DER DRITTE PSYCHATER
Mein Sozialamtkunde gilt als
Ein besonders schwerer Fall
Von Paranoia, Schizophrenie und Depression
Er ist bei gleich zwei Psychiatern in Behandlung
Vor kurzem teilte er denen mit,
Dass er mich im Fernsehen
Und auf einem Werbeplakat
An der Bushaltestelle gesehen hat.
Von da schaute ich ihn an mit dem bedrohlichen Blick
Eines russischen Banditen.
Nach dieser Mitteilung bekam der erste Psychiater
Einen Schreck und änderte all seine Medikamente
Der zweite wies ihn für eine Woche in die Psychiatrie ein
Nach der Entlassung erhielt er
Einen dritten Arzt zugewiesen
Einen Guru der Medizin
Der ihm Kreuzstickerei empfahl
Wenn sie nur gewusst hätten,
Dass er die pure Wahrheit
Erzählte.
– Alex Galper und sein lyrisches Ich. –
„Stolz und Schreck der modernen russischen Poesie“1 – so wird der Dichter in der Überschrift zum Interview mit ihm genannt, das am 13.6.2011 in der russischen Online-Zeitschrift Частный корреспондент veröffentlicht wurde (Subrizkij 2011). Hinter dem Namen des Interviewers Konstantin Subrizkij (russ. Константин Зубрицкий) steht kein anderer als Ilia Kitup, in dessen Propeller Verlag insgesamt sechs Bücher von Galper erschienen sind und der selbst Dichter ist. Umso aufschlussreicher sind die Fragen und Anmerkungen des Interviewers und die Antworten des Interviewten darauf: So erfährt man nicht nur, dass Alex Galper 1971 in Kiew, der ukrainischen Hauptstadt geboren ist und dort gelebt hat, bevor er mit 18 Jahren in die USA kam, sondern auch, dass er, laut Kitup, „kein russischer Dichter in Amerika, sondern ein amerikanischer Dichter ist, der auf Russisch schreibt“ (ebd.). Galper selbst gibt an, dass er auf Russisch schreibt, weil es ihm leichter fällt, und dass ihn nur Inhalte universellen Charakters berühren:
Wenn etwas nur innerhalb eines bestimmten Kontextes funktionieren kann, ist es für mich von keinerlei Interesse. Ich bin überall ein Außenseiter, dafür ein globaler und universeller Außenseiter, und das fällt stark ins Gewicht. (ebd.)
Von außen schaut Galper auf ganz unterschiedliche Welten: Nicht nur auf die USA und New York, wo er seit nun fast 20 Jahren lebt, sondern auch auf Russland, die Ukraine, Georgien und andere Länder, die er auf seinen Lesetouren bereist. Neben der geografischen Dimension gibt es viele andere; wie der Dichter selbst sagt, lebt er „an der Schnittstelle unterschiedlicher Realitäten“ – sowohl in ästhetischer als auch in politischer und sozialer Hinsicht (ebd.) Als Angestellter eines Sozialamts in New York hat Galper Einblick in die Welt der Obdachlosen, Drogenabhängigen, der sozial Schwächeren und lässt seine Beobachtungen und Erlebnisse in sein Schaffen einfließen. Nebenbei ist er als Schauspieler für Film und Werbung tätig, was wiederum Eingang in seine Gedichte und Kurzerzählungen findet. So treffen in seinem für das Buch Der 3. Psychiater titelgebenden Gedicht mehrere Galpers aufeinander: Galper der Sozialarbeiter, Galper der Schauspieler, Galper der Schreckliche – mit den entsprechenden Folgen für einen eventuell nichts ahnenden Leser. Galper der Poet gewährt uns den Einblick:
Третий Психиатр
Мой собесовский клиент считается особенно
Тяжёлым случаем
Паранойи, шизофрении, депрессии
У него целых два психиатора
Недавно он заявил им
Что видел меня
По телевизору и в рекламном щите
На автобусной остановке
Я смотрел на него угрожающим
Взглядом русского бандита.
Услышав это, первый психиатр
Перепугался и поменял ему все лекарства
Второй поместил в психушку на неделю
По выходу ему добавили третьего врача
Звезду психиатрии
Который порекомендовал
Художественное вышивание крестиком.
