FUSSMATTE
Wer bist du, woher kommst du, mit wem zu Besuch?
In ihren Augen fließt deine Zeit auf der Stelle.
Darum verzeiht sie Schritten, die sich irrten.
Verzeiht den Hinkenden, Unbesonnenen,
aaaaaBerauschten.
Kein Übeltäter, wer ihr Antlitz überschreitet.
Wischt deine Füße ab an ihrem Haar.
Wischt deinen Namen ab an ihrem. Bis zur Unübersetzbarkeit.
Sie ist nicht hier, um Richtungen zu offenbaren. Nicht dort, den Weg zu weisen.
Empfängt dich als ein Teil der Landschaft, aus der du kommst.
Als Teil der Landschaft, in die du gehst.
Ihre Haare wecken dich manchmal durch Kitzeln.
Dann fällt der dürre Schlamm von den Wörtern ab.
Eine Stimme räuspert sich nach dem Schweigen des Wanderns.
Doch greift ihr ein Tritt ein in Frieden vor. Tritt ein in Frieden.
Sie liebt die unmerklichen Übergänge der Fragen.
Was schmerzt, fällt durch sie durch. Die Antwort ist immer die Liebe.
Aleš Šteger, 1973 geboren, ist der bekannteste slowenische Lyriker seiner Generation. Seine Gedichtbände lösen Debatten aus, seine Projekte – er war Mitinitiator und lange Zeit Programmleiter des internationalen Poesiefestivals in Medana – haben ein Band geknüpft zwischen Autoren in ganz Europa; zudem arbeitet Šteger in einem der avanciertesten slowenischen Verlage und übersetzte unter anderem Werke von Ingeborg Bachmann, Peter Huchel und Gottfried Benn, aber auch Lyrik aus dem Spanischen. Šteger als „homme des lettres“ im besten Sinn zu bezeichnen fällt also nicht schwer, wer ihn lesen hört und mit ihm spricht, ist von seinem Charme eingenommen – einem unverwechselbaren Charme, der sich auch in seinen Gedichten findet.
Bereits für sein Debüt, den Gedichtband Šahovnice ur, „Schachbretter der Stunden“ (1995), wurde er hoch gelobt. Für Kašmir, „Kaschmir“ (1997), erhielt er den Veronikapreis für den besten Lyrikband des Jahres. Dann folgten 1999 ein essayistisches Reisebuch über Peru und 2002 der Gedichtband Protuberance, „Protuberanzen“. Keines dieser Bücher wirkt wie eine Fortsetzung des vorherigen. Obwohl die Sprache in jedem unverwechselbar eine Štegersche ist. Ja, man könnte sogar behaupten, daß sein suggestiver Reduktionismus von Buch zu Buch wächst. Dennoch ändert das nichts an der Tatsache, daß die Richtung der Gedichte Aleš Štegers, ihre sprachliche Tastbewegung, nicht voraussehbar ist.
„Štegers Gedichte“, schrieb der Lyriker Josip Osti zu dem auch ins Deutsche übersetzten Gedichtband Kaschmir (Edition Korrespondenzen, 2001), „sind nach innen gekehrte Reisetexte (…) Topographie einer Landschaft jenseits von Zeit und Raum und der Versuch, die Schwerkraft und Gnade der Sprache zu erfassen.“ Knjiga reči, „Buch der Dinge“, 2005 erschienen, ist sein vierter Gedichtband – und sicherlich der, welcher das anspruchsvollste Konzept aufweist.
Zwischen dem Ding und dem Wort besteht in manchen slawischen Sprachen eine geheime Verbindung, die wie das Erbe jenes biblischen Ereignisses wirkt, als aus den Worten Dinge wurden, die – gleich nach der Schöpfung von Himmel und Erde, dem Licht, dem Tag und der Nacht – das ausfüllen, was wir „die Welt“ nennen. Reč ist die Wurzel sowohl des slowenischen Worts für Ding als auch des Worts für Rede. Štegers Knjiga reči ist nicht nur ein Verzeichnis der Welt in den ersten fünfeinhalb Tagen nach dem Schöpfungsakt, sondern eine Wiederholung dieses Aktes unter den Bedingungen der Moderne. Fünfeinhalb Tage – also kurz vor der Erschaffung des Menschen. Das Buch der Dinge ist ein Buch der Rede – eins, in dem die literarische Strategie nicht im Sprechen über die Dinge besteht, nicht in der Kontemplation, einer essentialistischen oder poetisch exakten Vermessung, wie Francis Ponge oder Rainer Maria Rilke dies in ihren Dinggedichten taten, sondern ein Buch, in dem die Dinge selbst das Wort ergreifen. Šteger formuliert den Unterschied so:
Ponge versuchte, die Gegenstände allein um ihrer selbst willen zu lieben. Er war Moralist. Bei Dingen handelt es sich nicht um Phänomene des Sichtbaren, sondern um blasse Umrisse eines unsichtbaren Gesichts, das schaut. Um einen Umriß im Entstehen.
