Alexander Blok: Die Zwölf

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Alexander Blok: Die Zwölf

Blok/Münzner-Die Zwölf

DIE ZWÖLF

Schwärze: Abend.
Weiß: Schnee fällt.
Wind und Wind!
Keiner der sich aufrecht hält.
Wind und Wind
Über Gottes weite Welt!

Windsbraut streut
Flockenweiß.
Drunter: Eis.
Gleiten, Fallen: so gehts allen.
Arme Leut!

Eine Schnur, die man spannte.
Dran ein Plakat:
„Alle Macht der Konstituante!“
Kommt ein Mütterchen, das weint,
Weiß nicht, was das alles meint:
Solche Stoffverschwendung
Ausgerechnet jetzt!
Wüßt da bessere Verwendung.
Barfuß ist man und zerfetzt…

Mütterchen, mußt durch den Schnee –
Irgendwie wird es schon gehn.
– Maria-Fürsprech, blick herab!
– Die Bolschewiken bringen mich ins Grab!

 

 

 

Sturmgesang und Maskenspiel

Nie in der Geschichte hat sich ähnliches zugetragen. Auf der einen Seite eine Handvoll Arbeiter und gewöhnliche Soldaten im Besitz der Waffen, die siegreiche Revolution repräsentierend – und dabei in vollster Armseligkeit; auf der anderen Seite ein wütender Haufe von Leuten, wie sie um die Mittagszeit die Bürgersteige der Fünften Avenue zu bevölkern pflegen, spöttelnd, schimpfend, schreiend: „Verräter, Provokateure!“
John Reed: „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“

Denn ich sage euch: Es muß noch das auch vollendet werden an mir, das geschrieben stehet: „Er ist unter die Übeltäter gerechnet.“ Denn was von mir geschrieben ist, das hat ein Ende.
Lukas 22,37

I
Alexander Blok sprach von seinen Zwölf nur mit größter Vorsicht. Selbst ihm, der mit Tod und Teufeln unerschrocken umgegangen war, war das Gedicht nicht ganz geheuer. „Erdgeist“ nannte er die körperliche Erregung des Januars und Februars 1918 – nach dem „Geist der Erde“, den Faust in seiner Erkenntnisnot um Hilfe anfleht, aber nicht erträgt. Am 29. Januar 1918, als Blok das Gedicht abschloß, heißt es im Notizbuch:

Ich verstehe Faust. „Knurre nicht, Pudel!“

Bei Goethe folgt:

Zu den heiligen Tönen,
Die jetzt meine ganze Seel umfassen,
Will der tierische Laut nicht passen.

Mephistopheles ist schon im Zimmer.
Die ausführlichste Äußerung zu den Zwölf, eine Niederschrift vom 1. April 1920, in der Blok biographische Voraussetzungen, Bauart und mögliche Wirkung des Gedichts bedenkt, zeigt diese Vorsicht als Skepsis des Apokalyptikers gegenüber dem „Tropfen Politik“ in den Versen:

… das letzte Mal ergab ich mich im Januar 1918 den Elementen nicht weniger blind als im Januar 1907 oder im März 1914. Ich widerrufe das damals Geschriebene deshalb nicht, weil es in Übereinstimmung mit den Elementen entstand: So vernahm ich zum Beispiel während und nach der Arbeit an den Zwölf mehrere Tage lang körperlich, mit dem Gehör ein großes Krachen um mich herum – ein anhaltendes Krachen (wahrscheinlich das Krachen vom Zusammenbruch der alten Welt). Daher muß, wer in den Zwölf politische Verse sieht, entweder sehr blind für Kunst sein oder bis an den Hals im politischen Dreck stecken oder von großer Bosheit befallen sein – gleichgültig, ob er ein Feind oder ein Freund meines Poems ist.
Es wäre allerdings auch nicht wahr, jegliche Beziehung der
Zwölf zur Politik zu leugnen. Wahr ist, daß das Poem in jener außerordentlichen und immer kurzen Zeit geschrieben wurde, da der revolutionäre Zyklon einen Sturm auf allen Meeren erzeugt – auf dem Meer der Natur, auf dem Meer des Lebens und auf dem Meer der Kunst; auf dem Meer des menschlichen Lebens gibt es auch eine kleine Bucht von der Art der Marquis-Pfütze, die heißt Politik, und in diesem Wasserglas gab es auch Sturm – leicht gesagt: man sprach vom Ende der Diplomatie, von einer neuen Justiz, von der Beendigung des Krieges, der schon vier Jahre dauerte! – Die Meere der Natur, des Lebens und der Kunst schäumten auf, Wasserspritzer standen als Regenbogen darüber. Ich sah den Regenbogen, als ich die Zwölf schrieb; daher der Tropfen Politik. Wir werden sehen, was die Zeit damit macht. Vielleicht ist alle Politik so schmutzig, daß ein Tropfen alles trübt und verdirbt; vielleicht tötet sie den Sinn des Poems nicht ganz; vielleicht schließlich – wer weiß! – ist sie die Hefe, wegen der man die Zwölf irgendwann in nicht mehr unseren Zeiten lesen wird. Ich selber kann darüber nur voller Ironie sprechen; doch – maßen wir uns jetzt kein endgültiges Urteil an.

Der Tropfen Politik: Das Losungszitat? Die schimpfende Alte, die das Transparent in Fußlappen umrechnet? Der verdrossene Pope? Die Huren, die ihr Geschäft demokratisieren? Die Rote Garde? Bedenkt man, daß Blok unter Politik den Krämerstil des russischen Liberalismus, die Realpolitik, verstand, so sind diese robusten Eindeutigkeiten für ihn das Gegenteil davon. Den russischen Bolschewismus hielt er eine kurze Zeit für etwas viel Größeres als eine politische Partei, nämlich für einen Teil jener „Weltrevolution“, deren erste Seiten schon Catilina, der „römische Bolschewik“ geschrieben habe und die sich in jüngster Zeit für ihn mit den Namen Michail Bakunin, Richard Wagner, August Strindberg und Wladimir Solowjow verband. Nein: Irgend etwas mußte ihm nicht geraten sein an dem Gedicht, daß er so lange dabei verweilte.
Vieles spricht dafür, daß es der Schluß ist. Christus erscheint als ebenso unangreifbar vom Sturm, als ebenso unverwundbar wie die Zwölfer-Patrouille. Der Hund, der die Zwölf von Anbeginn verfolgt (Fausts Pudel?), wird auf seinen Platz verwiesen. Doch Blok war das „Weibliche“ der Christus-Erscheinung nicht recht. „Nicht daß die Rotgardisten Jesu, der jetzt mit ihnen geht, unwürdig wären, aber daß gerade ER mit ihnen geht, wo doch der ANDERE mit ihnen gehen müßte.“ Wer sollte das sein?
Folgt man Bloks Bericht über seine Hingabe an die Elemente, so muß ihm das ausgesprochen Wertende des Schlußteils ein Ärgernis geblieben sein. An diesen Schluß klammerten sich die Deutungen. Jesus Christus (mit oder unter der Fahne oder als Fahne) geht den Revolutionären voran: Preislied? Lästerung? Blok war dieses Rätseln tief verhaßt. „Ich habe nur eine Tatsache konstatiert: wenn man auf diesem Weg in die Säulen des Schneesturms blickt, sieht man ,Jesus Christus‘.“ Wertung konnte nur aus dem Ganzen kommen, nicht aus einem Teil, einem Motiv.
Was Blok vorschwebte, zeigt sein Brief an Juri Annenkow vom 12. August 1918, der als erster Zeichnungen zu den Zwölf anfertigte. Blok schrieb:

Zu Christus: So ist er ganz und gar nicht: ein Kleiner, gekrümmt wie der Hund hinter ihm, trägt brav die Fahne und geht fort. ,Christus mit der Fahne‘ – das ,stimmt und stimmt nicht‘. Wissen Sie, daß (bei mir das ganze Leben hindurch), wenn eine Fahne im Wind schlägt (hinter Regen oder hinter Schnee und vor allem – hinter nächtlicher Dunkelheit), ich mir dann unter ihr einen Gewaltigen denke, welcher eine bestimmte Beziehung zu ihr hat (er hält sie nicht, er trägt sie nicht, wie – das kann ich eben nicht sagen). Das ist überhaupt das Schwerste, man kann das nur finden, aber ich bin nicht imstande, es zu sagen, wie ich es vielleicht am allerschlechtesten eben in den Zwölf zu sagen vermochte…
Wenn es aus der linken oberen Ecke der ,Ermordung Katjkas‘ herwehte wie dichter Schnee und dort hindurch – Christus erkennbar, das wäre ein getroffenes Titelbild.

Bloks Verleger Samuil Aljanski, der die Zwölf nach der Zeitungsveröffentlichung mit Annenkows Zeichnungen herausbrachte, schrieb am gleichen Tag auf, Blok habe sich die Zwölf und Christus hinter diesem Gewaltigen, einem „größer werdenden Lichtfleck“, vorgestellt.
Der politische Liberalismus, die „Marquis-Pfütze“ (wie der Finnische Meerbusen ironisch nach dem Seefahrtsminister Alexander 1., Marquis de Travers genannt wurde) hatte damit tatsächlich nichts zu tun. Um so mehr die Ausbrüche von 1907 und 1914, die mit der Leidenschaft für die Schauspielerin Natalja Wolochowa und die Sängerin Ljubow Delmas die Gedichte der Bücher Schneemaske und Carmen hervorbrachten. Um so mehr mit dem „rettenden Gift der schöpferischen Widersprüche“, mit dem „Gift der Haßliebe“, wie Blok wenige Wochen nach den Zwölf in seinem Wagner-Aufsatz „Kunst und Revolution“ „jenes ,Neue‘, dem die Zukunft gehört“, beschrieb.
Die mörderischen Leidenschaften des Gedichts von 1918 erweisen sich als das Problem, nicht als Episode der Zwölf. Den Konflikt von Leidenschaft und Macht wertet Blok durch die Bauart seines Gedichts entschieden als geschichtliche Legitimation der Zwölf: Aufbegehren, Zorn gegen die „schreckliche Welt“, schöpferisch noch in der Verkehrung. In Bloks Sicht nimmt Christus dem Mörder Petrucha nicht die Schuld ab, sondern ist eins mit den Zwölf, deren einer der Mörder ist.
Blok schließt hier strukturell wie ideengeschichtlich an Puschkins „Ehernen Reiter“ an: Der Imperator Peter jagt im Bunde mit den Elementen, den über die Ufer der Newa getretenen Wassern, den kleinen Beamten Jewgeni, der seine Frau verloren hat und Peter fast zu drohen wagt, in den Wahnsinn. Die Stadt, den Sümpfen abgetrotzt, wird ihren Bewohnern zum Verhängnis. Was Puschkin zu leisten aufgab, war nicht weniger als die Vereinigung von Peter und Jewgeni, Macht und Menschlichkeit. Blok wußte, daß dieses „Peter und Jewgeni in eins“ den Konflikt bis ins Unsagbare kompliziert: Petrucha, unser neuer Jewgeni, tötet Katjka, seine Geliebte, selber und darf – noch lauert der Feind – sich seinem Schmerz nicht überlassen. Den „Weltbrand im Blut“ ziehen die Zwölf wie einst der gespensternde Peter weiter, Petrucha ist einer von ihnen.
Der „Andere“, den Blok vor seinen Zwölf vermißte, hatte zweifellos diesem Konzept entsprechen sollen, und es gibt Hinweise, wie Blok ihn sich vorstellte. Einen Tag vor der ersten Notiz zu den Zwölf schrieb er einen Plan für ein Jesus-Drama auf. In der Charakterisierung seines Jesus – „nicht Mann, nicht Frau“ – nahm Blok ein altes Bild auf, das er in dem Aufsatz zu August Strindbergs Tod 1912 entworfen hatte: Es sei Zeit für eine neue „Geschlechterauslese“, in der das männliche „Prinzip“ und das weibliche „Prinzip“ harmonischer als bisher verteilt seien. Strindberg sei eine der gelungensten „Proben“ dieser neuen Zusammensetzung gewesen und habe für die Überwindung eines Zustands gearbeitet, den Blok so beschrieb:

Wenn das Männliche zum Männchenhaften wird, entartet Zorn zu Bosheit; wenn das Weibliche zum Weibchenhaften wird, verwandelt sich Güte in Empfindsamkeit.

Bloks „neuer Mensch“, als der sich der erhoffte „Andere“ erweist, ist – mit deutlicher Parallele zu dieser Strindberg-Metapher wie zu der Zwölf-Notiz – in einem Heine-Aufsatz von 1919 angedeutet, der Strindberg neben Wagner, Ibsen und Dostojewski auch direkt nennt:

Der Mensch – ein Tier, der Mensch – eine Pflanze, eine Blume. Züge einer unerhörten, wie unmenschlichen, animalischen Grausamkeit; Züge einer ursprünglichen, genauso unmenschlichen, vegetativen Zärtlichkeit. All das – Gesichte, Masken, das Flirren unzähliger Gesichte; dieses Flirren bedeutet, daß der ganze Mensch in Bewegung gekommen ist, sein Geist, seine Seele, sein Körper ganz erfaßt sind von Wirbelbewegungen; in diesem Wirbel der politischen und sozialen Revolutionen, die kosmische Entsprechungen haben, entsteht der neue Mensch…

II
Bloks Vorsicht bezog sich anderseits auf den merkwürdigen Gegensatz von Material und Bauart seines Gedichts. Das Elementare, der „Sturm auf allen Meeren“, ist kunstvoll inszeniert. Der Sturmgesang wendet sich ins Maskenspiel. Das Mysterium findet auf dem Volksbilderbogen statt. Bezeichnend, daß Blok 1918 seine Frau, die Schauspielerin Ljubow Dmitrijewna Mendelejewa, in einem Petrograder Miniaturtheater mit dem Coupletsänger M.N. Sawojarow bekannt machte, um ihr zu zeigen, wie die Zwölf gelesen werden müßten.
B. Gasparow und Juri Lotman haben 1975 darauf hingewiesen, daß der Tag der einzigen Sitzung der Konstituierenden Versammlung, der 5. Januar 1918 (alten Stils), den die Plakate als den Tag (oder einen Tag) der Vorgänge im Gedicht nennen, noch in die Weihnachtswoche fiel. Die Zwölfer-Patrouille könnte also ein Weihnachtsumzug sein, um den sich Maskierte, Puppenspieler, Guckkästner und Leierkastenmann scharen. Auch das Christus-Motiv lasse sich so konkreter fassen: ein Bilderbogen-Christus mit einem Kranz aus weißen Papierrosen. Weiter sei denkbar, daß der Eifersuchtsmord Elemente des Stummfilms verarbeite.
Die Zwölf wären dann: der triviale „Kriminalroman“, tragisch groß begriffen in Dostojewskis Tradition als ein Aufbegehren kindlicher Unmittelbarkeit gegen die Zwänge sozialer Ungleichheit – freilich nicht ohne den „ewigen Beigeschmack von Posse“, die Blok in einer Notiz vom 4. August 1917 an tragischen Vorgängen vermerkt.
Das Verhältnis von „Sturm“ und „Spiel“ in Bloks Zwölf hat aber noch einen weiteren Bezug, der über die literarische Quelle einen geschichtlichen Anschluß vermittelt: Thomas Carlyles Metaphorik in seiner Geschichte der Französischen Revolution (1834/35). Blok las das Buch 1911 in der russischen Ausgabe von 1907 und nannte es „genial“. In dem am 9. Januar 1918, also zu Beginn der Arbeit an den Zwölf geschriebenen Aufsatz „Intelligenz und Revolution“ zitierte Blok aus Carlyles Satz über die Geburt der amerikanischen Demokratie:

Die Demokratie ist geboren und kämpft sturmumgürtet um Leben und Sieg.

Jefim Etkind hat in seiner Studie über die Zwölf 1972 erklärt, daß der „Gürtel der Stürme“, von dem Blok in einer Abwandlung des Carlyletexts 1919 sprach, wie eine Beschreibung des Kompositionsprinzips des Gedichts wirke: die konzentrische Bauweise, in der sich jeweils das 1. und 12., das 2. und 11. usw. Kapitel aufeinanderbezögen, zeige die ersten und die letzten drei Kapitel als den „Sturm-Gürtel“ des Gedichts.
Carlyle beherrscht freilich in einem viel umfassenderen Sinn Bloks Zwölf. Von den „rasenden Tornados von Fatalismus, blind wie Winde“ bis zu den Straßen, die einem „lebendigen, schäumenden, sturmgepeitschten Meer“ glichen, wird „Sturm“ mit unerschöpflicher Phantasie abgewandelt. Carlyle stützte sich selber auf Älteres. Zeitgenossen der Französischen Revolution berichteten über das „Fest der Vernunft“, auf dem sie „tanzten im sausenden Wirbel, wie jene Staubwirbel, die Sturm und Zerstörung vorangehen“. Carlyle zitiert das Buch Hiob:

Und siehe, da kam ein großer Wind von der Wüste her, und stieß auf die vier Ecken des Hauses… (1,19).

Wind als Vorbote, Dirigent, Vollstrecker.
Wichtig wurde für Blok Carlyles eigenartige Theater-Sicht auf die Revolution. Wie matt und unerquicklich, ruft Carlyle im Kapitel „Menschheit“ aus, blieben doch alle vorbedachten Szenen gegen die Ausbrüche der Natur. Das erste nationale Bundesfest, das am 19. Juni 1790 stattfand, schildert er ironisch als höchsten Triumph, den die Thespische Kunst bisher gefeiert habe – ein fragwürdiger „Mummenschanz der Nation“. Wie anders dagegen die „Krone aller Phänomene unserer neuesten Zeit“ – der Sansculottismus. Man lese Carlyles hochtheatralisierte und zugleich naiv bilderbogenhafte Schilderung vom Auftauchen dieses „transzendentalen Phänomens“, um Bloks Wertung des Marschs der Zwölf wiederzusehen:

… als es keine Wirklichkeit mehr, sondern nur Trugbilder des Wirklichen gab, als Gottes Welt vornehmlich das Werk von Schneidern und Dekorateuren und die Menschen steifleinene Masken zu sein schienen, die kopfnickend und fratzenschneidend darauf umhergingen – da tut sich plötzlich die Erde gähnend auf, und im Höllenrauch und Feuerschein hervorlodernder Höllenflammen steigt der Sansculottismus tausendköpfig, feueratmend empor und fragt: „Was denkt ihr von mir?“

Nicht daß Blok es von Carlyle hätte leihen müssen. Spiel im Sinne der Kunst als Spiel auf Leben und Tod hatte er viele Male getrieben. Geradezu skandalös im lyrischen Drama Die Schaubude (1906), als er das „letzte Abendmahl“ zu einer „grausamen Harlekinade“ machte. Doch nun galt es die Revolution. Bloks kunstvolles Spiel vom „Sturm auf allen Meeren“ in den Zwölf erwies sich für ihn als die einzige Möglichkeit, der Erfahrung des „Gewaltigen“ Herr zu werden, das „anhaltende Krachen“ zu überleben. Am 9. April 1918 erwähnt Blok in einem Brief an Andrej Bely den Kräfteverfall nach dem Erscheinen des „Erdgeists“, von dem er sich nun zu erholen glaube. Bely, mit dem Blok seit 1903 eine mehrmals in erbitterte Feindschaft umschlagende Freundschaft verband, hatte Blok davor gewarnt, „all zu andere Noten zu wählen“. Blok wehrte ab, es gebe keinen Grund zum Erschrecken.
In Wirklichkeit hat sich Blok von diesem Januar 1918 nie wieder erholt. Die vielen Funktionen, der Verwaltungsalltag in der Theaterbehörde (den er akkurat, manchmal mit Hingabe durchstand), Gutachten, Reden, Auftritte, der Ärger mit Umzug und Steuern, die Jagd nach Stearinkerzen – alles wäre zu ertragen gewesen, wenn ihm nicht immer mehr klargeworden wäre, daß er seinen poetischen Angriffspunkt verloren hatte. Seine Ämter waren nicht nur Broterwerb, sie waren Ausflucht: Nicht weil er überlastet war, dichtete er nicht mehr, er überlastete sich, weil er nicht mehr dichten konnte, weil er „ertaubt“ war, weil die „Musik der Revolution“ nicht mehr zu hören war. Mit den Zwölf war alles gesagt. Blok war außerstande, sich selbst einzuholen. Die Reden und Aufsätze über Catilina, den Zusammenbruch des Humanismus, über Wladimir Solowjow und die Bestimmung des Dichters waren Rückannäherungen an das Gedicht.
Larissa Reißner bemühte sich 1919, Blok für die Partei der Bolschewiki zu gewinnen; es gab Gespräche, man ritt zusammen aus. Aber der Versuch mußte scheitern. Die Bolschewiki waren durchaus eine politische Partei mit einer Strategie und einer Taktik, und die politische Ökonomie, die nach Bloks Worten das „hohe, kalte und zornige Wissen um die soziale Ungleichheit“ erniedrige, wurde betätigt als die Wissenschaft von der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse. Die Neue Ökonomische Politik brachte Blok endgültig aus dem Gleichgewicht. Er spürte, wie aus allen Ritzen das alte Leben mit Caféhausmusik und Krämergeschäftigkeit wieder hervorkroch. Diese elenden Feiglinge, denen er 1918 hatte das Haus bewachen müssen, sollten wieder das große Wort führen?! Im April 1921 wurde die sich steigernde Ermüdung zur akuten Krankheit. Nervenzerrüttung, Skorbut, Herzklappenentzündung lautete die Diagnose. Gegen eine Kur im Ausland sträubte sich Blok hartnäckig. Als er schließlich einwilligte, nach Finnland zu gehen, kam die Genehmigung für seine Frau zu spät. Einundvierzigjährig starb Alexander Blok am 7. August 1921.

III
Das Artifizielle dieses Sturmgesangs macht einem Nachdichter schwer zu schaffen. Er hat es zwar im einzelnen mit „einfachen“ Gattungen zu tun: Soldatentschastuschka, Abschiedsklagelied, Romanze, Marschzitat, Losungsformel. Das alles aber in Bloks Mystik des Alltags, der geheimnisvollen Erhöhung des Trivialen. Die robusten Eindeutigkeiten im vieldeutigen Spiel der Poesie. Die Zwölf sind immer die Zwölfer-Patrouille und die jünger und (nach einer Randnotiz Bloks zum zehnten der zwölf Kapitel) auch die zwölf Räuber nach Nikolai Nekrassows Moritat „Von den beiden großen Sündern“ in „Wer lebt glücklich in Rußland?“.
Der „Hund“ ist der „Pudel“, der „Hungerhund“ und der herrenlose Köter am Ende des Weihnachtsumzugs. Jesus ist das himmlische „Licht“ Emanuel Swedenborgs, der Mann hinter der Fahne und der Bilderbogen-Christus.
Von den elf bisher erschienenen deutschen Nachdichtungen sind zwei bedeutend. Die Wolfgang E. Groegers von 1921, die 1970 in der Chronik in Vers und Plakat „Links! Links! Links!“ neu gedruckt wurde. Und die Paul Celans von 1958, die hier nach seinen ebenfalls im Reclam-Verlag gedruckten Jessenin- und Mandelstam-Nachdichtungen zum erstenmal in der DDR erscheint.
Wie dieses „Erdgeist“-Gedicht übersetzen? Groeger folgte dem Original mit großer Wörtlichkeit. Für manche Stellen sind bis heute keine treffenderen Entsprechungen gefunden worden. Celan entfernt sich stärker vom Original, was im einzelnen zu Sinnverschiebungen führt, gewinnt aber durch die Reproduktion des rhythmischen Wechsels, der Sprach- und Versstruktur eine deutsche Entsprechung für das Ganze. Zwei Beispiele. Im dritten Kapitel wird der im politischen Vokabular der Zeit verbreitete „Weltbrand“ aufgenommen.

Fachen an den Weltbrand, Würger
Dieser Welt der lieben Bürger,
Weltbrand in Gehirn und Blut.
Herrgott, segne unsre Wut!

Wolfgang E. Groeger

Allerorten, allerwegen
Wolln, Burschui, wir Brände legen.
Das Blut soll kochen und sich regen
Herr im Himmel, gib den Segen!

Paul Celan

Das zehnte (und abgewandelt das elfte) Kapitel beschließt der an die „Warschawjanka“ erinnernde Vers:

Wperjod, wperjod, wperjod,
rabotschi narod!

Vorwärts! Vorwärts zur Tat!
Proletariat!

Wolfgang E. Groeger:

Volk der Arbeit, bleib nicht stehn.
Weiter mußt du, weitergehn!

Paul Celan:

In beiden Fällen sind Celans Fassungen unverbindlich, abschwächend, berauben den Text der Konkretheit. Auch vom Schneesturm im revolutionären Petrograd bleibt mehr die Welt im Schnee, wie wir sie aus Celans Gedicht „Heimkehr“ (1959) kennen.

Schneefall, dichter und dichter,
taubenfarben, wie gestern,
Schneefall, als schliefst du auch jetzt noch.
Weithin gelagertes Weiß,
Drüberhin, endlos,
die Schlittenspur des Verlornen.

Darunter, geborgen,
stülpt sich empor,
was den Augen so weh tut,
Hügel um Hügel,
unsichtbar.

Auf jedem,
heimgeholt – ein Heute,
ein ins Stumme entglittenes Ich:
hölzern, ein Pflock,

Dort: ein Gefühl,
vom Eiswind herübergeweht,
das sein tauben-, sein schnee-
farbenes Fahnentuch festmacht,

Vorbereitung auf Blok, Echo auf Blok. Gewinn und Verlust in Celans Zwölf-Text bedingen einander. Niemand außer ihm hat diese „monumentale Tschastuschka“, wie Ossip Mandelstam das Gedicht nannte, mit auch nur annähernder rhythmischer Virtuosität ins Deutsche gebracht.
Celans Text im Ohr wird man die Faszination verstehen, die von dem Sturmgesang und Maskenspiel nach Juri Annenkow auf die Russen Wassili Masjutin, Michail Larionow, Natalja Gontscharowa, Andrej Gontscharow und Nikolai Dmitrewski ausging und nun – unseres Wissens zum erstenmal – auch auf einen Deutschen.
Celans Text im Ohr versteht auch der deutsche Leser, daß Bloks Bedenken von 1920 nicht enden werden. Die Bedenken des Dichters, der fürchten muß, sein Bild von der Zeit könnte zu klein geraten sein. Die „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“ – gingen sie nicht einzig und allein mit dem allergrößten zusammen, was die Menschheit bisher erlebt hatte?
Es ist das „rettende Gift der schöpferischen Widersprüche“ zwischen dem Bericht des Chronisten John Reed und des Evangelisten Lucas, das Bloks nachsymbolistischen Epochenvergleich in unseren Zeiten zu lesen zwingt.

Fritz Mierau, Nachwort, Januar 1976

 

Die Zwölf von Alexander Block

Die Zwölf von Alexander Block nehmen einen einzigartigen historischen Standort ein. Wir könnten uns jedes beliebige große literarische Werk vornehmen, das die Merkmale grandioser Epochen vereint oder erstmals aufweist – bei keinem ist die Bedeutung aus der literarischen Kategorie so in die gesellschaftliche hinübergewachsen.
Das Poem Die Zwölf entstand am Grenzabschnitt zweier Epochen, als in einem Land der Kapitalismus mit Gedröhn zu Fall kam und mit Gedröhn der Sozialismus entstand – im vernichtenden Wirbel der großen russischen Revolution.
Jedoch ist dieser Zeitpunkt – so reich an Geschehnissen und Aufregungen – nicht das einzige Moment, das zur Größe und Einmaligkeit des Poems beitrug. Die Zwölf sind auch dort ein bedeutsames Werk, wo dies nicht unmittelbar verbildlicht wird, sondern wo es klingt wie das entfernte Echo eines Untertons.

Die Entwicklung der vorrevolutionären russischen Literatur ist nicht so eindeutig zu den unwiderruflichen Ereignissen des Jahres siebzehn gelangt wie die russische gesellschaftliche Entwicklung. Für den europäischen Westen, der Rußland nur über die Literatur kannte, waren die Ereignisse der Revolution von 1917 ebenso überraschend und voller Unbegreiflichkeiten wie zwölf Jahre zuvor das revolutionäre Geschehen des Jahres 1905. Damals hatte Maxim Gorki, Europa zugewandt, Geist und Tendenz der russischen Literatur getadelt und durch die Konfrontation der revolutionären Wirklichkeit des Jahres fünf mit der Atmosphäre in der damaligen Literatur Europa Anlaß zur Überraschung und zum Unverständnis geboten, aber auch zum Korrigieren des Vertrauens in die russische Literatur.
Jedoch auch das weitere Ergebnis, das die lebenswichtige Bedeutung des literarischen Beitrags in der Zeit zwischen den beiden russischen Revolutionen bilanziert, befriedigte Gorki nicht. Bei der Bewertung des Gestaltungspotentials im russischen Literaturschaffen hielt Gorki sogar den Klassikern vor, daß sie allzusehr Moskauer waren und das gesamtrussische Leben nur selten und wenig kannten und wahrnahmen. In der Tat: Der gewaltige und vielfältige Reichtum des russischen Lebens führte im vorrevolutionären literarischen Schaffen zu keiner großartigen Gestaltung, selbst die Spuren eines entfernteren Abglanzes der weitreichenden Veränderungen des russischen Lebens und Denkens erscheinen in der russischen Literatur nur als Ausnahmen.
Erst im Jahre 1910 kam es zur futuristischen Revolution, zum Aufstand gegen Geist und literarische Formen des tonangebenden literarischen Symbolismus. Jedoch war die erste Welle des Futurismus nahezu ausschließlich eine literarische Revolution. Das, was Gorki für die russische Literatur forderte – engste Korrespondenz mit den unendlich wichtigen Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens –, hat als organisches Merkmal in das vorrevolutionäre russische Literaturschaffen überhaupt keinen Eingang gefunden.
So war der allgemeine Zustand, als das Jahr 1917 nahte.
Wenn man von der Dichterrevolution der Futuristen absieht, hat die tonangebende russische Literatur die unabwendbar nahenden Veränderungen weder verbildlicht noch vorbereitet. Und doch kann man von ihren Vertretern nicht sagen, sie wären sich der eintretenden Veränderungen nicht bewußt gewesen. Denn es war ausgerechnet ein Repräsentant der literarischen Symbolisten, ein so typischer Individualist wie Alexander Block, der zehn Jahre vor der Oktoberrevolution intuitiv das Nahen eines blutigen Untergangs spürte. Jedoch – und hier kann man beginnen, Block als bedeutenden Vertreter der richtungweisenden Gestaltung in der vorrevolutionären Dichtung und als Vertreter eines großen Teils der russischen Intelligenz anzusiedeln sieht er in dem vagen Bild des nahenden blutigen Untergangs nur die Negation, den apokalyptischen Schrecken, der alle Werte zertrümmert, an die die Existenz seiner literarischen Welt mit tausend Fäden gebunden war und die den Umkreis seiner bürgerlichen Individualität bestimmten. Nur den bewußten Wegbereitern der Revolution war es vergönnt, in der vernichtenden Negation gleichzeitig ein neues Positivum zu sehen: die Geburt neuer Werte einer neuen Gesellschaftsordnung.
Alexander Block hat das Moment des revolutionären Umsturzes nicht vorbereitet.
In den Revolutionsjahren begegnet er uns als Dichter und als Mensch, dem der Boden unter den Füßen entzogen wurde. Die Äußerungen der Revolution prägen sich jedoch seinem Bewußtsein überaus nachhaltig ein. Er wehrt sich dagegen. Je mehr er aber die revolutionäre Gärung verlängert, desto mehr wird sie sein ausschließliches dichterisches Erlebnis, und desto mehr verengen sich die Horizonte, in denen Unglauben und feindliche Voreingenommenheit gegenüber Chaos, Desorganisation, Brutalität und vernichtendem Schrecken der Revolution so breiten Raum einnahmen.
Ein beredtes Dokument dieser Veränderung des dichterischen Repräsentanten des vorrevolutionären Rußlands und eines bestimmten gesellschaftlichen Typus sind Blocks Aufzeichnungen jener Tage, die die grundlegenden Ereignisse der neuzeitlichen Geschichte ebenso festhalten wie das Entstehen ihres russischen poetischen Ausdrucks: der Zwölf von Alexander Block. In diesem Tagebuch finden wir nichts außer der Reaktion der Individualität Blocks auf die revolutionären Ereignisse. Es ist die seismographische Aufzeichnung des inneren Zustands eines erschütterten Dichters und ratlosen Menschen, eines Zustands, wie ihn die abnormen Ereignisse einer außerordentlichen Zeit bedrückend hervorriefen.
3. Januar 1918: Auf den Straßen Plakate. Am 5. Januar auf die Straßen. (Sich erschießen lassen?) Am Abend Gewitter. (Treuer Gefährte von Umstürzen!)
4. Januar 1918: Morgen wird etwas geschehen!
5. Januar 1918: Ein Flugzeug fliegt, obgleich wir starken Frost haben. (Bomben oder eine Proklamation?) Den ganzen Tag und Abend bin ich traurig gestimmt, ich ärgere und verkrieche mich. Irgendwo wird geschossen; mir kommt es zumindest so vor, ich weiß nicht, wer und was, es interessiert mich auch nicht.
6. Januar 1918: Intelligenz und Revolution. Abends ein schreckliches Gewitter. Unbestätigte Nachrichten, angeblich wurde um fünf Uhr früh die Gesetzgebende Versammlung auseinandergejagt. Es denkt sich gut, den ganzen Tag strömen mir Ideen zu…
In diesen Tagen schreibt Block für das Organ der linken Sozialrevolutionäre Banner der Arbeit einen Artikel über Intelligenz und Revolution. In jenen Tagen, in jener Atmosphäre, in einer solchen Stimmung beginnt er nach einer gewissen Unterbrechung auch dichterisch zu arbeiten.
„Auf dem Snamenski-Platz“, lesen wir in Blocks Aufzeichnungen aus jenen Tagen, „ist es neblig. Lampen sind nicht zu sehen, kein Mensch ist zu erkennen, der mehr als zwei Schritt entfernt ist. Unten über der Stadt der bläuliche Vollmond… Sehnsucht nach dem Abend. Ich bin durch die Stadt geschlendert geschlendert… Tauwetter, Wind, im Zimmer ist es kühl. Wieder Gewitter. Blauer Schnee… Um halb elf abends Korrekturen für Banner der Arbeit. Schrecken der nächtlichen Nachrichten und der nächtlichen Straßen… Die ersten Meldungen von der Revolution in Deutschland… Ich habe definitiv den Nachtdienst abgelehnt, das heißt, den Schlaf der Bourgeois zu bewachen.“
In dieser Situation begann Block die berühmten Zwölf zu schreiben.