Если бы они только знали
Что он говорил
Чистую правду.
(Galper 2016a: S. 11)
Der dritte Psychiater
Mein Sozialamtkunde gilt als
Ein besonders schwerer Fall
Von Paranoia, Schizophrenie und Depression
Er ist bei gleich zwei Psychiatern in Behandlung
Vor kurzem teilte er denen mit,
Dass er mich im Fernsehen
Und auf einem Werbeplakat
An der Bushaltestelle gesehen hat.
Von da schaute ich ihn an mit dem bedrohlichen Blick
Eines russischen Banditen.
Nach dieser Mitteilung bekam der erste Psychiater
Einen Schreck und änderte all seine Medikamente
Der zweite wies ihn für eine Woche in die Psychiatrie ein
Nach der Entlassung bekam er einen dritten Arzt zugewiesen
Einen Guru der Medizin
Der ihm Kreuzstickerei empfahl.
Wenn sie nur gewusst hätten,
Dass er die pure Wahrheit
Erzählte.
(Galper 2016a: S. 10)
Die einander überlagernden Spiegelbilder der unterschiedlichen Galper-Gestalten spiegeln das Dreigespann der Krankheiten des Kunden („Paranoia, Schizophrenie und Depression“), die Triade der Ärzte und der drei von ihnen verschriebenen Heilmethoden sowie die drei Opfer wider, von denen zwei im Gedicht selbst zu verorten sind (der Kunde und der erste Psychiater, der „einen Schreck bekam“), während das dritte Opfer der Leser selbst ist, dem sich vor lauter Galpers der Kopf dreht. Das Gedicht, das auf den ersten Blick eine in Zeilen aufgeteilte Anekdote aus dem Leben zu sein scheint, weist bei näherem Betrachten eine hochkomplexe poetische Struktur auf und verfehlt nicht seine Wirkung. Dabei wird dem Leser die Wahl gelassen, ob er bei der oberflächlichen Wahrnehmung bleibt und sich über die lustigen, spannenden Geschichten aus dem Leben von Galpers lyrischen Figuren amüsiert oder hinter die Oberfläche schaut und sich dessen poetischer Qualität bewusst wird.
Das sprachliche Gewebe der Gedichte besteht aus einfachsten Wörtern, es ist die Sprache des Alltags, Sprache der Straße – bei Alex Galper wird diese Lexik zu einer panzerbrechenden Waffe ,…‘. Das ist eine im wahrsten Sinne des Wortes demokratische Literatur, die den Leser nicht einschränkt. (Kolomiez 2011)
Nicht nur die Poesie, auch der Poet Galper wird von den Lesern und Kritikern unterschiedlich wahrgenommen:
Mich wundert, dass manche in mir einen sanften Lyriker, andere einen vulgären Punker, dritte einen Bürger und vierte einen Humoristen sehen. Es gibt wenige, die den ganzen Galper erkennen! Dazu muss man mindestens lesen können. (Subrizkij 2011)
Die Tatsache, dass viele ihn mit seinem lyrischen Ich gleichsetzen und ihn bald für einen Homosexuellen, bald für eine Homophoben, bald für einen „Vielfraß, der bald in keine Tür mehr reinpasst“ halten, scheint den Dichter zu amüsieren:
Ich habe doppeltes Glück: Mir ist wunderbarer postmoderner Stoff in den Schoß gefallen und ein nichts verstehender postmoderner Leser dazu! (ebd.)
Die Einsicht, dass man das scheinbar Unkombinierbare kombinieren kann, verdankt Galper dem amerikanischen Dichter Allen Ginsberg, dessen Seminare er in Brooklyn College besucht hat und an dessen Beispiel er gesehen hat, „dass man Politik und Erotik miteinander mischen kann“, sowie John Donne, dem englischen Dichter, der im 17. Jahrhundert gelebt hat:
Er war Bischof und schrieb heimlich erotisch-humoristische Verse. So habe ich verstanden, dass man Humor und Metaphysik kombinieren kann. (ebd.)
