ausbildung zum Primarlehrer am Seminar in Küsnacht. Wirklich werden aber wollte er Künstler. Den Wechsel vom Darstellerischen zum Sprachgestalterischen indessen besiegelte eine durch glückliche Umstände vermittelte Publikation der kleinen, handlungsarmen Geschichte „Die Gemäldegalerie“ in der Zeitschrift Die Schweiz. Dieses Erlebnis bedeutete für den Komplexbeschwerten, unter seinem „Affengesicht“, seinem „Babelturm von Hals“ Leidenden die Annahme seiner ganzen Person und öffnete in ihm Schleusentore. Auch hatte er nun ein Tröpfchen Ruhm geleckt und einen Hauch Lorbeer eingesogen. Die Rekrutenschule, noch als Seminarist, und die nach dem Examen im Frühjahr 1916 folgende Einberufung in das für seinen preußischen Drill bekannte Schützenbataillon 6 zur Grenzwache im Juragebirge sind bittere Pillen für den Träumer, der sich wohl unter dem Einfluß Henri Dunants und Berta von Suttners sowie des Theologen Leonhard Ragaz zu einem sozial-ethisch begründeten Pazifismus bekannte. Die grundsätzliche Infragestellung seines mehrfach mehrmonatigen Militärdienstes mit seinem Zwang zu Unterordnung und Kameraderie brachte ihn nicht davon ab, seine Pflicht zu erfüllen. Dennoch hielt sich das Gerücht, er habe eines Tages sein Gewehr an einem Rinnstein zerschlagen. Zwischendurch immer wieder Aushilfslehrer in verschiedenen Orten, auch arbeitslos, dauert es bis 1923, daß er die Wahl für eine Lehrerstelle in Oerlikon gewinnt. Nun in gesicherter Position, gelingt ihm bald die zweite Stufe seines sozialen Aufstiegs: die Ungleichenheirat mit Heidi Senn, der bei einem Konzertbesuch kennengelernten Tochter eines Druckereibesitzers aus Zürich-Rüschlikon. „Imago“ war zehn Jahre jünger und entsprach dem Bild, das er sich längst gemacht hatte, als er 1927 mit Lehrerkollegen nach Griechenland fuhr, scherzhaft, um eine Frau zu suchen: sie war dunkelhaarig, braunäugig, sanft, etwas unentschieden, mit einem Anflug von Melancholie und gescheitelt wie eine Madonna. Eine Aura des Mütterlich-Weichen umgab sie. Fußbank zur Besteigung des Throns gehobener Bürgerlichkeit wurde ihm sein Dichtertum. Besonders die Mutter, Gertrud Senn-Blumer, eine warmherzige, tatkräftige Frau, förderte die Liaison nach Kräften, da sie einen Künstlerin der Familie zur Bestätigung von deren Geistigkeit wünschte, sie durch ihn aufgewertet sah. Der raschen Heirat noch im Jahr der Griechenlandreise folgte nur ein kurzes, von Beginn an überschattetes Glück. Denn Heidi Senn liebte Albin Zollinger nicht eigentlich. Seinem Rausch über das Späterrungene – Zollinger hatte bis zu seinem zweiunddreißigsten Lebensjahr eine Frau nicht einmal geküßt – folgte ein langer Jammer, freilich unterbrochen durch immer wieder allzu bereitwillig genährte Hoffnung und Momente zurückertrotzter Seligkeit. Aber die wechselseitige Enttäuschung, jeder der beiden hatte in dem andern den starken Partner gesucht, den Baumstamm, aus dem er wie eine Mistel Kraft ziehen wollte, und unterschiedlicher Lebensanspruch machen Zollinger bald zum Bajazzo, während seine Frau die männlichere Brust findet. Zollingers Ringen, ausgedrückt in Briefen überschwenglichster Verehrung und heftigster Anklage, vermengt mit Selbstanklage, Selbstdemütigung, übrigens stärker als in den Gedichten, mündet 1935 in die Scheidung, die als Prozeß der Loslösung der Frau schon vor der Hochzeit eingesetzt hatte.