Schwarzer Abend.
Weißer Schnee.
Wind! Wind!
Seht doch, wie er Menschen fällt!
Wind, Wind,
überall auf Gottes Welt.

Binnen drei Wochen ist das Gedicht geschrieben. Hier versöhnt sich Block mit Dingen, die er für unverzeihlich gehalten hatte. Mit resigniertem Mitleid verewigt er inmitten dieses stürmischen Wetters und unruhigen Tagesgeschehens, umhertappende menschliche Kriechtiere: die Alte, die vor einem Plakat über die Bolschewiki lamentiert, den langmähnigen Dichter, der „mähneschüttelnd murmelt: Verräter!“, und jenen „in der Kutte, um Schneewehn schleichend, schlaff – wie ist dir heut zumute, Genosse Pfaff?“, das „Straßenmädchen…“. Da ist der ganze entsetzliche Knäuel, zu dem Natur und Mensch verstrickt sind; und schließlich wird Blocks zeitgegebene, niedergedrückte, geschlagene Welt mit der sie bedrängenden Wirklichkeit in einer so bizarren Vision versöhnt, wie sie Jesus Christus mit der roten Schärpe auf der Stirn vor zwölf Gardisten darstellt.
Am 28. Januar beendet Block das Gedicht. Am 29. Januar schreibt er in sein Tagebuch:

Schrecklicher Lärm, der in mir und um mich zunimmt. Ich warte. Dieses Dröhnen hörte Gogol… Heute bin ich ein Genie…

Die Genialität des Dichters des heiligen Rußlands, der „kräftigen großen Bäuerin mit den weitausladenden Hüften“, hatte ihm den Weg gebahnt – den eigenständigen und bewundernswerten Weg – zu einem Rußland, das unaufhaltsam skandierte:

Voran, voran, du Arbeitsmann!

Die Zwölf ist nicht nur das berühmteste Gedicht Blocks, es ist ein berühmtes Werk der russischen Poesie. Dieses Gedicht ist nicht nur das Bild der Wandlung einer einzelnen dichterischen Individualität, es zeigt auch das ruhmvolle Einmünden jener Strömung der vorrevolutionären individualistischen russischen Poesie, die nur unklar das Herannahen eines „blutigen Untergangs“ (Block) oder einen „nahenden Hunnensturm“ (Brjussow) beschrieben hatte, in den breiten Fluß der Revolution.
Der Schwerpunkt dieses Gedichts liegt auch im resignierten Abschied von eingeschüchterten und unrühmlich untergehenden Dingen und Erscheinungen einer untergehenden Welt, und nur wie ein schwerer Seufzer klingt hieraus die friedfertige Annahme der neuen Welt und ihres Vorpostens: der zwölf Rotgardisten – Aposteln gleich –, die im „Alltagsschritt“ marschieren, voran „Jesus Christus“, der – für Block – die personifizierte Vorstellung von Rettung und Erlösung ist.
Aber gerade weil diese friedfertige Begrüßung sich der übersteigerten Einbildungskraft eines so typischen Repräsentanten nichtrevolutionärer Dichtung entrang, wie es Alexander Block war, prägt sie nahezu grundlegend das gesamte Gedicht, und so wird es zuweilen für ein revolutionäres Epos gehalten. Das aber ist ein Fehler: Die Zwölf ist nur ein Epos von der Revolution.
Unter dem Aspekt der Entwicklung der russischen Dichtung gesehen, handelt es sich um ein Bindeglied, das zu Geist und Ausdruck der reinsten und freudigsten Erscheinungen der russischen Revolutionslyrik führt.
Die russische Literatur hat zwei Gedichte, die das Wesen der einmalig bewegten Geschichtsepoche so in sich konzentrieren, wie das ein poetischer Ausdruck überhaupt vermag: Alexander Blocks Die Zwölf und Wladimir Majakowskis „150 000 000“. Diese Gedichte haben erstmals das überdimensionale lyrische Bild gezeichnet – zuerst das Bild von der Unantastbarkeit der göttlichen Ordnung, dann das von der menschlichen Wunderkraft der neuen Gesellschaftszustände im revolutionären Rußland – überall dort, wo die Literatur ein Fenster zum Leben war.
Zwischen der Entstehung der Zwölf von Alexander Block und der „150 000 000“ von Wladimir Majakowski liegt eine Spanne von zwei Jahren. Es war aber nicht nur die Chronologie, die zu der freudigen Verherrlichung des stürmischen Marsches der 150 000 000 führte, und zwar über die friedfertig angenommene Vision der blutigen Schritte der Zwölf. Von der Welt und den Bildern der alten Literatur, wie sie uns Lew Tolstoi und Dostojewski vorstellten, führte der Weg über Die Zwölf genetisch zur Epoche der 150 000 000.
In der slowakischen Literatur sind Die Zwölf kein unbekanntes Werk, obgleich sie zusammenhängend und formvollendet erst von Janko Jesenský nachgedichtet wurden. Und ebenso wie in der Geschichte der russischen Literatur Die Zwölf auch ein Symbol sind – neben der Veränderung in der literarischen Entwicklung auch ein Symbol für die Veränderung des Verhältnisses und des Faktums Revolution –, ist auch im heimischen slowakischen Geschehen an das Schicksal der Zwölf die Geschichte geknüpft, zumindest die Geschichte des Verhältnisses zur neuen revolutionären Literatur Sowjetrußlands.
Die offizielle slowakische Kulturöffentlichkeit hat es lange nicht für nötig erachtet, die Existenz dieses Gedichtes zur Kenntnis zu nehmen, obgleich in ihm bereits andere beispielsweise die Tschechen – das Merkmal eines bedeutsamen Wandels in der russischen Poesie und Literatur entdeckt hatten. Man kann sagen, daß Block wegen seiner Einstellung zur russischen Revolution bei uns sogar aus dem Verzeichnis der russischen Autoren getilgt wurde. Dieses Verzeichnis haben für die slowakische literarische Öffentlichkeit lange Zeit die fragwürdigen Größen der Pariser und Prager Emigration repräsentiert.
Die erste Übersetzung des letzten Gesangs der Zwölf erschien im Proletárska nedel’a, der Literaturbeilage der kommunistischen Pravda chudoby. Es war ein literarisch bedeutungsloser Versuch, die Übersetzung war mehr als dürftig; sie war eher eine Umschreibung der ersten mangelhaften tschechischen Übersetzung. Diesem Versuch kam lediglich eine kulturpolitische Bedeutung zu. Es war ein Bekenntnis zu jenen Wegen, die Die Zwölf durch ihre Geschichte signalisierten, und zwar von seiten der damals jüngsten Dichtergeneration, die in dieser wöchentlichen Beilage ihre Arbeiten veröffentlichte. Wenig später, im Frühjahrsband des DAV, erschien ein längerer Ausschnitt, und mit dieser ersten bemerkenswerten slowakischen Nachdichtung eines Gedichtteils begann die erste sozialistische Informationsrubrik über die UdSSR in der slowakischen Revue. Welche besondere Sendung haben doch Gedichte in unserem Zeitgeschehen!
Auf dieser Linie bewegt sich auch die Bedeutung des weiteren Schicksals des Poems in der slowakischen Literatur. Es genügt die Feststellung, daß im Jahre 1934 Janko Jesenský das ganze Poem nachgedichtet hat, ein Vertreter der nationalen Erwecker aus der Lyrikergeneration vor der Staatsgründung von 1918. Literarisch und außerliterarisch Berichtenswertes, das mit den Zwölf verknüpft ist, gehört bereits der Geschichte von Literatur und Gesellschaft an. Die Dichtung der Revolution und die revolutionäre Dichtung haben seit den Zeiten der Zwölf einen immensen Fortschritt erlebt. Die erwähnten Momente verdienen es jedoch, daß wir zu den Zwölf zurückkehren und die Tatsache begrüßen, daß sie in die slowakische Literatur von einem so bedeutenden Repräsentanten der slowakischen Vorkriegsgeneration eingeführt wurden, wie es Janko Jesenský ist.

Laco Novomeský, 1934, aus, Laco Novomeský: Erwägungen. Aufsätze zur Literatur, Verlag Volk und Welt, 1977

Mythos, Hymne, Satire?

– Bloks Revolutionspoem Die Zwölf entstand vor fünfzig Jahren. –

Der Lyriker Aleksandr Aleksandrovic Blok 1880 in Petersburg geboren und dort 1921 gestorben, gilt als bedeutendster Dichter des russischen Symbolismus, dessen zweiter Generation er zugerechnet wird. Einzig Blok gelang es, die symbolistische Dichtung in breiteren Kreisen Russlands populär zu machen. Das ist um so erstaunlicher, als Bloks Poesie sich nicht, nur ihrer symbolischen Verschlüsselung wegen dem raschen Verständnis entzieht; auch die Spuren der Theosophie Vladimir Solov’ews (1853 –1900), die sich allenthalben bei Blok finden, setzen der schnellen Rezeption Hindernisse entgegen.
Die Verbindung von mystisch-religiöser und pan-erotischer Erwartung ist das Hauptelement der frühen formstrengen, symbolträchtigen und musikalischen Gedichtmonologe Bloks. Später, etwa von 1905 an, dringt in sie ein sarkastisch-ironischer Ton ein, und unter dem Einfluss Dostojewskis wendet sich Blok dem Thema Grossstadt zu – doch sind Natur und Stadt in seinen Gedichten Spiegelbilder der eigenen Seelenlandschaft. Erst von 1909 an verstärkt sich in Bloks Dichtungen das realistische Element, zugleich findet der Poet hin zum freien Vers.
Es ist ein einziges Werk, mit dem Aleksandr Blok Weltruhm erlangte und das noch heute, so unübersetzbar es auch sein mag, in allen Sprachen als Dokument einer visionären Revolutionspoesie bekannt, ist: das Poem Die Zwölf. Blok schrieb es vor fünfzig Jahren, kurz nach der Oktoberrevolution und mitten im Bürgerkrieg, zwischen dem 8. und dem 28. Januar 1918; es erschien erstmals im April 1918 in Moskau. „Mythos? Dokument? Hymne oder Satire auf die Revolution?“, fragt Paul Celan in der Vorbemerkung zu seiner 1958 erschienen Uebertragung des Gedichts, und er berührte damit die Fragen, die seit fünf Jahrzehnten die Interpreten beschäftigen.
In seinem Poem zeigt Blok in zwölf Strophen den Mansch von zwölf Rotgardisten, die sich durch Schneetreiben und Aufruhr in Petrograd ihren Weg bahnen und dabei an den Vertretern der gerade verendenden bürgerlichen Gesellschaft vorbeikommen: an einem Bürger, der sich ängstlich versteckt, einer Alten, die ihr Schicksal beklagt („Die Bolschewiken bringen mich ins Grab!“), einem Intelligenzler, der die Zerstörung bejammert, einem fliehenden Popen, einem verhungernden räudigen Köter schliesslich, der – Symbol der auf den Hund gekommenen Bourgeoisie – winselnd umherschleicht. Für privaten Kummer haben die zwölf Jünger der Revolution keine Zeit. ein Gardist, der seine untreue Geliebte auf der Strasse niederschlägt, wird von seinen Genossen veranlasst, weiter mit ihnen zu ziehen, denn die Revolution braucht jeden:

Halt Schritt, halt Schritt mit der Revolution!
Glaub nicht, die drüben schlafen schon!

Unerbittlich marschiert der Zug der Revolutionäre unter der roten Fahne durch das apokalyptische Chaos voran, angeführt von einem Unsichtbaren:

… Gehn und schreiten, schreiten, gehen. –
Hungerhund prescht, hinterher.
Vorn die Fahne, blutig, wehend,
Und, unsichtbar – denn es schneit –
Einer noch, der ist gefeit,
Sturmfern, sanft, so schreitet er,
Schneeglanz, perlend, um sich her,
Rosenweiss sein Kränzlein ist. –
Vorne gehet Jesus Christ.

Bloks Poem Die Zwölf, im Anfang bisweilen noch als antireligiöse Blasphemie einerseits oder andererseits als Satire auf die Oktoberrevolution abgelehnt, wurde bald enthusiastisch aufgenommen und in den ersten Jahren nach der Revolution immer wieder öffentlich rezitiert. Das Gedicht fasziniert – davon ist auch in der Uebertragung noch etwas zu spüren – durch seine Mischung aus freien Rhythmen und strengeren Gedichtformen, aus Revolutionsparolen und Volksliedelementen, durch seine Verbindung von Ironie und Emphase, Tragik und Burleske, lyrischer Zartheit und derb-ordinärem Jargon: es ist ein Sprachkunstwerk des Chaotischen, der Revolution.
Von Anfang an sind die Interpreten des Poems durch die Christusgestalten am Ende des Gedichts irritiert und zu mancherlei Fragen und Deutungen angeregt worden. So hat man Christus, vielleicht nicht zu Unrecht, als eine neue Inkarnation jener „schönen Dame“ gedeutet, die in früheren Gedichten Bloks ausserweltliche Harmonie und ewige Göttlichkeit verkörperte. Blok selbst lehnt jede eigene Deutung ab und schrieb:

Ich wünschte, das Ende wäre anders. Als ich fertig war, staunte ich selbst: weshalb Christus? Aber je mehr ich hinschaute, desto klarer sah ich Christus. Und zur gleichen Zeit vermerkte ich: Leider Christus.

Noch mehr beschäftigte die Interpreten, vor allem die westlichen Slawisten und die russischen Emigranten, die Frage, auf welche Weise ein Symbolist und Mystiker wie Aleksandr Blok zur Revolution fand, wie ausgerechnet er einen so bedeutsamen, wenngleich doppeldeutigen Revolutionshymnus wie Die Zwölf hatte schreiben können. Was faszinierte Blok an der Russischen Revolution?
1920, als der Dichter schon ernüchtert und enttäuscht auf die revolutionären Anfänge zurückblickte, sprach er von dem Lärm, den er bei der Arbeit an den Zwölf tagelang in den Ohren gehabt habe – „wahrscheinlich den Lärm der zerbröckelnden alten Welt“. Blok begriff die Revolution als „schrecklichen Wirbelsturm“, als Schneesturm“, er vernahm in den Oktobertagen „das furchtbare, betäubende Getöse, mit dem er daherkommt. Dieses Dröhnen ist in jedem Fall Ausdruck ihrer Erhabenheit.“ Die Revolution war für ihn eine längst überfällige Katastrophe von kosmischen Ausmassen, er wollte sich daran beteiligen, das Fallende zu stossen. Dabei mischte sich in seine rationale Erkenntnis vom Ende der Bourgeoisie auch ein irrationales Element (vergleichbar vielleicht dem Bennschen „Wer Strophen liebt, der liebt auch Katastrophen“). So notierte Blok etwa am 5. April 1912 in sein Tagebuch:

Der Untergang der Titanic hat mich gestern unsagbar erfreut – es gibt noch einen Ozean.

Hier taucht das alte poetische Motiv der Lust am Untergang, die Faszination durch Chaos, Katastrophe und Schiffbruch unvermittelt auf.
Blok arbeitete auf seiten der Bolschewiki an der Revolution mit, ohne ihren Kern, ihre gesellschaftlich-politischen und ökonomischen Grundlagen, die ihr zugrunde liegende Klassenkampf-Theorie reflektiert zu haben. Ihm war die Revolution wohl mehr ein Abbild eigenen mystischen Erlebens, und aus solchem romantischen Verständnis (oder Missverstehen) erklärt sich wohl auch – ähnlich wie bei dem akmeistischen Lyriker und Blok-Schüler Sergej Esenin – die spätere Enttäuschung über die Realitäten der Revolution. An solchem romantisch-mystischen Revolutionsverständnis übte schon Majakovskij Kritik, als er eines seiner Revolutionspoeme „350 Millionen“ betitelte – an die Stelle der legendären zwölf Revolutionsjünger Bloks setzte er die präzise Zahl der Einwohner des damaligen Russland.
Am 9. Januar 1918, zur gleichen Zeit, als er an den Zwölf arbeitete, schrieb Blok in seinem Essay „Intelligenz und Revolution“:

Die Welt der Russischen Revolution, die die ganze Welt ergreifen möchte,… ist eins mit der Hoffnung, einen Weltzyklon zu entbinden, der in die vom Schnee verwehten Länder den warmen Wind und den Duft der Orangenhaine bringen und den sonnenversengten Steppen des Südens den kühlen nördlichen Regen schenken wird.

Im Zusammenstürzen der alten Ordnung, in der revolutionären Katastrophe, sah Blok, ganz im Sinne seiner frühen mystischen Dichtung, eine höhere, ausserweltliche Ordnung, eine neue Weltharmonie aufleuchten. Vielleicht projizierte er deswegen an die Spitze der Rotgardisten in seinem Gedicht einen göttlichen Anführer. In seinem Todesjahr 1921, in einer Rede auf Puschkin, in der er sich mutig gegen jede Beeinflussung, Behinderung und Vergewaltigung der Dichter durch staatliche Instanzen wandte, sagte er zu der Harmonie, die seinem Verständnis nach aus dem revolutionären Chaos auferstehen müsste:

Was ist Harmonie? Harmonie ist der Zusammenklang von kosmischen Kräften, die Ordnung des kosmischen Lebens. Ordnung ist Kosmos, im Gegensatz zur Unordnung – dem Chaos… Das Chaos ist ursprünglich, elementare Anarchie. Kosmos ist stabilisierte Harmonie, Kultur. Kosmos wird aus dem Chaos geboren. Das Elementare birgt den Samen der Kultur in sich. Aus der Anarchie entsteht Harmonie.

Die Zwölf: Mythos? Dokument? Hymne oder Satire auf die Revolution? Blok hat die Frage nicht beantwortet, und unter den Interpreten seines grossen, nun fünfzig Jahre alten Gedichts neue Verwirrung geschaffen, als er 1920 notierte:

Diejenigen, die in den Zwölf politische Verse sehen, sind entweder sehr blind für die Kunst oder sie sitzen bis an die Ohren im politischen Schmutz oder sind von einer grossen Boshaftigkeit besessen, gleichviel ob sie Feinde oder Freunde meines Poems sind.

Jürgen P. Wallmann, Die Tat, 28.12.1968

Alexander Block in unseren Tagen

1
Die europäische Unruhe der Jahrhundertwende gewann in Rußland ihre einzigartige Radikalität durch die Verlagerung des revolutionären Weltzentrum und die Vorboten der Revolution von 1905 bis 1907 und führte in allen Künsten zu neuen Entdeckungen. Der Realismus, den Maxim Gorki, Iwan Bunin und Leonid Andrejew schrieben, begann schon in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts die russische und die Weltliteratur unübersehbar zu beeinflussen. Zur gleichen Zeit traten Schriftsteller auf, die angesichts der veränderten Weltsituation diese Erneuerung des Realismus mit Skepsis beobachteten und andere Wege suchten – die russischen Symbolisten.
Der russische Symbolismus war eine Kunst der Synthesen. Die Veränderung, die er in der russischen Kultur bewirkte, ist auf die eigentliche kunstgeschichtliche Phase von 1895 bis 1910 nicht zu beschränken. Andrej Belys Petersburg und Fjodor Sologubs Der kleine Dämon oder Alexej Remisows ornamentale Geschichten in der Prosa, Alexander Block und Inokenti Armenski in der Lyrik, Wsewolod Meyerhold und Vera Komissarshewskaja auf dem Theater, das russische Ballett, Michael Wrubel in der Malerei und Alexander Skrjabin in der Musik – sie alle verursachten Umwälzungen, ohne die die sowjetische Kunst undenkbar wäre und deren Tragweite bis heute erkundet wird. Weit besser als diese Kunst der Synthesen kennen wir die Kunst der Analysen, jene 1910 einsetzende mächtige Leidenschaft des Zerlegens und Zerfällens, die selbst noch die ästhetischen Verfahren und Materialien zum Gegenstand ihres Entzückens machte. Die Unvermeidlichkeit dieses Sturms der Analyse, den die Visionäre der Zergliederung entfesselten – Welemir Chlebnikow, Wladimir Majakowski, Sergej Eisenstein, Sergej Tretjakow, Juri Tynjanow und Juri Olescha: jeder auf seine Art –, begreift man aber nicht, wenn man die Welt-Synthesen nicht kennt, die ihm vorausgingen. Die Analysen reagierten nämlich kraft neuer revolutionärer Erfahrungen und Funktionsideale kritisch auf die Welteinheit in den Synthesen der Symbolisten, und es ist kein Wunder, daß sich bei Block nach 1910 ein deutlicher Wandel im Synthese-Begriff vollzieht.
Die Anstrengungen der russischen Symbolisten richteten sich vor allem gegen ein simples Nacherzählen der Welt, das sich mit der Ausbreitung von echtem Milieu, von tatsächlichen Zuständen und Vorkommnissen begnügte. Diese Sicht entsprach freilich in keiner Weise der tatsächlichen Leistung der neuen Realisten, die den revolutionären Umbruch nicht nur sozialkritisch sichteten, sondern sozialpädagogisch förderten.
Die Symbolisten suchten nach einer Authentizität kosmischer Art: Der Text sollte im Zusammenstoß der Andeutungen, Analogien und Suggestionen den kosmischen Zusammenhang aller Erlebnisse des modernen Menschen herstellen. Ob aber das gewonnene Symbol des Zusammenhangs allein die Vorstellung des einzelnen Bewußtseins sei oder vielmehr Wiedergabe eines Objektiven, darüber ist es im Laufe der fünfzehn Jahre mehrfach zum Streit gekommen, denn von dieser Entscheidung hing sowohl die Kunstauffassung wie der Begriff der Welt-Synthese ab. Als die Dichter 1910 den Zustand des Symbolismus besprachen, prallten die beiden Auffassungen noch einmal scharf aufeineinander. Valeri Brjussow verteidigte den Symbolismus als pure Kunst gegen Iwanow und Alexander Block, die mit dem Symbolismus über die Kunst hinausstrebten – „andere Welten schauten“.
Es konnte so aussehen, als vertrete Brjussow hier die Autonomie der Kunst, während seine Gegner, wie er argwöhnte, sie der Religion unterwerfen wollten. Tatsächlich hat gerade Brjussow als Dichter, als Übersetzer, Redakteur und Organisator des Symbolismus für die Emanzipation der Kunst und die Aufnahme der zeitgenössischen westeuropäischen Künste, besonders des französischen Symbolismus, soviel getan, daß ihn Nikolai Gumiljow schon 1910 den Peter den Großen der russischen Kultur nennen durfte. Aber eigentlich ist es doch nicht darum gegangen. Das entscheidende Problem des Streits war das Verhältnis von Kunst und Dichterleben. War die Welt-Synthese Kunst oder Leben? Block 1910:

Ich stehe vor der Schöpfung meiner Kunst und weiß nicht, was ich tun soll. Anders gesagt: was ich mit diesen Welten tun soll, was ich auch mit dem eigenen Leben tun soll, das von nun an Kunst geworden ist, denn seine Schöpfung lebt neben mir – nicht lebendig, nicht tot, eine blaue Vision. Klar sehe ich das Wetterleuchten zwischen den Brauen der Wolken des Bacchus (Eros von Wjatscheslaw Iwanow), klar unterscheide ich die Perlmutter der Flügel (Wrubel – Der Dämon, Die Schwanenprinzessin) oder höre das Rascheln der Seide (Die Unbekannte). Doch all das ist Vision.
Bei dieser Lage der Dinge erheben sich die Fragen nach dem Fluch der Kunst, nach der Rückkehr zum Leben, nach dem gesellschaftlichen Dienen, nach der Kirche, nach Volk und Intelligenz. Das ist eine ganz und gar natürliche Erscheinung, die freilich dem Symbolismus innewohnt, denn es ist die Suche nach dem verlorenen goldenen Schwert, das das Chaos aufs neue durchbohrt, die tosenden violetten Welten ordnet und besänftigt.
Der Wert dieses Suchens liegt darin, daß es die Objektivität und Realität jener Welten augenfällig macht; hier bestätigt sich, daß all die Welten, die wir besuchten, und all die Geschehnisse, die sich darin abspielten, keineswegs unsere Vorstellungen sind, d.h., daß die These und die Antithese bei weitem nicht nur von persönlicher Bedeutung sind.

Alexander Blocks Welt-Synthesen gehören hier sicher zu den bemerkenswertesten und gefährdetsten: Sie sind ausschließlich das Werk eines Lyrikers. Während alle anderen Symbolisten immer wieder gelehrte Texte schrieben (manchmal beachtlichen Umfangs wie Brjussows Puschkin-Studien, Iwanows Dionysos-Abhandlung, Belys Gogol-Monographie oder Mereshkowskis Tolstoi- und Dostojewski-Darstellungen), blieb Block Lyriker, was er auch unternahm. Seine Dramen, seine Prosa, seine Briefe, selbst seine Darstellung über die letzten Tage des Zarenreichs sind die eines Lyrikers, und der Versuch, ein erzählendes Poem mit Milieu und Fabel zu schreiben, blieb ein Fragment. In seiner Prosa „Kunst und Zeitung“ ist nachzulesen, wie er vom Dichter fordert, in der Sprache der Poesie auch für die Zeitung zu schreiben. Und Wjatsches Iwanow meinte diese Leistung des Lyrikers, als er im Januar 1921 von Block sagte:

Im Umgang ist seine Rede so einfach, scheinbar bringt er keine zwei Worte zusammen, aber in seinen Gedichten weiß er intuitiv Sachen von dir, so intime Erlebnisse, die kein anderer weiß.

Die Skepsis, die tiefe Abneigung, welche Block in immer neuen Anfällen gegen das Lyrische hegte, zeigt, wie bewußt er sich der Gefahren war. Daß Block bis zum Schluß so großen Wert auf die Zyklisierung seines gesamten Werks legte, von kleinen Einheiten bis zur Trilogie; und viele Male Großformen ins Auge faßte, „Nachtigallengarten“, „Vergeltung“ oder „Rose und Kreuz“, hängt mit der Suche nach bändigenden Strukturen für Taumel und Gewalt des Lyrischen zusammen. Aber diese vollkommene Übertragung der Menschheitskultur in die Sprache des Gedichts verlieh Blocks Poesie die Bezauberung. Man könne von Block sagen, schrieb Ossip Mandelstam 1922, er sei der Dichter der „Unbekannten“ und der russischen Kultur.
Nicht daß die „Unbekannte“ und die „Schöne Dame“ Symbole der russischen Kultur seien, „aber das gleiche Verlangen nach Kult, das heißt nach einer zweckvollen Entladung poetischer Energie, leitete sein Schaffen im Thematischen und genoß ihren höchsten Augenblick im Dienst an der russischen Kultur und der Revolution“.
Block hielt die Last seiner Welt-Synthesen „im Schweben von Bagatellen“, wie es im Juni 1909 in einem seiner italienischen Gedichte steht:

Die Kunst – Last, auszutragen, die die Schultern drückt.
Und doch – wie halten wir, die Dichter, uns im Schweben
von Bagatellen, die das Leben tauscht, entzückt.
Wie süß, dem freien Nichts der Zeit sich hinzugeben
mit Nichtstun, spürn im Leib das Blut
singend wenden,
sich – hinter einem Federwölkchen – Glut,
die rote Lieb, erhaschen mit den Händen.

Glut erhaschen mit den Händen: Der Dichter befreie die Klänge aus dem Chaos, füge sie zur Harmonie und trage diese Harmonie in die Welt. Blocks ständige Sorge ist das Tagebuch seines Weges, die Trilogie der Vermenschlichung, wie er seine drei Bücher Gedichte nennt, deren Abteilungen und Texte er viele Male umstellte und änderte. Die peinlich genaue Datierung und wechselnde Anordnung baut eine ausgedehnte, an Gegenden reiche Welt voll Wahnsinn und Vergessen, voll Heiterkeit und geheimer Freiheit – seine Welt-Synthese: von einem Augenblick überhellen Lichts durch den unumgänglichen Sumpfwald zu Verzweiflung, Verdammnis, „Vergeltung“ und zur Geburt eines „gesellschaftlichen“ Menschen, eines Künstlers, der der Welt mutig ins Auge sieht.
Entscheidend war die Vorstellung von der Zeit. Die Trilogie der Vermenschlichung meint kein Nacheinander, und die Ansiedlung der Gedichte in der Kalenderzeit bekräftigt nur deren Entmachtung. Die Poesie vertilge die Kalenderzeit, die etwa technische Fortschritte einander ablösen läßt. Poesie folge jener anderen Zeit, die Block die musikalische nennt.
Musikalische Zeit meint – in größeren Zeiträumen empfinden, denken, leben: Die Catilinischen Verschwörungen im 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung sind eine Seite in der Geschichte der Weltrevolution, und der Sieg über die Tataren in der Schlacht auf dem Kulikowo-Felde am 7. und 8. September 1380 ist ein Ereignis in der russischen Volksseele von heute. Musikalische Zeit meint – Tatsachen aus allen Lebensbereichen, die dem Dichter in einem bestimmten Augenblick zugänglich sind, zueinanderordnen: alle zusammen schaffen immer einen einheitlichen musikalischen Stoß. Musikalische Zeit meint – Leben jenseits des eingetretenen Kalendertags. Nicht in der Vernachlässigung des unansehnlichen Alltags vor dem strahlenden Feiertag der Zukunft. Sondern die Empfindungen ausbildend für jeden kommenden Umbruch in Stimmung, Haltung, Lebensart.
Was hier für ein Jahr oder für Jahrtausende gilt, galt Block ebenso für jeden Tag und für die Welt überhaupt. Es war die Einheit der Welt, die er auf seine Weise beschrieb – wie hier 1921 in der Puschkin-Rede „Von der Bestimmung des Dichters“:

In den bodenlosen Tiefen des Geistes, wo der Mensch aufhört, Mensch zu sein, in Tiefen, die den Geschöpfen der Zivilisation – dem Staat und der Gesellschaft – unzugänglich sind, schweben Klangwellen, die gleich den das ganze Weltall umfangenden Ätherwellen sind, dort kommt es zu rhythmischen Schwankungen, ähnlich jenen Prozessen, die Gebirge, Winde, Meeresströmungen, Pflanzen und Tiere hervorbringen.

Musik als Urgrund der Welt und Lyrik als unmittelbar abhängig vom Geist der Musik zu sehen, war im Rußland des beginnenden 20. Jahrhunderts ohne Friedrich Nietzsches Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik und ohne Richard Wagners Musik nicht denkbar. Block hat das 1900 russisch erschienene Buch des deutschen Philosophen 1906 gelesen und lange Passagen mit Genugtuung herausgeschrieben. In seinem Aufsatz „Die Dichtung der Beschwörungen und Zaubersprüche“ von 1906 zitiert Block als Bekräftigung seines frühen Synthesebegriffs, der Auffassung von der Ungeschiedenheit von Wort und Tat in der Beschwörungsorgie, aus Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft den Satz, der die bannende Macht des Rhythmus in der Mythologie erläutert:

… ohne den Vers war man Nichts, durch den Vers wurde man beinahe ein Gott.

Der Kontext bei Nietzsche ist allerdings eher abfällig. Er fährt fort:

Ein solches Grundgefühl läßt sich nicht mehr völlig ausrotten – und noch jetzt, nach Jahrtausende langer Arbeit in der Bekämpfung solchen Aberglaubens, wird auch der Weiseste von uns gelegentlich zum Narren des Rhythmus…

Blocks Nietzsche- und Wagner-Bild sind genauso wenig bekannt wie seine Beziehung zur deutschen Romantik, etwa Novalis – feststeht aber, daß er die beiden Freundfeinde mit Ibsen und Strindberg als Kronzeugen für seine Ansicht anrief, daß der deutsche und der skandinavische Geist neben dem russischen Geist die größten Opfer im Kampf mit den Gegnern der Elementarkräfte gebracht habe.
Die Oktoberrevolution, die Block, seinen Welt-Synthesen entsprechend, als Teil eines Jahrtausendereignisses – des Anbruchs einer neuen Menschheitszeit – nicht mit der Französischen Revolution, sondern mit den Anfängen des Christentums verglich, ermunterte ihn, Ahnungen und Gewißheiten deutlicher auszusprechen, von denen seine Trilogie der Vermenschlichung längst getragen gewesen war und die Block in einem neuen Augenblick überhellen Lichts 1918 in die Zwölf geschrieben hat, sein sowohl offenstes wie verschlossenstes Gedicht. Blocks nachrevolutionäre lyrische Prosa befragte die Synthese der Zwölf, versuchte eine Rückannäherung, die Wiedergewinnung der nur kurz behaupteten (ertragenen?) Höhe. Sie entwarf mit der musikalischen Zeit in der Geschichte, mit dem Vergeltungsdenken, mit dem Zusammenbruch des Humanismus und seiner Ablösung durch die Welt des Künstler-Menschen die Aussicht einer artistischen Sensibilisierung für die wirklichen Vorgänge in der Welt, die der neuen Menschheitszeit entsprechen sollte.

