Nächtliche Gassen.
Widerhall
fragt den Hall:
„Wer da?!“
Einen Jahresring durchlaufen die einhundertachtundsechzig Punktierungen von Ales Rasanau, Schriftsteller aus Minsk (Weißrussland). Er nähert sich in leichten, oft nur hingetupften Zeilen seiner Zufluchtsstadt, als ein durch das urbane Gelände gehender, mit dem Fahrrad die Stadt umkreisender Geist. So tastend, wie er der ihm fremden Sprache begegnet, sind auch seine Hannoverblicke, innehaltend hinhörend sein Ohr und vorsichtig kostet die Zunge – diese Wahrnehmungen bringt er mit dem Bleistift auf schmale Papierstreifen in belarus-kyrillisch enggefügte Zeilen. Nicht allein für sich. Er schreibt verblüffend wenig über sich, die eigene Befindlichkeit erscheint ver- und geborgen in den Unterschichten der Punktierungen, mit leisem Humor bisweilen. Es sind auf einen Punkt zusammengedrängte Nachrichten, einfach auf den ersten Blick und dennoch Rätselgebilde, zu entschlüsseln. Punktierungen markieren sichtbar die Oberfläche, dringen in Tiefe, schließen und erschließen, lösen, richtig plaziert, sogar Heilungsprozesse aus. In der Dichtung wirkt das in glücklichen Fällen doppelseitig, dann durchdringen Punktierungen beide, den Dichter und den Leser. Die Hannoverschen Punktierungen sind ein zwiefaches Geschenk, für den Gast und für den Gastgeber. Es ist der Dank des Dichters für den kleinen Aufenthalt: ihm und der weißrussischen Sprache einen geschützten Ort gegeben zu haben mit dem Hannah Arendt Stipendium. So erscheinen diese lyrischen Exerzitien des in seiner (sprachlichen) Existenz Bedrohten, russisch Bevormundeten, zweisprachig.
Beide Spachen nähern sich hier Punkt für Punkt einander an, lauschen sich Klänge ab, spüren Stimmungen heraus, Blicke überlagern sich… Es ist für mich, dank der Hilfe durch die weißrussisch und deutsch sprechende Halina Skakun in Minsk, der deutsch und russisch sprechenden Nande Röhlmann in Hannover und des Dichters selbst, eine Begegnung geworden, ein ,Händedruck‘ und ,schicksalhaft einmalig‘, wie es ein Gedicht seiner Natur nach ist.
Oskar Ansull, April 2002, Nachwort
(…)
Vollends glückt die Verbindung zwischen sinnlicher Wahrnehmung und Sinnfindung in den Hannoverschen Punktierungen (Revonnah Verlag, 2002), die in ihrer sprachlichen Verknappung und Konzentriertheit an fernöstliche Lyrikformen erinnern. Während seines Aufenthaltes als Hannah-Arendt-Stipendiat in Hannover sind zahlreiche dieser Kurzgedichte entstanden, in denen Rasanaŭ einen, seinen, fremden Blick auf die Stadt und ihre Bewohner wirft.
Die Bezeichnung Punktierungen ist trefflich gewählt: punktuell, wie beleuchtet von einem Suchstrahl, scheinen Momente, Gesichter, Stadtbilder auf. Zu signalhaften „icons“ vereinfacht, reihen sich diese An- und Aufsichten, gesammelt zwischen Hauptbahnhof und Leineufer, zwischen Eckkiosk und Biergarten, zu einer sensiblen Ikonographie der Gegenwart.
Die Texte sind getragen von einer grundlegenden Hinwendung zu den betrachteten Dingen, zu den beobachteten Menschen. Es wird etwas offenbar, nicht verraten:
Zwei Frauen grüßen einander
durch eine Schaufensterscheibe:
lauthals,
ohne sich zu hören.
Das könnte überall sein, in Minsk so gut wie in Warschau oder Wuppertal:
Er wog die Äpfel ab,
legte großzügig
noch einen hinzu:
ganz Herr seines Besitzes.