Aleš Štegers Buch der Dinge ist ein vielsagendes Motto aus dem großen Wörterbuch der slowenischen Sprache vorangestellt: daß es nicht für jedes Ding ein Wort gibt. Deshalb bemüht sich der Dichter gar nicht erst, die Dinge zu benennen, denn dann würden sie nur Sachen sein, Gegenstände nicht näher bestimmter Art, die dem persönlichen Besitz des Sprechers angehörten, damit aber – nur scheinbarer objektiviert – der alltäglichen Sachverwalterwelt des Menschen zugesprochen wären.
Sachen schreibt man mit den Augen, Dinge mit den Ohren.
Statt zu beschreiben, läßt Šteger die Dinge selber zu Wort kommen, damit sie mit ihrer genuinen Fähigkeit der Rede eine Welt aufscheinen lassen, in der dem menschlichen Betrachter nicht mehr automatisch die Zentrumsrolle zufällt. Der Dichter ist in diesem äußerst ambitionierten Projekt kein Spurenleser, sondern ein disziplinierter Regisseur der Vorstellungen, die die Dinge aus ihren monadischen Räumen, ihren Perspektiven heraus bilden, seien es Ei, Wurst, Stein oder Mauer, Lebendiges oder Nichtlebendiges, Wachsendes, Brennendes oder Ruhendes. Man hat das Gefühl, daß es bei diesem Spiel blutig ernst zugeht; mehr noch, man beginnt zu glauben, daß die Dinge sich laufend entziehen, bis sie selbst darauf kommen, daß es keine Namen gibt für das, was ist, und damit einen Raum schaffen für die Benennung dessen, was es (noch) nicht gibt.
Štegers Knjiga reči hat also nichts zu tun mit dem Neoreismus, einer neuen Neuen Sachlichkeit und überhaupt mit keiner der Spielarten des Widerwillens gegen den Subjektivismus. Vielmehr geht es um einen feierlichen Absprung in eine anthropomorphe, im Grunde neohumanistische Poesie. In den Gedichten mit den nominalisierten Titeln – „Ei“, „Knoten“, „Stein“, „Raspel“, „Kater“, „Wurst“, „Pissoir“, den Gedichten des ersten von insgesamt sieben Abschnitten – sind Spiegelbilder der anthropomorphen Welt am Werk; das lyrische Ich betrachtet sich in den Dingen, die es ansieht, es äugt und wird beäugt.
EI
Als du’s am Pfannenrand erschlägst, bemerkst du nicht,
Daß dem Ei im Tod ein Auge wächst.
So winzig ist es, daß es keinen noch so
Leichten Morgenappetit befriedigt.
Schon starrt’s, schon stiert’s in deine Welt.
Wie sehen seine Horizonte aus, in wessen Perspektive?
Sieht es die Zeit, die teilnahmslos umherzieht?
Schlitz, Schlitz, zerplatzte Schalen, Chaos oder Ordnung?
Große Fragen für ein kleines Ei zu so früher Stunde.
Und du – wünschst du dir wirklich eine Antwort?
Setzt ihr euch, Aug in Auge, an den Tisch
Löschst du sein Augenlicht früh genug mit einem Stückchen Brot.
Esser und Ei, Leser und Gedicht: Das Buch der Dinge bietet ein gleitendes Panorama, ein Spiegelkabinett, in dem sich alle gegenseitig belauern und in einen beunruhigenden, unabschließbaren Schauprozeß eintreten. In diesen Gedichten gibt es kein Einverstandensein, weder mit der Verfaßtheit der Welt, noch mit der Sprache, bestenfalls werden Falten geworfen, in denen zwischen Oberfläche und Tiefe ein ebenso neues wie faszinierendes Spiel beginnen kann. Das Buch der Dinge entwirft ein Universum, das nicht mehr durchs Einssein – oder auch nur durch den Wunsch danach – zu charakterisieren ist. In einer umgekehrten Bewegung wird das Ich durch diesen Reduktionismus als Konstrukt entlarvt. „Das Ich ist etwas, dessen Aufstellung immer wieder durch Dinge bedingt ist“, kommentiert Aleš Šteger selbst seine Arbeit. „Doch was für Bedingungen sind das? Die Frage der Dinge ist keine Frage der Vertreibung aus dem Paradies, sondern eine Frage der Bedingungen für das Paradies, das Ich in ihm und für seine Vertreibung. Die Dinge erzählen deshalb zwangsläufig lediglich die Geschichte eines Vorspiels.“ Dieses Vorspiel ist ein Akt der Entdeckung. Wie man durch die Dinge zur Welt kommt. Und damit auch zu sich. Der Vers, der Tag um Tag, Kapitel um Kapitel, Gedicht für Gedicht voranschreitet wie die Falten in einem unheimlichen Origamispiel, findet am Ende der Zeile nicht die alleingültige Wendung, nicht jenes Wort, mit dem alles richtig bezeichnet, mit dem dieser Prozeß abzuschließen wäre. „Dies Gedicht hat kein Ende“, heißt es in der Klammer, deren Abdruck zu Beginn noch „Spiraliges Zeichen für einen Weg nach innen“ war. Foppende Metapoesie? Lakonische Metaphysik?