2
Blocks unmittelbar anschauendes Weltverhältnis meidet alle vereinzelnden Zugänge zur Welt, um mit einem Mal den Blick auf das Ganze, die Empfindung des Ganzen, das Symbol des Ganzen zu gewinnen – den Geist der Musik, die rhythmischen Schwankungen in der Tiefe. So sind seine Gewißheiten zu verstehen: „In unseren Herzen hat der Seismographenzeiger bereits ausgeschlagen.“ (1908) „Mit jeder Faser des Körpers und des Herzens, mit dem ganzen Bewußtsein hört die Revolution.“ (1918)
Das Gleichgewicht von Geistigkeit und Körperlichkeit hielt Block für die Grundvoraussetzung des Lebens in der neuen Zeit. Die Kräftigung des Leibes sah er in einem Wechselverhältnis zur Kräftigung der poetischen Strukturen. 1910 und 1911, als er an dem Poem „Vergeltung“ arbeitete, waren „musikalisches und Muskelbewußtsein“ eins. Wie bei ständiger Handarbeit eine rhythmische Ausbildung der Muskeln an den Armen, dann auf der Brust und auf dem Rücken erfolge, so sollte der Rhythmus des Poems entstehen. Der Verlust des physischen und geistigen Gleichgewichts beraube einen unweigerlich des musikalischen Gehörs, der Fähigkeit, aus der Kalenderzeit, dem über die Welt nichts aussagenden Gang der historischen Tage und Jahre auszubrechen und in jene andere, nicht meßbare Zeit vorzudringen.
Der Ausbruch aus der Kalenderzeit erscheint in Blocks Dichtung als das Wagnis und die Aufgabe der angebrochenen Menschheitszeit. Kalenderzeit war für Block die chronologisch vereinzelnde Folge der Ereignisse, das Genügen am Tage, die Welt ohne ihren kosmischen Zusammenhang. Kalenderzeit war für Block ein positivistisches Aufhäufen von Details, aus dem er in die musikalische Zeit der Geschichtlichkeit ausbrechen mußte. Der Dichter dringe in die musikalische Zeit vor, indem er das Gefühl für seinen Weg ausbilde. Im Februar 1909, wenige Monate bevor in Italien das Gedicht „Die Kunst – Last, auszutragen“ entstand, beschrieb Block in seiner Prosa „Die Seele des Schriftstellers“ den Zusammenhang von Weg und Zeit in seiner Kunst:

Nur wenn solch ein Weg erkennbar ist, läßt sich der ,Takt‘ des Schriftstellers, sein Rhythmus bestimmen. Nichts ist gefährlicher als der Verlust dieses Rhythmus. Die fortwährende Anspannung des inneren Gehörs, das Lauschen auf eine wie aus der Ferne vorüberklingende Musik ist eine unerläßliche Voraussetzung für das Dasein des Schriftstellers. Nur wer die Musik des fernen ,Orchesters‘ (und das ist eben das ,Weltorchester‘ der Volksseele) vernimmt, kann sich eia leichtes ,Spiel‘ erlauben.

Block meinte damit besonders die Sensibilität für Beschleunigung und Verkürzung in der Geschichte. 1910 betonte er, daß die Russen in den vergangenen zehn Jahren mehr durchgemacht hätten als andere in hundert Jahren.
Was Block hier aussprach, war schon die Erfahrung aus seiner Trilogie der Vermenschlichung. Wer sich dem „,Weltorchester‘ der Volksseele“ stellt, kennt weder Zuflucht noch Geborgenheit. Das „leichte ,Spiel’“ war von der Art, die Block im Gedicht „O dies Spiel“ vom 18. Dezember 1913 vortrug: Der Dichter als der ewig Erblickte, der nicht weiß, wessen Blick ihn trifft. Dies die vierte und sechste der neun Strophen:

Nichts quält schlimmer als dies Ungefähr!
O das Graun des Blicks, den man nicht fängt,
Der uns schamlos einkreist und bedrängt:
Doch wer ists, der uns belauert, wer?

Dieser Blick, ob bös, ob gut gesinnt –
Besser wärs, er nähm uns nie zum Ziel!
Zu viel fremde Kraft, die in uns spinnt,
Unerforschter Energien Spiel…

Blocks Ausbruch aus der Kalenderzeit befestigte in der russischen Literatur einen Begriff von Zeitgenossenschaft, der die Stunde des Dichters immer als die Stunde Rußlands und die Stunde der Menschheit nahm. Block liebte es, sich mit etwas so Unfaßbarem wie der Atmosphäre der Epochen – „Unerforschter Energien Spiel…“. – zu befassen, weil er selber die Atmosphäre seiner Epoche so stark empfand. Denn was waren ihm seine Dichtungen anderes als das Ausschlagen des Seismographenzeigers in einer Epoche der Stürme und Katastrophen. Je sensibler ein Dichter sei, hieß es in der Catilina-Prosa, um so unzertrennter empfinde er Eigenes und Nicht-Eigenes. Daher seien die zartesten und intimsten Sehnsüchte der Seele des Dichters in Zeiten der Stürme und Katastrophen übervoll von Sturm und Katastrophe.
Das Vordringen in die musikalische Zeit befreit den Dichter aus dem Wust des aktuell Tatsächlichen, das die wirklichen Vorgänge verdeckt. Gegenstand bleiben die Sehnsüchte und Erschütterungen der Seele oder, wie Block in seiner Wagner-Prosa schrieb, „das rettende Gift der schöpferischen Widersprüche“. Die bedeutendste Äußerung über die Catilinischen Verschwörungen als ein Zeichen für den Zusammenbruch einer Epoche fand Block daher auch in dem Gedicht Catulls „Attis“, dessen Gelegenheit in nichts an die aktuellen geschichtlichen Vorkommnisse erinnert, das aber in den Galliamben, dem Versmaß der rasenden Orgientänze, den ungleichmäßigen, hastigen Schritt des Verdammten, den Schritt des Revolutionärs, des römischen „Bolschewiken“, in dem der Sturm des Zorns klingt, überdeutlich zu erkennen gebe.
Die Betonung liegt nicht auf der Parallele von Catilina und Catull, sondern auf der Ankündigung des Sturms in Tat und Gedicht. Nur so auch sind Blocks Dichtungen zu verstehen. Übervoll von Sturm und Katastrophe, sind sie nicht Zeugnisse eingetretener Revolutionen, sondern Zeugnisse der ungeheuren schöpferischen Widersprüche einer neuen Zeit, welche sie in ihren Anfängen noch kaum zu benennen weiß.
Mit dieser unerschrockenen Annahme und dem offenen Austrag des Kampfs der Gegensätze in seiner Dichtung wurde Block auch für sowjetische Dichter bestimmend, die seiner Poetik nicht folgten. Für Ossip Mandelstam, der ihn einen Mann des neunzehnten Jahrhunderts nannte, aber seine Sensibilität für die Musik der russischen Geschichte als einzigartig pries. Für Anna Achmatowa, die seine symbolistische „Sternenarmatur“ nicht mochte, aber ihn als „Tschelowek-Epocha“ bezeichnete. Für Boris Pasternak, der die romantischen Vorstellung vom Dichterleben verwarf, in dessen Rückschau auf die Revolution nach vierzig Jahren aber unüberhörbar Blocksche Töne klingen:

In diesem bedeutsamen Sommer 1917, zwischen den beiden Daten der Revolution, schien es, als versammelten sich und redeten auf den Meetings auch Bäume, Wege und Sterne. Die Luft schien kilometerweit erfüllt von flammender Inspiration, sie schien Persönlichkeit geworden, beim Namen zu nennen, beseelt und sehend.

Aber ebenso für die Prosa, für Isaak Babel, Michail Bulgakow, Andrej Platonow und Maxim Gorki, dessen nachrevolutionäre Prosa ohne die Auseinandersetzung mit Block, Bely und Sologub nicht denkbar ist.
Was sie mit Block verbindet, sind ihre Vorstellungen von Zeit und Kunst, ihre neuen Welt-Synthesen, deren Voraussetzungen Ossip Mandelstam in der Woronesher Zeit mit einer Gefahrenwarnung benennt:

Wenn ein Schriftsteller es für seine Pflicht hält, koste es, was es wolle, ,das Leben tragisch zu sagen‘, aber auf seiner Palette keine tiefen kontrastierenden Farben besitzt, und vor allem das Gefühl für das Gesetz nicht hat, nach dem das Tragische, auf welch kleinem Abschnitt es immer entstehe, sich unweigerlich in ein allgemeines Bild der Welt einfügt – bringt er nur ,Halbfabrikate‘ von Schrecken und Borniertheit hervor, Rohmaterial, das Ekel erregt und bei der wohlmeinenden Kritik den zärtlichen Namen ,Milieu‘ trägt.

3
Blocks Revolutionsverständnis war an sein Vergeltungsdenken gebunden. Weder seine bedingungslose Annahme des Oktober noch seine spätere Klage über das Verstummen der Musik der Revolution sind außerhalb dieses Zusammenhangs zu begreifen. Soziales Verhalten, geistige Produktivität, schöpferische Widersprüche leiteten sich für ihn nie aus ökonomischen Besitzverhältnissee und politischen Entscheidungen her. Block verstand die Revolution als verdiente Vergeltung für die sozialen Sünden der Vergangenheit und verteidigte sie gegen die sklavischen Ängste, gegen den Krämerstil der russischen Intelligenz. Er schloß aber, Alexander Herzen folgend, die Bourgeoisie aus dieser historischen Kette aus. Weder durch liberalen Humanismus, noch Sentiment noch politische Ökonomie dürfe das hohe, kalte und zornige Wissen um die soziale Ungleichheit erniedrigt werden. Der Bourgeois wird als unschöpferisch verteufelt. Die realgeschichtlichen Beziehungen zwischen Bourgeoisie und Proletariat spielen für Block keine Rolle. Die Bolschewiki waren für ihn eine Zeitlang etwas viel Größeres als eine politische Partei, und Lenin akzeptierte er nicht als Marxisten, sondern als einen russischen Revolutionär, der das Vermächtnis Bakunins und der russischen Bauernaufstände vollstreckte. In einem Brief vom Februar 1909 hat Block die Kräfte benannt, die seiner Meinung nach mit Elementargewalt zur Revolution drängen:

Der gegenwärtige russische Staatsapparat ist natürlich mieses, geiferndes, stinkendes Alter, ein siebzigjähriger Syphilitiker, der mit einem Händedruck die gesunde Jünglingshand infiziert. Die russische Revolution ist in ihren besten Vertretern – Jugend mit einem Nimbus rings um das Gesicht. Auch wenn noch nicht ausgereift ist, auch wenn sie oft knabenhaft unweise ist – morgen ist sie erwachsen. Das ist doch klar wie der helle Tag.
In den Fragmenten russischer Literatur von Puschkin und Gogol bis Tolstoi in den Seufzern der gemarterten russischen Demokraten des 19. Jh., in den hellen und unbestechlichen, den nur
vorübergehend getrübten Blicken der russischen Bauern ist uns eine gewaltige (nur noch nicht in den eisernen Ring des Gedankens gefaßte) Konzeption eines lebendigen, mächtigen und jungen Rußlands vermacht. Wenn irgendwo diese Vermächtnisse bewahrt werden, dann natürlich nicht in den Herzen der ,Realpolitiker‘ (selbst nicht der realsten und lebendigsten von ihnen – der Kadetten), nicht im stolypinschen, nicht im romanowschen – sondern in jenen Herzen nur, die beunruhigt und geöffnet sind, in den Gedanken, die diese Konzeption in sich aufnehmen wie frische Luft.
Wenn etwas lebenswert ist, dann das. Und wenn wo ein solches Rußland ,heranreift‘ dann natürlich – nur im Herzen der russischen Revolution im weiteten Sinn, einschließend die russische Literatur, Wissenschaft und Philosophie, den jungen Bauern, der sich zurückhaltend Gedanken macht ,immer über das gleiche‘, und den jungen Revolutionär mit dem vor Wahrheit strahlenden Gesicht, und überhaupt alles Unangepaßte, Zurückgehaltene, Gewittrige, mit Elektrizität Übersättigte. Diesem Gewitter hält kein Blitzableiter stand.

Nicht daß die beschleunigten Kapitalisierungsprozesse in Rußland Block verborgen geblieben oder von ihm geringgeschätzt worden wären. Es gibt Versuche sich diesen Vorstößen zu einem „Neuen Amerika“, wie ein Gedicht aus dem Jahr 1913 heißt, zu stellen. So gewiß er aber den reinigenden Sturm die Welt des Schreckens und der Totentänze hinwegfegen sah, so ungewiß blieb ihm alles Kommende. Im Prolog zum Poem „Vergeltung“, an dem er seit dem Tod des Vaters 1910 bis zu seinem Tod 1921 mit langen Unterbrechungen arbeitete, stehen die Verse:

Über Europa reißt ein Vieh
Von Gier gequält auf seinen Rachen.
Wer wird ihn töten, diesen Drachen?
Wir wissens nicht. Wie eh und nie
Hülln unsre Grenzen sich in Dunst.
Was jenseits liegt – wir sehn es nicht,
Wir spürn nur, daß es brandig riecht –
Dort wütet eine Feuersbrunst.

Daß dieser Drachen der Erstarrung und des Widergeists auch durch die „Wiedergeburt Rußlands durch die Fabrik“ besiegt werden könnte, hat Block in einem zu fassen versucht, über das er zwischen 1913 und 1916 nachdachte. Fertiggeworden ist es nicht, und es werde, meinte Block schließlich, einem anderen zur Vollendung aufgetragen – „keinem Liberalen und keinem Konservativen, sondern einem Ruhelosen wie ich“. Es seien dafür noch mehrere, auch historische Anläufe nötig. Geschrieben haben es vielleicht Wladimir Majakowski in „Wladimir Iljitsch Lenin“ und Andrej Platonow in seinen großen Geschichten und Romanen von den prometheischen Meistern, von den Künstlern auf den Lokomotiven und in den Wüsten der dreißiger Jahre. War es doch Block bei dieser Wiedergeburt um die Erneuerung der Art gegangen, die sowohl die Dämonisierung des Subjekts als auch seine Verflüchtigung in der Funktionalität hinter sich läßt.
Mit der Überwindung des Dämonismus hat sich Block sein Leben lang herumgeschlagen. Am quälendsten in seinem Poem „Vergeltung“:

In Katastrophen und Stürzen befreien sich meine ,Rougon-Macquarts‘ allmählich aus der russisch-adligen éducation sentimentale, ,Aus Kohle wurde Diamant‘, Rußland zu einem neuen Amerika; zu einem neuen, nicht zu dem alten Amerika.

Ein aufbegehrendes und jäh hinstürzendes russisches Geschlecht sollte von den siebziger Jahren des alten Jahrhunderts bis in die ersten Jahre des neuen Jahrhunderts verfolgt werden. Block wollte zeigen, wie der Aufruhr in der ersten Generation entkräftet ist durch den letzten Abglanz von Skepsis und Weltschmerz eines epigonalen Byronismus, aber ebenso durch die ersten Anzeichen der Ermüdung des nahenden fin de siècle. In der zweiten Generation wird der Aufruhr gedämpft durch die Empfindungsstumpfheit des Sohnes des neuen Jahrhunderts. Und erst in der dritten Generation, die aus der Verbindung des Sohns des „Dämons“ mit der Tochter eines fremden Volkes, des polnischen, hervorgeht, werde das Neue sichtbar auf seine Umgebung einwirken können. So beginne das Geschlecht, das die Vergeltung der Geschichte, des Milieus, der Epoche an sich erfuhr, seinerseits Vergeltung zu üben. Der neue Sproß schaffe es vielleicht, in das Rad der Menschheitsgeschichte zu greifen. Leitmotiv der Vergeltung sollte die Mazurka sein, der Tanz, der für Block die alten Kämpfe zwischen Rußland und Polen begleitete. Im Poem sollte die Mazurka anfangs leicht aus einem Petersburger Fenster erklingen, dann auf einem Ball sich mit dem Sporengeklirr der Offiziere mischen und endlich hinausdringen auf die polnischen Felder, über das nächtliche Warschau, in den Schneesturm.
Die Erneuerung der Art – „Aus Kohle wurde Diamant“ – sah Block nicht als ein allmähliches Fortschreiten. Gerade dem Zorn gegen die naiven Fortschrittstheorien verdankte das seinem Material nach autobiographische Poem die weitergreifende poetische Idee. In einem Vorwort von 1919 deutete Block die Situation an, in der der Plan für die Dichtung entstanden war. Es handelt sich um die Jahre 1910 und 1911. 1910 starben russische Künstler, die für Block Entscheidendes bedeutet hatten. Mit Vera Komissarshewskaja starb für Block der lyrische Ton auf dem Theater. Mit Wrubel die Unersättlichkeit des Suchens bis zum Wahnsinn. Mit Tolstoi die menschliche Zärtlichkeit, die weise Menschlichkeit. 1910: Krise des Symbolismus, Aufkommen der neuen Richtungen – Ego-Futurismus, Akmeismus, Kubo-Futurismus, 1911: die großen Eisenbahnerstreiks in London, „Panthersprung“ nach Agadir, heißer Sommer, der das Gras bis in die Wurzeln verdorren ließ, Interesse für Ringkampf, tödliche Flüge, schließlich im Herbst die Ermordung des Innenministers und Ministerpräsidenten Pjotr Stolypin, die das Land, das sich bislang noch halb in den Händen des Adels und der Beamten befunden hatte, endgültig unter die Herrschaft der Polizei brachte.
Alle diese Tatsachen aus unterschiedlichen Bereichen der Wirklichkeit hätten, so Block, jenen einheitlichen musikalischen Sinn, den er immer wieder aufzufinden suchte. Allerdings bezeichnet die Arbeit an dem nie vollendeten Poem auch einen wichtigen Einschnitt in Blocks Vorstellungen von der Einheit der Welt. Wenn er in den Jahren vor und nach der Revolution von 1905 bis 1907 seinen Welt-Synthesen das mystische Ineinsgehen aller Erscheinungen zugrundelegte, so datiert ab 1910 ein verstärktes „Bewußtsein der Ungeteiltheit und Unvereintheit von Kunst, Leben und Politik“. Der Unterschied ist gravierend. Wort und Tat fallen nicht mehr ununterscheidbar zusammen. Die 1906 durch die Nietzsche-Lektüre gestützte Vorstellung von der Dichtung als Beschwörungsorgie wird distanzierter betrachtet. Eigengesetzlichkeit der einzelnen Bereiche und Unendlichkeit der Übergänge bedingen einander. Synthese so begriffen heißt: Der unendliche Prozeß der Vereinigung und inneren Durchdringung vernichtet die Gegensätzlichkeiten.
Wenn Revolution Vergeltung war, dann offenbarte sich das Schöpfertum der Massen in der Zerstörung. So sah es Block. Niemand aus seinem Kreis hat mit dieser Unerschrockenheit die Vernichtung der alten Welt selbst in den Grimassen der Revolution angenommen wie Block. Die Musik der Revolution erklang für ihn im Krachen des Zusammenbruchs. Die Mazurka der „Vergeltung“ schlug um in die Lieder der proletarischen Kämpfe, die im Poem Die Zwölf abgerissen durch den Schneesturm klingen. Natürlich entging ihm auch die Arbeitsseite der Revolution nicht. Aber dies seiner Dichtung zugrunde zulegen, erwies sich als unmöglich.
Im Februar 1920 bezeichnete er noch einmal den Augenblick. In jeder Bewegung komme es zu einer Minute der Verzögerung, einer Minute der Besinnung, der Ermüdung, des Verlassenseins vom Geist der Musik. In der Revolution, wo nichtmenschliche Kräfte wirken, sei das eine besondere Minute. Die Zerstörung ist noch nicht abgeschlossen, geht aber schon zurück. Der Aufbau hat noch nicht begonnen. Die alte Musik ist schon nicht mehr, die neue – noch nicht.

4
Die Fähigkeit, „begierig zu leben und zu handeln in der angebrochenen Epoche der Wirbel und Stürme“, habe nur jene neue Menschenart, die Block den Künstler-Menschen nannte. Diesen Künstler-Menschen begriff Block nicht als das Ergebnis der europäischen Entwicklungen des neunzehnten Jahrhunderts, sondern als ihren Widerpart. Er sei eben gerade nicht der gespaltene ethische oder politische oder humane Mensch, sondern der Mensch der Elementarkräfte, derer er sich auf artistisch-meisterliche Weise in ihrer Ganzheit bewußt sei.
In Westeuropa sei er zu Beginn des Humanismus aufgetreten, dann aber seit dem Ende des 18. Jahrhunderts an der Zersplitterung der künstlerischen und wissenschaftlichen Interessen verkümmert. In diesem Zusammenbruch des Humanismus hätten nur wenige unter furchtbaren Verfolgungen den synthetischen Geist, die innere Einheit der Kultur hüten können. Block nennt Heine, Wagner, Strindberg, in Rußland Gogol, Tolstoi, Dostojewski. Kunst als Stimme des Elementaren und selber Elementarkraft sei für diese Künstler nie getrennt gewesen von den barbarischen Massen, den unbewußten Hütern der Kultur. Sie seien auch nicht dem Irrtum einer allmählichen Bildung der Massen durch populistische Senkung des Niveaus verfallen, sondern hätten im Gegenteil die Massen als die Träger eines anderen Gesetzes erkannt, das zur Herrschaft dränge.
Die neue Menschenart, der Künstler-Mensch hat Block von früh an beunruhigt. Die Trilogie der Vermenschlichung meint sie, „Vergeltung“ und Die Zwölf haben sie zum Gegenstand. Seine Sicht auf Wladimir Solowjow, auf die „Musik der alten Familien“ im Leben Michail Bakunins, auf den „Genossen“ August Strindberg und auf Maxim Gorki, den Mittler zwischen Volk und Intellektuellen, ist davon erfüllt.
Wie immer aber der Künstler-Mensch gegen das neunzehnte Jahrhundert entworfen war, so ist er ohne es undenkbar. Das Skythische, das Zigeunerische, das Christus-Modell, Faszination und Beängstigung durch das Petrinische Erbe, die neue „Geschlechterauslese“ wie das „Neue Amerika“ – alles ist durch das europäische neunzehnte Jahrhundert gegangen. Durch Gogol und Solowjow das Skythische, durch Apollon Grigorjow das Zigeunerische, Christus durch Dostojewski, Peter durch Puschkin, die Geschlechterauslese durch die europäische Mystik, die deutsche Romantik und Strindberg und das „Neue Amerika“ durch Nikolai Nekrassow.
Block war sich der tödlichen Gefahren beim Übergang zum Künstler-Menschen bewußt. Er selber sah sich mit in den Abgrund gerissen. Keine andere als die tragische Weltauffassung hielt er für ausreichend, um das ganze Ausmaß der Vorgänge zu erfassen. Die kosmischen Entsprechungen waren sein Alltag. Vom 29. Dezember 1912 ist das Gedicht „An die Muse“, das mit diesen Strophen beginnt:

Dein geheimes Gedicht sagt die Schwere
Des Geschicks, dem der Untergang droht.
Es verhöhnt jedes Glück, schmäht die Ehre,
Lästert Sitte, Gesetz und Gebot.

Es reißt mit, und mitreißend zerreißt es.
Ja, ich hab deine Krallen gespürt.
Die gefallenen Engel, so heißt es,
Hat der Reiz deiner Schönheit verführt…

Und verlachst du den Glauben, dann schimmert
Über dir plötzlich purpurn und grau
Jener Strahlenkreis, der mich erinnert,
Doch an was, weiß ich nicht mehr genau.

Lust und Marter der Lästerung nach dem Fall gehen zusammen. Blocks Dichtung entsteht, indem ständig Kult und Lästerung gegeneinander getrieben werden. Der Künstler-Mensch müsse diese Bedingtheiten der Welt in sich aushalten, ohne sie auszugleichen. Schon im Herbst 1902 hatte Block gegen Milde und Demut des Kults der Schönen Dame die grausame Harlekinade gesetzt, die dann in seinem lyrischen Drama Die Schaubude (1906) eine äußerste Zuspitzung erfuhr. Die Jungfrau aus dem fernen Land, die blasse Freundin erweist sich als Colombine, Pierrots Geliebte. Das Mysterium wird zur Posse. Das letzte Abendmahl findet in der Schaubude statt.
Die Zwölf bringen den neuen Gipfel. Am 29. Januar 1918, als Block das Gedicht abschloß, heißt es im Notizbuch:

Ich verstehe Faust. „Knurre nicht, Pudel!“
Bei Goethe folgt:

Zu den heiligen Tönen, Die jetzt meine ganze Seel umfassen, Will der tierische Laut nicht passen.

Mephistopheles ist schon im Zimmer.

Block zweifelte nicht im mindesten daran, daß es bei diesen „Zwölf“ nicht mit rechten Dingen zugegangen sei. Er berichtete später mehrfach von einem großes anhaltenden Krachen – „wahrscheinlich das Krachen vom Zusammenbruch der alten Welt“ – und von einem furchtbaren Kräfteverfall. Er berichtete von der Hingabe an die Elemente wie bei den Ausbrüchen im Januar 1907 und März 1914, die mit der Leidenschaft für die Schauspielerin Natalja Wolochowa und die Sängerin Ljubow Delmas die Gedichte der Bücher „Schneemaske und Carmen hervorbrachten. Das gleiche hatte sich am Anfang des Jahrhunderts bei der Begegnung mit Ljubow Mendelejewa, seiner späteren Frau, ereignet, jenem „Augenblick überhellen Lichts“, als die „Verse von der Schönen Dame“ begannen.
Das erotische Verhältnis zur Welt (Rußland als Geliebte, Frau, Mutter) zeigt die tödlichen Leidenschaften der „Zwölf“ nicht als Episode der ersten Revolutionstage, sondern als Problem des von Block erwarteten und begrüßten Lebens des Künstler-Menschen in der neuen Zeit. Den Konflikt von Leidenschaft und Macht wertet Block durch die Bauart seines Gedichts entschieden als geschichtliche Legitimation der Zwölf: Aufbegehren, Zorn gegen die „Welt des Schreckens“, schöpferisch noch in der Verkehrung. In Blocks Sicht nimmt Christus dem Mörder Petrucha die Schuld nicht ab, sondern ist eins mit den Zwölf, deren einer der Mörder ist.
Block schließt hier strukturell wie ideengeschichtlich an Puschkins „Ehernen Reiter“ an: Der Imperator Peter jagt im Bunde mit den Elementen, den über die Ufer der Newa getretenen Wassern, den kleinen Beamten Jewgeni, der seine Frau verloren hat durch die Elemente und Peter fast zu drohen wagt, in den Wahnsinn. Die Stadt, den Sümpfen abgetrotzt, wird ihren Bewohnern zum Verhängnis. Was Puschkin zu leisten aufgab, war nicht weniger als die Vereinigung von Peter und Jewgeni, Macht und Menschlichkeit. Block wußte, daß dieses Peter und Jewgeni in eins den Konflikt bis ins Ungeheure kompliziert: Petrucha, unser neuer Jewgeni, tötet seine Geliebte Katjka selber und darf – noch lauert der Feind – sich seinem Schmerz nicht überlassen. Den „Weltbrand im Blut“ ziehen die Zwölf wie einst der gespensternde Peter weiter, Petrucha ist einer von ihnen.
Diese übergreifende Geschichtlichkeit der Dichtung entwickelte Block aus der Materialität des Augenblicks. Die „Zwölf“ sind immer: die Zwölfer-Patrouille der Rotgardisten und die Jünger und (laut Randnotiz Blocks zum zehnten der zwölf Gesänge) auch die zwölf Räuber nach Nikolai Nekrassows Moritat „Von den beiden großen Sündern“ in „Wer lebt glücklich in Rußland?“ Die robusten Eindeutigkeiten – Soldatentschastuschka, Abschiedsklagelied, Romanze, Marschzitat, Losungsformel, Hurengeplänkel – schaffen das vieldeutige Spiel der Poesie.
Daß der Christus des Gedichts zu weiblich geraten sei, wie Block einmal notierte, ist danach eine höchst verständliche Befürchtung. Der andere, der Gewaltige, den Block sich lieber mit den Zwölf wünschte, kann nur der Künstler-Mensch gewesen sein, in dem sich Blocks Nachdenken über ein Leben in der neuen Zeit konzentrierte. Tatsächlich taucht einen Tag vor der ersten Notiz zu den Zwölf im Tagebuch eine Eintragung auf, die unter dem Eindruck der Renan-Lektüre Jesus für ein geplantes Jesus- Drama so sieht: „Nicht Mann, nicht Frau.“ – „Künstler.“
In dieser Charakterisierung seines Jesus nahm Block ein altes Bild auf, welches er in dem Aufsatz zu August Strindbergs Tod 1912 entworfen hatte. Es sei Zeit für eine neue „Geschlechterauslese“, in der das „männliche Prinzip“ und das „weibliche Prinzip“ harmonischer als bisher verteilt seien. Strindberg sei eine der gelungensten „Proben“ dieser neuen Zusammensetzung gewesen und habe für die Überwindung eines Zustands gearbeitet, den Block so beschrieb:

Wenn das Männliche zum Männchenhaften wird, entartet Zorn zu Bosheit; wenn das zum Weibchenhaften wird, verwandelt sich Güte in Gefühlsseligkeit.

Die neue Geschlechterauslese gehörte für Block zur Vorgeschichte des Künstler-Menschen. Den Wechsel der Masken, das schillernde Verhalten der Menschen, die seelenzerrüttenden Kämpfe um die neue Art hat er, die „Zwölf“ befragend, in all seiner nachrevolutionären Prosa erzählt. Am eindringlichsten in einer Vision aus dem „Zusammenbruch des Humanismus“, die die Radikalität seines Erneuerungsbewußtseins bezeugt:

Der Mensch – ein Tier; der Mensch – eine Pflanze, eine Blume. In ihm treten Züge äußerster Grausamkeit zutage, einer scheinbar nicht menschlichen, sondern tierischen Grausamkeit; daneben Züge einer naturhaften Sanftheit, die gleichfalls nicht menschlich, sondern pflanzenhaft zu sein scheint. An das sind zeitweilige Larven, Masken, das Wechseln unendlich vieler Larven. Dieses Wechseln zeigt eine Veränderung der Art an: der ganze Mensch ist in Bewegung geraten; er ist aus dem jahrhundertelangen Schlaf der Zivilisation erwacht, Geist, Seele und Körper sind vom Wirbel der Bewegung erfaßt; in dem Wirbel der geistigen, politischen und sozialen Revolutionen, die ihre kosmischen Entsprechungen haben, vollzieht sich eine neue Auslese, formt sich ein neuer Mensch; der Mensch, das humane Tier, das gesellschaftliche Tier, das sittliche Tier wird zum Künstler, um mit Wagner zu sprechen.

5
Gegner und Verbündete des Künstler-Menschen hat Block genau benannt. Ameisen-Mensch und Dandy-Mensch stünden in diesem Kampf gegen die „Menschen der Elemente“ und die aktiven Revolutionäre, deren „stürmische, physische, äußere Offenbarung“ der Konzentration aller Kräfte auf inneres Wirken bei den Künstlern entspreche.
Rachsucht gegen die Elementarkräfte sei die Triebfeder der Ameisen-Menschen. Fällt der erste hinunter bei der ewigen Suche nach den Nadeln, kriecht der zweite nach, stürzt der ab, kriecht der dritte hinauf. Und der Ameisenhaufen wächst. Voll geheimen Grimms, bemüht, das Toben der irdischen und unterirdischen Elementarkräfte zu vergessen und nicht zu hören, bauen sie wutschnaubend Maschinen und bringen die Wissenschaft voran. Block knüpfte dieses vernichtende Bild eines Produzierens um des Produzierens willen an die Erschütterung, die das Erdbeben von Messina in den fortschrittsgläubigen Geistern ausgelöst hatte.

Plötzlich, in dem historischen Augenblick, da Tolstoi Krieg und Frieden schreibt, Mendelejew das Periodensystem der Elemente entdeckt, da im Schoß der Erde das Erz sich der Picke des Menschen singend unterwirft, da Eisenbahnzüge den Raum in allen Richtungen verschlingen, da der deutsche Kaiser hochmütig den ,wundertätigen Erbauer‘, den Wohltäter der Menschheit und Eroberer der Lüfte umarmt – in eben diesem Moment schlägt in einem Observatorium der Zeiger des Seismographen aus.

Die Wissenschaftler sagten lediglich, daß Süditalien auch künftig Erdbeben drohten; daß dort die Erdkruste noch nicht festgeworden sei. Sind wir aber sicher, daß die ,Kruste‘ über einer anderen, ebenso furchtbaren, nicht unterirdischen, sondern irdischen Elementarkraft, der des Volkes, fest genug geworden ist?

Sei der Ameisen-Mensch unempfindlich für das Ausschlagen des Seismographenzeigers, so fege der Dandy-Mensch den Seismographen einfach hinweg. Die Vernichtung, die der eine nicht begreift, macht der andere sich zum Gaudium. Entstanden aus dem antibürgerlichen Aufruhr, der „manches auf dem Ödland der ,Philantropie‘, der ,Progressivität‘, der ,Humanität‘ und der ,Utilität‘“ versengte, münde die Verneinung in die Selbstzerstörung. Die unerlaubte Grenze überschreitend, lasse das Feuer die Wurzeln dieser Jugend verdorren. Historisch-autobiographisch hatte Block das Problem im Poem „Vergeltung“ zu fassen versucht, doch nach der Revolution schließt er seine Prosa „Die russischen Dandys“ mit der besorgten Feststellung:

Aber auch im Arbeiter- und Bauernmilieu sind schon junge Dandys anzutreffen.

Ameisen-Mensch und Dandy-Mensch hielt Block für nicht leicht überwindbar. Sie seien durchaus in der Lage, sich rasch anzupassen, ja als Gönner und bürokratische Mäzene des Künstler-Menschen aufzutreten. Aber es sei das „rettende der schöpferischen Widersprüche“, die „geheime Freiheit“, die die Umarmung des Künstler-Menschen durch den Spießer-Pöbel oft jäh beende. Das Gift der Haßliebe, das der Künstler-Mensch auf alles ausdehne, sei auf die Dauer für einen auf Ruhe und Endgültigkeit Erpichten unerträglich.
Die „Erprobung der Herzen durch die Harmonie“, welche Block in der Puschkin-Rede als Auftrag der Poesie sieht, müsse Ameisen- wie Dandy-Mensch verdächtig sein: niemand weiß, ob sie die Probe bestünden. Um es nicht so weit kommen zu lassen, erschalle seit jeher der Ruf nach Mäßigung:

Vergiß Poet! ruft man mir zu.
Laß Wohnlichkeit dich inspirieren!
In Frösten lieber dann erfrieren!
Nein, nicht Beschaulichkeit. Nicht Ruh.

Um so willkommener ist die Unruhe und Erregung des Künstler-Menschen dem russischen Revolutionär, der weder die Selbstgefälligkeit des Aufhäufens noch die der Selbstzerstörung hat und Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten beständig kritisiert. Hier treibt das rettende Gift der schöpferischen Widersprüche die Sensibilisierung.
In unseren Tagen, kurz vor dem hundertsten Geburtstag des Dichters im Jahr 1980, gewinnt die Herausforderung von Blocks Welt-Synthesen an Deutlichkeit. Sie übergreift den Sturm der Analysen in den Jahren zwischen 1910 und als sich die Material- und Operationsästhetiken an ihr übten und ihre Zusammensetzung im Laboratorium der Spracharbeit und in der Praxis der Gesellschaft erprobten. Ihre Kühnheit ist nicht übertroffen. Die neue Lektüre hat eben erst begonnen.