Oskar Ansull, der die Hannoverschen Punktierungen auf der Grundlage von Interlinearübersetzungen Nande Röhlmanns und Halina Skakuns nachgedichtet hat, bezeichnet die Sammlung in seiner den Band beschließenden Notiz als „Händedruck“, gewiß auch deshalb, weil Porträtskizzen wie diese immer auch Sympathien für die Porträtierten wecken:
Trinkt ein Bier,
liest seine Zeitung: auf der Treppe
sitzt der Hausherr.
Verdienter Feierabend.
Nie gerät ein Gesicht, eine Geste, eine Silhouette zur Karikatur, wenngleich einige Texte nicht ohne sanften Humor sind:
Mit schwerem Schmuck,
geht über den Platz
die ehrbare Hausbesitzerin –
Schlüsselbund um den Hals.
Solche Verse wahren einen diskreten Abstand zu ihren Gegenständen und nähern sich ihnen doch an, oft ist man bloß überrascht, daß der Ort so liebenswürdig leicht daherkommenden Geschehens ausgerechnet Hannover sein soll. Diese als farblos verschriene kleine Großstadt im unspektakulären deutschen Flachland entfaltet in Rasanaŭs äußerst ökonomisch gearbeiteten Gedichten eine unerwartete Intensität von Farben, Gerüchen, Geräuschen, die jederzeit und überall zu haben ist: an der Bordsteinkante, wo gelber Löwenzahn aufleuchtet, in der Markthalle, wo es im Winter nach heißer Suppe duftet, in irgendeiner Laubenkolonie, wenn die Kirschbäume blühen.
Die Erscheinungen treten hierbei als Muster ihrer inneren Bedingtheit zutage, was zu sehen ist, gibt Nachricht von etwas Vorgelagertem oder weist auf einen verborgenen Antrieb hin, selbst da, wo ausnahmsweise doch „typisch Hannöversches“ gesichtet wird:
Der Bogen ist gespannt.
Von all den Augenblicken
nimm nur einen,
ihn verbinde
mit genau gewähltem Ziel,
hannoverscher Schütze!
Hier verschwimmt nichts im großen Ganzen, sondern entfaltet sich das vermeintlich Kleine und weist mühelos über sich hinaus. Und wie es in der befleckten Wirklichkeit, draußen vor den „alten Häusern“, nicht anders sein kann, warten dort, wie eingeschlossen in Bildern der Harmlosigkeit, Gefährdungen:
Ich schlendere durch Straßen
im Dämmerlicht.
Aus Schaufenstern
starren Mustermenschen.
Wie von dem Maulwurf einer der Punktierungen wird in ihnen immer aufs Neue „die Oberfläche (dementiert)“. Es gehört zu den Stärken dieser Gedichte, daß sie dabei ohne allzu viel Erdenschwere auskommen, ohne die ganz großen Begriffe, ohne die Sperrigkeit, die Erbstücke manchmal haben, und mit denen man, auch wenn man sie wertschätzt, kaum umziehen mag. Denn wunderbarerweise sind Ales Rasanaŭs Hannoversche Punktierungen im besten Sinne auch Texte „zum Gebrauch“, sie lassen sich mitnehmen in die tägliche Begegnung mit der Wirklichkeit, ohne sich abzunutzen.
Sylvia Geist, die horen, Heft 211, 3. Quartal 2003
Hager, das Gesicht markant, mit forschendem Blick und einem einnehmenden Lächeln, wortkarg, doch wenn er spricht, wiegt jedes Wort Gold.
Rasanaŭ stammt aus der weißrussischen Provinz, ist Schriftsteller, Denker, ein Kenner der Veden – und mein heimlicher Guru. Nein, nicht einer von jener berüchtigten Sorte. Er versammelt keine Schüler um sich, predigt nicht, meidet Auftritte. Er gehört zu den Stillsten der Stillen. Aber glücklich, wen seine Worte erreichen.
Als ich ihn auf einem Literaturfestival in Slowenien kennenlernte, bemerkte er zwischen den Steineichen des Karsts, nicht der Winkel von 180° sei entscheidend, sondern der von 90°. Abweichung statt Gegenteil. Von da an nannte ich ihn den „Neunziggrädigen“.