Štegers Gedichte sind widerständig, fordern zur eigenen Positionierung auf, ihr Ton reicht vom chaplinesken Slapstick zur ironisch artistischen Ambivalenz eines Gottfried Benn. Messer, Brote, Scheibenwischer klagen an, voller Komik scheint das manchmal zu sein, eine Komik jedoch, die imstande ist, das gesamte Inventar menschlicher Sicherheiten einstürzen zu lassen.
„Vielleicht ist im Paket ein Niemandsname / Und deiner nur die Falte jener Hülleninnenseite, die’s umgibt? // Wenn du’s von außen siehst, kannst du raten, weißt es aber nicht. / Wenn du es öffnest, stottern nur zerrissene Laute, du kriegst es nicht zusammen“, so heißt es im Gedicht „Paket“, in dem eine für Štegers Poesie charakteristische Denkfigur auftaucht. Jene Falte, die keine feste Grenze besitzt, sondern ein Spiel permanenter Berührung in Gang setzt. Das Schreiben wie das Lesen des Buchs der Dinge wird zu einer Möbiusschleife unendlicher Vertauschung.
Was auch immer ich schreibe, es sind immer nur Anfänge
Am Ende: Steht da das Paradies – oder die Hölle? Der Leser sieht die Dinge lange nach dem Verlöschen der Kerze im letzten Gedicht jedenfalls in einem völlig anderen Licht. Und da die Dinge, die Wörter und die Rede hier grandios in Form gehalten werden, ist uns trotz der Zerbrechlichkeit, den Genoziden der Spucke, dem Wetzen der Messer, vor dem Weitermachen nicht bange.
Matthias Göritz, Nachwort
vermeldet das Große Wörterbuch der slowenischen Sprache. Aleš Šteger, als Reisender in vielen Sprachen und Ländern zu Hause, Autor mehrerer Gedichtbände und einer Reiseprosa über Peru und César Vallejo, stellt diese Einsicht seinem neuen Lyrikband als Motto voran. Doch es fehlt nicht nur an Worten. Wie seine streng gebauten, leichtfüßigen Texte zeigen, haben wir schon das Selbstverständliche nie richtig kennengelernt: Büroklammer, Seife, Zahnstocher („ein kleiner Robespierre im Maul des Polyphem“), Regenschirm, Hut und Fußmatte. In Štegers Gedichten werden sie aufgerufen und treten uns, dem Allgemeinbegriff entschlüpft, entgegen. Sie stellen Fragen, die zu groß sind für so kleine Dinge. Unklare, sich verwandelnde Seinsformen wie Ei, Wurst und Schokolade machen stutzig. Das Brot offenbart seinen sadomasochistischen Charakter: „Ja, ja, es liebt dich, deshalb nimmt es jetzt dein Messer in sich auf. / Es weiß, daß sich all seine Wunden in deiner Hand verkrümeln.“
Das Buch der Dinge ist ein Buch der Rede. Es geht nicht um Kontemplation, um essentialistische oder poetisch exakte Vermessungen wie in den Dinggedichten von Francis Ponge oder Rainer Maria Rilke. Bei Šteger ergreifen die Dinge selbst das Wort. Sie sind, wie er es formuliert, „nicht Phänomene des Sichtbaren, sondern blasse Umrisse eines unsichtbaren Gesichts, das schaut“.
Suhrkamp Verlag, Klappentext, 2006
− Aleš Šteger dichtet ein Buch der Dinge. –
Für die Alten waren die Dinge unbezweifelbar. Lukrez beschrieb ihr Wesen in seinem Lehrgedicht „De natura rerum“. In der Moderne beginnen die Dinge dem Menschen zu entgleiten. Rainer Maria Rilke wollte sie in seinen Dinggedichten über die Gazelle oder die blaue Hortensie bewahren. Francis Ponge wählte „Le parti pris des choses“, die „Parteinahme für die Dinge“. Anders als Rilke nahm er in seine Poesie auch Gegenstände der Zivilisation auf und erlöste sie aus ihrer Funktionalität. Ponge schrieb über Kieselsteine, Mollusken und Aprikosen, aber auch über die Seife, den Waschkessel und die Zigarette. Er wollte von den Dingen lernen, statt über sie zu verfügen.