6
Block lesend wird man es freilich immer dringlicher mit diesen bezeichnenden Unschärfen zu tun bekommen, die die Empfindungen ins nicht Geheure locken. Wer sich dieser Lockung entzieht, verfehlt den Dichter. Denn Blocks Unschärfen im Historischen, Philosophischen, Politischen sind kein Mangel, sondern seine Art, die Empfindungen für das mit unserem Vorrat an Begriffen schwer oder gar nicht Sagbare zu schärfen. Blocks Geschichtsraffungen, Prozesse riesigen Ausmaßes zusammenziehend, schaffen die Schärfe im Lyrischen, poetische Genauigkeit.
Blocks geistiger Maximalismus scheute vor den äußersten Schlußfolgerungen aus den ihm zugänglichen Informationen nie zurück. Da aber sein Denken weder Weltentwürfe hervorbrachte noch ein Laborieren mit Varianten, ein Spiel der Konzepte war, gibt es bei Block keine Verlängerungen in die Utopie oder Prophetie. Das Artistische am Künstler-Menschen war für Block nie die Fertigkeit, etwas experimentell herauszubekommen, sondern immer die Fähigkeit zur geschärften Empfindung des neuen Augenblicks.
Diese Sammlung der Welt im Augenblick zeigte auch in Blocks letztem großem Gedicht, den „Skythen“ aus dem Jahr 1918, die Leistung der Unschärfe. Da Block mit dem Vergeltungssieg der Elementarkräfte in der Oktoberrevolution die gesamteuropäische Vergreisung durchbrochen glaubte, baute er auf den Anschluß aller solidarischen Kräfte des Westens, auf die Unterstützung der russischen Revolution. Das Gedicht entstand in dem Augenblick, als die Bedrohung des revolutionären Rußland durch das deutsche Kaiserreich noch bestand, vor dem Friedensschluß von Brest-Litowsk. Es ist als eine Anrede der Skythen an Europa gebaut, ein Warngedicht.
Block ging von der Möglichkeit eines neuen Hunnensturms oder Tatareneinfalls, aus, wie er im 4. bzw. 12. Jahrhundert Europa beunruhigt hatte und der nun, im 20. Jahrhundert, wieder drohe. Die Skythen hätten immer den Schild zwischen Europa und Asien gehalten und die Hauptlast getragen. Wenn sie jetzt im Stich gelassen würden, könnten sie vielleicht den Schild wegziehen und Todeskampf der beiden Gegner tatenlos zusehen.
Die historische Doppelgestalt Rußlands zwischen Europa und Asien hatte schon frühere Jahrhunderte ständig bewegt. Block betont die Aufnahmefähigkeit für den scharfen gallischen Verstand wie für den düstern deutschen Genius, aber auch die Empfindlichkeit für die Musik des Panmongolismus. Block knüpft hier an Wladimir Solowjows Interpretation des Panmongolismus an, die der Mystiker außer in einem Gedicht, aus dem Block das Epigraph zu den „Skythen“ nahm, in einem seiner letzten Prosa-Texte 1899 gegeben hatte. Eine eingeschobene Erzählung enthält die Prophezeiung über eine fünfzigjährige Herrschaft der Mongolen im Europa des zwanzigsten Jahrhunderts. Beendet werden sollte sie durch die Arbeit zahlreicher Geheimgesellschaften und das Auftreten eines Volksführers, der sich als Messias fühlt, zum Herrscher Europas aufsteigt, aber als er in Jerusalem auch zum geistlichen Oberhaupt ausgerufen werden will, als der Antichrist erkannt wird.
Man wird bemerken, daß Majakowskis Weltklassenkampf-Hyperbeln in „Mysterium buffo“ und „150 Millionen“ der Beginn der analytischen Erkundung dieser ungeheuren Zusammenschau Blocks sind, die einem Kalenderzeitrechnen natürlich niemals standhielte. Für Blocks Skythen-Synthese gilt aber, was er in der Catilina-Prosa von seinem Vorgehen sagte:

1. Ich mache mich nicht an eine akademische Untersuchung der ersten besten historischen Epoche, sondern suche jene Epoche aus; die meiner Zeit im historischen Prozeß am meisten entspricht. Durch das Prisma meiner Zeit sehe und verstehe ich klarer jene Einzelheiten, die dem Forscher, der den Gegenstand betrachtet, entgehen müssen; 2. ich bediene mich des Vergleichs von Erscheinungen, die aus den Lebensbereichen stammen und scheinbar nichts miteinander zu tun haben; im vorliegenden Fall stelle ich zum Beispiel die römische Revolution und Verse Catulls gegenüber. Ich bin überzeugt, daß man nur mit Hilfe solcher und ähnlicher Vergleiche den Schlüssel zur Epoche finden, ihr Beben spüren, sich ihren Sinn erklären kann.

Die Skythen als ein Nomadenvolk, das in der zweiten Hälfte des vorchristlichen Jahrtausends die osteuropäischen Steppen beherrschte, hatten geschichtlich für Block genau die Unschärfe, die nötig war, um sie zu Sprechern für das welthistorische Problem zu machen, das er in der Konfrontation von revolutionär verjüngtem Rußland und vergreistem Westeuropa sah. Unbehaust und ungeborgen befindet sich der Skythe ewig im Aufruhr, doch Europa ist ihm lieb. Die entscheidenden Verse des Gedichts sind dann:

Ja, so lieben, wie dies Blut hier liebt,
aaaaaKönnt ihr schon längst nicht mehr. Und nicht erkennen,
Daß es auf Erden eine Liebe gibt,
aaaaaDie euch zerbrechen kann und auch verbrennen.

Wir lieben alles: gallischen Esprit,
aaaaaDer Zahlen kalte Glut, das Ahnen
Des Unbekannten, doch auch das Genie
aaaaaDes finster brütenden Germanen.

Und wir erinnern uns der Hölle auch,
aaaaaDer Straßen von Paris. Venedigs Feste
Sind uns so nah wie jener graue Rauch,
aaaaaDer sich auf Kölns Gemäuer niederpreßte.

Diese Sicht des „Skythen“ Alexander Block umgreift und vertilgt sowohl den Rußland-Messianismus, die Idee von der besonderen Rolle Rußlands in der Welt, als auch den Panmongolismus, die Idee von der permanenten Bedrohung der europäischen Welt. Sie gelangt zu einem synthetischen Rußland-Bild, das die phantastische Produktivität dieses Landes wie deren Gefährdungen in den Widersprüchen seiner universalgeschichtlichen Stellung begreift.

Fritz Mierau, Sinn und Form, Heft 3, Mai/Juni 1977

Die musikalische Zeit – Alexander Block im Gespräch

Etwa vor einem Monat, im Dezember 1977, trat wieder einmal Alexander Block in mein Zimmer. Jener große, im Gedächtnis seines Volkes bis auf den heutigen Tag wirklich lebendige russische Dichter, der 1921 vierzigjährig in Petrograd verstarb. Sein Kommen überraschte mich nicht, hatte ich ihn doch gerufen. Unsere Bekanntschaft währte inzwischen sechs Jahre und rührte aus einer Arbeit her, die ich damals als einer von vielen für ihn besorgt hatte: der Nachdichtung etlicher seiner Gedichte für eine dreibändige Auswahl seiner Werke. Bei dieser Art war natürlich ich derjenige gewesen, der da profitiert hatte. Blocks Gedichte, die ich mir vom leisesten Tonfall her und bis ins kleinste Einzelwort hinein vergegenwärtigen, verständlich und nachempfindbar machen mußte, bevor ich daran gehen konnte, ihren Sinn und ihre Sinnlichkeit im Deutschen derart genau zu verschließen, daß sich ihre Dichte jedem aufmerksamen Leser wieder zu erschließen vermag, Blocks Gedichte also wurden für mich zum Gewinn. Freilich, ich mußte mich mit ihnen erst einmal sachlich und nüchtern beschäftigen, sie nicht so sehr als Äußerungen der Kunst, sondern als Entäußerungen eines wirklichen, authentischen Lebens betrachten. Aber der Zwang, sich für mehr als fünf Minuten in die Haut eines anderen zu versetzen, erhöht – welcher gründliche Leser wüßte das nicht! – das eigene Lebensgefühl, erweitert es um die mit anderen Sinnen gemachten Erfahrungen. Und wenn diese scheinbar fremden Erfahrungen sich mit den scheinbar eigenen Erfahrungen und Empfindungen voll und ganz decken, fühlt man sich eins mit dem anderen. Das sind die hohen Augenblicke, die jeder kennt, der je für sich bekannte, von einem Kunstwerk fasziniert worden zu sein. In der Faszination dieses Sich-im-Innersten-Wiederfindens angesichts einer fremden Äußerung gipfelt für mich die Bestimmung aller Künste. Daß sich bei solcher Begegnung die Zeitschranke hebt und unser Verstehen sich aus der Enge des bloß auf unsere Tage gerichteten Zeitempfindens befreit, ist weniger mysteriös als vielmehr zwangsläufig und realistisch. Alexander Block selbst hat dieses Phänomen mit den Begriffen „musikalische Zeit“ und „Kalenderzeit“ umschrieben. Und meine erste Frage, die ich ihm im Dezember vergangenen Jahres stellte, zielte darauf ab, mehr darüber zu erfahren.
Nehmen Sie bitte Platz, Sascha! sagte ich, und Block lächelte und folgte meiner Einladung.
Wenn ich Sie recht verstehe, begann ich, kritisieren Sie mit dem Ausdruck Kalenderzeit die Betrachtung unseres individuellen und historischen Daseins als lediglich chronologisch verstandene Folge von Abläufen und Ereignissen. Eine Betrachtungsweise, die nicht nur Ihren, sondern auch den meisten meiner Zeitgenossen so vernünftig und allein richtig erscheint. Dabei übersehen wir, daß uns diese Betrachtung begrenzt und beschränkt, zur puren Selbstgenügsamkeit, zur Genüge am Täglichen unserer Tage verführt. Dagegen plädieren Sie, Alexander Block, für ein Denken, Empfinden und Handeln in den Räumen der „musikalischen Zeit“. Was verstehen Sie darunter?
Block, der mir aufmerksam zugehört hatte, sagte: Sie, als einer meiner Nachdichter, sollten es eigentlich schon begriffen haben. Erinnern Sie sich denn nicht wenigstens eines meiner Gedichte oder Poeme, in dem ich – besser als es jede Erklärung vermag – genau vorführe, was ich unter musikalischer Zeit verstehe?
Ich genierte mich meiner Frage, sah aber, daß Block ohne jede Ironie, die ihm verhaßt war, zu mir herüberblickte und wirklich Antwort erwartete.
Doch, sagte ich nach einigem Zögern, in Ihrem Poem Die Zwölf lassen Sie Jesus Christus leibhaftig als Revolutionär in den Tagen der Oktoberrevolution mitmarschieren…
Sehen Sie, warf Block ein, ich bin es gewohnt, Tatsachen aus allen Lebensbereichen, die mir zu einer Zeit zugänglich sind, einanderzuzuordnen, und ich bin überzeugt, daß sie alle zusammen immer einen einheitlichen musikalischen Impetus schaffen. Und bedenken Sie, je sensibler ein Dichter, desto unzertrennter empfindet er Eigenes und Nicht-Eigenes! Daher sind die zartesten und intimsten Sehnsüchte in der Seele des Dichters in Zeiten der Stürme und Katastrophen übervoll von Sturm und Katastrophe.

Gut, daß Sie das betonen, sagte ich, das nimmt all denen Wind aus den Segeln, die voreilig meinen könnten, Ihr musikalischer Zeitbegriff sei ahistorisch und verhindere demnach Zeitgenossenschaft. Das Gegenteil ist der Fall. Indem Sie den Unterstimmen des Vergangenen und den Oberstimmen des Künftigen gestatten, sich der dominierenden Melodie eines als gegenwärtig empfundenen Geschehens beizuordnen und sich nach musikalischen Gesetzen miteinander zu verschlingen oder sich kontrapunktisch zu ergänzen, entsteht wahre Vielstimmigkeit. Und die Melodie des Gegenwärtigen, die Disharmonien und Dissonanzen keineswegs ausschließt, tritt reicher, kräftiger und Überzeugender zutage. Das ist – wie mir scheint – die eigentliche Musikalität Ihrer Gedichte. Und die sprachliche Eleganz Ihrer Verse dient dem nur als Kleid.
Block errötete, neigte den Kopf leicht in meine Richtung und sagte: Ich freue mich, wenn Sie das so sehen und verstehen… Blocks Verlegenheit irritierte mich. Womöglich hatte ihn das Lob, das aus meinen Worten sprach, auch mißtrauisch gemacht. Darum beeilte ich mich, etwas mir eher problematisch Erscheinendes einzuwerfen.
Bei manchen Ihrer Gedichte, sagte ich, die an und für sich schreckliche Vorgänge beschreiben, etwa den Selbstmord einer Frau, an der das Leben immer nur vorüberglitt, oder den Tod eines Jockeys, das Ertrinken eines Hafenarbeiters, sprechen Sie in einer Sprache, die das Häßliche nahezu verschönt und übertönt. Sind Sie – ich bitte um Entschuldigung für die rigorose Frage – ein Ästhet?
Block schien nicht überrascht. Sicher, sagte er, sicher bin ich Ästhet. Aber keiner von denen, die vor der Zeit müde geworden sind und sich der notwendigen Einsicht versperren, daß ihr Leben – insgeheim und offenkundig – ein Martyrium zu sein hat. Denn wahrhafte Ästheten müssen sich die Hände zerstechen an allen Stacheln und Dornen der Schönheit; sie dürfen nicht auf einem Lager aus Rosen ruhen, das nicht ihre, sondern fremde Hände für sie bereitet haben. Sie müssen wissen, daß sie Verantwortung tragen, weil sie mit Begabungen gesegnet sind. Ich erwarte von ihnen, daß sie zeigen, was mit dem Arbeiter und dem Bauern geschehen soll, wenn er sie in eben diesem Augenblick danach fragt. Ich erwarte, daß sie den Alltag des Lebens wahrhaft erleuchten und zu seiner Läuterung beitragen. Sie, lieber Rennert, werden mir vielleicht sagen, daß ich über Unmögliches spreche, über etwas, was man längst vergessen haben sollte. Sie werden sagen, daß ich naiv sei und daß die Literatur längst aufgehört habe, jene Rolle im Leben zu spielen, die sie einst gespielt hat. Einwände gibt es viele, sie sind bekannt; ich jedoch spreche trotz allem so und nicht anders; nur über das Große lohnt es nachzudenken, nur große Aufgaben soll sich der Schriftsteller stellen, kühn und unbeschadet seiner geringen persönlichen Kräfte; der Schriftsteller ist ja ein Glied einer endlosen Kette; von Glied zu Glied muß man seine Hoffnungen, mögen sie auch unerfüllt geblieben sein, und seine Vorhaben, so unvollendet sie auch sind, weiterreichen, weitergeben…
Die Größe Ihrer Aufgabe, unterbrach ich Blocks vehement vorgebrachtes Bekenntnis, verführt Sie allem Anschein nach nicht zu Arroganz und Besserwisserei. In vielen Ihrer Gedichte fällt mir jedoch auf, daß Sie die Rolle eines Beobachters spielen, nicht als direkt Beteiligter oder Betroffener reagieren. In Ihrem 1903 geschriebenen Gedicht „Die Fabrik“, das Ihnen Ärger mit der Zensur eintrug, heißt es: „Von oben werde ich zum Zeugen“, im Gedicht „Über den Tod“ sagen Sie: „Und ich, von einem Baumstumpf aus, ich sah / Auf einmal alles…“, und in „Aufsitzt die Barke des Lebens“ beschreiben Sie das Dilemma einer gewissen eigenen Isoliertheit. Ich käme darauf nicht so hartnäckig zu sprechen, wenn es nicht zugleich auch in anderer Weise mein Dilemma wäre…
Ich weiß, worauf Sie hinauswollen, sagte Block, lassen Sie mich deshalb indirekt und mit einem Erlebnis auf das Fragliche antworten. Unlängst, es mag 1908 oder 1909 gewesen sein, schrieb mir ein Bauer aus einem nördlichen Gouvernement einen Brief, in dem, wie ich glaube, goldene Worte stehen. „Entschuldigen Sie meine Kühnheit“, schreibt er, „aber mir scheint, wenn unsereiner nur die Zeit zum Hervorbringen von Bildern hätte, stünden sie nicht hinter den Ihrigen zurück…“ Schauen Sie, ich halte diesen Bauern für einen beginnenden Dichter. Und was kann ich auf seine Worte, die neben dieser Wahrheit noch andere Wahrheiten erbarmungslos zur Sprache bringen, antworten? Wie kann ich mich rechtfertigen in meiner Privilegiertheit? Ich denke, daß man sich nicht rechtfertigen kann… Ich bin ein Intellektueller, ein Literat, und meine Waffe ist das Wort. Ich fürchte die Worte und spreche sie dennoch aus. Ich fürchte die „Wortkunst“, ich fürchte das Literatentum und warte dennoch auf literarische Antworten. Wir alle hegen insgeheim die Hoffnung, daß die Kluft zwischen Worten und Taten nicht ewig bestehe, daß es ein Wort gebe, das in die Tat übergeht…
Ist das nicht eine übermäßige Forderung, die Sie da erheben? fiel ich Block ins Wort.
Block musterte mich lange, ehe er sagte: Es lohnt nur dann zu leben, wenn man übermäßige Forderungen an das Leben stellt: alles oder nichts; wenn man das Unerwartete erwartet, wenn man nicht an das glaubt, was es „auf der Welt nicht gibt“, sondern an das, was es auf der Welt geben soll, selbst wenn es jetzt noch nicht da ist und noch lange nicht da sein wird. Aber das Leben wird es uns geben, denn das Leben ist und ich weiß, was ich sage – herrlich.
Lieber Sascha, brachte ich meine Zweifel ins Spiel, erwarten Sie, daß der Leser dies so unbesehen glaubt?
Den Lesern, sagte Block gelassen, rate ich: Hört nicht auf unser Lachen, hört auf den Schmerz, der sich dahinter verbirgt. Glaubt keinem von uns, glaubt dem, was hinter uns steht. Wenn wir nicht imstande sind, euch zu zeigen, was hinter uns steht, was manche von uns ersehnen und erwarten, dann wendet euch so rasch wie möglich von uns ab. Macht aus unserer Sache keine Mode, aus unserer Seele keine Jahrmarktspuppe, die man zur Belustigung des Publikums durch Straßen, literarische Abende und Almanache schleift… Das erste und wichtigste Kriterium dafür, ob ein Schriftsteller nicht nur als zufällige und vorübergehende Größe gelten kann, ist das Gefühl für den Weg. Dieser sattsam bekannten Wahrheit sollte man immer eingedenk sein, in unserer Zeit besonders. Betrachtet man die zeitgenössischen Schriftsteller unter diesem Gesichtspunkt, so muß man viele in Frage stellen, selbst die anerkannten – und manch andere sogar ganz verwerfen. Doch auch bei solcher Wertung sollte man Vorsicht walten lassen und alle persönlichen Besonderheiten des Milieus berücksichtigen, aus dem der Schriftsteller hervorgegangen ist.
Blocks letzter Satz schien mir vor allem in meine Richtung gesagt zu sein. Und ich bedachte die hohe Forderung, die er trotz aller Rücksichtnahme enthielt. Block bemerkte, daß etwas in mir zu arbeiten begann, was ich nur selbst zu Ende bringen konnte. Er erhob sich, reichte mir die Hand und sagte: Bis bald! Bis bald! erwiderte ich und schloß das Buch, die Tür.
(Die Äußerungen Alexander Blocks in diesem Gespräch sind, bis auf geringe rhetorische Einschübe, authentisch und wurden seinen Reden und Essays entnommen, die sich im zweiten Band der von Fritz Mierau besorgten dreibändigen Ausgabe seiner Ausgewählten Werke finden – J. R.)

Jürgen Rennert, aus: Helmut Baldauf (Hrsg.): Schriftsteller über Weltliteratur. Ansichten und Erfahrungen, Aufbau Verlag, 1979

4

Petersburg

Das Leben in Moskau

Nach der Rückkehr aus Schachmatovo nahm ich Abschied von Solovjov und fuhr auf das Gut Serebrjanyj Kolodezj; ich hatte Bedürfnis nach Einsamkeit; Blok schrieb selten: auch ich schrieb wenig; nur ein Brief blieb mir im Gedächtnis; aus ihm sprach eine tiefe Trauer; unser Abschied war noch ungetrübt; aber unter dem Schleier der Ahnung entstanden jene stillen Verse, aus denen die Furcht vor der Zukunft sprach, einer bedrohlichen Zukunft; um diese Zeit träumte ich: Blok stand vor mir, in tiefen Nebel eingehüllt; daneben Ljubov Blok, sehr deutlich: blaß, in einem enganliegenden schwarzen Kleid, das sie erst zwei Jahre später getragen hat.
Die Zeit in Schachmatovo wirkte sich spannungsbildend aus, als Steigerung des inneren Lebens, in dem unbändigen Wunsch, den Morgenröten noch einmal ein „Ja“ entgegenzurufen; in der Erinnerung blieben die Weite der bereits abgeernteten Felder und die kahlen Hänge der Senken; um jene Zeit beschäftigte ich mich mit der „Physik“ von Wundt und der „Psychologie“ von James; außerdem las ich mit großer Aufmerksamkeit wiederholt Kants „Kritik“, wobei ich mein Verhältnis zu Kant revidierte und den Entwurf zu der Einleitung für ein Buch konzipierte, das in meinem Inneren reifte; dieser Entwurf erschien in der Zeitschrift Novyj putj und hieß „Über die Zweckmäßigkeit“; die Prinzipien der Zweckmäßigkeit leite ich aus dem Wesen des Erlebens ab, das stets ein Ganzes ist; alles Symbolische ist stets ein Ganzes; ein jeweiliges Ziel ist eine Abstraktion des Ganzen; das Ziel bestimmt in mir das Erleben des Wertes; von dem abstrakten zielbestimmten Verhältnis zum Leben sollte man zu einer neuen „Praxis“ durchstoßen; die Philosophie eines praktischen Idealismus schwebte mir vor, ich glaubte, dicht vor dem Mythologem zu stehen, das in Schachmatovo entstanden war; ich war bei „Lapan“ in die Schule gegangen.
Die Wahrnehmungen des Bewußtseins liefern uns ein Kriterium der Wirklichkeit; das Bewußtsein ist dehnbar, das Kriterium der Wirklichkeit ebenfalls; die Erfahrung als solche ist eine Variable der Wahrnehmungsfähigkeit des Bewußtseins; die Einsieht ist eine Variable der Erfahrung, die sinnliche Wahrnehmung eine Variable der Einsicht. Dieser Glaube an die Werte des Lebens wurde mir in Schachmatovo gegeben (als wäre uns dort ein neues Leben zum Ereignis geworden); das endgültige Symbol zeigt sich im Urbild, als ein Ur-wert; unser Dreieck mit dem „Auge“ wurde für mich zum Urbild des ersehnten endgültigen Lebens, des den Menschen verklärenden.

In diesem Sinne ist Sie der lauterste Cherub.

Die Menschheit verstand ich im Sinne Kants in Vladimir Solovjovs Auslegung: „Die Schlüsse der Philosophie führen dazu, die Menschheit als eine lebendige Einheit anzusehen…“ und – „Solovjov stellt eine Entsprechung her zwischen dem Kult der Menschheit… und dem Kult der Madonna.“ Damals hatte ich eine unmittelbare Vorstellung: Petrovskij, Sergej Solovjov und ich als Stifter eines neuen Kultus: durch das Schwenken des Weihrauchfasses vor der Madonna in Moskau. Aber diese Weihrauchschwaden waren nur Symbol für unsere Seelenstimmung vor dem liebeerfüllten Hintergrund der „Sonnenuntergänge von Schachmatovo“; ja, am Himmel von Schachmatovo glaubte ich den Beginn einer neuen Aera abgelesen zu haben; die Theokratie, das glaubte ich, war nahe; wir waren der Beginn; meinen Entwurf schloß ich mit dem Paradoxon:

nous voulons être positivistes,
nous devons poser l’Etre.

Diese Formel lag bereits vor: in der katholischen Philosophie von Rosmini; Rosmini kannte ich nicht; ich verkündete:

Ein Ritterorden ist gegründet, der nicht nur von dem Glauben an die zukunftsträchtige Bedeutung seines Sterns durchdrungen ist, sondern auch nach der Erkenntnis seines Wesens strebt.

Voraussetzung: dieser Orden sei bereits gegründet und durch die drei ersten Ritter repräsentiert: durch mich, Blok und Solovjov. Waren wir nicht töricht? Sollte ich mich als Kantschüler und Naturwissenschaftler nicht schämen, in den Wogen der finstersten Romantik zu schwimmen? Aber nein, ich kann mich nicht verurteilen: 

Wirf in meine Vergangenheit,
In meine Sintflut, –
meinen schluchzenden Schmerz, –
Dein flammendes: „ja!“
Unaussprechliches Hosianna,
Unauslöschlicher Stern:
Du zeigtest Dich als die Offenbarung des Johannes
In aller Ewigkeit.

Ich zitiere diesen sehr schwachen Artikel, denn er sollte eine Reihe von Aufsätzen einleiten, die ich nicht mehr geschrieben habe; ich wollte eine Agitationskampagne durchführen: eine Philosophie des Geistes – oder die „Dritte Offenbarung“ durchfechten; doch es war nicht A. Belyj, der das Zitierte verfaßte: „Lapan“ war der Autor; ich setzte mir in den Kopf, diese Groteske ernsthaft zu untermauern; ich stolperte über das eigene logische Unvermögen und landete bei Kant; nach Kant bei Riehl, nach Riehl bei Rickert; und ich verbiß mich in Rickert; indem ich Seite für Seite durchkaute und einen Stoß von Blättern mit Exzerpten aus dem „Gegenstand der Erkenntnis“ bedeckte; ich wollte damit den Weg von Rickert zu „Lapan“ pflastern.
Unterdessen zog der Herbst ein, überall raschelte das goldene Laub; in dieser Zeit verlief ich mich in den Feldern; ich versteckte mich für Stunden zwischen den Garben und rang in mir um die Weihen des Lebens; dabei stieß ich bis zur Emblematik des Sinnes vor („Die Emblematik des Sinnes“ ist ein Bruchstück eines Systems, das in jenen Monaten entstand), bis zu meinem philosophischen Poem, das unserem Zusammensein in Schachmatovo gewidmet war und die Geheimnisse der in der Philosophie webenden Sophia besingt.
Währenddessen wurde das Laub immer goldener; die abgeernteten Felder verstaubten; der Wind wirbelte dürren Wermut und die himbeerfarbenen Pompons der Kletten durch die Luft. Meine Mutter und ich planten eine Reise nach Sarov; in einem Frauenkloster nahe bei Sarov lebte bereits seit einigen Jahren die Schwester von A.S. Petrovskij; sie bekehrte ihn zur Verehrung des Serafim von Sarov; immer wieder lasen wir die Klosterbücher von Serafimo-Divejevo; und die lebendige Tradition des Heiligen zog in meine Seele ein; als Urbild des künftigen Lebens erschien mir Sarov, – eine Stadt Kitjesh, die vielen Pilgern erschienen war; ich erinnere mich, daß wir im September von unserem Gut zu den Kiefern von Sarov aufbrachen.
Sarov hinterließ in meiner Seele eine nagende Enttäuschung: die Rohheit der Mönche, die sich unverhohlen den Wohlstand durch die Wundergläubigkeit des Volkes sicherten, sechs überfüllte Gasthöfe – das alles wirkte wie ein Jahrmarkt; aber die Kiefern um das Kloster und das Rieseln der wundertätigen Quelle blieben eine schöne Erinnerung. Der Eindruck von Divejevo: die Nonnen und vor allen Dingen das Gespräch mit Petrovskijs Schwester, die gleich nach dem Gymnasium ein hartes Klostergelübde auf sich nahm, die wunderbare Umgebung, der Graben, den Serafim eigenhändig um das Kloster angelegt hatte, leben hell und unbefleckt in meinem Gedächtnis. Die Erlebnisse von Schachmatovo, der Weihrauch vor der Madonna blieben in meinem Bewußtsein mit dem Tag in Divejevo verbunden; der Überlieferung nach soll das Kloster unter dem besonderen Schutz der Gottesmutter stehen.
In jenem Herbst erschienen Gedichte von Blok zum ersten Mal im Verlag Grif; dem Leser fällt der unmotivierte Vermerk auf:

Von der Zensur genehmigt. Nishnij Novgorod.

Das Buch sollte in Moskau erscheinen: wir fürchteten, daß die Moskauer Zensoren einiges streichen und anderes der synodalen Zensur vorlegen könnten; um das Buch zu retten, schickten wir das Manuskript an Medtner, einen großen Verehrer Bloks, der dank einer Laune des Schicksals den Posten des Zensors in Nishnij Novgorod versah – bald gab er ihn in einem Anfall von revolutionärem Übermut auf; der Vermerk war demnach ein Zeichen, daß der Text unversehrt erschien.

 

In den Moskauer Kreisen

Im gleichen Herbst beginne ich, fast mechanisch, das Studium an der philologischen Fakultät und studiere nun zusammen mit meinem Freund S. Solovjov; unter meinen Kommilitonen aus dem ersten Kurs waren die Dichter V.F. Chodasevitsch und B.A. Sadovskij, der Liebhaber der klassischen Philologie V.O. Nilender, der Philosoph Gordon, B.A. Grifcov…
Damals widmete ich der Universität nicht allzuviel Zeit; die naturwissenschaftliche Fakultät hatte mir durch die Laborarbeiten einen gewissen Zwang auferlegt; als Philologe tauchte ich in der Universität nur selten auf; in erster Linie interessierten mich die Vorlesungen über griechische Philosophie des Fürsten S. Trubeckoj und sein Seminar über Plato; S. Trubeckoj verfügte über die Gabe, sich in die betreffende Zeit zu versetzen und den Philosophen nicht durch das Prisma des zwanzigsten Jahrhunderts, sondern mit den Augen dessen eigener Zeit zu betrachten; er verstand die Schranken der Gegenwart zu durchbrechen, in den Strom der Zeit unterzutauchen, um bei Heraklit, Zeno oder Parmenides wieder aufzutauchen; in seiner Darstellung erhoben sich die Gestalten der Weisen in größter Klarheit; in seinem Plato-Seminar förderte Trubeckoj die freien Äußerungen seiner Studenten und verstand eine Atmosphäre ernsthafter, zwangloser Arbeit zu schaffen; weniger befriedigend fand ich das Seminar von L. Lopatin, in dem die „Monadologie“ von Leibniz gelesen und kommentiert wurde; das große Wort führten hier A. Toporkov, B. Pogt und der begabte Berdnikov; mein größtes Interesse galt jedoch dem Arbeitskreis um Pogt, der sich mit Kant und Cohen beschäftigte und von den offiziellen Priestern der Wissenschaft geächtet wurde, denn ihre Bemühungen galten der Metaphysik und den Versuchen, die eigene Weltanschauung mit der Philosophie Vladimir Solovjovs auf einen Nenner zu bringen (sowohl Lopatin als auch Trubeckoj waren Zeitgenossen, Freunde und Schüler Vladimir Solovjovs); „Die Aufgaben der positiven Philosophie“ von Lopatin ist ein Zwiegespräch mit der „Kritik der abstrakten Prinzipien“ von Solovjov, „Die Lehre vom Logos“ und der Aufsatz „Der konkrete Idealismus“ von Trubeckoj griffen für uns Probleme auf, die Vladimir Solovjov bereits behandelt hatte. Um diese Zeit interessierte ich mich nur für erkenntnistheoretische Fragen; die Philosophie Vladimir Solovjovs schien mir abstrakt metaphysisch zu sein und keine echte gnoseologische Analyse zu enthalten; bei Solovjov fühlte ich mich durch Hellsichtigkeit, mystische Veranlagung, Intuition angezogen; die Neokantianer reizten meinen Intellekt; und ich setzte mit Begeisterung meine Kantstudien fort; B. Fogt leistete mir dabei wertvolle Hilfe durch seine ausgezeichneten Hinweise und Ratschläge bezüglich einiger für mich problematischer Punkte innerhalb der Kanttexte.
Damals gründeten einige Philosophiestudenten einen Arbeitskreis, der sich mit Vladimir Solovjov beschäftigte; unter den Teilnehmern befanden sich Sventickij, der spätere Geistliche P.A. Florenskij, – damals Student der Geistlichen Akademie, Ern, S. Solojov, Syrojetschkovskij, Scherr, Galanin, Berdnikov, Chrennikov u.a.m. So entstand die Sektion für Religionsgeschichte unter der Studentenschaft der Philologischen Fakultät; wir tagten unter dem Vorsitz von S. Kotljarevskij (heute ebenfalls Professor); die Arbeit unserer Sektion zog einen großen Zuhörerkreis an, Studenten, Seminaristen und Dozenten der Geistlichen Akademie. Ich hielt hier einen Vortrag „Über die Zweckmäßigkeit“, Florenskij sprach über die „Philosophie Cantors“ und „Über das Wunder“, Grifcov „Über die neueste Dichtung“, Sventickij über „Die Mystik Maeterlincks“.
Der Argonautenkreis versammelte sich jetzt an den „Mittwochen“ bei P.I. Astrov, mit dem mich der unbändige Ellis aus seiner Schwäche für paradoxe menschliche Konstellationen bekannt machte; das unerwartete Resultat dieser Annäherung der Argonauten und des Kreises um Astrov war der Sammelband Svobodnaja Sovestj. Ellis warb begeistert für den Symbolismus, Baudelaire und Dante. Hier kreuzten sich soziale Fragen mit der Ästhetik.
Die „Mittwoche“ bei Astrov überdauerten einige Jahre; hier tauchten die verschiedensten Menschen auf; unter anderem Professor I. Ozerov, der mit uns über das Thema „Öffentlichkeit und Kunst“ diskutierte, Professor Gromoglasov aus der Geistlichen Akademie, der Privatdozent Pokrovskij, Berdjaev und Vjatscheslav Ivanov. Vorträge mit verschiedenen Themen wechselten einander ab; aus der Saison 1904/05 sind mir folgende Referate erinnerlich: meine eigenen („Über den Pessimismus“, „Psychologie und Erkenntnistheorie“, „Wissenschaftlicher Dogmatismus“, „Die Apokalypse in der russischen Dichtung“), Ellis (zwei Vorträge über Dante), M. Ertel („Julian Apostata“), Sizov („Das Nachtwandeln der Philosophie“), Schkljarevskij („Über Chomjakov“), Astrov („Über den Priester Petrov“); Polivanov las uns sein Poem „Saulus“ vor und Solovjov seine „Jungfrau von Nazareth“ usw.
In der Folge artete der Kreis um Astrov in Kadettentum aus; und wir trennten uns von ihm (die Argonauten standen immer links); aber die freundschaftlichen Beziehungen zu P. Astrov hielten an. In all jenen Jahren lebte er in der Bemühung, den Ästhetizismus mit einem funkelnden moralischen Pathos zu vereinigen; und gerade dieses Pathos zog uns an.
Auch der Kreis um den Skorpion lebte weiter; man versammelte sich auch in der Redaktion Grif, bei Brjusov, bei Balmont; man traf sich an meinen „Sonntagen“; der Leser wird verstehen: die Pflege der menschlichen Beziehungen kostete viel Zeit.
In jenen Monaten erreichte die Spannung zwischen mir und Brjusov ihren Höhepunkt; bei den Gesprächen, bei den Begegnungen nahm diese Spannung zu; mit besonderer Schärfe zeichnete sich unsere extreme Gegensätzlichkeit ab, in allem; früher hatte Brjusov versucht, sich mir zu nähern (wir haben uns oft geschrieben); aber in seinen Annäherungsversuchen spürte ich immer eine gewisse Voreingenommenheit und penetrante Neugierde, vor der ich mich zurückzog; jetzt schien er die Maske abgelegt zu haben; der Stil unserer Begegnungen war eine offene, wütende Attacke Brjusovs gegen die Grundfesten meiner moralischen Welt; und ich ging sofort darauf ein und schleuderte Brjusov den Handschuh vor die Füße; jeder forderte den anderen zu einem intellektuellen Duell: man fühlte, daß in den Nebeltiefen unseres Unterbewußtseins ein Konflikt gereift war; zuweilen fühlte ich mich sehr unwohl im Verlag Skorpion; wenn nicht S. Poljakov mit steter Liebenswürdigkeit sich dazwischengestellt und die Schärfen ausgeglichen hätte, wäre ich sicher nach einem riesigen Krach mit Brjusov aus der Redaktion der Vesy ausgeschieden. Aber Poljakov garantierte mir völlige Freiheit; deshalb blieb ich.
Der Kampf mit Brjusov fiel mir gar nicht so leicht; zuweilen zeigte sich der „Magier“ Brjusov, der durch die anrüchige okkulte Literatur streifte, wie ein Luchs durch die Wälder, auf der Suche nach zwielichtigen psychologischen Praktiken; es zeigte sich mir sein inneres Gesicht, das dunkle, das Gesicht eines Würgers, wie er es selbst in dem Drama Die Erde gezeichnet hat. Mir war er fremd, unangenehm, ja noch mehr, widerwärtig, dieser „Brjusov“, der Doppelgänger eines Valerij Brjusov, der einen großen Dichter zum Werkzeug eines Besessenen machte.
Zu den Umständen, die zu meiner nervösen Erschöpfung beitrugen, sollte man die mediumistischen Phänomene hinzurechnen, die sich in meiner Nähe bemerkbar machten (Schritte und Geflüster), weswegen ich Florenskij und den Bischof Antonius um Rat gefragt hatte. Am Ende des Jahres war ich am Rande meiner Kräfte. Ich war schon längst vom Ehepaar Mereshkovskij nach Petersburg eingeladen worden; auch Bloks luden mich ein; ich erinnere mich, daß ich in einem sehr langen Brief an Blok mich über bedrückende Lebensumstände beklagte; als Antwort erhielt ich ein Telegramm von den Bloks; darin ein Ruf:

Erwarten Dich.