Was im äußeren Leben noch folgt, ist eine Café-Boheme im „Neumann“, im „Terrasse“, im „Select“, ist der unstete Wechsel von Wohnquartier zu Wohnquartier (Zollinger brachte es zwischen 1919 und 1940 auf 14 Adressen), ist ein in der zunehmenden Politisierung des öffentlichen Lebens wachsender Freundeskreis, den er vor allem in den achtzehn Monaten seiner Mitredaktion der Monatsschrift Die Zeit gewann, welche leider nicht den erhofften Abonnentenkreis findet und vom Verlag eingestellt wird, ist schließlich, entgegen aller erklärten Absicht, ein zweites Kind mit einer zweiten Frau, der Serviererin Bertha Fay, die hat, was Heidi Senn an Imago fehlte: sie ist Deutsche. In dem ihm verbleibenden, von Aktivdienst unterbrochenen Jahr schenkt sie dem von den Furien der Geschichte und der Kunst Gehetzten noch einmal etwas wie Geborgenheit und eben den „Baumstammhalter“ Kaspar Matthias.
So stark Zollingers Politisierung durch die Zuspitzung der europäischen, auch die gebirgsgeschirmte Schweiz nicht verschonenden Widersprüche wurde, seine Dichtung (im Gegensatz zu den Romanen, in denen er Zeitgeschichte aufarbeitete) blieb eigentümlich frei von ihr. Abgesehen von freilich gewichtigen Ausnahmen wie „Granatenplantage 1935“ (veröffentlicht im Volksrecht, Zürich; 10. August 1935), „Lied vom Morgarien“ (Reaktion auf den Anschluß Österreichs, Sonntagsbeilage der Nationalzeitung, Basel, 27. März 1938) und „Europäische Dämmerung“ (eine kontinentale Untergangsvision, Gedichtband Stille des Herbstes, 1939) findet sich kaum deutlicher Zeitbezug in den Zollingerschen Gedichten; obwohl sie, ungeachtet weniger Vorläufer, im Jahrzehnt der Faschisierung Italiens, Deutschlands und durch den Krieg fast ganz Europas entstanden und im Druck erschienen. Das deutet auf eine konzeptionelle Auffassung vom Wesen der Dichtung hin. Denn daß Zollinger nicht blind war für die politischen Ereignisse, zeigt 1936 im Rathaussaal von Zürich sein mutiger Versangriff gegen Mussolinis Abessinienkrieg, zeigt seine im August 1937 erscheinende Zeit-Sondernummer zum Thema „Spanien“, mit der er – durch den Druck von Gedichten Lorcas; Zeichnungen Picassos und Goyas, Interviews mit spanischen Intellektuellen und eigenen Nachdichtungen – das moralische Gewicht der Volksfront heben, das angefeindete Ansehen schweizerischer Spanienfahrer und ihrer Sympathisanten (Hans Mühlestein z.B.) wiederherstellen wollte, zeigen verschiedene andere Anlässe. Die Dichtung, mit der Kindheit als ihrem „Erlebnisgrund par excellence“, hielt er für das tiefinnerste, autochthone Reich menschlichen Erlebens, das er der Tagespolitik nicht öffnen mochte, weil diese nicht über solche Seelenverwurzelung verfüge.
Der Charakter der Zollingerschen Dichtung, bereits mit seinem ersten, 1933 in dem schwiegerelterlichen Betrieb gedruckten und vom Rascher-Verlag Zürich übernommenen Lyrikband Gedichte ausgeprägt, ist durch eine Poetik des Schauens gekennzeichnet, eine Schau nach innen, in die Erinnerung, das frühe Erlebnis. Aus diesem Grund steigen Landsonntage auf Wiese und Moor, Phloxduft und Apfelluft, Glockengeläut und Balkenknarren, Radfahrer und Feuersbrünste, Kunsteindrücke aus Museen und von Reisen, das Licht Argentiniens und die Schönheit eines antiken Bruchstücks, ein „Rübenlichtertage“ heraufbeschwörendes Mistfuhrwerk in Oerlikon. Die besten Gedichte haben dieses reine Leuchten, dies erinnernd Visionäre. Zollinger gebietet über sie als ein Missionar des Demissionierten, als Apostel des Posthumen, als Nachträger des inneren Nachlasses. Interessant zu erfahren, daß dieser Sprachmagier seine große Zeit jeweils im Herbst hatte. In seinem Vortrag „Sollte man Dichter sein…“ aus dem Jahre 1939 bekennt er: „Ich habe drei Bändchen Lyrik veröffentlicht, jedes entstand im Laufe eines Herbstes… Es fing eines Tages in mir zu dichten an, Fetzen von Einfall beunruhigten mich: linkisch, in verlernter Hantierung begann ich aufzuschreiben, es gelang schlecht, ich konnte es nicht mehr, ich verzagte, verzichtete, vernichtete. Und hier