Der jüngste Nachfahre des Lukrez ist der junge slowenische Autor Aleš Šteger, Jahrgang 1973. Buch der Dinge ist sein vierter Gedichtband, sein zweiter in deutscher Übersetzung. Als Motto wählt Šteger einen Satz aus dem großen Wörterbuch der slowenischen Sprache: „Nicht für jedes Ding gibt es ein Wort.“ Das erstaunt, wenn man erfährt, daß Ding und Rede im Slowenischen eine gemeinsame Wurzel haben. Das Spiel mit Identität und Nicht-identität gibt Štegers Poetik ihren produktiven Ausgangspunkt. Wenn Šteger von Dingen redet oder sie reden läßt, sind sie auf ihre Art präsent, nehmen sie Kontakt mit dem Menschen auf. So verlockt das Brot den Menschen, sein Herr zu werden, und macht sich masochistisch zum „Verbrennungsofen seiner Schuld“: „Ja, ja, es liebt dich, deshalb nimmt es jetzt dein Messer in sich auf. / Es weiß, daß alle seine Wunden sich in deiner Hand verkrümeln.“
Groteske Heiterkeit oder existentieller Ernst? Šteger liebt die surrealen Zwischenwelten. Mal erzeugt er Magie, mal merkt man den Taschenspielertrick. Er kann nicht verbergen, daß das Eigenleben der Dinge Fiktion ist, Projektion des Subjekts. Stets spricht ein menschlich gedachtes Ich mit, steht Ding-Ich gegen Betrachter-Ich. So in der Groteske um das Ei. Wer ein Ei aufschlägt, begeht unwissentlich einen Mord: „Als du’s am Pfannenrand erschlägst, bemerkst du nicht, / Daß dem Ei im Tod ein Auge wächst.“ Die Dinge scheinen uns anzuklagen, doch Anklage schlägt in Komik um. In soviel Komik, daß wir nachdenklich werden. Während Ponge Partei für die Dinge nimmt, geht Šteger eher auf ihre alte Unterlegenheit zurück. Der Händetrockner „hat keinen Namen, der spricht, wenn du nicht in seinem Namen sprichst“. Die Fußmatte antwortet auf unsere Tritte mit unterwürfiger Liebe. Die Seife macht uns immerhin darauf aufmerksam, daß in dieser Welt niemand saubere Hände behält. Daher gibt sich der Phänomenologe als Historiker, der die Dinge der Geschichte dem menschlichen Mißbrauch unterworfen sieht. So ist der Stuhl „Träger der analen Geschichte“, und der Dichter erinnert an den römischen Zenturiosrock, an die Hose des SS-Obersturmführers, an den Minirock aus Viskose. Freilich will sich über solchen Reihungen kein Aha-Erlebnis einstellen. Noch weniger beim Thema „Wurst“: „Zweihunderttausend Frankfurter Würste / Demonstrierten für Arbeiterrechte.“ Das scheitert nicht an mangelnder political correctness, sondern an der Banalität der Redensart vom Menschen als Würstchen.
Štegers bessere Texte gelangen über Faktenreihung und bemühte Deskription hinaus. Sie faszinieren durch Witz und Intellekt, etwa durch die blitzhafte Abkürzung zwischen heterogenen Dingen. Was ist der Zahnstocher? „Ein kleiner Robespierre im Maul des Polyphem.“ In einigen anderen Texten geschieht, was der reinen Poesie vorbehalten ist: Epiphanie, profane Erleuchtung. Ein Geheimnis schimmert auf, wenn die Dinge als abwesend gedacht werden. So in dem wunderschönen Gedicht von der Büroklammer. Nicht die Klammer wird da beschrieben, sondern ihr rostiger Abdruck auf Papier. Wenn der Betrachter mit dem Finger darüber fährt, öffnet sich „ein Raum im Raum im Raum“. Das hätte Gertrude Stein gefallen.