Ich machte mich auf den Weg.

 

Januar

Ich erinnere mich, daß ich mit meiner Mutter aus Moskau abreiste: meine Mutter wollte zu ihrer Freundin; beunruhigende Gerüchte begleiteten uns auf dem Weg; aus den abgerissenen, nervösen Zeitungsinformationen konnte man sich so gar kein Bild über das tatsächlich Geschehene machen: der Streik wuchs wie eine Lawine; man sprach über die unverständliche und widersprüchliche Rolle von Gapon.
Wer war er?
Wir kamen an einem Tag an, der historisch geworden ist: am 9. Januar, der für uns in der Eisenbahn noch ein Tag wie alle andern war; meine Mutter und ich trennten uns gleich am Bahnhof, sie fuhr zu ihrer Freundin; und ich zu den Grenadierkasernen auf die Petersburger Seite – in die Wohnung eines bekannten Offiziers, der mir seine Räume liebenswürdigerweise zur Verfügung gestellt hatte; in der gleichen Kaserne lebte auch Blok; mein Bekannter unterstand dem Stiefvater von Blok, Kublickij-Piottuch, der ein Bataillon kommandierte.
Mir fiel das ungewöhnlich lebhafte Treiben in den Straßen Petersburgs auf; schon beim Friseur erklärte mir der Figaro, der mich rasierte:
„So geht es nicht weiter! Heute gehen die Arbeiter zum Zaren, er wird mit ihnen sprechen.“
Ich fragte:
„Wird er sie denn wirklich empfangen?“
„Aber wie kann es denn anders sein: natürlich wird er sie empfangen! Es ist Zeit, der Ausbeutung ein Ende zu setzen: sie gehen doch friedlich hin, mit Ikonen. Wir werden alle hingehen! Wie sollte man sie denn nicht vorlassen? Er wird uns alle empfangen!“
Genauso brodelte es um den Bahnhof:
„Wir nehmen Ikonen mit! Er wird uns anhören!“
„Man wird uns nicht vorlassen.“
„Lieber den Tod als dieses Leben.“
Auch der alte Droschkenkutscher drehte mir seine rotblaue Nase zu und schmatzte dumpf und aufgeregt:
„Aber wie soll es denn weitergehen, Herr?“
„Die Arbeiter sind wirklich im Recht.“
Auf den Straßen bildeten sich lebhafte dunkle Menschengruppen; alle fuchtelten mit den Armen und ihre nervösen Gesten schienen zu sagen:
„Sie werden hingehen!“
„Sie werden nicht hingehen.“
„Sie sind schon unterwegs, man wird sie vorlassen.“
Die herumstrolchenden Gassenjungen verhielten sich anders als sonst – immer wieder stießen sie einen gellenden Pfiff aus; die dunkelhimbeerfarbene Scheibe der winterlichen Sonne schluckte blaue, sich allmählich verdichtende Rauchsäulchen auf, sie erhoben sich über den Feldküchen; Infanteristen standen vor einem Hauseingang; aus einiger Entfernung, wo auch eine Menschengruppe an einem Zaun stand, hörte man:
„Ja!“
„Sie sind schon unterwegs, mit Ikonen!“
„Ist es denn möglich, daß man schießen wird: auf Ikonen?“
„Das ist nicht möglich.“
An der Litejnij-Brücke stampfte eine angetretene Kompanie Soldaten in voller Ausrüstung, mit Ohrenmützen über den finsteren geröteten Gesichtern; zwei junge Offiziere sprachen miteinander und warfen den Passanten verlegene Blicke zu, als ob sie sagen wollten:
„Das hat nichts zu bedeuten…“
„Wir stehen hier nur so…“
„Wir bleiben noch eine Weile und ziehen wieder ab.“
Ich fuhr über die Brücke und den Quai entlang: bald war ich bei den Kasernen; gegenüber der Kaserne dehnte sich die unübersehbare Fläche des zugefrorenen Flusses; ein Blick darauf genügte und man fühlte sich von eisiger Feuchtigkeit durchdrungen.
Der Kutscher bog in den sauberen weiten Kasernenhof ein, und ich fand mühelos die Wohnung des mir bekannten Offiziers; ich klingelte: ein Bursche öffnete die Tür und erklärte, daß „Hochwohlgeboren“ nicht zu Hause sei; er sei heute mit einer Kompanie beim Gaswerk: wegen des Streiks; und wegen alles übrigen; und mein Zimmer sei schon gerichtet.
Ich wollte mich waschen; der Bursche folgte mir auf Schritt und Tritt:
„Die Kasernen…“
„Sind leer…“
„Das Regiment ist draußen…“
„Die Brücken sollen verteidigt werden…“
Ich stellte mir vor, daß mein Bekannter ebenso vor einer Abteilung mißmutiger Soldaten stehe, die sich die Mützen ins Gesicht ziehen und den Schnee mit den Stiefeln feststampfen, und daß er gleichfalls eine Zigarette rauche mit einem Gesichtsausdruck, der zu verstehen gibt:
„Das hat nichts zu bedeuten…“
„Wir bleiben noch eine Weile und ziehen wieder ab…“
Ich dachte: es ist unmöglich, die Gastfreundschaft eines Menschen in Anspruch zu nehmen, der mit geladenem Gewehr den Arbeitern gegenübertritt (ich sympathisierte mit den Arbeitern). Wer hat damals mit ihnen nicht sympathisiert? Aber die Überlegung war müßig; man konnte nicht einfach wieder ausziehen, ohne sich mit dem Gastgeber ausgesprochen zu haben – das wäre genauso unmöglich und außerdem:
„Sie bleiben eine Weile stehen und ziehen wieder ab…“
„Das hat nichts zu bedeuten…“
„Sie werden doch nicht schießen!“
Wie naiv waren wir alle an diesem Morgen!
Ich zog mich um und eilte zu Blok; in diesem Flügel wohnten, wie es schien, sämtliche Offiziersfamilien; alle Wohnungstüren lagen an einem riesigen gepflasterten Korridor; auch die Wohnung von Kublickij; an der Tür, die mit grauem Filz gepolstert war, glänzte ein Schild: „Franz Felixovitsch Kublickij-Piottuch“. Ich klingelte; ein Bursche öffnete die Tür (später haben wir Freundschaft geschlossen und trieben ein reges Tauschgeschäft: Trinkgeld gegen verständnisvolles Grinsen: „alles zu Hause, bitteschön!“); ich befand mich in einem geräumigen, peinlich sauberen Flur mit sehr hoher Decke und einer gelben Garderobe.
„Bitteschön.“
„Es wird gefrühstückt.“
Die Tür ging weit auf: dahinter ein Stück Zimmer mit Fenstern in eine weite und trostlose Helligkeit; in dem Weiß des Zimmers der vertraute Kopf, die Haare, die in dem hereinbrechenden Licht rötlich schimmerten; das war Blok in einem bequemen Kittel aus schwarzer Wolle, frei fallend ohne Gürtel, ohne Krawatte, aber mit einem breiten, weichen, weißen Kragen, der den festen und kräftigen Hals frei ließ; der Kittel stand ihm sehr gut. Natürlich war dieser Kittel eine Erfindung von Ljubov Blok, er wurde später von Ausländern und auch von Vjatscheslav Ivanov oft nachgeahmt. Das Gesicht war im Schatten; und dennoch: es kam mir blaß vor, im ganzen wirkte Blok wie eine Zeichnung nach einem alten Porträt.
Die erste Frage, die er mir zuwarf:
„Was ist los?“
„Nun?“
Ich verstand, was er meinte:
„Man erzählt sich, sie seien auf dem Weg…“
Hastig, erregt gingen wir aufeinander zu und begrüßten uns nur flüchtig; das goldene Köpfchen von Ljubov Blok über dem weiten grünrosa Morgenkleid zeigte sich in der Tür:
„Borja ist da!“
„Boris Nikolajevitsch“ – sagte Ljubov Blok zu jemand; sie hielt eine Serviette in der Hand…
„Wir frühstücken.“
„Was gibt es?“
Dann führte man mich durch das weiße Zimmer mit den weiten Fenstern, hinter denen die leeren Eisflächen sich ausbreiteten; auf den Fensterbänken grünten Pflanzen, die von Aleksandra Andrejevna gezogen wurden; auch an dem Glanz des blaßgelben Parketts erkannte man jene spezifische Sauberkeit, welche die Mutter Bloks überall umgab; auch die Möbel fielen mir auf, alte Möbel mit grünen Polstern, nicht prunkvoll, aber anmutig und mit Verständnis aufgestellt; überall zeigte sich ein erlesener Geschmack; in diesem Zimmer standen auch ein Flügel und polierte, nicht sehr hohe Vitrinen (ich glaube, aus Mahagoni), in denen Reihen von Büchern mit zierlichen Einbänden hinter makellos sauberen Scheiben hervorsahen; durch dieses Zimmer gelangten wir in ein kleineres mit organgefarbenen, leuchtenden Tapeten und einem Tisch in der Mitte, auf dem das Frühstück gedeckt war, die Mutter Bloks ging mir entgegen, flatternd wie ein kleiner grauer Vogel, eine rote Pelerine um die Schultern (nein, das ist keine Ausschmückung: gerade an dieses rote Pelerinchen kann ich mich gut erinnern!). Und hinter ihrem Rücken nickte und blinzelte ihre Schwester.
„Nun, was gibt es?“
„Ja, sie sind hingegangen…“
„Man sagt, es wurde geschossen.“
„Ach, wie entsetzlich!“
Aleksandra Andrejevna winkte ab und lehnte sich zurück (das war eine ihrer typischen Gesten); sie wandte sich nicht von mir ab; es kam gar nicht zu einem Gespräch, man verlor sich in Ausrufen, Vermutungen, Aufregungen; das Bewußtsein aller konzentrierte sich auf einen Punkt: das Winterpalais; alle zehn Minuten trafen aus der Küche neue Gerüchte ein: man schoß, man hatte geschossen, Berge von Toten liegen dort. Aleksandra Andrejevna faßte nach ihrem kranken Herzen:
„Begreifen Sie, Borja, er haßt das alles…“
„Aber er ist gezwungen, dort zu sein…“
„Der Eid…“
Ich hatte Franz Feliksovitsch damals noch nicht kennengelernt: diesen stets so leisen, gütigen, hochgesinnten Menschen; wenn er vom Dienst kam und das organgefarbene Zimmer betrat, so schien er nur das eine sagen zu wollen:

Ich weiß doch, daß Ihr hier etwas sehr Delikates erörtert: nein, nein, ich will nicht stören, bitte kümmern Sie sich gar nicht um mich.

Wenn er seine Spechtnase über den Teller hängte, an dem schmalen Bärtchen zupfte und uns mit seinen blanken schwarzen, sanften Augen (denen man doch ein bißchen anmerkte, daß er wußte, was er wollte!) ansah, dann wirkte er in der unmilitärisch sitzenden Uniform schmächtig: wen sollte er schon töten können? Ich konnte die Sorge von Aleksandra Andrejevna um ihren Mann erst später begreifen.
Für Blok lag das Aufregende des Tages in etwas anderem: in der Tatsache der Erschießungen. Ich hatte ihn niemals früher so gesehen; er stand immer wieder auf und ging auf und ab, sein schwarzer Wollkittel und der stolze, wie gemeißelte Kopf hoben sich scharf von der hellen Tapete ab; seine Silhouette vor dem organgefarbenen Hintergrund erinnerte mich an die Farbkontraste der Bildnisse von Holbein (Blaues, Helles vor einem Dunkelgrün); er rauchte im Gehen und zog blaue Rauchschwaden hinter sich her; immer wieder trat er ans Fenster, um mit den Augen die leere Eisfläche abzutasten, als nähre sie seine Spannung; beim Tee bestätigte sich das Gerücht: es ist tatsächlich geschossen worden.
Ich brachte aus Moskau eine Menge verschiedenartiger Eindrücke und Fragen mit, die mich bewegten; aber zum Sprechen sind wir gar nicht gekommen; die Ereignisse verdrängten das Wort.
Wir verabschiedeten uns; ich eilte zu Mereshkovskij.

 

Wirrwarr

Zinaida Nikolajevna Hippius empfing mich mit dem Ausruf:
„Willkommen!“
„Sie haben sich aber einen Tag ausgesucht!“
Dabei reichte sie mir ihr parfümiertes Händchen von einer Couchette entgegen, auf der sie rauchend – die parfümierten Zigaretten im roten Lackschächtelchen und ein Flacon standen auf dem kleinen Tischehen daneben – ihre Tage verbrachte (von drei Uhr mittags, wenn sie aufzustehen pflegte, bis drei Uhr nachts); in ihrem weißen weiten Hausmantel ringelte sie sich mit angezogenen Beinen auf der weichen Couchette und reckte nur die Wespentaille, um die Anwesenden durch das Lorgnon zu fixieren; am meisten fiel ihr prachtvolles goldrotes Haar auf, das sie am liebsten offen trug und das sie einhüllte – Schultern, Hüften, bis zum Knie – und die funkelnden, grünen, herrlichen Augen, die manchmal so riesig wirkten, daß man im Gesicht statt Wangen und Nase nur die Augen wahrnahm, Edelsteine, die einen erschreckenden Kontrast zu dem orchideenartigen, sehr großen, roten Mund bildeten; um den Hals trug sie ständig einen Rosenkranz mit einem schwarzen Kreuz; die pikante Verbindung von Kreuz und Lorgnon, gnostischer Symbole und einer Parfümflasche („Touberose“ Loubain) paßte sehr gut zu ihr; es entstand ein bestimmter Stil: alles fügte sich zu einer kaum greifbaren, exquisiten Treibhausatmosphäre: die ziegelroten, heißen, duftverströmenden Wände und weiche Sessel und Teppiche, die nur von dem Flackern des Kaminfeuers beleuchtet wurden; das gleiche flackernde Licht lag auf ihrem Gesicht und auf den Gesichtern der Anwesenden; auch Dmitrij Sergejevitsch Mereshkovskij, der zuweilen unter den Gästen auftauchte, um dann wieder in seinem Kabinett zu verschwinden, störte diese „Atmosphäre“ nicht; er schien sie eher zu steigern: klein und zierlich von Gestalt (der leiseste Windhauch, glaubte man, könnte ihn umwehen), überraschte er durch eine ganz spezifische Mattigkeit des bleichen, grünlichen, ikonenhaften Gesichts, durch die tiefe Höhlung der Wangen, von der riesigen Nase noch unterstrichen, und die hervorspringenden Backenknochen, unter denen unvermittelt eine üppige Vegetation wucherte; die strengen, hervorquellenden wäßrigen Augen, die straff zurückgekämmten Haare, zeugten von einem Asketen, aber die dunkelroten sinnlich aufgeworfenen Lippen, die teure Zigarre, die zimtfarbene Jacke, eine dunkelblaue, kunstvoll geschlungene Kravatte und die schneeweißen, überzarten Mädchenhände gehörten zum Treibhaus; ein Treibhaus-Pfäffchen, verfeinert und überzüchtet, der sein Altärchen zwischen Lorgnons, Parfümflacons und teuren Zigarren aufgebaut hatte – das war Mereshkovskij zu jener Zeit.
„Ah, Boris Nikolajevitsch“ – mit diesen Worten streckte er mir sein kraftloses Händchen entgegen, das man (wie mir schien) leicht hätte zerdrücken können.
Das Gespräch drehte sich um die Ereignisse dieses Tages; Mereshkovskij bemühte sich, mich in das Gespräch zu ziehen; selbstverständlich unterhielt man sich über die Erschießung der Arbeiter, aber die Unterhaltung war sprunghaft; sie wurde oft unterbrochen; von der beginnenden „Revolution“ kam man auf irgend ein Treibhaus-Problem des literarischen Lebens dieses auserwählten kleinen Kreises, der sich um das Ehepaar Mereshkovskij gruppierte; es war, wie ich glaube, ein Sonntag; und sonntags (zwischen fünf und sieben) versammelte man sich hier zum „Tee“; mir fiel sofort auf, daß unter diesen Menschen die unmittelbare, ja elementare Beziehung zu den Ereignissen, die ich bei Blok vorfand, völlig fehlte; dort gab es kein „Gespräch“, keinen „Standpunkt“, sondern nur Hingabe, Erlebnis, Gefühl; bei Mereshkovskij unterhielt man sich über das Vorgefallene, aber hier ging es um einen „Standpunkt“ den Ereignissen gegenüber, und der „Standpunkt“ dominierte; man äußerte „eine Meinung“ und streckte dabei zwei Finger nach einem Bisquit aus; zerbrechliche Täßchen wurden von zerbrechlichen Fingern der Zinaida Hippius herumgereicht; die Täßchen wurden „behutsam“, gekonnt, in Empfang genommen; und ebenso behutsam und gekonnt wurde die Meinung „eines Literaten“ zu den Ereignissen geäußert; ich kann mich nicht an alle Gäste erinnern; vielleicht war Nuvel dabei; wenn es stimmt, so wird er der gewesen sein, der mit seiner Behutsamkeit die Zerbrechlichkeit der Täßchen unterstrich; man erzählte, daß die Arbeiter Djagilev, der mit Zylinder in einer Droschke fuhr, angehalten und aus der Droschke gezerrt hätten; auch Minskij war da, der von den Vasiljev-Inseln kam; Smirnov, ein bleichgesichtiger Philosoph in einem ausgezeichnet sitzenden Studentenrock, der selbstsichere Krasnikov und, wie ich glaube, Lundberg (vielleicht traf ich ihn aber auch erst eine Woche später: er litt gerade an Gefäßerweiterung), der Zinaida Hippius immer wieder die gleiche Frage zurief:
„Was wird aus dem Chaos?“
Hippius verstreute smaragdene Funken, das Lorgnon flog unermüdlich hin und her, und Mereshkovskij, geistesabwesend und mit tauben Ohren (er höre nicht mit Ohren, sondern mit den Poren, pflegte Hippius über ihn zu sagen), setzte sich für einen Augenblick zu uns, öffnete den Mund, ließ seine weißen Zähne sehen und „brüllte“ mit einer seiner Körpergröße und seinem Umfang völlig unangemessenen Lautstärke eine Tirade; dann schlug er sich mit der flachen Hand auf das Knie, rollte die Augen und verstummte von neuem.
Bereits am ersten Tage meines Besuches in Petersburg wurde mir klar, daß er überhaupt nichts von dem hörte, was man ihm sagte.
So trat er einmal unerwartet ins Zimmer und fand mich in einer philosophischen Diskussion mit Smirnov; er unterbrach uns sofort und belehrte die anderen, indem er mich ihnen vorstellte:

Es verhält sich so, daß Boris Nikolajevitsch ein Mystiker ist, für den der Gedanke ein religiöses Erlebnis bedeutet, während Smirnov ein echter Logiker ist; die beiden werden sich nie verständigen können; dieser Unterschied ist unüberbrückbar: es ist ein Abgrund!

Alles, was er sagte, war so schief, daß Zinaida Hippius ihm zurief:

Dmitrij, es ist doch ganz anders!

Aber Mereshkovskij blinzelte mit seinen riesigen hervorquellenden Augen ins Leere, drehte sich um und verschwand in sein Kabinett.
Es verhielt sich nämlich so, daß ich in diesem Gespräch mit Smirnov dem Mischmasch aus Metaphysik und Mystik bewußt nüchterne Argumente im Sinne Kants entgegensetzte; in diesem Fall war ich der Logiker und Smirnov der Mystiker. Und Mereshkovskij, dessen Meinungen a priori gefaßt wurden – brachte alles durcheinander; er brachte immer alles durcheinander, er hörte nicht und er hörte nicht zu: er verfügte über eine physiologische Sensibilität für die Stimmung und preßte die so gewonnenen Erfahrungen in ein äußerliches Schema; ja, es traf schon zu, er hörte nicht mit den Ohren, sondern mit den „Poren“.
Ich blieb bei Mereshkovskijs zum Mittagessen; nach dem Essen begaben wir uns zu Filosofov (er lebte mit seiner Mutter zusammen); von da zu einer Sitzung der Vertreter der Intelligenz, „Volno-Ekonomitschevskoje Obstschestvo“ („Freie Ökonomische Gesellschaft“); wir gerieten in eine unübersehbare Menschenmenge, ein hilfloses Gedränge um einen Konferenztisch, um den irgendwelche Menschen tagten – oder das Geschehene besprachen; es herrschte ein Durcheinander von Ausrufen und Einzelgesprächen, die in einen Streit ausarteten; immerfort wurde etwas bekanntgegeben; hier wurde behauptet: der Aufmarsch vor dem Winterpalais sei nicht von der Geistlichkeit angestiftet, das sei Revolution; man rief:

Zu den Waffen!

Das Staunen über die Auswirkung der Ereignisse war auf jedem Gesicht zu lesen, Zinaida Hippius in einem engen, schwarzen, atlasrauschenden Kleid, kletterte auf einen Stuhl und beugte sich neugierig über die Köpfe der Anwesenden; sie lächelte und musterte alles durch ihr Lorgnon; ich stand auf einem Stuhl daneben, und wir tauschten unsere Beobachtungen aus; Filosofov kam auf uns zu, und in jenem räsonierenden Ton, in dem er stets mit den Mereshkovskijs sprach, die er in die Große Welt „echter Publizität“ einführte, erklärte er: es gehöre sich nicht, hier zu lächeln, zumal angesichts der nationalen Trauer; hier sei ein ehrwürdiger Ort; hier sei nicht ein Treffpunkt für Dekadente oder Snobs; er befürchtete sicherlich einen Zwischenfall, zu dem es immer kam, wenn die Dekadenten mit Leuten des öffentlichen Lebens zusammentrafen; zu meinem Erstaunen wurde Hippius verlegen und schwieg; aber ich, ich fühlte mich ernsthaft gekränkt (später sprach ich mich mit Filosofov darüber aus); in diesem Augenblick verkündete irgendein Subjekt – nach der angenommenen Resolution – laut durch den ganzen Saal:

Ich bitte die Chemiker, mir ins Nebenzimmer zu folgen!

Ich mußte denken:

Wie kann man nur, vor allen Leuten und vor den Spitzeln…

Ich sehe mich um – Hippius ist fort, Mereshkovskij ist fort (man hatte ihn dazu abgeordnet, das Ausfallen von Vorstellungen im Marientheater zu erwirken als Zeichen des Protestes); hinter meinem Rücken steht plötzlich Arabashin, ein Verwandter von mir:

Wie bist du denn hierher geraten?

Er redete mir zu, in seiner Wohnung zu übernachten. Jemand sagte neben mir:

Sehen Sie – das ist Gorkij.

Hinter Gorkij stand ein erregter, glattrasierter, bleichgesichtiger Mann, den ich überhaupt nicht beachtet habe; später schrie er (ich glaube, von der Empore herunter) und rief ebenfalls zu den Waffen. Nachher sagte man, das sei Gapon gewesen, in Verkleidung, Gorkij habe ihn mitgebracht. Ich verlor jede Übersicht; mein Verwandter war inzwischen verschwunden.
Dann fand ich mich in den dunklen frostigen Prospekten Petersburgs; alles war leer; die Polizeipatrouillen waren verschwunden; zuweilen tauchten aus der Dunkelheit scheue Gestalten auf, die sich gegenseitig mißtrauisch musterten; in der frostigen Dunkelheit knisterten blutrote Feuer, um die sich frierende, erstarrte und verwirrte Soldaten scharten, die vor Kälte in die Hände schlugen und auf der Stelle stampften; und in der Nähe sah man dann die zu einer Pyramide aufgestellten Gewehre; in den dunklen Gassen knirschte der Schnee unter dem schweren Schritt der Patrouillen.
Als ich endlich die weiße Flanke der Kaserne erreicht hatte, war das Tor verschlossen; Wachtposten standen davor: sie ließen mich trotz aller Beteuerungen, daß ich in das Haus gehöre, heute erst angekommen sei… nicht passieren.

Wenn der Herr Offizier vorbeikommt, soll er entscheiden.

Ich trat von einem Fuß auf den anderen und wußte mir nicht zu helfen; plötzlich sehe ich: ein aufgebrachter dickleibiger Offizier mit Doppelkinn und rotem Schnurrbart watschelt herbei, den Revolver in der Hand; hinter ihm zwei Soldaten; ich erklärte ihm die Situation; er musterte mich mißtrauisch, um dann herauszuplatzen (etwas erschreckt, wie mir schien):
„Die Kaserne ist leer!“
„Die Arbeiter sollen sich gegen die Kasernen in Marsch gesetzt haben.“
„Ich warne Sie: Sie setzen sich Gefahren aus, die bei einer langen Blockade unvermeidlich sind…“
Ich zog die Gefahren einer langen Blockade dem Aufenthalt vor dem verschlossenen Kasernentor vor; daraufhin ließ man mich passieren; später habe ich erfahren, daß außer den Offiziersfamilien, den sechs Untauglichen, den Wachen und dem Oberstleutnant, jenem dicklichen Offizier, der mit mir verhandelt hatte, in jener Nacht niemand in der Kaserne war. Ich bin in der leeren Wohnung noch lange nicht zur Ruhe gekommen; die Ereignisse des Tages gingen mir nach.
Gleich am nächsten Morgen erzählte ich Blok von den Erlebnissen des gestrigen Abends, von Mereshkovskij, von der Sitzung, von dem Zwischenfall vor dem Kasernentor; Blok lächelte:

Da bist du Korotkij begegnet, so heißt der Offizier, ein Feigling; gestern abend hat er alle Offiziersfrauen alarmiert, indem er ihnen eine Belagerung in Aussicht stellte…

Dieser Korotkij tauchte später in Moskau als Polizeipräsident auf und machte die allerschlechteste Figur.
Blok und ich hielten Rat: was sollte ich tun? Ich sollte umziehen: natürlich wollte ich nicht die Gastfreundschaft meines Bekannten in Anspruch nehmen, dessen Haltung ausgesprochen reaktionär war; Blok gab mir recht; wir unterhielten uns weiter über diesen Offizier und dessen kleine Schwächen, die der Ärmste geerbt zu haben schien: er war ein Aufschneider.
„Weißt du“ – artikulierte Blok, wie immer sehr deutlich und ohne eine Miene zu verziehen, dabei schlug er Takt mit der Fußspitze, „er erzählte uns von seinem Gut, wo er im Gewächshaus das ganze Jahr über Ananas züchtet; aber das nimmt ihm keiner ab… Eigentlich nicht…“
Nun wußte ich, daß dieses Gut nicht existierte, vielmehr nicht diesem Offizier gehörte; er war dort nur zu Gast; es lag bei Klin (und gehörte V.I. Tanejev); ich war dort aufgewachsen. Nachdem ich das alles erzählt hatte, meinte Blok mit der gleichen ernsten Sachlichkeit: 

Jetzt verstehe ich, weshalb er uns ausweicht… Er hat erfahren, daß wir befreundet sind. Er geniert sich vor uns: er fürchtet, die Geschichte mit den Ananas käme dabei ans Licht…

An diesem Morgen lernte ich den liebenswerten Franz Feliksovitsch kennen, der allen unseren Reden still zuhörte; er kam zum Frühstück von irgendeinem Posten, den er mit seiner Kompanie beziehen mußte und hörte nun schweigend der Geschichte mit den Ananas und meinen Schilderungen von der Stimmung auf der Straße zu, wobei er mit traurigem Blick sich in der Runde umsah; er mußte sich anhören, wie die niederträchtigen Füsiliere verurteilt wurden: Franz Feliksovitsch ließ seine lange Nase über den Teller hängen wie ein Specht; es war mir peinlich, ich wurde zurückhaltender, aber Blok sprach, nachdem Franz Feliksovitsch gekommen war, wie mit Absicht immer härter; ich hatte den Eindruck: er wollte ihn treffen, verletzen, indem er die Offiziere und das Militär mit den schärfsten Ausdrücken bedachte, ohne auf Franz Feliksovitsch Rücksicht zu nehmen, als wäre er gar nicht da, als wohnten wir nicht in einer Kaserne; immerhin hätte Franz Feliksovitsch, der zum Schutz irgendeiner Brücke abkommandiert war, im Laufe des Tages gezwungen sein können, die Menge mit Gewalt zurückzuhalten (zur größten Erleichterung von Aleksandra Andrejevna war es nicht so weit gekommen); ich konnte mir ohne weiteres vorstellen, daß Franz Feliksovitsch den Feuerbefehl nicht gegeben und vorgezogen hätte, den Befehl zu verweigern; mit welchem Gefühl wäre er dann in dieses Haus zurückgekehrt, das so entschieden und revolutionär gestimmt war; auch er verachtete „den Kommiß“; dennoch: die Tatsache, daß Franz Feliksovitsch mit einer Kompanie irgendwo Wache halten mußte, reizte Blok; er äußerte sich drastisch, unbeherrscht und warf immer wieder die Serviette auf den Tisch; in jedem seiner Worte spürte man erbarmungslose Härte Franz Feliksovitsch gegenüber.
Ich habe diesen erbarmungslosen Ton dem Stiefvater gegenüber auch in anderen Äußerungen Bloks beobachten können, ich gewann den Eindruck: das Verhältnis war gespannt, wenn auch ohne jeden Grund, wie es schien:
„Franz Feliksovitsch liebt mich nicht, Borja.“
„Gar nicht“, fügte er mit einem Lächeln hinzu.
Ich sah es nicht, ich fühlte es nicht einmal – mir ist immer wieder seine Nachgiebigkeit aufgefallen, sein Entgegenkommen, seine Weichheit, wenn Aleksandra Andrejevna auch behauptete, Franz Feliksovitsch sei sehr jähzornig.
„Dann kann er schreien, schrecklich!“
Aber er war nie nachtragend.
Ich denke, daß der Abgrund zwischen dem Stiefvater und dem abweisenden Stiefsohn ein Abgrund zwischen zwei verschiedenen Lebenssphären war, verschiedenen Lebensvorstellungen und verschiedenen Gewohnheiten; Blok war ein Professorensohn, ein literarisch interessierter Mensch; sein Stiefvater war Berufsoffizier, ein „alter Soldat“; er schickte sich in die Rolle, die ihm in seinem eigenen Hause zukam, gab nach und mischte sich nirgendwo ein. 