Zur Zielscheibe des Humors wird dabei das lyrische Ich des Dichters selbst:
Galper erzählt über Galper mit einer offenen Ironie und sogar Sarkasmus. (Linov 2015)
Selbstironie und Antiklimax als Stilmittel durchdringen das gesamte Werk von Alex Galper. Ein weiteres Beispiel aus dem Buch Der 3. Psychiater belegt dies:
Поэт Которого Чуть Не Съел Лев
Поэты умирают по разному
Кто-то в своей постели в 90
Кто-то повесится или застрелится
Или сопьётся
Кто-то сбежит и погибнет на войне
Как это всё предсказуемо и скучно!
А меня вот посередине Тбилиси мог
Съесть лев
Я мгновенно бы стал всемирно известным
Мои книги перевели бы на все языки мира
Но от меня так несло водкой
Что лев тряхнул гордой головой
И пошёл дальше
И я расплакался что из-за своего алкоголизма
Умру в полной неизвестности.
(Galper 2016a: S. 7)
Poet, der beinahe von einem Löwen gefressen wurde
Poeten sterben auf unterschiedliche Art und Weise
Mancher stirbt mit 90 im eigenen Bett
Ein anderer erhängt sich, erschießt sich
Oder trinkt sich in den Tod
Der dritte flieht und kommt in einem Krieg um
All das ist so was von vorhersehbar und langweilig!
Ich dagegen hätte mitten in Tbilisi
Von einem Löwen gefressen werden können
Ich wäre im Nu weltberühmt geworden
Meine Bücher würden in alle Sprachen der Welt übersetzt werden
Ich hatte aber eine solche Wodkafahne
Dass der Löwe nur noch stolz seine Mähne schüttelte
Und an mir vorbeiging
Ich brach in Tränen aus, dass ich wegen meines Alkoholismus
Völlig unbekannt sterben werde.
(Galper 2016a: S. 6)
Das Gedicht, welches das Buch Der 3. Psychiater eröffnet, führt gleich zu Beginn ein für Galper wichtiges Thema ein, nämlich Poesie und der eigene Platz darin. Wie ein roter Faden zieht es sich neben solchen Themen wie Gefräßigkeit, Lüsternheit und Missgeschicke des lyrischen Helden durch das Werk des Dichters; die Verflochtenheit von diesen Themen, von Hohem und Niedrigem, dem Metaphysischen und dem Körperlichen ist ein wesentliches Merkmal seiner Dichtung. Das Gedicht, das antiklimatisch im Beweinen des eigenen Alkoholismus endet, weist ironisch darauf hin, dass einem unter Umständen lediglich (und gerade!) ein Tod zur Unsterblichkeit verhelfen kann.
Galper schafft es, über seinen lyrischen Helden selbst in tragischen Momenten zu lachen. (Vjasmitinova 2009)
Das Komische und das Tragische bedingen und befruchten einander, die weinende, schluchzende oder auch schreiende Intonation ist dabei ein beliebter künstlerischer Griff des Dichters:
Was er tut, ist nicht ein Schreiben von Gedichten und schon gar nicht ein Sprechen in Versen. Mit den Gedichten schreit und kreischt er: über sich, den Großen und Schrecklichen, oder über die Welt, die furchtbare und komische, was im Grunde das gleiche ist. (Subrizkij 2011)
Galpers freie Verse und der Skopos der Übersetzung
Alex Galper schreibt freie Verse. Wie er selbst bekennt, ist der Reim für ihn „ein Merkmal der Rückständigkeit“, es komme nur darauf an, „die Wörter in die richtige Reihenfolge zu bringen“:
Darüber hinaus gibt es keine dichterischen Geheimnisse! (Subrizkij 2011)
Trotz der scheinbaren Willkürlichkeit weisen freie Verse eine strenge Strukturierung auf, der Text gründet „auf der Verbindung von Intonationen und Pausen“ (Jakobson 1979a: S. 97). Galper gibt an, mit den formalen Aspekten sehr frei umzugehen:
Manchmal versuchte ich Prosa zu schreiben und sie dann in poetische Zeilen aufzuteilen. Oder umgekehrt, ich schreibe ein Gedicht und sehe plötzlich ein, dass es eher Prosa ist und dass ich den Text als eine Erzählung aufschreiben muss. Diese Offenbarungen werden Anhänger von strenger Genresteilung wohl schockieren, mir ist es aber, ehrlich gesagt, völlig egal! (ebd.)
