DER ZWEIG
Der Zweig zeigt
dem Baum, wohin
er wachsen soll.
Der Baum hat dazu
eine eigene Meinung,
der Zweig –
eine (zw)eigene
Dass Dichten ein Prozess der Verdichtung ist, belegt kaum eine Sprache so deutlich wie die deutsche, die beide Vorgänge mit demselben Etymon fasst. Eine sinnige Koinzidenz und ein Ansporn für den Dichter, seiner poetischen Aufgabe gerecht zu werden.
Der weißrussische Lyriker Ales Rasanaŭ Verfasser von Poemen, „Versetten“, haikuhaften „Punktierungen“ und aphoristischen „Gnomischen Zeichen“, gehört zu den Verdichtungskünstlern der besonderen Art. Seine Poesie strebt genuin zum Wesentlichen, ob sie sich der Wirklichkeit in Gleichnissen, Bildern oder Reflexionen nähert. Solcher Wesentlichkeitsdrang äußert sich ästhetisch in einer komplexen Einfachheit, ethisch in radikaler Ehrlichkeit. Grundiert ist er von einem Seinsverständnis, das Physis und Metaphysik, Dies- und Jenseits, Natur und das Übernatürliche in lebendigem Zusammenhang sieht.
Gerade diese Recherche hat Rasanaŭs Werk zu einem singulären gemacht. Freilich auch zu einem von den Argusaugen der weißrussischen Zensur beargwöhnten und von der offiziellen Kritik heftig umstrittenen. Rasanaŭ unterlag in seiner Heimat jahrelangem Publikationsverbot. Dem Unterdrückungsregime Lukaschenkos entzog er sich, indem er Ende der neunziger Jahre Einladungen nach Deutschland und Österreich folgte. Während Stipendienaufenthalten in Berlin, München, Hannover, Bonn, Graz u.a. richtete er den Blick auf das westliche Leben, ohne seinem inneren Ruf untreu zu werden. Seine Hannoverschen Punktierungen (2002), inspiriert von Alltagsszenen und Landschaftseindrücken, verwandeln das (niedersächsisch) Besondere ins Allgemeine, sind also eben jener Essenz auf der Spur, die den „Universalisten“ Rasanaŭ seit je auszeichnet.
Dennoch hat Rasanaŭ im Ausland einen neuen Schritt getan: nämlich zur deutschen Sprache. Und wie es seine Art ist, öffnete er sich ihr weniger auf der Strasse als lesend und beim Studium der Wörterbücher. Bis eines Tages aus dem passiven Umgang ein aktiver wurde. Im Frühjahr 2003 überraschte Rasanaŭ seine Gastgeber in Graz mit einem deutschsprachigen Manuskript mit dem Titel „Wortdichte“. Es handelte sich dabei um ebenso witzige wie tiefsinnige Worterkundungen, die dem „Rauch“ und dem „Teller“, der „Decke“ und der „Waffe“ zu Leibe rücken als wollte der Weißrusse seiner Gastlandsprache Reverenz erweisen, indem er das Innere ihrer Wörter aufdeckt.
Seinen mehrmonatigen Bonner Aufenthalt (2004–2005) nutzte Rasanaŭ für eine Fortsetzung des Experiments. Mehrere Dutzend neuer Wörter, von „Busch“ bis „Schaufel“, von „Falle“ bis „Wald“ hat er spielerisch in die Mangel genommen, um ihren Buchstaben neue Kombinationen, mithin neue Bedeutungen zu entlocken. Rasanaŭ gebärdet sich als alt-neuer Sprachkabbalist, der die Manipulation mit dem Wortmaterial, mag sie noch so leichtfingrig wirken, als quasimagische Handlung versteht. Nicht Ernst Jandl oder Kurt Schwitters standen seinen Versuchen Pate, sondern der Russe Velimir Chlebnikov (1885–1922), dessen sprachschöpferisches Genie er mehrere Jahre zuvor als Übersetzer ausgelotet hatte. Wie Chlebnikov ist Rasanaŭ auf der Suche nach einer Ursprache. Die Bohrungen im Deutschen stellen also einmal mehr eine „universelle“ Recherche dar.