 

Die Tage in Petersburg

Die ersten Tage meines Petersburger Aufenthalts stellten sich trennend zwischen Blok und mich: die Revolution rückte alles andere in den Hintergrund; die Repressalien begannen; Bekannte wurden festgenommen und eingesperrt; die revolutionäre Stimmung verstärkte sich und schließlich: in diesen gewitterträchtigen Tagen zog ich überraschend zu Mereshkovskijs, die mich überredet hatten, bei ihnen zu wohnen.
Mereshkovskij drohte die Verhaftung; jede Nacht, in Erwartung der Polizei, gab er Papiere und Geld seiner Frau.
Der enge, ununterbrochene Umgang mit Mereshkovskij wurde in jenen Tagen zu einer wirklichen, sehr konkreten Freundschaft; ich gab mich dem Pathos der Freundschaft hin, wobei die Ideen von Mereshkovskij für mich lebendiger wurden; ich erinnere mich gut an die leisen und langen Gespräche mit Hippius an dem golden glühenden Kamin im ziegelroten Salon; und ich erinnere mich gut an die parfümierten Zigaretten, die bei diesen Gesprächen gereicht und geraucht wurden; in verschlungenen artificiellen und sublimen Zwiegesprächen feilten wir immer wieder an den Problemen der „Trinität“, der „Kirche“, des „Fleisches“; wir haben sogar unsere Gedanken füreinander stenographiert. Diese Gespräche währten bis gegen vier Uhr morgens; manchmal noch länger; und dann hörten wir ein Klopfen gegen die Wand und die Stimme von Mereshkovskij, den wir geweckt hatten:
„Zina, das ist ja entsetzlich!“
„Laß doch Borja in Frieden!“
„Es ist vier Uhr!“
„Ihr laßt mich nicht schlafen!“
Zuweilen ließen sich im Flur schlurfende Schritte vernehmen: die Tür ging einen Spalt auf und in dem Spalt sah man den zierlichen Mereshkovskij, halb angezogen, mit einem nervösen und erschrockenen Gesichtsausdruck und starren Augen:
„Wann wollt Ihr denn endlich Schluß machen?“
Wir antworteten:
„Gleich.“
Und das Gespräch wurde bis zum nächsten Klopfen fortgesetzt.
In der Wohnung von Mereshkovskij lebten damals die beiden Schwestern von Zinaida Hippius; „Tara“ und „Nata“, beide Malerinnen; ich habe mich besonders mit Tata angefreundet, sie nahm mich oft in ihr Zimmer und ließ mich auf dem großen grauen Sofa Platz nehmen; sie hatte ein Zeichenheft, in dem sie ihre Phantasie, Bilder und Träume als Skizzen festhielt und zuweilen mit einem Kommentar versah; dieses Tagebuch von Bildgestalten hatte ich sehr liebgewonnen und philosophierte mit ihr stundenlang über ihre Skizzen; an eine erinnere ich mich: auf einer mondbeschienenen Wiese hüpfte eine bleiche, magere, knochige Gestalt; wir meinten damals, das sei „Anton“ (so pflegte man bei Mereshkovskij A.V. Kartaschov zu nennen, eines der Mitglieder der kleinen religiösen Kommune, in deren Zentrum ich mich plötzlich fand).
Zum Abendtee erschien unvermeidlich D.W. Filosofov, elegant, frisch rasiert, mit makellosem Scheitel, äußerst gepflegtem hellblondem Haar und kurzem Schnurrbärtchen – um mit einer Zigarette in der Hand auf den dicken Teppichen mit kurzen, der großgewachsenen Gestalt so wenig angemessenen Schritten auf und ab zu wandern; er überraschte immer wieder durch einen ungewöhnlich raschen Stimmungswechsel; zuweilen erschien er hochmütig und launisch, in beleidigend korrekte Aufmerksamkeit gepanzert; seine kalten, schönen blauen Augen fixierten den Gesprächspartner mit der aufreizenden Ruhe eines Examinators:
„Aber erlauben Sie…“
„Wie kommen Sie zu Ihrer Meinung?…“
Und der eben geäußerte Gedanke zerbröckelte, man war ernüchtert.
Oder er erschien mit liebevollen Vorhaltungen; er redete Mereshkovskij, Hippius und mir ins Gewissen, streichelte uns mit einem weichen und freundlichen Blick (seine Güte, Selbstlosigkeit und Ehrlichkeit haben mich oft in Erstaunen versetzt); dann schien er eine liebevolle Tante zu sein, ein altes Jüngferchen, Haushälterin in der Ideenkammer von Mereshkovskij; während er der Ideologie von Mereshkovskij anhing, ihr treu blieb und die „Ideen“ in der Presse, in der Öffentlichkeit vertrat, war er in unserem engsten Kreise ein strenger Zensor; er bemängelte und verwarf alles, was Mereshkovskij in den Augen des ernstzunehmenden Publikums hätte schaden können; wie ein Hauslehrer einen Knaben bei der Hand nimmt, um ihn spazieren zu führen, so führte auch Filosofov Mereshkovskij in die Gesellschaft aus; und Mereshkovskij schielte zuweilen wie ein kleiner Junge nach dem ärgerlich selbstbewußten Filosofov. Er sprach und schielte nach Filosofov, dieser aber schürzte die Lippen und nahm unverzüglich eine Vivisektion vor:
„Nein, das geht nicht…“
„Aber das, das geht!“
Ich habe sie oft beobachtet: Mereshkovskij, der sich zuweilen recht einfältig gab, blinzelte ins Leere, platzte unmotiviert mit irgendeiner Spekulation über das Tierhafte oder Engelhafte heraus; darauf begann er im Zimmer auf und ab zu laufen, ein wenig erschrocken, vor Verlegenheit pfeifend, und schielte nach Filosofov; Filosofov schwieg; schließlich stolperte Mereshkovskij, verwirrte sich und hörte auf zu pfeifen. Filosofov, groß, stattlich, maß ihn mit unerschütterlicher Ruhe von Kopf bis Fuß und begann kühl zu dozieren:
„Erlaube mal…“
„Du bringst hier etwas durcheinander“
„Und zweitens kann ich nicht einsehen“
Die aufsehenerregende tönende Intuition wurde aller Sentiments entkleidet, das dürftige Skelett freigelegt: ein recht mittelmäßiges, glanzloses Schema.
Ja, Mereshkovskij hatte in diesen Gesprächen à quatre und à trois viel auszustehen: von Hippius, von Filosofov: er flüchtete in sein Kabinett: und flickte seine Schemata aus; nach der zweiten oder dritten Korrektur ließ Filosofov das Vorgelegte gelten und versah es mit dem Stempel:

Neue religiöse Offenbarung.

Darauf nahm Filosofov die Attitüde eines ergebenen Verkünders der neuen Wahrheit an und brachte sie in Feuilletons und Aufsätzen unter die Leute: er gab sich dann als einen treuen Knappen der neuen Wahrheit.
Ich erinnere mich an seine späten, zuweilen sehr späten Besuche und den Ärger, den er dadurch Darjuschka, der Amme von Hippius, verursachte, die im gleichen Hause lebte und sich stets über die späten Gäste beschwerte.
Ich bemühte mich, mit jedem Mitglied der „Kommune“ eine persönliche Beziehung anzuknüpfen; die Geselligkeit wurde mir als eine besondere Aufgabe von Hippius auferlegt.
„Sie sollten ein näheres Verhältnis zu Tata finden…“
„Sprechen Sie mit Anton Vladimirovitsch.“
„Heute kommt Filosofov: wo wollen Sie hin?“
Ich gehorchte: ich sprach mich mit Filosofov aus, ich sprach mit der „bête noire“ der Kommune – Anton Kartaschov.
Er war eine echte „bête noire“, alle seine Bewegungen waren wild und ungebärdig; schmal, sogar knochig, ja: ausgezehrt, mit spitzer Nase in dem fahlen, ungesunden Gesicht, fuhr er mit irrem Blick der grünlichen, schwarzumränderten Augen durch das Zimmer wie Gogols Choma Brut, und genau so wie bei dem Seminaristen schien auf Kartaschovs schmächtigen Schultern eine unsichtbare Hexe zu reiten, die er durch einen gemurmelten Spruch zu bannen versuchte, mit zuckendem Kopf und vor Anstrengung zusammengekniffenen Augen; unvermittelt hielt er in seinem Lauf ein, um nach einem passenden Ausdruck zu suchen, ließ sich entkräftet in den nächstbesten Sessel fallen, um das Gesicht hinter der abgezehrten Hand zu verbergen (die andere hing kraftlos herab); man hatte den Eindruck, er bewege sich fliegend: sei es, daß er in die Wohnung hineingeweht kam, sei es, daß er die Treppenstufen hinabflog, um in das offene Feld zu entschweben, wie bei Gogol.
Ich erinnere mich so gut an die Augenblicke, wie er im Sessel zusammenbrach mit halbgeschlossenen Augen und über der schmalen Brust verschlungenen Händen, aber eifrig mit dem Kopf nickend; wie er dann plötzlich auffuhr und seinen Lauf durchs Zimmer mit einem „ja-ja-ja-ja-ja“ oder mit einem „erlauben Sie, nein-nein-nein“ fortsetzte; sein hüpfender Schritt, seine eckigen Gebärden (in jedem Sinn eckig; im Äußeren und im Seelischen) zerstörten die Harmonie des „religiösen Bewußtseins“ der beiden Mereshkovskijs; er hatte allerlei von der verärgerten Hippius auszustehen, die ihn immer aufs bissigste herausforderte; zwischen Kartaschov und Hippius bestand ein immerwährender Zwist; Mereshkovskij und Filosofov agierten als Vermittler; sie beschwichtigten „Anton“…
Eine Diskussion zwischen „Anton“ und der bissigen Zinaida leitete stets die nächste Tragödie im Leben der Kommune ein; unzählige Male flog Kartaschov nach einer Entladung stürmisch die Treppe hinab, nachdem er die Tür hinter sich zugeknallt hatte; um nach einigen Tagen von Tata zurückgeholt zu werden, zu Gericht und Buße, zur Ermahnung und Diskussion des Problems „Anton“; hinterher saß er still und erschöpft mit halbgeschlossenen Augen in dem grünlichen ausgezehrten Gesicht.
Ich hielt Kartaschov immer für einen ganz besonderen Menschen, überschäumend, hochbegabt (bis zur Genialität), von Einfällen sprudelnd, von denen er nicht einen einzigen festgehalten hat; seine Improvisationen im ziegelroten Salon waren wirkliche Glanzpunkte; und Mereshkovskij brauchte ihn, denn er dynamisierte seine Gedankenwelt und unterhöhlte seine wohlausgewogenen Konstruktionen; eben noch schien alles klar zu sein: klar war, daß das historische Christentum in der Agonie liegt; aber plötzlich tauchte „Anton“ auf, er schüttelte den Kopf und weckte Zweifel durch den Hinweis auf die „ursprüngliche Frömmigkeit“. (Und wie herrlich sang er die alten Kirchenlieder: ich sehe ihn vor mir in einem Boot bei Sujda, rudernd und mit halbgeschlossenen Augen in das Abendrot singend). Um diese Zeit vereinigte er in sich die revolutionäre Stimmung eines Intelligenzlers mit der Liebe zur Tradition; die Heiligenlegende vertrug sich in ihm mit Pisarev. Damals imponierte mir Kartaschov; er zog mich sehr stark an; aber wir empfanden beide eine gewisse Scheu voreinander, und es kam kein Gespräch zustande; ich erinnere mich nur, daß er mir einmal von „Riza“ erzählte, dem Titanen (später habe ich ihn in meiner „Symphonie“ auftreten lassen), in für mich unverständlichen Sätzen; aber eines wurde mir dabei klar: er erlebte mich im „Mythos“, nicht im Leben: er hielt mich für einen Dekadenten und mißtraute meinen „Bemühungen“ um die Orthodoxie im Kreise Mereshkovskijs.
Aber jeder war für mich auf seine Weise interessant, jeder fügte sich als eine unersetzliche und notwendige Figur in das „Kollektiv“ ein, als eine besondere Farbe im „Ganzen“; in der Peripherie des Kreises bewegten sich einmal Volshskij, einmal N.A. Berdjaev, ein anderes Mal V.A. Ternavcev, die ich häufiger als alle anderen im Kaminschein bei einem Gespräch mit Zinaida Hippius sah (übrigens hielt die Freundschaft Volshskijs und Mereshkovskijs nicht lange an); Hippius zog alle in die eigenartige kultische Atmosphäre hinein, die von jedem deutlich empfunden und von Rozanov mit der ihm eigenen Farbigkeit einmal charakterisiert wurde: 

Nun werden Sie bald nach Paris reisen und Ihre mystische Höhle wird veröden… Tata und Nata werden sie bewachen und zuweilen wird Belyj in die verwaiste Höhle kommen…

Wirklich; die Wohnung hatte etwas von einer Höhle, in der in jenen Jahren über subtilen religionsphilosophischen Gedanken gebrütet wurde; Treibhaus, Frühbeet oder Höhle – so erlebte ich die Wohnung in dem düsteren grauschwarzen Hause Muruzi, das bis auf den heutigen Tag mit der Pracht seiner fünf Stockwerke die Ecke Pantelejmonovskaja und Litejnaja Straße ziert; hier zeigte sich die Wirkung von Mereshkovskij nicht durch die Bücher, sondern in der Atmosphäre zwischen den Wänden, hier rotweißgestreift, dort ziegelrot, durchtränkt von dem Duft der Zigarren Mereshkovskijs, der parfümierten Zigaretten der Hippius und des „Touberose“ Loubain. Als ich in diese Wohnung geriet, zappelte ich hilflos in der „Atmosphäre“; die Verbindung mit Blok trat zunächst in den Hintergrund; diese Zeit wurde durch eine Reihe neuer Beziehungen bestimmt: zu V.V. Rozanov. S.N. Bulgakov, A.S. Volshskij, N.A. Berdjaev, F.K. Sologub, A.V. Kartaschov, V.A. Ternavcev, P.P. Percov, A.S. Askoldov, G.I. Tschulkov, Andrijevskij und vielen anderen Schriftstellern und Personen des öffentlichen Lebens; jede Bekanntschaft stellte hohe Ansprüche an meine Kräfte; damals traf man sich bei Minskij, bei Sologub (sonntags), bei Rozanov (ebenfalls sonntags), bei Mereshkovskij, in den Redaktionen von Voprosy shyzni und in Mir iskusstva.
Einmal, als ich mit Hippius vor dem Kamin irgendein „tiefes Problem“ erörterte, betrat den Salon ein mittelgroßer gedrungener Herr – er kam vielmehr hereingetrippelt –, blond, mit leicht ergrautem spitzem Bärtchen; er trug Schwarz, ich glaube einen Gehrock über einer Weste von einem makellosen Weiß; auf dem rötlich glänzenden, vollen und etwas schlaffen Gesicht (von der Farbe einer blassen Mohrrübe) funkelte eine große goldumränderte Brille; er hielt den Kopf zur Seite geneigt, sprach ungewöhnlich schnell, undeutlich und stieß beim Sprechen ein wenig an; Hippius machte uns miteinander bekannt; das war Rozanov.
Bereits seit zehn Jahren faszinierte mich seine Idee; ich hielt ihn für einen hochbegabten Denker, vielleicht sogar für genial, aber auch für den Gefährlichsten von allen; deshalb betrachtete ich Rozanov mit sehr großer Aufmerksamkeit; er ließ sich auf einem niedrigen Schemel vor Hippius nieder und begann kurze, unordentliche Sätze auszuspucken, die in rascher Folge, vermischt mit Speichelspritzern, über seine Lippen perlten; an diesen perlenden Sätzen, an der für ihn charakteristischen Weise, sie um sich zu verspritzen, zeigte sich mir eine gleichgültige Gutmütigkeit und ein völliges Mißachten der Anwesenden; man bekam den Eindruck, daß Rozanov dieses Gespräch nicht erst im Salon, sondern bereits im Flur, nicht einmal erst im Flur, sondern schon auf der Straße begonnen hatte: ein Selbstgespräch über alles, was es nur gibt: über die beiden Mereshkovskijs, über sich selbst, über Petersburg; und dieses Gespräch „mit sich selbst“ setzte er auch im Beisein anderer fort – indem er über sie, die er besuchte, weitersprach und sie mit Gedanken überschüttete, die irgendwo unterwegs entstanden waren; solches Gespräch war ohne Anfang und ohne Ende, bedurfte keines Anhaltspunktes, sprang von einem Gegenstand zum anderen, flatterte richtungslos und war unverschämt gegenüber dem Gesprächspartner; das Ganze war ein intensiver physiologischer Vorgang, ein Gedanken-Verdauungsprozeß, in den auch wir gelegentlich einbezogen wurden: ich oder Hippius, die Rozanov einfach mit Zinotschka ansprach, lispelnd und fortwährend mit den zitternden Fingern der nervösen Hände nach dem Westenknopf, nach dem Aschenbecher, nach den feingliedrigen Händen der Hippius greifend; seine Hände zuckten, seine Knie tanzten; die braunen Äugelchen, die listig hinter der funkelnden Brille zwinkerten, schienen zu träumen: sie sahen das, was alle anderen sahen, nicht: sie schienen blinde braune Stellen im Fleisch zu sein; in seiner ganzen Erscheinung lächelte die unwiderlegbare, selbstzufriedene kleinbürgerliche Trivialität; er trug seine „Trivialität“ zur Schau, goutierte sie mit hörbarem Schmatzen der sinnlichen Lippen; entweder lag auf diesen Lippen ein süßliches, aufdringliches Lächeln, oder sie zuckten in unverhohlenem Spott über alles auf der Welt; „seine offenkundige Trivialität ist List und seine List ist Hemmungslosigkeit“; diese Überlegung bot sich an, wenn man den (Gedanken-verdauenden) Rozanov beobachtete: mir ist die Geste seiner Hände aufgefallen, als er aus der Westentasche ein Kämmchen herausholte und vor unseren Augen das glatte, wie angeklebte Haar kämmte; damals dachte ich: sollte es physiologische Funktionen ähnlich den Verrichtungen seiner „Hostienbäckerin“ geben, dann wäre Rozanov ein „Hostienbäcker“ in einem riesigen Tempel; ja er buk (an einem heiligen Orte), vielleicht gab er auch nur hemmungslos einem physiologischen Bedürfnis nach, wenn er seinen hemmungslosen Gedanken nachging, er hatte auf der Straße, bei sich zu Hause nachgedacht: die Ausscheidungen wurden mir und der Hippius vorgesetzt. Seine Gedanken brodelten plötzlich auf und stiegen als dicke Blasen aus dem Unterbewußtsein herauf; ohne jeden Anlaß zitierte er zwei oder drei Sätze aus meinem „Brief eines Studenten der Naturwissenschaften“, der in der ersten Nummer der Zeitschrift Novyj putj erschienen war; er geiferte, lobte mich und wandte sich sofort mit der größten Rücksichtslosigkeit, die keine Antwort abwartet, an die Hippius, um ihr zu sagen, sie sei eine Hexe; Hippius ging darauf ein; sie nannte Rozanov einfach „Vasja“; aber Vasja redete bereits von etwas ganz anderem, von seiner Familie (von dem Verhältnis seiner Frau zu Hippius); seine Knie tanzten, das Gesicht glänzte wie mit Butter bestrichen, die Lippen nahmen die Form eines Ypsilons an, und die braunen Äugelchen blickten ohne zu sehen; sie blinzelten: hinter der funkelnden Brille schielten sie nach der Decke.
Plötzlich drehte sich Rozanov nach mir um, berührte mit der Hand die Knöpfe meiner Jacke und fragte mich unvermittelt nach meinem Vater; als er hörte, daß mein Vater bereits gestorben war, richtete er sich auf; und mit ernstem Gesicht bekreuzte er sich stumm und andächtig; dann schaute er mich eine Weile an und murmelte:

Sie sollten das Grab nicht vergessen… Sie sollten das Grab nicht vergessen… beten Sie an dem Grab…

Und er kam immer wieder auf das „Grab“ zurück, noch während er ging; bereits im Pelz, die runde Mütze tief in die Stirn gezogen, angelte er mit dem Fuß nach dem gigantischen Überschuh, drehte sich dann nach mir um und begann von neuem:

Denken Sie daran: beten Sie an dem Grab…

Kaum war er gegangen, als Hippius mich mit einem belustigten und triumphierenden Blick ansah, als hätte sie mir ein seltenes Tier vorgeführt:
„Was sagen Sie?“
„Ja…“ – mehr fiel mir nicht ein.
Nach einigem Schweigen rief ich unwillkürlich aus:
„Aber wissen Sie, das ist ja schrecklich… “
„Entsetzlich!“ – sagte sie und sah mich bedeutungsvoll an.
„Das ist nichts anderes als: ,Holt den Vij!‘“
„Nein, das hier – das ist Fleisch: ,plotj‘, pures Fleisch…“
„Nicht einmal ,plotj‘ – nein“, – phantasierte ich, „das ist ,plotj‘ ohne das ,tj‘ – in dem Laut ,tj‘ ist eine gewisse Aufwärtsbewegung! nein; nicht einmal ,plotj‘, – nur ,plo‘, sogar mit zwei ,p‘: p-plo!“
Zu unseren Albernheiten von damals gehörte es, Rozanov „p-plo“ zu nennen. In diesem Klang erlebten wir den Abgrund physiologisch brodelnder Materie: und auch bei den folgenden Begegnungen mit Rozanov (ganz besonders einmal auf der Tverskaja und in der Konditorei Filippov) glaubte ich zu beobachten, daß er seine Gedanken nicht bewußt konzipierte, sondern daß es in ihm brodelte und er physiologische Ausscheidungen seiner Denkvorgänge um sich verspritzte; er lief über – und fiel in sich zusammen: bis zum nächsten Exzess; dadurch läßt sich auch die Wirksamkeit dieser Aus-Scheidungen erklären: der Idee Rozanovs; alle anderen stellen einen abstrakten Sachverhalt hin – und er „teilt“ etwas mit: die Ausscheidungen.
In jener Zeit verbrachte ich meine Sonntage entweder bei Rozanov oder bei F. Sologub; die Versammlungen bei Rozanov verliefen ungeordnet, chaotisch, aber laut und fröhlich; der gastfreundliche Hausherr wußte jeden Knoten zu lösen; man fühlte sich in dem etwas engen Eßzimmer mit einer schlichten weißen Tapete völlig ungezwungen; hier stand ein riesiger Tisch (von einer Wand bis zur anderen), den laute Gespräche umbrandeten; irgendwo an einer Ecke funkelte die goldene Brille des Hausherrn, er schob seine Hand dem einen oder dem anderen Nachbarn unter den Arm, schwappte seine Sätze in dessen Ohr und machte ein Ypsylon mit dem Mund; wie immer fiel Berdjaev auf – durch seine stattliche Erscheinung mit dem Kopf eines assyrischen Priesters; völlig unpassenderweise war sein Vis-a-vis Beljajev oder der Geistliche Grigorij Petrov, der selbstzufrieden mit dem imposanten Brustkreuz spielte und hochmütig die saftigen Lippen blähte; gleich daneben der kleine, ein wenig verschrumpfte Mereshkovskij mit dem bleichen, abgezehrten Gesicht, den erstaunt hervorquellenden Augen und den stets mißglückten Antworten; am Katzentisch saßen die Maler des Mir iskusstva: Bakst und Somov; der Hausherr trat kaum in Erscheinung, viel bestimmender war seine korpulente, rotbackige und strenge Gattin Varvara Fjodorovna: rotbackig und streng, das war mein Eindruck; vielleicht war sie gar nicht streng, sondern behandelte nur uns, „Mereshkovskijs“, so streng: sie wußte, daß ich mit Zinaida Hippius Freundschaft geschlossen hatte, und gegen Hippius empfand Varvara Fjordorvna weniger Abneigung, als vielmehr panisches Entsetzen; und so übertrug sie auch auf mich ihr Mißtrauen gegen Mereshkovskijs, so galt auch mir ihr „strenges“ Gesicht; hier war ich selbstverständlich der Freund Mereshkovskijs, ich spürte das ständig aus den Fragen von Rozanov und las das in dem strengen Profil seiner rotbackigen Frau; einmal stellte mir Rozanov ein sehr verwickelte gnoseologische Frage; während ich antwortete, zeichnete ich mit dem Nagel ein Muster auf das Tischtuch; Rozanov, der meine Worte überhört, aber ihre Gebärde begriffen hatte, begann sofort meine Zeichnung mit dem Finger nachzuziehen und auszuschmücken: „Verstehen Sie?“ Plötzlich wurde er matt, kam außer Atem, ließ den Kopf hängen, setzte die Brille ab, um die Gläser zu putzen und schien völlig erschöpft: der physiologische Prozeß war zu Ende und er hatte nichts mehr hinzuzufügen; es blieb ihm nur übrig zu schweigen, sich abzuwenden und die Brillengläser zu putzen; bei irgendeinem Anlaß versprach er mir sein Buch Über das Verstehen; er sagte:

Kommen Sie vorbei und holen Sie es: ich schreibe Ihnen eine Widmung hinein.

Aber ich kam aus dem Wirbel der Petersburger Tage nicht heraus – und muß gestehen: ich habe es vergessen, ich bin nicht hingegangen; er aber hatte gewartet; das Buch lag für mich bereit; und er war gekränkt.
Das Buch Über das Verstehen blieb ungelesen; später konnte ich es nicht auftreiben.
Völlig anders wurden die Gäste bei den sehr strengen „Sonntagen“ von Fjodor Kuzmitsch Sologub empfangen. Er wohnte auf der Vasiljevskij-Insel, in dem Gebäude jener Schule, deren Inspektor er war; wollte man in seine Wohnung gelangen, so konnte man sich sehr leicht in ein grell erleuchtetes Klassenzimmer verlaufen; seine Wohnung verblüffte durch ihre Unbehaglichkeit, Leere, die vielen Durchgangszimmer, die öden Decken, seltsamen Zimmerecken und durch die vielen Heiligenlämpchen; hier herrschte stets ein trübes grünliches Licht, sei es von den Lampenschirmen, sei es von den Tapeten, in diesem Licht bewegte sich Sologub, ebenfalls grünlich und streng, und seine Schwester, die Fjodor Kuzmitsch ähnelte wie ein Ei dem anderen; sie war ebenfalls blaß, streng, still, genauso glattfrisiert, in allem ganz wie der Bruder, nur mit Rock und ohne Bart; bei seinen Empfängen herrschte strenge Etikette, der Hausherr selbst unterhielt seine Gäste mit spezifischen Themen, und das Gespräch erinnerte zuweilen an eine strenge, entscheidende Prüfung; hier wurden sehr oft Gedichte gelesen, deshalb traf man hier viele Dichter, ich habe mich hier hauptsächlich mit Semjonov und V.V. Hippius getroffen, dem Pionier und Inaugurator unter den Dekadenten; wir traten hier mit der nötigen Ehrerbietung und nicht ganz ohne Furcht auf und ernteten zuweilen Lob, zuweilen auch Tadel; Sologub war den Dichtern gegenüber freundlich gesinnt, gab sich aber sehr maßvoll; philosophische und religiöse Debatten waren in dieser kalten und strengen Wohnung undenkbar; Zinaida Hippius mahnte mich oft:
„Sie sollten zu Sologub gehen!“
„Sologub ist ein wirklicher Mensch!“
Beide Mereshkovskijs schätzten sein Talent; und in ihrer Beurteilung legten sie ein Maximum an Objektivität an den Tag, was bei ihnen selten war; Sologub äußerte sich zuweilen sehr hart über die Tätigkeit der beiden Mereshkovskijs; ich hatte den Eindruck, daß er eine stärkere Zuneigung zu der Dichtung Bloks hatte; über Blok äußerte er sich damals mit aller Entschiedenheit:

Blok ist ein Dichter: ein echter Dichter!

Und ein anderes Mal sagte er:

Blok ist klug in seinen Versen: er ist aber nicht klug, wenn er sich in Prosa versucht.

Zu meinem Buch, das damals eben erschienen war – es war Die Rückkehr – sagte Sologub, wenn ich mich recht erinnere:

Das ist ein gutes Buch.

Überhaupt stand Sologub der Jugend wohlwollend und verständnisvoll gegenüber. Mereshkovskijs waren verständnislos, und Rozanov waren wir gleichgültig; wenn ich ihn traf, überschüttete er mich mit Komplimenten, die unerwartet und wenig glaubhaft waren; man wußte ja: heute hakt er sich ein und lobt über den grünen Klee, um morgen in Novoje Vrjemja eine vernichtende Kritik zu schreiben.
Einmal hatte er Blok wirklich vernichtend heruntergerissen; am nächsten Tag trafen sich beide; Blok ging zuerst, als sei nichts vorgefallen, auf Rozanov zu; diese Friedfertigkeit brachte Rozanov aus der Fassung und er erzählte später:

Was soll das? Ich habe ihn beschimpft und er… er selbst kommt auf mich zu, als wäre nichts geschehen.

Zinaida Hippius mischte sich in alle meine Angelegenheiten ein: so verbot sie mir zum Beispiel, den Dichter Minskij zu besuchen; jedes Mal, wenn ich das Ehepaar Minskij besuchen wollte, fing sie an, zu schmollen:

Gehen Sie, wenn Sie wollen, aber – Sie werden noch daran denken!

„Sie werden noch daran denken“ klang wie eine ernsthafte Drohung; Hippius hatte um diese Zeit irgendeinen Zwist mit der Dichterin L. Vilkina, der Frau von N.M. Minskij: und so habe ich damals versäumt, Minskij zu besuchen; bald darauf reisten sie ins Ausland.

 

Blok und Mereshkovskij

Das Leben in der religiösen Kommune ermüdete mich.
Alles, was mich an Mereshkovskij anzog, fehlte in meinen Beziehungen zu Blok; die historischen Aspekte der Religion, insbesondere die geschichtliche Vergangenheit des Christentums, waren ihm fremd; er war von der geschichtlichen Problematik im allgemeinen viel zu wenig tangiert; erst später hat er eine Beziehung zur Geschichte gewonnen (in seiner letzten Lebensperiode); apokalyptische Stimmung dominierte bei ihm; apokalyptische Stimmung war eine Form des ihm eigenen Maximalismus; seine Unmittelbarkeit, Erlebnisfähigkeit, sein Fleisch und Blut machten ihn zu einem Apokalyptiker; und umgekehrt: Mereshkovskij, der donnernd verkündete: „Die Zeit ist nahe“ – Mereshkovskij „apokalyptisierte“ abstrakt; seine Erlebnisform war eine historische; selbst die Auflehnung gegen das historische Christentum brachte bei ihm eine unabsehbare Kette von Fragen hervor, die von der Kirchengeschichte schlechthin untrennbar waren; der Historizismus hielt Mereshkovskij in seinem Bann, während er Blok ausgesprochen abstieß, der das Christentum als historische Tatsache „auf die leichte Schulter“, ja, überhaupt nicht ernst nahm, zum größten Ärger von Mereshkovskij; er stand jener Gnosis fern, die zum Anschauen des Antlitzes Christi führt noch war sein Antlitz für Blok durch das Gesicht der Muse verdeckt: der Sophia.
Das Anliegen von Mereshkovskij war: das Offenbarwerden des Antlitzes Christi; die Idee der Sophia wurde von ihm nicht realisiert, er brauchte die Kirche nur als ein Sprungbrett („Die Kirche liegt in der Agonie“), um im „historischen“ Christentum zu landen; die Kirche hatte die Sophia nie gekannt. Für Blok dagegen hat das Problem der Kirchengeschichte überhaupt nicht mehr existiert – auch die Nebenprobleme fielen weg, zum Beispiel kritische Auseinandersetzung mit dem Evangelium; in diesem Punkt war er ein Nachfolger Solovjovs; auch für Solovjov existierte die Evangelienkritik überhaupt nicht; Blok besuchte zwar religionsphilosophische Disputationen, aber nur um mit interesselosem Wohlgefallen den stürmischen Zweikampf (der neochristlichen und der kirchlichen Richtung zu beobachten); das geschah aus einer abstrakten, intellektuellen Neugierde heraus; zu Mereshkovskij fand er überhaupt keine Beziehung; im Gegenteil: er wäre bereit gewesen, aus Protest gegen die überdeutlichen Konstruktionen Mereshkovskijs bei gegebener Gelegenheit die Partei der Kirchentreuen zu ergreifen: die Rechte und die Linke stützen sich zuweilen gegenseitig, wenn es gegen das Zentrum geht; und für Blok war Mereshkovskij das Zentrum – „die gemäßigte Mitte“; die Ambition Mereshkovskijs auf öffentliche Wirkung kam ihm „langweilig und gewollt“ vor; in den religiösen Anschauungen war er schärfer und extremer als Mereshkovskij, weil sein Ausgangspunkt stets die eigene natürliche und unmittelbare Empfindung gewesen ist: sein Kriterium war unmittelbare Erfahrung; abstrakte Spekulationen, religiöse und religionsgeschichtliche Probleme ließen ihn kalt. Eine „Erfahrung“ bedeutet für ihn alles; fehlt die Erfahrung – erweist sich jede Diskussion als überflüssig; dann ist sie nur Wortklauberei und Exegese. Blok wollte exakte Erfahrung; und unter den „Morgenröten“ war ihm diese Erfahrung zuteil geworden; ebenso im Werk Solovjovs, obwohl er für die Theologie Solovjovs nicht das geringste Interesse aufbrachte. Mereshkovskij hielt er für einen abstrakten Scholastiker, Vladimir Solovjov dagegen für einen „Wissenden“, für einen Kenner des Rhythmus unserer Epoche; diese Meinung behielt er bis zu seinem Tode, und seine Notiz über Solovjov aus dem Jahre 1920 betätigt das:

Ihm (Vladimir Solovjov) – war es vom Schicksal beschieden, während seines ganzen Lebens ein geistiger Träger und Verkünder jener Ereignisse zu sein, die die Welt bewegen sollten…, jeder von uns weiß, daß deren Ende noch nicht abzusehen ist, weil es schlechthin unabsehbar ist…

Vladimir Solovjov war für Blok ein Fenster, das die Winde des Kommenden aufgestoßen hatten; sein Standpunkt innerhalb der Geschichte ist nicht deutlich markiert, aber die Geschichte unseres Zeitalters entspricht seinem prophetischen Vor-fühlen; er selbst starb einige Monate vor der Geburt des neuen Jahrhunderts, „das auf einmal sein Gesicht zeigte, ein neues und dem vorherigen Jahrhundert so unähnliches Gesicht“. Im folgenden legt Blok ein wertvolles Geständnis ab, das meine Worte über seine konkreten Erfahrungen der „Morgenröten“ (furchtbare und zugleich süße Erfahrungen) bestätigt:

Ich erlaube mir… als ein Zeuge, der nicht ganz taub und blind ist… den Hinweis, daß schon der Januar des Jahres 1901 unter einem völlig anderen Zeichen stand als der Dezember 1900, und daß schon der Beginn unseres Jahrhunderts von wesentlich neuen Zeichen und Ahnungen bestimmt war. 