Aleš Šteger wurde 1973 in Slowenien geboren und gilt als wichtigster Vertreter seiner Generation. Neben seiner Tätigkeit als Lyriker arbeitet er als Übersetzer, Lektor und Literaturveranstalter. Er wurde vielfach ausgezeichnet. Der vorliegende Band stammt aus dem Jahre 2005 und ist ein Konzeptwerk. Šteger betrachtet in seinen Gedichten die Welt, aber aus der Sicht der beschriebenen Dinge. Das ist gut nachvollziehbar, wenn man weiss, dass das slowenische Wort „Rec“ dieselbe Wurzel für Ding und Rede ist. Šteger ist zum einen ein charmanter Dichter, der mit seinem suggestiven Reduktionismus verzaubern kann: „Als du’s am Pfannenrand erschlägst, bemerkst du nicht, / Dass dem Ei im Tod ein Auge wächst.“ Andererseits kann er mit seinen schlanken Strophen auch Kontroversen auslösen: „Sechs Millionen vergaste Salami, koschere, im Zweiten Weltkrieg / Und eine Million niedergemachte feurige Würstchen vom Balkan fünfzig Jahre danach.“ So schwingt sich Šteger in sieben mal sieben Gedichten durch die Phänomene dieser Welt, ob es nun ein Ei sei, Brot oder ein Scheibenwischer. Immer aber der Versuch, schreibend die scheinbar zwischen den Dingen und der Reflexion über sie existierenden Abgrenzungen verschwinden zu lassen, was einen unerfüllten Eindruck beschert, ähnlich einer Möbiuschleife – immer nur „Oberfläche“. Für mich ist dieses Konzept nicht aufgegangen, weil es letztlich zu hoch gegriffen ist. Wenig anfangen kann ich auch mit dem stellenweise auftauchenden und altbacken wirkenden Pathos.
− Die Weltaneignungsgeschicklichkeit des Dichters Aleš Šteger in seinem Buch der Dinge. −
Ist eine Fußmatte poetisch? Oder ein „Händetrockner“ mit seinem eigenartigen Gebläse? Kann uns der „Bandwurm“, kann uns der „Scheibenwischer“ im Gedicht zu neuen Weiterungen unseres Bewusstseins verhelfen? Der junge slowenische Lyriker Aleš Šteger bietet eine ganze Menge origineller Einfälle, überraschender Motiv-Verknüpfungen und kleiner grotesker Bilder-Verkettungen auf, um uns von der Poetizität solcher unauffälliger Dinge zu überzeugen.
Der 1973 geborene Šteger ist bekannt geworden als charmanter und sehr polyglotter Kommunikator auf großen internationalen Poesie-Festivals, ein Spiritus Rector interkultureller Dichter-Begegnungen am südöstlichen Rand Europas. Sein erster auf deutsch übersetzter Gedichtband Kaschmir erschien 2001 in der rührigen edition korrespondenzen, ohne sonderlich aufzufallen. Mit seinem vierten Gedichtbuch, dem Buch der Dinge, versucht er sich nun an einem der schwierigsten Projekte, die in der modernen Lyrik möglich sind. Ohne allzu viel Bescheidenheit signalisiert Šteger, dass er sich an den großen Elementarbüchern der Dinge messen will. Und hier gibt es durchaus Referenzgrößen, die Werke von kaum überbietbarer Intensität vorgelegt haben.
Zum Beispiel der französische Dichter Francis Ponge (1899-1988). „Und die Vielfalt der Dinge ist das, woraus ich eigentlich bestehe“: So lautet ein Schlüsselsatz aus Ponges lyrischem Evangelium der Dinge, das er vor rund siebzig Jahren formuliert hat. Ponge gilt bis heute als der Pionier einer Dichtung der Dinge schlechthin, der in hyperrealistischer Einkreisung sinnlich fassbare Phänomene wie „Brot“, „Kiesel“, „Kerze“, „Tür“ oder „Zigaretten“ zu einer neuen Evidenz verhalf. Und zu den Elementarbüchern in diesem Genre gehört auch Inger Christensens grandiose poetische Schöpfungsgeschichte alfabet, die in zunächst knappen, dann immer weiter ausgreifenden Sequenzen die Natur und die Dinge der Menschenwelt heraufruft.
In sieben Kapiteln will nun Štegers zyklisch angelegtes Buch der Dinge die poetischen Realien aus den Werken von Ponge neu akzentuieren. Auch Šteger schreibt über „Brot“ und „Kerze“, fügt aber noch allerlei Gebrauchsgegenstände aus unserer Alltagswelt hinzu: den besagten „Händetrockner“ etwa, das „Aspirin“, die „Sülze“ oder die schlichte „Wurst“. Štegers Phänomenologie der Dinge ist jedoch alles andere als realistisch: Nach einer ersten sinnlichen Kontaktaufnahme mit den einzelnen Gegenständen gestattet Šteger seinem lyrischen Alter Ego die Lizenz zu diversen Assoziationen und Abschweifungen – bis zu dem Punkt, an dem er sich entschlossen von den Dingen absetzt. In jedem dieser kunstvollen, manchmal auch sehr übermütigen Ding-Gedichte wählt er einen anderen Weg der Einfühlung, Umkreisung, Überhöhung oder Abstandnahme. Es geht in diesen Gedichten nicht um poetische Besitzergreifung des je spezifischen Gegenstands, sondern um das konkrete Objekt als poetischem Glutkern, der die Dinge von innen heraus aufstrahlen lässt. Šteger entwickelt hierbei eine unbändige Forscherlust, diese Welt der Sachen in Bewegung zu bringen, sie mit Phantasien aufzuladen.