ist das Bekenntnis meiner Lügenhaftigkeit anzubringen: Ich schrieb da von einem Riede und hatte es doch nur im Schulgarten beobachtet: versamender Schilf. Ein leibhaftiges Wunder, dem ich Zeuge geworden war. Die Seele baute es in eine Landschaft der Erinnerung hinein. Die Seele schaltete und waltete souverän mit den Eindrücken des Unterbewußten, verknüpfte, verpflanzte, Geisterhaftes kristallisierte sich in die Stille aus – heißt das, die Stille, die Umgebung des schöpferischen Prozesses, war die eines zürcherischen Caféhauses; hier ging ich die vierzehn Tage meiner Herbstferien hinein und dichtete von morgens sieben ein Viertel bis zwölf Uhr punkt, wo es dann aus und vorbei und der restliche Tag eine Einöde, Unsinnigkeit und Langeweile war. Ich erschlief mir die Inspiration, die zuverlässig und mit Regelmäßigkeit kam, ich fabrizierte die Gedichte; der Wahrheit die Ehre, ich schrieb eins nachdem andern auf, manchmaI hatte ich die Wahl über ihrer fünfe, die mir einfielen. … Die Ferien gingen zu Ende, ich dichtete weiter in der Straßenbahn, im Wartesaal der SBB, während der schriftlichen Beschäftigung meiner Schulklasse (sagen Sie’s keinem Menschen!) – und plötzlich war es Schluß damit, es kam nichts mehr, das Reservoir hatte sich erschöpft, ich hatte Ruhe, ich wollte nicht unverschämt sein, denn es war eine Seligkeit gewesen.“
Mit dieser Selbstauskunft wird manches transparenter: das Nicht-Vorsätzliche, das Rauschhafte, ganz die Inspiration Abwartende und ihr Ausgelieferte des Zollingerschen Schreibens. Schön für uns Mit- und Nachgeborene, wenn sich diese Eingaben zu einer Welt runden, die reich ist, wie das Innenleben seines Autors, und in der auch seine Außenwelt, die Schweiz des Zürcher Oberlandes, aufersteht und sich zugleich wie die Bernsteinfliege eingegossen sieht für die Zeiten, gefaßt in die schön gearbeiteten Gefäße seiner klaren, ziselierten Sprache, gesteigert von den Klanglaunen eines Begnadeten. Denn ein solcher war Zollinger, trotz unverkennbarer Züge provinzieller Enge. „Die schweizerische Literatur (ich meine den Beitrag zur Literatur, der von schweizerischen Staatsbürgern stammt)“, schreibt Max Frisch, der sechzehn Jahre Jüngere, der Zollinger 28jährig, wenige Tage vor dessen plötzlichem Tod in einer Bauernwirtschaft am oberen Zürichsee erstmals begegnete und ihn trotz getroffener Verabredung nicht mehr wiedersehen konnte, „aus dem Provinzialismus herauszuführen, war Albin Zollinger nicht vergönnt. Das ist die Tatsache, mit der wir uns abzufinden haben. Die Schweiz befand sich im Zustand der sogenannten ,geistigen Landesverteidigung‘. Gefragt war nicht der Dichter, sondern der Schweizerdichter (so geschrieben) und somit etwas, was es nicht geben kann. Zollinger wehrte sich dagegen; aber die geschichtliche Situation, gegen die er sich zu wehren hatte, prägte auch ihn. … Das Gefühl, ,in Watte‘ zu sprechen, bedrückte Albin Zollinger mehr als der Ausfall von Ehrung. Außerhalb war das Hitlerreich, das wir nicht mehr betraten; Albin Zollinger war auf seine Landsleute angewiesen. … Es fehlten die Vergleichsmaßstäbe. Man konnte lesen, gewiß, Kafka, Proust, Joyce, die Brüder Mann, die Angelsachsen, die neuen Franzosen, man konnte alles lesen. Nur: das war ein Jenseits, das antwortete nicht auf die eigene Arbeit, die aktuelle Konfrontation blieb aus, Albin Zollinger war in der Lage eines Emigranten, ohne aber einer zu sein: die Emigranten hatten ein anderes Hinterland, wenn auch zur Zeit ein verlorenes. Berlin, Wien oder Prag, die Schweiz war für sie nur eine Station, nicht ein Maßstab. Albin Zollinger hatte kein anderes Hinterland als das Land, wo er lebte, und dieses erwies sich als zu klein, um ein produktiver Raum zu sein in sich selbst, zu lange schon geschichtslos, um ein wirkliches Abbild der Welt zu liefern. Albin Zollinger lesend nach zwanzig Jahren, wo auch die Schweiz durch die offenen Grenzen wieder etwas anderes ist, können wir uns des schmerzlichen Eindrucks nicht erwehren: Er hat sich kleiner gemacht, um eine Umwelt