In der Tat: Bloks Gedichte, die das letzte Jahr des vergangenen Jahrhunderts schließen, sind belastet, schwer, pessimistisch:

Die bedrückte Seele wurde
zu einem Klumpen kalter Erde.

Oder: 

Die getroffene Seele wurde
zu einem Klumpen kalter Erde.

Oder:

Du wirst mich peinigen,
bedrücken und weiterpeinigen.

Dann kommen Zeilen, die am 31. Dezember 1900 entstanden sind, wenige Stunden vor dem Beginn des neuen Jahrhunderts:

Auch Du, mein junges, mein trauriges Jahr
gehst fort.

Ich grüße Dich, den Abschiedsgruß
sende ich Dir in dieser Nacht.
Und ich bin noch immer ein zufälliger Gast
auf der fremden Erde.

Das ist eine Licht-Scheide: vorher „Ante lucem“; nachher – die „Gedichte von der Schönen Dame“, die mit ganz anders lautenden Versen eingeleitet werden:

Gemächlich schritt ich weiter
Und ahnte Ewigkeit vor mir…

Dieses Gedicht trägt das Datum: Januar 1901. Das zweite Gedicht aus dem Zyklus 1901 ist noch mutiger:

Der Wind brachte aus der Ferne
die Ahnung eines Frühlingsliedes.
Irgendwo, hell und tief,
zeigte sich ein Stückchen Himmel.
In diesem bodenlosen Fenster,
in der Dämmerung des nahenden Frühlings,
weinten die Stürme des Winters,
schwebten die Träume der Sterne.

Und dann:

Gesegnet sei das Gestern.

Und schließlich:

Geheimnisvolle Jungfrau Morgenröte,
vereinige das Gestern und das Morgen durch das Feuer.

Die Worte von Blok: „Der Januar 1901 stand unter einem völlig anderen Zeichen als der Dezember 1900“ sind im wörtlichsten Sinne aufzufassen; sie drücken eine Erfahrung aus, die Blok zuteil wurde; Blok war ein Zeuge seiner Epoche, der mit einem scharfen Blick und einem empfindlichen Ohr begabt war.
Für Blok war Mereshkovskij im Gegensatz zu Solovjov ein Zeuge, der für die Offenbarungen des Jahres 1901 blind und taub war und das Besondere seiner Zeit in derart allgemeinen und unbestimmten Umrissen erlebte, daß sie zu keiner echten „Einsicht“ führen konnten, obwohl er sich offenbar darum bemühte.
Er rief aus:

Entweder wir oder keiner!

Die Wirklichkeit zeigte:

Wir jedenfalls nicht…

Nichts haben diese „Wir“ in den feurigen Jahren Rußlands gesehen! Das Jahr 1901 (ich schrieb darüber in meiner ersten „Symphonie“, daß es unvergleichliche Tage waren, daß ein ganz besonderer Frühling über Moskau stand), bestimmte die Beziehungen zwischen den Menschen: die für die „Morgenröten“ dieses unvergleichlichen Frühlings Empfänglichen gehörten „zu uns“; die Unempfänglichen gehörten „nicht zu uns“; in Bloks Augen hatte Mereshkovskij das Eigenartige dieser Offenbarung nicht wahrgenommen; und damit erwies sein „neues Bewußtsein“ sich als ein „altes“, das die Grenzen der abgelaufenen Epoche nicht überschritten hatte.
Blok nahm mit dem größten Ernst jedes Experiment und jedes seriöse System zur Kenntnis; wie aufgeschlossen und wie aufmerksam hörte er mir zu, wenn ich ihm die Philosophie von Rickert oder von Wundt des langen und breiten explizierte; aber er konnte ein spöttisches Lächeln nicht verbergen, wenn es darum ging, die religiöse Erfahrung durch kurzweilige intellektuelle Manipulation zu korrigieren; eine Halb-Philosophie war seinem Bewußtsein zuwider, und erst recht zuwider war ihm die Halb-Erfahrung; als hausbackene Halb-Philosophie sah er die schwerfälligen Konstruktionen Mereshkovskijs an, die nicht in einem schlichten Denken, sondern in zweifelhaften Wortspielen wurzeln; er hatte selbst Sinn für das Wortspiel, aber nur als Witz (z.B.: „Arl-e-kin“ und „Erl-König“); als absolute Pseudo-Erfahrung sah er die subjektive Mystik der Hippius an, das Streben nach einem neuen religiösen Bewußtsein wertete er ebenso wie Helmholtz es getan haben würde, wenn er über das Gesetz der Erhaltung der Energie im Sinne der Hegelschen Metaphysik hätte urteilen hören; er war selbst ein Helmholtz – in einem bestimmten Punkt: in der Erfahrung der Morgenröte, die ihm als eine exakte Erfahrung gegeben war:

Der Januar 1901 stand unter einem anderen Zeichen als der Dezember 1900.

Hätte man in jenen Tagen Mereshkovskij gefragt, ob die Morgenröte sich gewandelt habe, er würde den Fragenden mit einem verständnislosen Blick angestarrt haben; er konnte nur dann „Zeugnis ablegen“, wenn er von einem Schema und nicht von Tatsachen ausging; daher kommt es auch, daß er kurz vor der Revolution von der Mitra des Nebukadnezar träumte und von dem Weltimperator sprach, um gleich nach dem Aufflackern der Revolution bei der „Poljarnaja zveszda“ von Petr Struve zu landen; im Jahre 1912 rief er mir einmal zu, daß die Revolution(!) die vierte Offenbarung Gottes sei, um mich im Jahre 1918 allein deshalb zu verdammen, weil ich vor dieser Offenbarung nicht davonlief, wie er selbst.
Bei Blok ist das gesamte Werk ein deutliches Zeugnis der wenigen Tatsachen seiner inneren Erfahrung; im Reigen der Jahre verändert sich sein Zugang zu diesen Tatsachen; aber die Tatsachen bleiben: sie bleiben unverändert; im Jahre 1898 zum Beispiel, noch als Schuljunge, schreibt er, daß der Vogel Gamajun uns

Verkündet das Joch der bösen Tataren,
Verkündet blutige Folterungen.

Zehn Jahre später kommt er in „Kulikovo polje“ wieder zum gleichen Thema zurück; und nach weiteren zehn Jahren, 1918, geht er es von neuem an; in den „Skythen“ prophezeit er:

Der Horizont steht in Flammen und sie sind nahe.

Nach zwanzig Jahren, in der Epoche der bereits erloschenen Morgenröten, in der Erinnerung an den geschauten tatsächlich feurigen Horizont des anbrechenden Jahrhunderts, erlaubte er sich, die Erfahrung seiner Jugend schlicht zu bestätigen:

Ich erlaube mir… als ein Zeuge… den Hinweis,… daß schon der Beginn unseres Jahrhunderts… von Zeichen und Ahnungen… bestimmt war…

Diese Worte sagte der Blok, der Ihre Offenbarung in ihrer Fülle nicht aufnehmen konnte („In die Felder bist Du verschwunden ohne Rückkehr, geheiligt werde Dein Name“). Mereshkovskij hätte gesagt:

In die Felder bist Du verschwunden ohne Rückkehr: jetzt ist Dein Name belanglos.

Subjektivist bis auf die Knochen, ein déraciné, ohne Halt und ohne Wurzeln, der im Namen der Objektivität ein kraftloses Schema vor seinen Egoismus und seine Selbstliebe schiebt – das war Mereshkovskij. Vor kurzem hatte N.M. Minskij geäußert: Beatrice war für Dante ein Anlaß, Dante durch Dante zu erhöhen; ein Dante, der für sich und für die Gleichgesinnten (für Hippius, für Filosofov, für den davongelaufenen Kartaschov – man hatte wirklich auch allen Grund, davonzulaufen!) eine Beatrice, eine Sophia, einen Christus zurechtdachte, war Mereshkovskij sein Leben lang; ich brauche es nicht zu betonen: der von Minskij so interpretierte Dante ist überhaupt nicht Dante, sondern bloß ein „Dantchen“.
Blok war kein „Dantchen“, im Gegensatz zu Mereshkovskij; er verfügte über eine eindeutige Erfahrung, die allerdings von ihm nicht bis auf den Grund durchschaut wurde (sie zu überschauen, zu begreifen, würde bedeuten: die eindeutige Lösung eines Welträtsels); ja, Blok sträubte sich, seine eindeutige Erfahrung als Manifest zu verkleiden – sie mit den objektiven Begriffen einer Ideologie zu übertünchen, er stellte seine Erfahrung als eine subjektive hin, gebrochen im Medium seiner Person; der Subjektivismus von Blok enthält sehr viel Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit; sehr viel Lüge lebt in Mereshkovskij, der sich aufbläht, um ein objektives Manifest zu gebären, – bis zum Platzen; geplatzt ist der „Tolstoj“ von Mereshkovskij, geplatzt ist die Theorie von der vierten Offenbarung (es bleibt nur zu fragen, was jetzt an der Reihe ist: „Kreuz“ oder „rotes Pentagramm“?), geplatzt ist auch die Verleumdung, die Hippius in die Welt setzte: „Blok ist ein Bolschewik“ (Blok hat viele ideologische Ernüchterungen durchgemacht; aber er ist nie ein Tölpel gewesen; bis zu seinem Tode wahrte er Würde und Takt).
Und dennoch muß ich hinzufügen, wenn man die Gedanken von Mereshkovskij nachvollzieht, so muß man ihm Recht geben, daß er (von seinem Standpunkt aus) in Bloks Lyrik häufig das Chaos witterte, vor dem er sich selbst so fürchtete und das er in seiner eigenen Tiefe zu domestizieren versuchte: mit Hilfe der Logik – nicht des Logos –, einer schlecht gelernten Logik, was wiederum zur Folge hatte, daß sein „Kosmos“ einem Panoptikum gleicht; in seinem Bestreben, das Chaos durch eine ziemlich dürftige Logik zu bändigen, zeigte sich die ihm innewohnende Furcht vor Entrückung und Hingabe.
Ich erinnere mich, wie Mereshkovskij einmal (das war zu einer späteren Zeit) vor mir triumphierend ein Buch aufschlug und mit dem Ausdruck höchster Befriedigung einen Vierzeiler von Blok vorlas, in dem die Silben „ic“ und „icu“ sich reimen. Er rollte die Augen, riß sie noch weiter auf als gewöhnlich, grinste wie die Maske eines Dämons (sein üblicher Gesichtsausdruck, wenn er Zitate oder Tatsachen, die eine seiner Behauptungen erhärten sollten, zusammenklaubte) und schließlich brachte er lachend hervor:

Sehen Sie, sehen Sie – ich habe es ja gesagt: hier steht es: ,ic‘ und darauf ,ic-u‘.

Er machte eine lange Pause und sang dann:

,Uuuuuuu‘, das ist nicht so einfach! Der Reim hat ein Schwänzchen, und in diesem Schwänzchen liegt alles; ,uuu‘, das ist Bloks Chaos, ein widerlicher Hexensabbat. Was sagst Du, Zina: ,uuu‘!

Und er ging noch lange mit funkelnden Augen vor uns auf und ab – damals trug er Hausschuhe mit Pompons – klein, erschrocken, den eigenen Schrecken genießend, und wollte uns das Fürchten durch dieses tierische „uuu“, durch Bloks „Reim mit einem Schwänzchen“ lehren.
Ich fühlte mich um diese Zeit zwischen Blok und Mereshkovskij zerrissen; an Blok fesselte mich die unmittelbare Erfahrung, das „Gesehene“; aber die „Erfahrung“ sollte verkörpert werden – sie sollte gerinnen zu Gedanken und Empfindungen; und zur „Methode einer neuen Erfahrbarkeit“ führen; und in der neuen „Kommune“ von Mereshkovskij wurde genau dieses Problem angeschnitten: die Umgestaltung des konkreten Lebens mittels religiöser Erfahrungen; eine innere Erfahrung sollte bis in das geringste Detail hineingetragen werden – bis in ein Zeitungsfeuilleton; damals konnte ich noch nicht erkennen: bei beiden Mereshkovskijs läuft das Experiment, Religion und Leben zu vereinigen, darauf hinaus, die religiöse Idee dem fälligen Feuilleton einzuverleiben, auf eine neue Form des Feuilletons; ich hatte damals den Feuilletonisten in Mereshkovskij übersehen: ich sah nur einen echten Reformator (um diese Zeit war er noch nicht bis auf das Niveau der Tageszeitung gesunken); und daher bin ich den Absichten von Mereshkovskij, mich bei der Zeitung einzusetzen und zu einem Journalisten zu machen, der für sie die Bresche zur Öffentlichkeit schlägt, nachgekommen und habe diese Absichten als eine Freundschaftspflicht, als einen konkreten Schritt zur neuen religiösen Praxis aufgefaßt; die Pflicht, jedoch blieb ein Joch; Blok durchschaute mich; er sah meinen Schmerz, den gleichen, den er schon in Moskau miterlebt hatte, als ich mich vergeblich bemühte, die Dissonanz der Argonauten zu harmonisieren. Und auch jetzt stieg in ihm das ruhige Mitleid eines älteren Bruders mit den Verirrungen eines viel jüngeren auf.
Wir fühlten uns aufs engste durch eine Reihe gemeinsamer Anliegen verbunden: Sophia, das Schweigen jenseits der Zeit, das Ewige, das Mysterium, gemeinsame Erinnerung an die gewesene Morgenröte, ihre Unaussprechbarkeit, der Widerwille, „das Letzte“ im Gedränge zu vergeuden (und gerade zum Vergeuden des „Letzten“ im Feuilleton riefen mich Mereshkovskijs auf), das Vertrauen zu der Lyrik Vladimir Solovjovs, dem sich Mereshkovskij fortlaufend widersetzte, eine größere persönliche Sympathie, ein Vertrauen auf unsere Gemeinschaft, bestehend aus Blok, seiner Frau, S. Solovjov und mir. Auf diese Weise lebte ich in zwei „Kommunen“; die eine: „entweder wir oder die Bloks“; die andere: „hier sind wir, dort sind Mereshkovskijs“; ich attachierte mich immer mehr an Mereshkovskijs; aber ich empfand eine ständige Nötigung in ihrem Kreis: den Zwang, mein Inneres bis auf das letzte Tröpfchen mitzuteilen, die eigene Erfahrung immer in der allgemeinen aufgehen zu lassen; Mereshkovskij pflegte zu sagen:

Aber Sie gehören zu uns; und wir gehören zu Ihnen; unsere Erfahrung ist Ihre Erfahrung; Ihre Erfahrung ist unsere Erfahrung.

Diese innere Nötigung (eine Art Kommunismus), die als eine neue „Communion“ gelten sollte, rief in mir zunehmend Widerwillen und Zweifel hervor; ich fühlte, daß ich das Letzte, das Eigentliche, das Eigene, in der Welt von Mereshkovskij nicht aufgeben wollte – weniger aus Verschlossenheit, sondern: sie konnten es nicht wahrnehmen; ich glaubte ihnen zu sagen:

Seht – das ist das Kleinod meines Lebens; ich gebe es euch hin!

Und ich glaubte zu hören:

Aber das ist ja nichts: das sind nur die peinlichen Relikte des Subjektivismus und des Dekadententums.

Ich weiß, daß beide Mereshkovskijs blind waren, gerade in jenem Punkt, den ich für den zentralen Punkt des Bewußtseins halte; dieser Punkt ist das konkrete „Ich“; Blok dagegen hatte mich gerade in diesem Punkt erlebt, mich gerade darin verstanden, und aus Einsicht in den Prozeß, der sich in meinem „Ich“ ereignete, war er bemüht, mit behutsamer Hand alles Zufällige fernzuhalten; Mereshkovskijs überbewerteten das Zufällige und setzten es als das Zentrale: die „Neue Kommune“ von Mereshkovskij hat nichts mit jener zu tun, die in einem organischen Zusammenhang mit der Entfaltung des „Ich“ steht (Beziehung des einen freien Ich zu einem anderen freien Ich); nein, die „Kommune“ von Mereshkovskij war ein Gruppenprinzip im wahren Sinne des Wortes, das zu einer neuen Herdenhaftigkeit der Untertanen (staatliche Verblödung, Parteilichkeit oder äußerliche Kirchlichkeit) führen kann; ihre „Gruppenseele“ verschmolz auf primitive Weise D.V. Filosofov, Mereshkovskij und Hippius; die Wirkungen dieser Gruppenseele, einer kollektiven, einer kommunen Seele, zeigten sich in der „Atmosphäre“, die ihre Wohnung erfüllte, und die von Berdjaev treffend charakterisiert wurde:

Sie verstehen: ihrer Atmosphäre gegenüber ist man völlig hilflos; man kommt zu Mereshkovskijs, um ihnen zu erklären: „Ich gehöre nicht zu Euch…“; und Mereshkovskijs antworteten Ihnen: „Aber warum sind Sie, wenn Sie nicht zu uns gehören – nicht auf eine brüderliche Weise gegen uns?…“ Darauf beginnt man, sie brüderlich zu widerlegen, und plötzlich stellt sich heraus, daß man mit seinen Widerlegungen bereits innerhalb ihrer Atmosphäre sich befindet; man wird zu einer Antithese und findet sich bereits in einer Synthese; Mereshkovskij stülpt einem augenblicklich seine Synthese über den Kopf und man ist gefangen, man ist der Atmosphäre erlegen…

So unmittelbar und treffend charakterisierte Berdjaev einmal das Gruppenprinzip, das sich der Gesprächspartner der Hippius, während sie sich am Kaminfeuer unterhielten, bemächtigte und sie zu Gefangenen der „Atmosphäre“ machte; deswegen nannte V.V. Rozanov diese nach Parfüm und Zigarren duftende Wohnung eine „mystische Höhle“, deswegen sagte er lächelnd und wie eine Katze sich umschauend:

Ja, hier liegt etwas in der Luft.

Und dieses „Etwas“ fühlte ich ganz deutlich; noch deutlicher fühlte es Blok; er dachte aber darüber genau dasselbe, was Mereshkovskij gemeint hatte, als er Bloks überzähliges „uuuuu“ deutete, er dachte: diese „Atmosphäre“ sei ein irrationales Anhängsel rational nachvollziehbarer Gedanken, ein mediumistisches Prinzip, welches das „Selbstbewußtsein“ der Mereshkovskijs gewaltsam einschränke und sie so mit den aus ihrem Unterbewußtsein aufsteigenden Wogen sektiererischer Ekstase umspüle; das heißt, Blok hat alles das gesehen, was Mereshkovskij in seinem Oberbewußtsein schaudern ließ und was er an den anderen gebrandmarkt hat.
Über die „Atmosphäre“ der Wohnung, über das Haus Muruzi haben wir um diese Zeit häufig gesprochen.
Mereshkovskijs ihrerseits machten mir den Umgang mit Blok zum ständigen Vorwurf; sie sahen die unaufhaltsame tägliche Flucht von ihnen zu Blok; sie hätten mir gern den Umgang mit Blok „verboten“, wie sie mir den Umgang mit L. Vilkina „verboten“ hatten; aber sie fühlten, daß bei mir in diesem Punkt nichts zu erreichen wäre. Sie mußten zugeben, daß Blok und ich Brüder waren; und dennoch war Hippius ständig bemüht, mein für sie anstößiges Davonlaufen in gehörige, vertretbare Formen zu bringen. Schließlich ist es Mereshkovskij gelungen, eine Formel für meine Beziehung zu den beiden Bloks zu finden; die „dekadente Mystik“ verbinde uns. „Wie man den Wolf auch füttert – er schielt immer nur nach dem Wald“ – heißt ein russisches Sprichwort; die Flucht zu Blok wurde als das „Schielen nach dem Wald“ ausgelegt, nach dem nächtlichen Rudel, in das „uuuuu“, nach vielen Stunden kunstvoller Dressur, die einen dekadenten Wolf mit eingezogener Rute zu einem Wolfshund der neuen Kommune domestizieren sollte; aber die Bemühungen der guten Hirten blieben vergeblich; sie brauchten einen „Wolfshund“ und setzten alles daran, mich zu diesem Wolfshund zu erziehen; offensichtlich sahen sie im Geiste das rührende Bild: die guten Hirten holen ein Wolfsjunges aus dem „Wald der décadence“; aber wie oft man den armen Wilden in den Sitten der religiösen Kommune auch unterweisen mochte – er strebte immer wieder zu seinen Wolfsbrüdern zurück und war nicht gewillt, sich im frommen Spiel mit Hunden zu vergnügen; Mereshkovskijs schauten mir bekümmert bei jeder Flucht zu Blok nach; es bedeutete für sie die Rückkehr des Wolfs in den Wald – und doch wurde mir der Umgang mit Blok nicht gänzlich untersagt; die guten Hirten bezogen einen vernünftigen Standpunkt: das seien bloße „Wolfsspiele“: was sollte auch Andrej Belyj, der mit aller Sachlichkeit über Rickert dozieren, aber auch ein gewichtiges religiöses Thema schultern konnte, was sollte dieser Belyj mit dem stammelnden Mystiker Blok (später haben sie diese absurde Meinung aufgegeben) gemeinsam haben? Mir wurde dringend empfohlen, mit Filosofov, mit Kartaschov zu diskutieren, mit Blok sei nur wildes Spiel möglich. In dieser albernen, hohlen und leichtsinnigen Bewertung meiner Beziehungen zu Blok, S. Solovjov und Bloks Mutter drückte sich die erstaunliche Oberflächlichkeit und Empfindungslosigkeit anderen gegenüber aus, die Mereshkovskij auszeichnete; während er von „wir – wir“ redete (statt „Ich“ zu sagen), war dieses zu erstrebende „Wir“ ein aufgequollenes „Ich“ (jedes andere „Ich“ wurde von Mereshkovskij unerbittlich verzehrt und zu einem Schema verdaut).
Mereshkovskij pflegte mir zu sagen:

Aber hören Sie, diese Zusammenkünfte mit Blok, das ist doch eine Krankheit: das ist heller Wahnsinn.

Und Hippius fügte sofort hinzu:

Ja, ja: das ist das Stammeln à la Maeterlinck: „etwas“, „irgendwo“, „irgend jemand“, statt eines offenen Visiers und des Namens…

Hippius parodierte unsere Begeisterung für die Idee von Vladimir Solovjov und machte sie mir zum Vorwurf: „Sie sollten sich schämen!“
„Sie sollten sich schämen… Sie sind doch ein erwachsener Mensch, Sie sind ein Mann des öffentlichen Lebens, und plötzlich – eine schöne Dame!“
„Schrecklich! Das ist sektiererisch“
Ich schwieg: wer Hippius einmal erlebt hat, der wird wissen, daß es keinen Sinn gehabt hätte, ihr zu entgegnen, zu streiten, zu widerlegen; meine Widerlegung bestand in meiner Trennung von Mereshkovskij, vom Jahr 1909 an (einer endgültigen Trennung); ich bin schweigend gegangen: ohne Streit (ein Streit mit einem Blinden ist ein müßiges Unterfangen – wie wenn man Saft aus einem vertrockneten Granatapfel pressen wollte). Wenn ich mich leise aus meinem Zimmerchen stahl und auf Zehenspitzen durch den Korridor schlich, so ertönte aus dem Salon die Stimme der Hippius, die gegen halb vier Uhr nachmittags, nach ihrem Lever, vor dem Spiegel das üppige goldrote Haar kämmte, das ihr bis zu den Knien reichte und Rücken und Schultern bedeckte; ich war überführt.
„Wohin?“ – Die Frage kommt aus dem Dickicht der roten Haare wie ein Pfeil.
„Zu Blok!“
Ich bemühe mich, möglichst souverän zu wirken, aber es gelingt mir nicht.
„Schon wieder?“
Ich greife eilig nach meinem Pelz und mache mich aus dem Staube; und ich höre hinter mir rufen:
„Wahnsinn!“
Die Wohnungstür fällt ins Schloß; ich stürze die Treppe hinab, am Portier vorbei, – ich bin frei!
Zu Blok!
Ich kehre erst abends zurück.
Die vielen Stunden, die ich bei Blok verbrachte, machten Hippius sehr neugierig; sie fragte: 

Nein, ich kann nicht begreifen, wozu Sie so lange bei Blok bleiben. Blok ist doch so schweigsam und seine Frau auch, was machen Sie denn dort?

Ich kann darauf nur verlegen blinzeln.
„ Sie sitzen und schweigen?“
„Wir sitzen und schweigen…“

Und das alles mit Empfindungen, die unaussprechlich sind: irgendwo, irgend jemand, irgendwas, und dann entschweben Sie in höhere Regionen, natürlich!

Meine Beziehungen zu Blok belegte Hippius mit dem Wort „in höhere Regionen entschweben“ und das blieb ein terminus technicus. Eines Tages wurde Berdjaev erwartet: „Probleme“ sollten ernsthaft angegangen werden. Wo bleibt Borja? Borja bleibt bei Blok und „schwebt in höheren Regionen“. Wenn ich dann von Blok zurückkam und den Salon in bedeutungsvoller Diskussion antraf, von deren Ausgang selbstverständlich die Weltgeschichte abhängen sollte (zum Beispiel, ob „drei Ehrenmänner“ gegen einen verleumderischen „Hirtenbrief“ in der liberalen Presse protestieren sollten), so sah ich dort den stets didaktisch bemühten Filosofov, den unzähmbaren Kartaschov, der eben die fünfundzwanzigste Widerlegung eines zuvor geäußerten Gedankens vorbrachte, und Mereshkovskij, der mit einem verschmitzten Lächeln („jetzt hast du genug gespielt, jetzt beginnt der Ernst des Lebens“) mich fast liebevoll in das Thema einführte:

Und wir haben hier, solange Sie schwebten, diskutiert, ob…

Und man bürdete mir ein zentnerschweres sozialreligiöses Thema auf: mit Filosofov gegen Kartaschov, oder Kartaschov gegen Mereshkovskij.
Wenn ich damals alle Witzeleien über meine Schwächen (die Flucht zu Blok, das Dekadententum oder das Greifen nach den Sternen) geduldig ertragen habe, so liegt die Erklärung dafür in der Tatsache, daß sowohl Mereshkovskij als auch Hippius mir tatsächlich das Maximum an Freundschaft, Geduld und Aufmerksamkeit zuteil werden ließen; mein „Eigentliches“ haben sie nicht verstanden; und „Es“ schockierte sie immer wieder; aber sie ertrugen es auch in Geduld; und so fanden wir einen modus vivendi, der mich mit Gelassenheit die Spötteleien ertragen ließ. Manches, was man einem Fremden nicht verzeihen würde, erträgt man von einem „Verwandten“; und beide Mereshkovskijs waren mir wirklich verwandt. Voller Trauer gedenke ich jener Jahre und möchte den beiden zurufen, über die Zeiten, über alles hinweg:

Euch gebührt mein Dank, mein Dank für alles!

 

In der Kaserne

Ich fühlte mich zerrissen zwischen der Kaserne und dem massiven Haus Muruzi; ich fühlte mich ganz und gar gespalten während der unruhigen Petersburger Zeit; bei Mereshkovskij setzte man mir mit dem Auftrag der Öffentlichkeit zu; Mereshkovskij selbst wurde von Struve systematisch mit der gleichen Idee in die Enge getrieben; so entstand die Atmosphäre „religiös orientierter Öffentlichkeit“, lange bevor die Kadetten-Partei, die sie vertrat, ins Leben gerufen wurde; aus dieser drückenden schwülen Atmosphäre der „Gemeinschaftlichkeit“ brach ich aus und flüchtete zu Bloks, „nach Hause“, in die Stille des wortlosen behaglichen Rauchens, des wohltuenden Lächelns, das „nichts meinte“, denn:
„Ach, ich weiß!“
„Ich weiß alles“
„Du brauchst nichts zu erklären…“
In einem weichen Sessel, den Kopf zurückgelegt und die Augen geschlossen, konnte man in aller Ruhe seinen Gedanken nachgehen in der angenehmen Gewißheit, daß hier die Stimmung, in der man sich gerade befand, respektiert wurde: nichts störte sie; nicht die Stimme des von seinem Sofa auffahrenden, von einer Inspiration aufgeschreckten Mereshkovskij, nicht das emsige Trippeln der schwarzen Pantoffeln mit den Pompons:

Entweder wir oder keiner.

(„Wir“ – das sind selbstverständlich nicht die Pompons: das sind Mereshkovskij, Filosofov, Kartaschov und Zinaida Hippius.)
„Und was nun?“
„Sind Sie mit uns – oder sind Sie mit den anderen?“
Blok überfiel niemanden: er „brüllte“ nicht, er mahnte nicht, er verkündete nicht: entweder mit uns – oder mit den anderen!
Den Kopf zurückgeworfen, mit den großen Augen den Raum über sich betrachtend, öffnete er seine Lippen; blaue Rauchstreifen bildeten sich im Raum zu bizarren Wölkchen, und in meiner Seele tönte es:
„Ich weiß, ich weiß alles…“
„Du bist mit uns…“
„Es braucht nicht darüber gesprochen zu werden…“
In einem Kittel, der ihm sehr gut stand, aus schwarzem Wollstoff lose geschnitten, ohne Gürtel, den kräftigen festen Hals offen, erinnerte er mich an Byron, gezeichnet nach einem alten Porträt.
Er sieht mich mit einem alles verstehenden Blick an, erhebt sich, tritt auf mich zu und faßt mich am Ellbogen: „Laß uns gehen.“
„Ich will dir eine Gasse zeigen.“
Und wir ziehen uns an; wir gehen hinaus; Blok führt mich durch verschlungene Gassen und zeigt mir, was er sieht: rechts ein Zaun; darüber ein Streifen des feurigen Himmels: und –

Der Rand des Himmels ist aufgeschlitzt,
Die Gassen liegen im Feuer.

Die Gassen, durch die Blok mich geführt hatte, habe ich später wiedererkannt; ich sah sie wieder in der „Unverhofften Freude“: die Ferne über dem Zaun, die Brezel über dem Bäckerladen, das Gewirr der Gassen Petersburgs; ich erinnere mich: Sonnenuntergang, roter Himmel über einem Zaun, der überdeutlich und schwarz dagegen sich abhebt; in der Ferne der Blick auf die Neva; Blokschlank, groß, im Pelzmantel und mit seiner prächtigen Pelzmütze, betrachtet ein wenig blinzelnd die alltägliche Szenerie: diese gebückten Menschen (sie schleppen pralle Säcke), zwei Krähen; und ich sehe: nichts entgeht seinem aufmerksamen Blick; alles sieht er sehr, sehr aufmerksam an: die beiden Krähen, die Arbeiter mit den Säcken, den Abendhimmel und mich; ja, das ist überhaupt etwas, was ihn am besten charakterisiert: der sehr, sehr aufmerksame Blick, in dem aber nichts Prüfendes ist; dem prüfenden Blick mangelt die Aufmerksamkeit; der prüfende Blick ist amoralisch; die Hippius zum Beispiel hält das Lorgnon vor die Augen und mustert: mit einem nicht aufmerksamen, sondern prüfenden, stechenden Blick, der nicht auf das Ganze, sondern stets auf eine Einzelheit gerichtet ist; Mereshkovskij schaut zerstreut vor sich hin, ohne sich etwas zu merken; zuweilen wirken die Augen glasig, manchmal spitzt sich der Blick zu. Blok umfaßte alles mit einem sehr, sehr aufmerksamen Blick; er sah – so war es – das Ganze und nicht einzelne Striche wie die Hippius; in seinem Blick lag Teilnahme, keine Neugierde, sondern Teilnahme an allem, dem er sich zuwandte; nichts entging ihm; häufig wurde ich an die Verwunderung des guten Markonet erinnert, den Blok mit seinem liebevollen und aufmerksamen Blick bezaubert hatte. Damals blieben wir oft in der Gasse stehen, um besser sehen zu können, und Blok sagte:
„Weißt du, hier ist alles so…“
„Sehr traurig…“
„Ein gänzlich vertanes Leben…“
„Davon haben Mereshkovskijs keine Ahnung…“
Und das, was er meinte, breitete sich um uns aus: und überflutete das Leben der Armen. 

„Was haben Sie bei Blok gemacht?“
„Wir sind spazieren gegangen.“
„Und was noch?“
„Was soll es denn noch geben?“
„Wieso – haben Sie denn geschwiegen?“
„ Wir schauten uns alles an – die Gassen, die Zäune, den ,aufgeschlitzten Rand des Himmels‘… “
„Sie sind erstaunlich apolitisch: wir diskutieren hier, und Sie gehen spazieren…“
Ich erinnere mich: Blok nahm mich nach dem Spaziergang wieder mit (wir waren beide gehörig durchgefroren); faßte mich am Ellbogen, bot mir seinen großen weichen Sessel an, setzte sich behaglich in den gleichen Sessel neben mich, griff bedächtig nach der riesigen runden Zigarettendose in der Form einer sich ringelnden Schlange, die ihren festen Platz auf seinem Arbeitstisch hatte und hielt sie mir hin; einmal, im Eifer des Erzählens, schwenkte er sie über meinem Kopf, so daß ich unwillkürlich zusammenfuhr; Blok lachte:
„Was hast du?“
„Und du, warum lachst du?“
„Warum bist du denn zusammengefahren?“
„Nur so… ich dachte…“
„Und ich dachte, du hättest gedacht, ich wolle dir alle Zigaretten auf einmal anbieten und die ganze Zigarettendose in den Mund stecken.“
Blok liebte „Ungereimtheiten“. Wir schwiegen. Das Schweigen hielt lange an: im Schweigen stieg Seltsames, Ungereimtes auf: 

Wie kommt es, daß solche geringfügigen Details und Gesten den Gedankenfaden unterbrechen und zuweilen bizarre Assoziationen hervorrufen? Weißt du, ich habe einmal einem sehr bekannten Literaten im Übereifer an die Nase gefaßt – unbeabsichtigt und völlig überraschend, ich war selbst entsetzt, daß ich ungewollt eine Literatennase beleidigt haben könnte; später redete ich mir immerfort ein, alles sei ein Traum gewesen, und das Anfassen einer Nase habe überhaupt nicht stattgefunden.