Man staunt über die elegante Weltaneignungsgeschicklichkeit, mit der Šteger seinen Katalog der Dinge anlegt. Er erprobt die unterschiedlichsten Annäherungsformen: Es gibt philosophische, sprachspiel-verliebte, zeithistorisch akzentuierte, aber auch maniriert-groteske Gesten, mit denen er die Eigenheiten der Dinge zur Erscheinung bringt.
In seinem Exkurs über „Brot“ ist das Lebensmittel selbst das aktive Subjekt, das seinem menschlichen Nutzer die Bedingungen seines Handelns vorrechnet: „Jeden Abend wiederholst du dieses Spiel aus Mehl. / Es schuf dich als Verbrennungsofen deiner Schuld.“ In solchen Gedichten bleibt er nah am poetisch evozierten Gegenstand. In seiner Abhandlung über den „Regenschirm“ zieht er die Heiligenlegende vom heiligen Sebastian als Topos heran, um einen etwas überinstrumentierten Vergleich zu legitimieren. Bereits hier treibt er die metaphorische Kühnheit ziemlich weit. Das Prasseln der Tropfen auf den Regenschirm erscheint als existenziell-medizinische Grenzsituation: „Ihr bleibt stehen und lauscht dem dumpfen Dröhnen zwischen seinen Rippen. / Ein Kammerflimmern zweihundert Pädophiler vorm Infarkt.“ Mit erkennbarer Leidenschaft für eine grelle Bildlichkeit versucht Steger seine Dinge zu illuminieren. Wo er nah an den Objekten bleibt, lässt man sich überzeugen und auch faszinieren von den Gedichten. In den stärksten Momenten seiner Ding-Poesie erweisen sich die Gegenstände als Zeit-Kerne, in denen unzählige dramatische Geschichten und Menschenschicksale verkapselt sind. Wie zum Beispiel im „Mantel“:
Erinnerst du dich an den Archivar, der Selbstmord beging
Wegen eines einzigen verlegten Blatts?
An die drei Bibliothekarinnen, die nie aus dem Magazin zurückkehrten?
An den Geschichtsstudenten, der dem Dozenten bei der Prüfung die Kehle durchbiß,
Weil er sich an den Preis von Kartoffelsuppe im Mai 1889 nicht
erinnern konnte?
Auch auf einem schlichten „Stuhl“ kann sich die Zeitgeschichte abgelagert haben – als ein ständig sich wandelnder Sitzriese, der einen aber auch enervieren kann: „Betäubt vom Lärm der Jahrhunderte. Du beginnst zu schnarchen.“
Man sieht an solchen Beispielen, wie wenig Šteger an kohärenter Bildlichkeit oder thematischer Strenge gelegen ist. Hier ist ein metaphorisch übermütiger Ding-Forscher am Werk, der, wenn er sich seinen Gegenständen nähert, immer auch sein Materialbewusstsein und seine Formen-Virtuosität vorführt. Bei so viel Spiellaune und Pointierungslust missraten in einigen Fällen die Metaphern, etwa wenn er die „Wurst“ in die Geschichte der politischen Jahrhundertverbrechen einschreibt:
Sechs Millionen vergaste Salami, koschere, im Zweiten Weltkrieg
Und eine Million niedergemachte feurige Würstchen vom Balkan fünfzig Jahre danach.
Zugleich herrscht Sorge. Die Zahl der dicken Mortadellas wächst.
Ja, manchmal gibt es wirklich Anlass zur „Sorge“ in diesen Gedichten. Wenn nämlich der phantastische Esprit des Dichters wie hier in eher untauglichen Humor umschlägt. Dieser hochbegabte, alle Register der modernen Poesie virtuos beherrschende Dichter Sloweniens – er berauscht sich mitunter allzu bereitwillig an seinem lyrischen Großmeistertum.