Doch was ist Oberfläche und was Tiefe, was bloßer Buchstabe und was Sinn? Welche Schürfung bewirkt das Wunder der Evidenz? Der Funke springe von alleine, meint Rasanaŭ, der sein Tun als bescheidenes Exerzitium begreift. Gleichwohl fällt auf, mit welch kalkulierter Sorgfalt er sich schon der graphischen Gestalt der Wörter widmet. Da werden Buchstaben abgetrennt, zu visuellen Zeichen verselbständigt, die ihrerseits sprechen. Die Eingriffe sind diskret und stehen nicht im Zeichen einer Laune (oder eines „Ismus“), sondern einer inneren Notwendigkeit. Wie im Gedicht „Pause“:
Aus
der Spannungsphase
in die Entspannungs-
phase:
Die P
aaaaaus
aaaaaae.
Aus der zerteilten Pause schält sich das Wort „aus“ heraus und erzeugt beim Leser ein zustimmendes Lächeln. Doch geht es Rasanaŭ in seinen lakonischen Versen nicht um Pointen oder Aha-Effekte, vielmehr um – überraschende, heiterernste – Einsicht. Indem er den Worten ihre inhärenten Potenzen entlockt und diese augenscheinlich macht, stellen sich verblüffende Erkenntniszusammenhänge her.
Eines der kürzesten Beispiele gilt der „Geschichte“, die bei Rasanaŭ zu „Gesche / hen / schich / ten“ wird. Auf denkbar schlichte Weise offenbart die Historie so ihren Palimpsestcharakter.
Sinnig auch der Versuch zur „Quelle“:
In der Erde
der Keller,
in dem Keller
die Kelle,
in der Kelle
die Welle:
die Quelle.
Das Titelwort steht hier am Schluss, als letztes Glied einer Folge von assonierenden bzw. sich reimenden Wörtern, die optisch und semantisch eine Vertikale bilden. Wo das unterste Ende oder der Grund erreicht ist, sprudelt die Quelle.
Verknappung gehört für Rasanaŭ zur unbedingten Voraussetzung, um zur Essenz (und Evidenz) vorzudringen. Dennoch gibt es Gedichte, die sich mehr Raum lassen. Sie handeln in der Regel von einem Begriffspaar, d.h. von zwei Dingen, deren Unterschiedlichkeit (ja Gegensätzlichkeit) in litaneihaften Aufzählungen herausgeschält wird. Im Falle von „See und Fluss“ geht das so:
Der See ist Null, der Fluss ist Eins, der
See ist Seher, der Fluss ist Prophet,
der Fluss ist Muster für den Geist,
der See für die Seele, der Fluss geht
gern zu Fuß, der See segelt gern.
Der Fluss ist fleißig, der See ist
wachsam, der Fluss ist von Gewinn
und Verlusten ergriffen, der See
hat sich ins Lesen des Buches der Segen
vertieft, der Fluss strömt zum Schluss
und hat Lust, dorthin zu strömen, der
See verehrt den Anfang und ist in
Selbstbetrachtung versunken…
Im Laufe des Gedichts wachsen den beiden Begriffen immer weitere Bedeutungskreise zu, vor allem über lautverwandte Wörter. See – Seher – Seele – segeln – Segen – Seligkeit versus Fluss – Fuss – fleißig – Schluss – Lust u.a. Kreis und Linie, Bogen und Pfeil verdeutlichen gegen Ende die Spezifika der beiden Gewässer, die ohne einander nicht auskommen können.
Erstaunlich, wie es Ales Rasanaŭ gelingt, auch im Deutschen jenen Ton elementaren Sprechens und weiser Heiterkeit zu erzeugen, der seine weißrussischen Verse prägt. Der Sprachwechsel hat seinen poetischen Fokus nicht verändert: er gilt dem allemal Kern der Dinge und Erscheinungen, dem Innern der Worte selbst. Und da sich diese idealiter natürlich-naturhaft selber „enthüllen“ sollten, versteht Rasanaŭ seine Schürf- und Sezierarbeit als Minimaleingriff, als unangestrengten Versuch, dem „Innewohnenden“ der Worte zum prägnanten Ausdruck zu verhelfen.
Der Dichter als Geburtshelfer? Auch das.
Jedenfalls ist der Blick des Weißrussen Ales Rasanaŭ auf die deutsche Sprache in einer Weise profund und erfrischend, dass man sich dankbar wundern kann.
Ilma Rakusa, Nachwort
Alas Rasanaŭ, seit dem 1. April 2008 Stipendiat des Müllerhaus Literatur und Sprache, ist im kulturfernsehen im netz art-tv mit Ilma Rakusa zu sehen und hören.
Lesen – Spuren: Lesung im Lyrik Kabinett, München am 4.11.2003. Einführung: Urs Engeler. Aufgrund äußerer Umstände konnte Ales Rasanau nicht wie geplant persönlich teilnehmen; Elke Erb liest aus seinen Gedichten.
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