zu haben, die Umwelt, die damals als einzige zur Verfügung stand, Seine schöne Wildheit, da sie nicht auf Welthaltiges stößt, sondern auf eine Aussparung der Geschichte, wird skurril: seine Leidenschaft deformiert sich auf Lokales, und er versucht, um durch Vision zu entkommen, aus dem Bachtel einen Vesuv zu machen. Ein Dörflein namens Pfyn (ad fines) muß ihm das römische Weltreich einbringen. … Aber der Versuch, die Heimat durch metaphorische Überhöhung zu erweitern, größer zu machen, als sie ist, nicht größer an Landfläche und Heeresstärke natürlich, größer an Weltgegenwart, endet er nicht öfter in einer rührenden Art von Heimatverzücktheit, die provinzlerisch ist, nämlich nicht nachzuvollziehen von irgend jemand, der anderswo in der Welt lebt? Jeder Fleck dieser Erde, ich weiß, kann die Menschenbühne sein. Warum ist es Oerlikon nicht? Der Schnittpunkt mit der Geschichte, in Oerlikon, war die bekannte Waffenfabrik, die sowohl Hitler wie seine Gegner belieferte; dieser Schnittpunkt aber war, mit der Heimatliebe, so wie sie das Gebot der Stunde war, wiederum kaum darzustellen von einem Schriftsteller, der in Oerlikon als Volksschullehrer arbeiten mußte, um leben zu können, Nicht daß es Albin Zollinger an Mut fehlte! Ich glaube es jedenfalls nicht; er hat ihn oft genug gehabt, ohne ein Echo zu haben. Je kleiner der Raum ist, in den man spricht, je abgeschlossener, um so dringender vielleicht will der Schriftsteller schon vom nächsten Nachbarn verstanden werden, zumindest gehört; er wird seiner Umgebung ähnlich gegen seinen Willen; er wird lokal, nicht weil er Lolales darstellt, sondern weil er es selbst mit der Zeit nicht mehr von außen sieht. … Was ich damals aber, als der jüngere Verehrer, über die Kunst dieses Dichters zu sagen versuchte, über seine Sprachkraft, davon habe ich auch nach zwanzig Jahren nichts zurückzunehmen: ,− er öffnet Fenster der Sprache, Ausblicke in das Wunder des Unerwarteten, Urland eines dichterischen Wortes. Auf den Wegen des Niegesagten umschreitet er einsam die Welt, die alte und ewige. Aus dem Jenseits eigener Schau schenkt er uns allen Vertrautes zurück, tiefer beglänzt aus den Klängen eines Unverbrauchten. Seine Sprache zu hören, flößt Mut in die Verzweigungen unsres eigenen Lebens hinein. Ich wüßte nicht, was man Rühmlicheres von einem Dichter sagen könnte!“
Diesen kritischen und würdigenden Worten Max Frischs soll nicht mehr hinzugefügt werden als das tragische Ende: Seit je dazu neigend, sich körperlich und psychisch zu überfordern, befand sich Zollinger in seinen letzten Lebensjahren, seit September 1939 periodisch zum Militärdienst einberufen, in einem Wettlauf mit der Zeit. In den Urlaubsmonaten seinen Schuldienst versehend und täglich bis tief in die Nacht schreibend, glich er jener an beiden Enden angezündeten Kerze. Obwohl er der Geschichte zuvorkommen, noch so viel als möglich aus sich ans Tageslicht bringen wollte, ehe der „Große Schwamm“ auch über die Schweiz hinweggehen würde, dauerte es nicht mehr lange, bis beide Flammen sich berührten. Sein Biograph Felix Müller, den ich öfter zitierte, schildert es so:
Am 7. November 1941 besucht ein Dienstkamerad Zollinger in seiner Oerlikoner Schulstube und findet ihn fahl an seinem Pult sitzend. Schließlich ist er dazu zu bewegen, die letzte Stunde ausfallen zu lassen; auf dem Heimweg kaufen die beiden ein Mittel gegen den Herzkrampf. Zu Hause setzt er sich in einen Lehnstuhl. Zehn Minuten später ist er tot, erst 47 Jahre alt und mit einem Herzen „voll von ungeborenen, werdenden schönen und besseren Dingen!“
„Künstler sind Maurer, die dem Zerfall der Weltkathedrale entgegenarbeiten“, äußerte er bereits 1938 in seinem Vortrag „Geheimnis der Lyrik“. Wie groß zwei Jahre später seine Hoffnung war, daß von dieser etwas übrigbleiben würde, zeigt ein Feldpostbrief an den Freund Traugott Vogel vom 1. Juli 1940:
− ich kann mir nicht helfen, ich habs mit der Hoffnung wie jener Clown mit dem Törchen, das er aufs Podium trug und, überall vor sich aufmachte.