Evgenij Linov schreibt über Galpersche „freie Verse eines absolut freien Menschen“ folgendermaßen:
Ja, er schreibt nicht in Reimen, ja, er legt keinerlei Wert auf die Rhythmik, und dennoch ist sie da ,…‘. Es ist pure Poesie! (Linov 2015)
Von den Zwängen eines festen metrischen Schemas losgelöst, wird der freie Vers durch ein anderes Ordnungsprinzip geregelt, nämlich die Zeile:
Die Verszeile, selbst wenn sie sich als scheinbar willkürliche Segmentierung des Textes im Druckbild gibt, schließt die Textelemente zur Einheit zusammen und trennt sie von anderen. (Ludwig 1994: S. 68)
Die Aufteilung des Textes in Zeilen tritt in Resonanz mit der syntaktischen Gliederung der Rede und anderen Elementen, welche die Wirkung der rhythmischen Gruppen verstärken: den syntaktischen Mittel der Phrasenlänge, der Inversion, solchen rhetorischen Mitteln wie Parallelismen, Wiederholungsfiguren (Anapher, Epipher u.a.), den klanglichen Mitteln wie Konsonantenhäufen, Alliterationen und Assonanzen (vgl. Ludwig 1994: S. 68–69). Galpers Poesie zeichnet sich trotz der scheinbaren Freiheit und Willkürlichkeit durch eine hohe semantische Dichte und formale Strukturiertheit aus, wobei unter der semantischen Dichte das Assoziationsnetz verstanden wird, das sich über die jeweilige Äußerung legt (vgl. Blumenthal 1983). Die innere Verflochtenheit der semantischen, syntaktischen und stilistischen Elemente ist praktisch unauflösbar.
Für den Übersetzer stellen Galpers freie Verse eine sehr dankbare Vorlage dar: Wie der Dichter selbst zugibt, spielt er selten mit Klangeffekten oder Reimen, bei deren Übersetzung man Schwierigkeiten haben könnte (vgl. Outlar 2016). Lexikalisch arbeitet Galper, wie bereits dargelegt, viel mit der Sprache des Alltags und der Massenkultur, dabei greift er gern auf idiomatische Wendungen zurück, zu denen meistens zielsprachliche Äquivalente zu finden sind. Die Wirkung seiner Poesie basiert nicht auf dem Spiel mit arbiträren sprachlichen Gegebenheiten, wie Klangähnlichkeit o.ä., damit wäre man als Dichter innerhalb einer bestimmten Sprache, eines klar umrissenen Kontextes verwurzelt, und das ist für Galper, der Universalität anstrebt, „von keinerlei Interesse“ (Subrizkij 2011). Galpers Verse, die der Kritiker Evgenij Linov als „Psychodramen in Poesieform“ bezeichnet, packen den Leser wie ein Thriller und entfalten ihre Wirkung gerade durch die Überlagerung der tiefen, metaphysischen Sinnebenen mit den alltäglichen Floskeln und Begebenheiten (Linov 2012). Für den Übersetzer bedeutet dies, dass man zur Herstellung des gleichen Effekts in der Zielsprache ziemlich nah am Text bleiben kann und gleichzeitig darauf Acht geben soll, keine Elemente in den scheinbar einfachen Text hineinzubringen, welche die feinjustierten semantischen und stilistischen Konstruktionen des Autors aus dem Gleichgewicht bringen könnten. Dazu bedarf es eines tiefen Verständnisses der dichterischen Vorlage und der Fähigkeit, die oberflächlichen Strukturen ggf. zu überwinden, um die dahinter pulsierende Dynamik freizulegen. Dies kann unter Umständen eine Modifikation der Zeilenreihenfolge oder gar Verzicht auf Wiedergabe bestimmter Sequenzen erfordern. Da Galper viel mit Klimax und Antiklimax arbeitet, muss für den Leser des Zieltextes in erster Linie der Spannungsverlauf nachvollziehbar gemacht werden.
Natalia Maximova, aus Natalia Maximova: Weg vom Wort und zurück zu ihm: Erkenntnisse aus der eigenen Erfahrung als Übersetzerin der Gedichte von Alex Galper und Ilia Kitup“, 2017
Alexander Galper – ZWEITE BART-Tage in Berlin – Tag Eins. PROPELLER-Nacht
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