So schaut er auf die Welt: mit leicht schiefem Kopf wie ein Vogel und Augen, die im Kleinen das Große sehen. Ohne zu urteilen, ohne in Gegensätzen zu denken. Aggressivität kennt er nicht, Kraft schon. Zu dieser Kraft gehört, dass er seine Werke konsequent auf Belorussisch schreibt, auch wenn ihm dies immer wieder Probleme eingebracht hat. Ausdauer statt Frontalattacken. Was zählt, ist das Erzählte.
Das geschieht in Poemen und „Versetten“, in haikuartigen Kurzgedichten („Punktierungen“) und philosophischen Reflexionen („gnomischen Zeichen“), deren aus Märchen, Anschauung und Lektüre gespeiste Evidenz unmittelbar einleuchtet. Rasanaŭs heiter-ernste Weisheit kennt keine Anmaßung. Sie überzeugt und beglückt.
Wind:
Der Halm
lehnt sich an den Halm,
doch der – lehnt ab.
*
Die Sonne geht unter:
Mit zwei Augen
schau ich ins dritte.
*
Einen Schritt vor dem Erfolg
halte ich an,
einen Moment vor dem Sieg
fange ich an zu grübeln…
Die Freunde seufzen und gehen fort,
das Leben lächelt und hält an neben mir.
Das Leben! Für Rasanaŭ ist es Inbegriff des Werdenden, dem er bei Mensch und Natur auf der Spur ist. Nur nicht erstarren in Dogmen, Benchmarks, Saturiertheit, Ideologien. Und wo Grenzen gesetzt sind, imaginiert er eine Perspektive des Unbekannten, einen kosmischen Kreislauf, in dem aufgehoben ist, was aufgehoben gehört.
Nein, er beschwert sich nicht. Obwohl beispielsweise die Politik seines Landes Anlass genug böte. Zwar nennt er die Dinge beim Namen, stellt sie aber in größere Zusammenhänge. Als sähe er nicht nur, wie das Blatt am See „in sein eigenes Abbild fällt“, sondern gleichsam von höherer Warte, wie „zerstört werden die Städte, / untergehen die Staaten“, „die Stätten der Bodenschätze sich leeren, / die Flüsse versuchen zurückzufließen“.
Ich höre ihm zu, seine Stimme beruhigt. Auch am Telefon. Gesehen haben wir uns schon lange nicht mehr, zuletzt vor Jahren in Minsk. Da besuchten wir einen Markt und kauften Beeren und winzige Äpfel, die wir einem Maler und seiner Frau brachten. Und am Ende des Tages gingen wir im Halbdunkel über ein Feld, an dessen Rand Gräber standen. Schweigend. Aber dieses Schweigen war beredt. Haben wir auch im ehemaligen Ghetto geschwiegen? In der Gedenkstätte und im kleinen Park mit dem Mahnmal? Ich weiß es nicht mehr. Früher kreuzten sich unsere Wege öfters in Deutschland und in der Schweiz, wo wir zusammen lasen, ausgedehnte Spaziergänge machten, Suppe löffelten. Das ist vorbei. Rasanaŭ reist nach innen, hier erschließen sich ihm die eigentlich unbekannten Welten.
Manchmal meldet er sich per Mail:
Heute war ich auf der Buchmesse, habe signiert. Doch der allgemeine Eindruck: die Bücher haben aufgehört, das Notwendige festzuhalten und weiterzugeben. Einerseits ist das Buch zur Ware geworden, anderseits haben sich die Vibrationen der Wirklichkeit verändert: diese entfernt sich, während die Menschheit mit ihrer Bagage immer mehr zurückbleibt.
Widme dich der Wirklichkeit!
Und:
Du stehst an der Tür. Wir treten ins Morgen ein. Der Sinn ist mit uns: wir erlauben ihm, mit uns zu sein
Ilma Rakusa, aus Ilma Rakusa: Mein Alphabet, Literaturverlag Droschl, 2019
Alas Rasanaŭ, seit dem 1. April 2008 Stipendiat des Müllerhaus Literatur und Sprache, ist im kulturfernsehen im netz art-tv mit Ilma Rakusa zu sehen und hören.
Lesen – Spuren: Lesung im Lyrik Kabinett, München am 4.11.2003. Einführung: Urs Engeler. Aufgrund äußerer Umstände konnte Ales Rasanau nicht wie geplant persönlich teilnehmen; Elke Erb liest aus seinen Gedichten.
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