Und einen Monat vorher, in jenem schon eingangs zitierten Brief:
Ich bin heiter. Ich glaube an die Vernichtung sämtlicher Tyrannen. Jetzt und noch lange. Uns kann’s freilich den Kopf kosten.
Richard Pietraß, Nachwort, Mai 1983
ist zu Unrecht einer der vergessenen Autoren unseres Jahrhunderts. Obwohl ihm Anerkennung oder gar Ruhm weitgehend versagt blieben, hat er unaufhörlich geschrieben, auch „gegen die Angst, zu versagen“.
Parallel zu seiner Brotarbeit als Primarlehrer und Redakteur einer Monatszeitschrift hat er vier Romane veröffentlicht, von denen Pfannenstil. Geschichte eines Bildhauers (1940) und Bohnenblust (1942) zu nennen sind.
Die bleibende Leistung Zollingers aber ist zweifellos sein lyrisches Werk, das innerhalb von sechs Jahren (1933–1939) erschienen ist. Neben expressiven, lyrischen, zarten oder assoziativen Naturgedichten sind vor allem seine Weltanschauungsgedichte unerwartet explosiv und modern.
Max Frisch – nicht wie sein Landsmann zur Regionalität verurteilt – sagt über seine Begegnung mit den Büchern Zollingers: „… es sind Funde im Kleinen, Blumen in den Ritzen einer steinernen Alltäglichkeit, dann wieder sind es Visionen einer ganzen Erde… zeitlos. … er öffnet Fenster der Sprache, Ausblick in das Wunder des unerwarteten, Urland des dichterischen Wortes… Seine Sprache zu hören flößt Mut in die Verzweigungen unseres eigenen Lebens hinein. Ich wüßte nicht, was man Rühmlicheres von einem Dichter sagen könnte!“
Verlag Volk und Welt, Begleitzettel, 1984
Adolf Endler: Eine Reihe internationaler Lyrik, Sinn und Form, Heft 4, 1973
DIE KINDERSTADT
Dem Andenken Albin Zollingers
Ich habe im Traum die Stadt
der goldenen Treppen gesehn,
ihren Fluss und die Wälder,
hinter den Wäldern die Seen.
Die Stadt war von Kindern bewohnt,
die gingen zur Schule in Kathedralen,
unter Leuchtern von Bergkristall
sah ich sie schreiben und malen.
Zaubrische Zeichen waren
in ihre Kleider gewirkt,
Ammen in langen Haaren
erschienen als Schatten und Licht.
Im Nebelglanz blieb sie stehn,
Magnet der Räume, des Raums,
fern im Tiefland des Traums
die Kinderstadt, die ich gesehn.
Erika Burkart
Jan Wagner: Lob des Spreewals
Der Tagesspiegel, 11.6.2016
Stefan Sprenger: Dass der Mensch der Stil sein möge
Sprache im technischen Zeitalter, Heft 218, Juni 2016
Richard Pietraß liest am 4.5.2018 für planetlyrik.de die 3 Gedichte „Hundewiese“, „Klausur“ und „Amok“.
Zum Teil eigenwilliger Stil, der den ansonsten detailreichen Text zur anstrengenden Lektüre machte. Daß Zollinger bis zum zweiunddreißigsten Lebensjahr keine Frau küßte, war ja früher, in Zeiten des Anstands, nichts besonderes.
Im Gegenteil, in unserer heutigen verlotterten und liederlichen Zeit “adelt” dies Zollinger viel eher. Davon abgesehen, daß es heute, in Zeiten von “incel” und “MGTOW” genügend Männer gibt, die kaum noch Chancen bei Frauen haben und wie Zollinger leben. Von Mönchen, Nonnen und Priestern, die sich früh für ddn Herrn entschieden, ganz zu schweigen.
Bin selbst bereits älter und habe nie ein Weib berührt, und nicht nur wird das auch nichts mehr, ich möchte in dieser verkommenen Welt auch gar nicht.
Robert Walser, den ich für den größeren Dichter halte, hatte auch nie eine Frau geküßt, wurde sogar 78/79 Jahre und lebte die letzten ~25 Jahre in einer Heilanstalt.
Arme Schweine, keine Frage. Ich hielte in dieser gefallenen Welt keine Sekunde aus, glaubte ich nicht an Christum JEsum. Siehe auch Hamlets brillante Klagen.