− Lauter Balancestücke: die Gedichte des Slowenen Aleš Šteger. −
Die Wörter, diese kleinen Allesfresser – manchmal schlingen sie die Welt mit einem Biss hinunter. Dann mag es scheinen, als befänden sich die Dinge in den Wörtern oder als hätte man Wörter und Dinge zugleich. Was aber, wenn es sich bei den „Dingen“ um so schlüpfrige Tiere wie Seepferdchen handelt, „Wesen aus fließendem Licht, Vagabunden der Strömung“? Wer ihnen zu nahe kommt, wer ihre gläsernen Formen zu sehr mit den Wörtern bedrängt, der zerstört sie: „Zwischen menschlichen Schatten vertrocknen die Körper der Seepferdchen, / Verlieren ihre Transparenz, werden rauh und stumpf.“
Auch wenn er mit seinen Versen immer wieder ganz nah an die Dinge heranrückt, das krude Benennen ist Aleš Šteger von jeher fremd. Der slowenische Lyriker fühlt sich dort am wohlsten, wo die gewohnten Begriffe außer Kraft gesetzt sind, in einem Zwischenreich, in dem nichts gleich bleibt. Ein Gedicht sei „stofflich nur in gasförmigem Zustand“, ohne Ein- und Ausgang, heißt es in einem seiner frühen Verse. Das poetische Denken muss immer in Bewegung sein, damit es überhaupt Kristalle bilden kann, kleine Verfestigungen in Form von Gedichten. Nur so weicht es die Vorstellung auf, jedes Ding hätte seinen eigenen Namen. Ales Štegers Gedichte stülpen unser Weltverständnis einfach um, sind unberechenbar – wie die Lachse im Pazifik, die nach Jahren plötzlich ihr Verhalten ändern, den Fluss hinaufschwimmen, um an der Quelle zu laichen:
Sie sammeln keine Nahrung mehr.
Handeln nicht nach der Logik des täglichen Überlebens.
Suchen, fliehen, jagen nicht. Sie sind auf der Reise.
Wer Aleš Štegers Lebensweg folgen will, der muss genauso wendig sein wie die Gedichte. Reisen und Stipendien, Studien und Preise, Übersetzungen, Essays und natürlich Lyrik. Trotzdem findet er als Verlagslektor Zeit zur genauen Arbeit an fremden Texten. Mit seinen Einladungen zu Lyrikfestivals holt Aleš Šteger jedes Jahr Dichter aus ganz Europa nach Slowenien. Derzeit lebt er als DAAD-Stipendiat in Berlin.
Geboren wurde er 1973 in der kleinen Stadt Ptuj, in jener Gegend, die Peter Handke gern als zaubrische Ursprungswelt zeichnet. Wenn Aleš Šteger seine Gedichte mit weicher Stimme vorträgt, langsam, ganz versunken in den Text, möchte man als Hörer noch einmal glauben an die alte Verwandlungskraft der Poesie.
„Eines Tages ändern die Dinge ihren Namen“, hat der große slowenische Dichter Dane Zajc einmal geschrieben, „da wird der Stein Hass, der Wind Entsetzen, / die Straße Angst, die Vögel schlagen schmerzhafte Lautnägel in deine Stirn“. Aber vielleicht ist es auch umgekehrt, vielleicht suchen sich die Wörter immer wieder neue Gegenstände, auf die sie verweisen wollen. Bei Aleš Šteger gibt es stets beide Bewegungen. Innen und außen, Ich und Welt: Die Gedichte nähern sich von zwei Seiten, wobei die Grenze nach und nach durchlässig wird. Einerlei, ob es sich um das Ei handelt, Rosinen oder den Regenschirm, die Verse inszenieren „unmerkliche Übergänge“, schicken lyrische Schmuggelware auf die Reise. Auf der Suche nach diesem „flaumigen Dazwischen“ zeigen sie, wie nah sich die Gegensätze bisweilen sind und wie schnell etwas in sein Gegenteil abkippen kann.
Die Form der Gedichte ist dieser gedanklichen Bewegung genau eingepasst. Aleš Štegers Texte sind kleine Balancestücke, die ihre Wörter immer wieder in ein labiles Gleichgewicht bringen. Oft genügt ein kurzer Einschub, eine Drehung oder ein Wechsel des Rhythmus – schon werden die Verse neu ausgerichtet. Dabei ist es Štegers Kunst, mit seinen Bildern die Vorstellungen des Lesers flugs aus den Angeln zu heben. Am Ende weiß man gar nicht mehr, was eigentlich zuerst da war, das Wort „Kater“ oder Štegers Bild vom „kastrierten Travestit im Nerz“. Oder ob eine Büroklammer wirklich wie eine Büroklammer aussieht und nicht „wie ein Fötus / wie eine Wegschnecke, wie ein Körper im Massengrab“. Bei so vielen Doppelungen ist es nur konsequent, wenn sogar die Übersetzung von zwei Seiten kommt. Die Zusammenarbeit der Übersetzerin Urska P. Cerne und des Schriftstellers Matthias Göritz erweist sich als geglückte Liaison. Es gelingt ihnen nicht nur, Stegers schwingende Langverse nachzubilden, auch die changierenden Töne holen sie im Deutschen ein. Keine leichte Aufgabe, denn je genauer man die Gedichte ansieht, desto fremder werden sie: „Wie jemand, der durchs Fenster ins immer dichtere Dunkel starrt, / Das zurückstarrt ins immer dichtere Dunkel in ihm.“
– Aleš Štegers anregender Gedichtband Buch der Dinge. –
Es ist, als sähe man die Welt mit neuen Augen oder genauer die Dinge, die uns im Alltag umgeben: Fenster, Salz, Schuhe, Schokolade, Messer, Mantel, Wurst, Aspirin. Aber auch Zahnstocher, Kerze, Ei und Regenschirm. Der slowenische Lyriker Aleš Šteger (Jahrgang 1973), einer der begabtesten und produktivsten seiner Generation, hat dieses Kunststück vollbracht. In seinem (von Urška P. Černe und Matthias Göritz vorzüglich übersetzten) Buch der Dinge bringt er die Dinge gleichsam selber zum Sprechen, und wir werden zu Zeugen eines Dialogs, der übliche Subjekt-Objekt-Relationen gründlich erschüttert.
Du hältst ihn, doch manchmal hält er dich. Er hat deine Lebenslinien. Deinen Händedruck.
Er hat keinen Namen, der spricht, wenn du nicht in deinem Namen sprichst.
Und kein Zuhause. Und keine eigenen Dinge.
Er ist ein Namenloser ohne Körper, immer unterwegs.
Und seine Wege könnten deine Wege sein, doch deine werden nie die seinen.
Wer ist gemeint? Der Händetrockner. Dessen Wehen sich gebärdet, „als sprächen Bora, Košava, Passat und eisige sibirische Winde“.
Aleš Štegers Phantasie und Beobachtungsgabe scheinen keine Grenzen zu kennen. Doch was der für seine Reiseberichte vielgelobte Weltenbummler früher im Großen explorierte, verlagert er diesmal ins Kleine, in den Mikrokosmos des Alltäglichen. Die Entdeckungen sind nicht weniger spannend, zumal sie in linguistisches Dickicht vorstoßen. Denn immer geht es auch um die Frage nach der Tauglichkeit der Namen, ja der Existenz der Namen schlechthin. „Nicht für jedes Ding gibt es ein Wort“, zitiert Šteger als Motto Das große Wörterbuch der slowenischen Sprache. Wobei sich gerade dieser Mangel als poetische Triebkraft erweist.
Sind Dinge Empirie, Klang oder assoziative Verdichtungen? Erfahrungswerte oder Sprachgegenstände? Štegers Umgang mit den Dingen ist fragend und appellativ, er setzt – wie Matthias Göritz in seinem lesenswerten Nachwort schreibt – „ein Spiel permanenter Berührung in Gang“. Dazu gehört die Denkfigur der Falte; man könnte auch von einer „Möbiusschleife unendlicher Vertauschung“ sprechen.
Das klingt komplizierter, als es sich beim Lesen erweist. Und erinnert entfernt an die Prosagedichte Die Dinge von Francis Ponge. Wobei Ponge essentialistischer vorgeht und weit stärker zum Kommentar neigt. Aleš Šteger macht aus den Dingen Komplizen, Mitakteure, mehr noch: Er gewährt ihnen Eigenleben. Daher das Überraschungsmoment. Etwa im Gedicht „Brot“:
… Es schuf dich als Verbrennungsofen seiner Schuld.
Wenn es dich sättigt, fängst du an zu reden, wirst sofort noch hungriger.
Ja, ja, es liebt dich, deshalb nimmt es jetzt dein Messer in sich auf.
Es weiß, daß alle seine Wunden sich in deiner Hand verkrümeln.
In Aleš Štegers Alltagswelt gibt es nichts Selbstverständliches. Die Dinge rücken gleichzeitig in befremdliche Nähe und Ferne, werden widerborstig, ja anklagend, ziehen lange Geschichten nach sich. Aus Paketen „stottern zerrissene Laute“, der Speichel ist „giftig süße Kraft, / zwischen den Zähnen, wenn du dein kleines Genozid verrotzt“. Keine Behaglichkeit also, nirgends; eher ein düsterer Ton, mit Schlenkern ins Schwarzhumorige, Bissige. Sieht man vom elegischen Kleinod der „Schuhe“ ab:
… Schlaf mit ihnen.
Bade in Schuhen.
Liebe beschuht.
Sie sollen dich immer daran erinnern,
Daß du nur auf Besuch bist, flüchtig.
Bald geht es weiter.
Zieh sie nie aus.
Wenn du es tust, ist die Reise zu Ende.
Wie ein Zigeuner wirst du begraben,
Barfuß und namenlos.
Fünfzig Dinge, fünfzig poetische Inventionen von frappierendem Reichtum. Aleš Šteger ist noch für manche Überraschung gut.
Ilma Rakusa, Neue Zürcher Zeitung, 15.2.2007
Matthias Göritz liest bei der Ars Poetica am 9.10.2010 in Bratislava sein Gedicht „Aus eine alten Anzug“.
Aleš Šteger – Lesung an der Universität von Chicago am 31.3.2011.
Schreibe einen Kommentar