„Und je länger du das gedacht hast, desto häufiger mußtest du dir sagen: Und ich habe es dennoch getan!“ – lächelte Blok. Und wieder glaubte ich zu hören:
„Man brauchte es nicht zu erzählen!“
„Ich weiß; ich weiß alles!“
In den wortkargen Gesprächen, in dem langen Schweigen, in dem ungezwungenen Umherschweifen der Gedanken, in der meditativen Stimmung unseres Beisammenseins fand ich Erholung und Ruhe.
In Blok war etwas Bezwingendes und Behagliches; man hatte den Wunsch, Stunden an seiner Seite zu verbringen; sein verschmitztes Lächeln, die müden Augen (zum ersten Mal habe ich Müdigkeit in seinen Augen in Petersburg entdeckt), das stumme Gespräch, vom Rhythmus des Rauchens bestimmt – alles lud mich zum Bleiben ein.
„Was gibt es? Armer Freund –  müde und abgekämpft…“
„Du bist sicher heimlich entflohen…“
„Mir brauchst du nichts zu erklären: ich weiß alles…“
„Du bekommst einen Verweis, wenn du zurückkommst: und Filosofov wird dich wieder tadeln – wegen des unerlaubten Fortbleibens, wegen des ,Schwebens in höheren Regionen‘…“
„Und abends wird im Beisein von ,Tata‘ und ,Nata‘ und ,Anton‘ die Frage erörtert: Wie kann man Borja zur Vernunft bringen?“
Und ich – ich lächelte dem Lächeln entgegen, das mir anzeigte, Blok „wisse alles, alles“, ehe es ausgesprochen sei; argloses Lächeln in den langen Pausen begleitete unsere Unterhaltung über die Mereshkovskijs; und ich möchte bemerken: sie war bestimmt von einem liebevollen Verständnis Mereshkovskij gegenüber, dem guten Menschen, dem Blok Verständnis und Liebe entgegenbrachte, „trotz allem“ – trotz seiner Ideen; und unwillkürlich sprach ich mit Blok offenherziger, als ich es mir vorgenommen hatte und gab dadurch Hippius einen echten Grund, mich zu beschuldigen:
„Ja, ja, ja!“
„Ganz bestimmt verraten Sie uns an Blok.“
Aber ich machte mir nichts daraus; ich wußte, beide Mereshkovskijs hatten eine Vorliebe für das Theatralische: „Entweder wir oder keiner“, „Entweder mit uns oder gegen uns“, „Entweder opfern Sie sich uns oder Sie verraten uns“. Ich wollte sie nicht „verraten“, aber ich hatte auch nicht vor, mein Leben für ein flottes Feuilleton Mereshkovskijs zu opfern; und das bedeutete einen „Verrat“. Mereshkovskijs wollten nicht einsehen, daß Blok und ich verbunden waren: durch unseren Briefwechsel, durch die Tage in Moskau und die unverblaßten Erinnerungen an Schachmatovo; der „Stil“ meiner Beziehungen zu Blok gestaltete sich so, daß zwischen uns keine Schranken waren; mit der größten Selbstverständlichkeit habe ich meine Eindrücke von Mereshkovskij und Hippius aufrichtig mit ihm besprochen. Beide trachteten danach, mein geistiges Dasein in konkreten Details zu beeinflussen; er hörte sich alles schweigend an, mit einem aufmerksamen und verständnisvollen Blick, um so mehr, als er den „Menschen“ in den beiden Mereshkovskijs liebte und schätzte; er fühlte sich nur abgestoßen von ihrer Rhetorik, von dem Klischee, von dem unbewußt Theatralischen in ihrem Gebaren, das zugleich abstrakt und starr war.
Blok verstand am besten Zinaida Hippius: er verstand ihre heimlichsten Empfindungen und Gedanken. Zinaida Hippius war ein außergewöhnlicher Mensch; die verhängnisvollste Fata Morgana ihres Lebens blieb die Faszination durch die Gedanken Dmitrij Mereshkovskijs; Mereshkovskij erschien oft als Vampir, der von den Ideen der Hippius lebte; seine umfangreichen Bände wären wahrscheinlich nie entstanden, wenn Zinaida Hippius nicht gewesen wäre: selbstlos opferte sie sich ihnen; Tage und Nächte lang leitete sie Gespräche, die ein fruchtbarer Acker für Mereshkovskij werden sollten; auf diesem Acker konnte er dann säen: eine Handvoll Ideen in die aufgeweichten Seelen; Zinaida Hippius lockerte das Neuland; und er säte aus; dabei wurden seine großen Augen noch größer, sehr kalte Augen, Augen wie aus Glas, die an die Welt der Minerale erinnerten; und er lief auf und ab, zierlich und fröstelnd, in seinen Pantoffeln mit Pompons. Ich sah mir Mereshkovskij genau an: Die „Atmosphäre“, die von allen wahrgenommen wurde, war in Wirklichkeit sein eigentlicher Arbeitsacker; die Brüder im Geiste wurden auf diesem Acker umgehend Fronarbeiter, die ihre Fron an die „Kommune“ zu entrichten hatten; ein Interesse an der selbständigen Arbeit der Mitglieder war nicht vorhanden, weil eine schöpferische fruchtbare Arbeit überhaupt nicht stattfand. Filosofov setzte sich zum Ziel, die Tür zur Öffentlichkeit, an der er Posten bezogen hatte, für Mereshkovskij aufzustoßen, der in die große Welt eintreten und siegen sollte; und die Hippius – wie viele eigene Arbeiten hat sie aufgegeben, alles in dem Bestreben, Mereshkovskij in seiner Rolle als Lehrer des Lebens zu helfen; sie kam für alles auf; das Geschäftliche, die menschlichen Beziehungen, auch die tatkräftige Propaganda für das „Mereshkovskij-Bewußtsein“ – alles nahm sie auf sich, um Dmitrij Sergejevitsch die Möglichkeit zu geben, in seinem geräumigen, behaglichen und zugleich prächtigen Kabinett ein angemessenes Quantum Romantext fertigzustellen; A.V. Kartaschov schrieb überhaupt nicht, weil an ihm „herumgezerrt“ wurde; er war stets „außer Atem“; außer Atem war er durch die obligaten Zerwürfnisse mit der Hippius oder mit Mereshkovskij, und später durch die darauf folgende, von Tata und Nata vermittelte Versöhnung (mehr als einmal fiel mir die Rolle des stummen Zeugen zu, der sehr feierlich aufgefordert wurde, „Antons Exzesse“ zu beurteilen); ich erinnere mich: sobald ich in die dichte Sphäre Mereshkovskijs geriet, war an eigene Arbeit nicht zu denken; auf meinem Plan standen „Symphonie“, „Asche“ und „Symbolismus“; aber ich kam nicht einmal dazu, das Manuskript niederzuschreiben: heute sollte auf Bestellung der Hippius ein Hymnus für ein Theaterstück von ihr geschrieben werden, das Gedicht „Roter Mohn“, am nächsten Tag war ein Artikel und eine Aussprache mit dem rebellierenden Kartaschov fällig; ich erinnere mich genau, daß meine eigenen Arbeiten den Mereshkovskijs vollkommen gleichgültig waren; sie waren begeistert von meinem mittelmäßigen Artikel über Berdjaev, aber ich möchte wetten, daß sie „Symbolismus“ und „Petersburg“ nicht gelesen hatten; sie interessierten sich nur für einen flotten, unentwegt schnatternden Feuilletonisten, der Filosofov zur Hand gehen könnte bei dessen Bemühungen, alle Wege für „Dmitrij“ zu ebnen. Ich als Schriftsteller und Künstler war für sie vollkommen gleichgültig; sie brauchten nur einen Fronarbeiter für ihren Acker, der ihre Idee gemeinsam mit ihnen ausbrütete, von dessen Arbeit Mereshkovskij den Rahm in die eigenen voluminösen Bände abschöpfen konnte; ja, die Bände von Mereshkovskij gehören nicht ihm allein: sie gehören sowohl der Hippius als auch Filosofov und auch den anderen „Fronarbeitern“ auf seinem Ideenacker; ihnen verkündete er feierlich: „Ja, wir sind Euer und Ihr seid unser“; die „Fronarbeiter“ lieferten das Material und Mereshkovskij, reichlichst mit Rohstoff versehen, verfertigte daraus nach seiner Schablone Backwerk nach Bedarf, unter Zusatz von einigen Rosinen und ein wenig Puderzucker: der Teig blieb schlecht durchbacken und zäh; er hatte geschrieben über Tolstoj, über Dostojevskij, über Gogol, Tjutschev, Lermontov, Leonid Andrejev – vielleicht wird er gerade jetzt drei umfangreiche Bände über… Alexandre Dumas, Majakovskij oder… über die allzufrüh verblichene Guro schreiben: es geht dabei nicht um die Person, sondern um das „Rezept“; nach seinem Rezept wird er sogar mit der Guro etwas anfangen können.
Mereshkovskij traf ich meist vormittags, wie ich mich erinnere, gegen zehn Uhr beim Morgentee; die Hippius war nicht anwesend (sie pflegte nicht vor zwei Uhr aufzustehen); Tatjana Hippius war in der Akademie; wir saßen allein am Tisch; wer Mereshkovskij nicht kannte, hätte denken müssen:
„Was ist dem über die Leber gelaufen?“
„Worüber ärgert der sich so?“
Förmlich, trocken, mit einer Spur von Widerwillen streckte Mereshkovskij mir seine Hand entgegen, aber ich wußte, daß dieser Widerwille nichts mit meiner Person zu tun hatte; er war ganz mit seinen Gedanken beschäftigt, bevor er zu arbeiten anfing: von halb elf bis zwölf Uhr mittags schrieb er regelmäßig eine kleine Portion Text zu dem Roman Pjotr und Aleksej; und dann, leise vor sich hin pfeifend, setzte er seine Pelzmütze auf und ging mit raschen, fast fliegenden Schritten über den Korridor zur Haustür: er ging in den Letnij Sad und ließ das Manuskript auf dem Schreibtisch offen liegen, die Tinte war noch feucht; manchmal hatte ich Gelegenheit, den letzten, eben niedergeschriebenen Satz zu lesen.
Um zwei Uhr wurde gefrühstückt (meistens immer noch ohne die Hippius).
Und dann ging man auseinander.

Den Weg vom Haus Muruzi in die Kaserne trat ich zwischen zwei und drei Uhr nachmittags an (jeden Tag); oft blieb ich bei Bloks bis sechs oder sieben Uhr abends; sehr oft speiste ich bei ihnen.
Unvergeßlich bleibt mir ihre Wohnung, deren eine Hälfte das Reich von Blok und Ljubov Dmitrijevna war; Blok hatte ein Kabinett und ein Schlafzimmer.
Ich läutete: der Bursche machte auf; waren Bloks nicht zu Hause, so klopfte ich an die Mitteltür, die in den Salon führte; ich wußte, daß ich hier Aleksandra Andrejevna antreffen würde, mit der ich mich immer mehr befreundete; unsere Beziehungen waren ein selbständiges Thema, die Gespräche, die wir führten, erinnerten an die früheren endlosen Gespräche mit O.M. Solovjova; Aleksandra Andrejevna hatte den gleichen forschenden und skeptischen Blick, der auf den Grund seelischer Regungen gerichtet ist; sie schien mit ihrem ganzen Wesen mir zu sagen: 

Nun gut: Sie bekennen sich zum Licht… Zeigen Sie mir doch Ihr geheimes Lichtlaboratorium!

Der Skepsis von Aleksandra Andrejevna lag ein mächtiger Glaube, eine Hoffnung auf das… Eigentliche zugrunde; aber ein letztes Mißtrauen, eine innerste Wachsamkeit wichen nie von ihr; sie hat als erste deutlich gefühlt, daß meine Behauptungen eine „Katastrophe“, eine „Explosion“ voraussetzten; und sie sagte mehr als einmal:

In Wirklichkeit lassen Sie nicht einen Stein auf dem anderen: Sie zerstören alles; Sie sprechen ein Ja, aber mir kommt es zuweilen vor, als gäbe es das gar nicht…

Ich erwiderte ihr darauf stets, daß der Geist weht, wo er will, er ist weder mit der Hand zu greifen noch mit der Seele zu erfühlen; und solche Gespräche (ob das Seelenwesen im Geistwesen unterzugehen habe) kamen immer von neuem zwischen uns auf; Aleksandra Andrejevna hat eher als alle anderen meinen unbezwinglichen Drang zum Aufruhr, zum Protest erkannt; man hatte den Eindruck, sie fühle sich von mir angezogen – und fürchtete mich gleichzeitig; sie machte sich Sorgen um das Schicksal unseres „Kollektivs“, weil sie seinen Untergang ahnte; und sie fürchtete das Stürmische meiner Gebärden, sie fürchtete das Fanatische an S.M. Solovjov, den ich stets vor ihr verteidigte.
Sie erzählte mir viel über Blok, über seine freudlose Kindheit; sie erzählte auch von Bloks Vater; er schien ihr ein „Dunkler“ zu sein (zu jener Zeit war er Professor an der Universität Warschau); sie erzählte von den Besuchen des „Vaters“ in Petersburg, von seinem Zusammensein mit Blok, sie erzählte, wie diese Begegnungen Blok stets belastet hatten, wie der Vater ihn in Nachtlokale entführte (der Vater Bloks trachtete danach, den mystischen Glauben seines lichterfüllten Sohnes zu erschüttern); es war eindeutig: viele widersprechende Neigungen erwachten in Bloks Seele durch den Umgang mit seinem Vater. Aleksandra Andrejevna kam zuweilen auch auf Menschen zu sprechen, für die Blok sich interessierte; bei unseren Unterhaltungen hörte ich viel von einem gewissen Pantschenko, einem Musiker, der Blok sehr imponierte; Blok fühlte sich von ihm angezogen; dieser Pantschenko war nach den Schilderungen von Aleksandra Andrejevna ein kluger Kopf, ein bemerkenswerter Mensch, aber durch und durch ein „Dunkler“. Ich habe damals oft von Blok gehört:
„Und weißt du, Pantschenko denkt…“
„Pantschenko sagt…“
Wenn ich aber mit Fragen auf ihn eindrang, so wurde sein Gesicht ernst; und er sagte bekümmert, aber voller Achtung und ein wenig Bewunderung:
„Aber weißt du, er ist ein Dunkler…“
Es ist mir nie gelungen, mehr über ihn zu erfahren. Und später klang es in mir nach:
„Pantschenko denkt…“
„Pantschenko!“
Pantschenko, Pantschenko, wer ist Pantschenko? So dachte ich voller Neugierde.
Einmal bin ich ihm bei Blok begegnet; er war bereits ergraut, schlank, mittelgroß, mit einem Bärtchen à la Henri IV., ebenfalls grau, hatte eine gerade Nase, ein blasses Gesicht und einen raschen, scharfen, unruhigen Blick, der ständig zu spähen schien; feindselig, verstohlen spöttisch beobachtete er mich und gab sich Mühe, entgegenkommend zu wirken; er saß mit uns am Tisch und erklärte uns eine neue Patience; unverhohlen bezeigten wir uns damals gegenseitig Mißfallen; Aleksandra Andrejevna hatte mir bereits erzählt: Pantschenko konnte sämtliche Freunde Bloks nicht leiden; besonders feindselig stand er Ljubov Dmitrijevna gegenüber.
Dieser Pantschenko kam mir falsch vor; unter dem Mäntelchen von leichtsinniger Skepsis französischen Zuschnitts verbarg sich der Wunsch, zu imponieren und durch eine ausgefallene Lebensauffassung aufzufallen.
Ich bin ihm nur ein einziges Mal begegnet und fand ihn abstoßend.

Meistens traf ich Bloks zu Hause an. In diesen Jahren war Blok eigentlich am liebsten zu Hause; er geleitete mich über den Flur links in sein kleines Kabinett – ein sehr strenges langes Zimmer mit einem Fenster; eine weiße Tür führte in ein geräumiges Schlafzimmer, durch diese Tür erschien Ljubov Dmitrijevna in einem rosa-grünen Phantasiekleid (das an ein Bühnengewand erinnerte, wie auch alles andere, was sie zu Hause trug). Zu dritt verbrachten wir hier viele Stunden; zuweilen mißfiel unser Gespräch Ljubov Dmitrijevna: sie erhob sich rasch und entfernte sich wortlos, um uns durch ihre Abwesenheit zu strafen.
Das kleine Arbeitszimmer von Blok enthielt: einen stattlichen Schreibtisch, poliert, aus Mahagoni; einen dazu passenden Schrank, ein sehr weiches Sofa (gleich neben dem Tisch an der einen Wand), einen sehr, sehr bequemen Sessel, in dem Blok immer zu sitzen pflegte, die hölzerne Zigarettendose in Reichweite, dieselbe, mit der er mich einmal erschreckt hatte; am Fenster fröstelten zwei Sessel und ein Tischchen; hier saß immer Ljubov Dmitrijevna, vielmehr sie kauerte mit untergeschlagenen Beinen, den Kopf auf die über der Lehne verschränkten Arme gebettet (ihre Lieblingshaltung); ich saß immer auf dem Sofa und stützte mich auf den Tisch. So sehe ich unser Zusammensein heute noch vor mir.
Ich erinnere mich an die stattliche jugendliche Gestalt von Blok im Schatten seines Sessels, an seine Hände, die zwanglos auf den Seitenlehnen ruhten; ich erinnere mich an seinen Blick, ein wenig verlegen und neugierig zugleich; nachsichtig lächelnd saß er da und blickte aufmerksam… Wohin? Er war stets in seinem schwarzen bequemen Kittel, der ihn mit losen Falten umhüllte und den festen starken Hals freiließ; der ungewöhnlich breite Kragen war zurückgeschlagen à la Byron; und immer glaubte man einen neuen Byron zu sehen, gezeichnet nach einem alten Porträt. Schatten lagen über ihm; im Schatten konnte man nur seine Augen erkennen und das Gesicht, das blaß geworden war; das Licht war nicht mehr da; die rosaschimmernde Sonnenbräune war seit dem letzten Jahr verblichen; die Schatten unter den Augen waren tiefer geworden; feine Falten legten sich um die Augen.
Und dann: ein Gespräch fand überhaupt nicht statt; es war ein Rauschen von Wellen: gesprochen habe ich; ich war die Quelle für einen Bach, der durch die seelische Landschaft rieselte, eine Wolkenlandschaft, die Vögel der Phantasie schwebten darüber; die Hippius pflegte mir zu sagen:

Worüber schweigen Sie dort? Ich kann es mir schon vorstellen… „irgendwo, irgend etwas und irgend jemand“. Ach, das kennen wir schon: Das ist einfach Dekadententum und ihr seid Sektierer.

Ich habe mich aufrichtig über die übliche Beurteilung Bloks durch die Literaten von damals empört; in ihrer Auffassung war er ein „dumpfer Mystiker“, abgeschnitten von jeder lebendigen Gemeinschaft und untergetaucht in die Nebel undurchdringlichen Wirrwarrs. In Wirklichkeit verhielt es sich so:
Blok floh vor dem Geschwätz und dem geschäftigen Treiben der Cliquen, dem es so bald beschieden sein sollte, unter dem Andrang des echten russischen Lebens wie eine Seifenblase zu zerplatzen; er, der Dichter der schweren Stunde Rußlands, war aufgebracht und voller Erregung in jenen Tagen, das habe ich oft gesehen; aber ihm wurde Apathie vorgeworfen; und doch: er wäre fähig gewesen, aus diesem Arbeitszimmer zu den Barrikaden auszubrechen, nicht aber in die Redaktion der Zeitschrift Voprosy shizni, wo sich die Schriftsteller versammelten, wo Tschulkovs Mimiograph knatterte: stundenlang verfertigte Tschulkov gänzlich wirkungslose Resolutionen und Protestschreiben im Namen überflüssiger öffentlicher Verbände, die der Strom des Lebens fortspülte, während sie glaubten, sie würden das Leben bestimmen; in diesen Tagen brodelte ganz Rußland; bei Mereshkovskijs aber wurde diskutiert, unter welchen Bedingungen der Zusammenschluß mit den Schriftstellern idealistischer Richtung annehmbar wäre. Die Idealisten griffen die Gruppe Novy putj an; letztere setzte sich zur Wehr; und man glaubte, der Zusammenschluß von Bulgakov, Berdjaev und Askoldov mit Filosofov und Mereshkovskij könne für die heraufziehende Revolution von großer Wirksamkeit sein.
Blok fühlte das Lächerliche dieses Treibens; er wollte wahrhaftig etwas „Größeres“, wenn er gegenüber dem publizistischen Sturm im Wasserglase Verachtung zeigte – das brachte ihm den Ruf eines apolitischen und asozialen Mystikers ein; mancher „Sozialgesinnte“ schielte nach ihm, so wie einige Jahre später die „Antisozialen“ es taten, die ihm sein „soziales Engagement“ und das Manifest der russischen Nation („Die Skythen“) – entstanden in den Tagen von Brest – übelnahmen, damals, als beide Mereshkovskijs, von Haß auf das russische Volk überschäumend, den Zusammenbruch ihrer „Offenbarung“ erlebten; die „göttliche Offenbarung“, die Mereshkovskij ausposaunt hatte, wurde damals Wirklichkeit: Blok erhob sich aus seinem Sessel, um den eigentlichen Gedanken seines ganzen Lebens auszusprechen:

Kommt alle her – kommt alle zum Ural:
Wir ebnen das Feld für die Schlacht
Der stählernen Maschinen, vom Integral regiert,
Mit der mongolischen wilden Horde…

Jetzt ist er verstanden worden: verstanden von dem Volk, das von den „Sozialgesinnten“ (von sehr vielen) nie verstanden wurde; jenes Volk, worüber mit dürren Worten geschrieben und geplappert wurde, benahm sich gänzlich unverständlich; und nun fletschte man die Zähne gegen dieses russische Volk, gegen Rußland, gegen Blok.
Blok zeigte sich nur selten bei den öffentlichen Kränzchen, und wenn er dort erschien, so wirkte er bald erloschen; erschrocken, blaß, mit erstauntem Blick saß er und schwieg mit halboffenem Mund, von neuem die eigenen Zeilen erlebend:

Alle lärmten um die runden Tische
Und gingen unruhig umher.

Er stand immer etwas abseits; so sehe ich ihn in der Redaktion Voprosy shizni. Im ohrenbetäubenden Lärm einer Sitzung, in deren Verlauf die unumgängliche „Resolution“ auf einer klappernden Schreibmaschine verfertigt wurde, saß er mit einem Gesichtsausdruck, als ob er jeden Augenblick davonlaufen wollte; und die altgedienten Idealisten warfen ihm Blicke zu, die zu sagen schienen: 

Was verstehen Sie überhaupt… Seien Sie froh, daß wir Sie in unserer Zeitschrift drucken… als Trumpf, um einer anderen Zeitschrift Mir boshij, in der Sie nicht gedruckt werden, eins auszuwischen… Wie sollten Sie unseren Auseinandersetzungen folgen können: Sie sind doch ein Mystiker!

Blok sah sich verlegen in der Runde um und schien zu beteuern:

Das ist nichts für mich… das sind sozial orientierte Philosophen, ich aber bin ein Mystiker…

Ich weiß noch, daß er bald ging.
In diesen Jahren saß er am liebsten zu Hause und führte das Leben eines Familienvaters; er verbrachte seine Zeit mit Ljubov Dmitrijevna; ab und zu suchte er „geschäftlich“ eine Redaktion auf, ohne sich dort lange aufzuhalten, machte häufig Ausflüge auf die umliegenden Inseln, stand lange am Strand und sah ins Abendrot; er kam heiter, gut gelaunt heim und spielte mit einer sprudelnden Verszeile. Die Zeitungsartikel von damals sind spurlos verschwunden; es läßt sich heute gar nicht mehr sagen, was damals in den Redaktionen der Zeitschriften zusammengebraut wurde, aber die klangvollen Verse Bloks, die das Abendrot über dem Meer in sich aufgesogen hatten, sind Rußland geblieben; sein Schweigen von damals zeigt sich als bleibendes Sagen; und um die „Marktschreier“ herrscht tiefes, undurchdringliches Schweigen.
Einige Jahre später schrieb Blok selbst über die „Marktschreier“ von damals:

Während wir debattierten… über den unbegrenzten Fortschritt, stellte sich heraus, daß ein akkurat gezogener Riß den Menschen und die Natur, einzelne Menschen und schließlich in jedem Menschen Seele und Leib, Verstand und Willen trennte.

Und weiter:

Als ich über den Bruch zwischen Rußland und der Intelligenz gesprochen hatte, war ich von dem erstaunlichen Optimismus der meisten Gegenargumente betroffen: er war dermaßen erstaunlich, daß sich der Verdacht regen mußte, ob hinter ihm nicht ein hoffnungsloser Pessimismus sich verbergen wollte? Ich sprach über den Tod, aber mir wurde entgegnet, die Krankheit sei heilbar; ich sprach über die Spaltung: mir wurde entgegnet, daß es nichts gäbe, was sich spalten könnte… Es ist erschütternd zu hören: „Die Krankheit ist heilbar, eine Krankheit liegt überhaupt nicht vor, wir können – alles.“ Wenn man mit dem Fuß auf einen Ameisenhaufen tritt, so beginnen die Ameisen unverzüglich, das Zerstörte wieder herzustellen. Sie leben in ihrer ewigen Arbeit wie im Schlaf… Den gleichen Schlaf schläft auch der Falter, der in die Kerzenflamme tanzt. Die Blüte der Intelligenz… träumt… den ewigen Schlaf, sie lebt das Leben des Ameisenhaufens. Es besteht im ewigen und unablässigen Aufbauen, mit Schaum vor dem Mund, und im ewigen Absturz. Kaum ist einer abgestürzt, schon klettert der nächste hoch. Der Ameisenhaufen wächst immer höher… Und plötzlich tritt ein Waldtier direkt in sein Zentrum… Der Zeiger des Seismographen im Observatorium schlägt aus. Noch ist es unbekannt, welcher Art die Katastrophe war. Einen Tag später bringt der Telegraph die Nachricht, daß Kalabrien um Messina nicht mehr existieren – dreiundzwanzig Städte, Hunderte von Dörfern und Hunderttausende von Menschen…

Ich bringe dieses ausführliche Zitat mit voller Absicht; es ist in jenem Geiste gehalten, der Bloks Verhältnis zu den ihn umbrandenden Diskussionen bestimmte – einem einzigen krabbelnden Ameisenhaufen, der unfähig ist, den eigenen Untergang unter der Tatze eines herumstreichendes Tieres, das heißt jener Weltkatastrophe, die Blok vorausfühlte, abzuwenden; Blok ahnte sie im Zusammenhang mit der Welt-Morgenröte; die Verse des Gedichts „Gamajun“ sprechen davon. Und die „Weltfragen“ Mereshkovskijs waren für ihn nur ein Falter, der in die Kerzenflamme tanzt; Blok sah die Kerzenflamme; er sah, daß der „Falter“ seinem baldigen Untergang entgegenflatterte; und ausgerechnet er wurde aufgefordert, dem „Geflatter“ beizuwohnen – den religionsphilosophischen Kurzreferaten oder dem „Brüllen“ Mereshkovskijs – der seine Schuhe mit den Pompons nicht abzulegen gedachte; „Schuhe mit Pompons“ sind jener Egoismus, der jedes soziale Schema zum Bersten bringt:

Entweder wir (das heißt Zina, Dima, Filosofov und ich; eigentlich: ich, denn Zina und Dima sind nur Arbeitsbienen, die mir das Material sammeln), oder du, (das heißt keiner)…

Ja, die Pompons sind ein Bild für den chronischen Subjektivismus der objektivsten Programme Mereshkovskijs, über die Blok nachsichtig und gutmütig in seinem Kabinett schmunzelte; nur selten ereiferte er sich: Dann schrieb er über die grinsende Maske aus Stein – den Gesichtsausdruck von Mereshkovskij, der ein Paradox goutiert: „Und weißt du, Zina?“; Blok wiederholte häufig das, was er später in seinem eindrucksvollen Artikel „Rußland und die Intelligencia“ aussprach:

Es gibt eine heilige Formel, die auf die eine oder andere Weise von allen Dichtern wiederholt wird: „Gib dich auf um deinetwillen – nicht für Rußland.“ (Gogol). „Um man selbst zu werden, muß man sich aufgeben.“ (Ibsen). Eine persönliche Selbstverleugnung ist nicht die Verleugnung der Person, sondern die Abkehr der Person von ihrem Egoismus. Diese Formel wird von jedem einzelnen Menschen wiederholt… diese Formel wäre banal, wenn sie nicht heilig wäre… erst wenn diese Formel uns in Fleisch und Blut übergegangen ist, wird die echte „Krisis des Individualismus“ eingetreten sein.

In der Bemühung, den „Individualismus“ auf allen damals gängigen „Wegen“ zu überwinden, witterte Blok das Unechte; als unecht empfand er die offenkundige Mischung der subjektiven Erlebnisse der Hippius mit der ärmlichen Scholastik Mereshkovskijs, die durch die Problematik der Voprosy shizni verwässert und weit entfernt von dem Leben und den Fragen war, die aus der Katastrophe des Bewußtseins entstanden; über die Katastrophe des Bewußtseins sagte Blok:

Wir wissen noch nicht mit Sicherheit, von welcher Art die zu erwartenden Ereignisse sein werden, aber in unseren Herzen ist der Zeiger des Seismographen bereits ausgeschlagen; wir nehmen uns selbst vor dem Hintergrund einer Feuersbrunst wahr.

Die religiösen und philosophischen Disputationen des Ehepaars Mereshkovskij vor dem Hintergrund einer wirklichen Katastrophe kamen Blok als deplacierte Karikatur vor:

Jetzt fangen sie von neuem an zu schwatzen, aber all diese ergrimmten und hochgebildeten, in Diskussionen über Christus ergrauten Intelligenzler, ihre Gattinnen und Schwägerinnen in Blusen come il faut, gedankenbeladene Philosophen und vor Selbstzufriedenheit triefende Popen wissen, daß draußen vor der Tür die Bettler um Geist stehen. Und auf der Straße – eisiger Wind, frierende Dirnen, hungernde Menschen, Menschen, die gehängt werden; und im ganzen Land – ,Reaktion‘, und in ganz Rußland – schweres, kaltes und widerliches Leben. Selbst wenn alle diese Schwätzer durch ihre Geschäftigkeit zu einem Skelett abmagern würden, selbst dann hätte sich in Rußland nichts gerührt und nichts geändert…

Alle diese Gedanken Bloks waren mir schon damals gut vertraut – im Jahre 1905; ich wußte, daß er die Herablassung, mit der man ihn in der Redaktion Voprosy shizni behandelte, in seinem Inneren mit Worten quittierte, die später in einem Artikel erschienen sind:

Warum auch nicht, klärt euch nur auf, ihr Intelligenzler; aber bildet euch ja nicht ein, daß der einfache ,Mann von der Straße‘ sich an euch wenden wird, um über Gott zu diskutieren. Wir werden euch und euren ,ernsthaften Bestrebungen‘ eine Weile zusehen und dann ein wenig lyrischen Weinschaum euch über die Glatze schütten: Wischt euch dann über die kahlen Köpfe und helft euch, wie ihr könnt…

Das soziale Engagement von Blok kam damals nicht bei öffentlichen Sitzungen zur Geltung, sondern bei Spaziergängen auf der Petersburger Seite; zuweilen nahm er mich mit; wir irrten durch die schmutzigen Gassen, die sich gegen Abend mit Arbeitervolk füllten, das von den Fabriken heimging (das Industrieviertel lag unmittelbar neben den Kasernen); hier liefen ausgemergelte Fabrikarbeiterinnen als Dirnen herum; hier gellten aus den verfallenen zweistöckigen Häusern trunkene Schreie; hier, in den Schenken, begegnete Blok nachts der rauhen Wirklichkeit der damaligen Sozialordnung; und er, Dichter und Mystiker, urteilte darüber schärfer, wahrhaftiger, realer als die routinierten Kämpfer für soziale Gerechtigkeit, die Diskussionen mit satten Pfaffen dem Besuch solcher Örtlichkeiten vorzogen.
Das Urteil über die Tätigkeit der beiden Mereshkovskijs verband sich in Blok mit einem sehr diffizilen Verständnis für ihre Psychologie, die Psychologie kleinformatiger und sehr verworrener Menschen; das Intime, das Unwiederholbare an ihnen liebte er; in dieser Beziehung war er rührend nachsichtig mit den „Pompons“ von Mereshkovskij. Damals machten wir uns oft ein Vergnügen, Menschen zu charakterisieren: ich erinnere mich, wie Blok lachend zustimmte, daß Mereshkovskij „aus Zimt“ sei, daß ihn „Zimtduft“ umgebe (bildlich gesprochen); tatsächlich, diese Farbe begleitete Mereshkovskij überall; in seiner braunen Jacke schritt er vor einer bräunlichen Wand auf und ab, die braune Zigarre im Mund; auch die Einbände seiner dicken Bücher waren meistens von kaffee- oder zimtbrauner Farbe (wahrscheinlich.suchte er selbst diese Farben aus); vielleicht (aber dafür kann ich nicht bürgen) zündete er in seinem Arbeitszimmer Räucherstäbchen an, die Zimtduft verbreiteten; und ich hatte den Eindruck, dieser Geruch sei der Geruch der „sozialideologischen“ Atmosphäre seiner Wohnung; vermutlich war das der Duft seiner Zigarren und das Parfüm der Hippius („Touberose“ Loubain).
Blok liebte die beiden Mereshkovskijs zärtlich, diese intimen Subjektivisten, diese unwiederholbaren Treibhausblumen, die an „Gemeinschaft“ erkrankt waren und dadurch ihren Reiz verloren hatten; so verlieren seltene Palmen, die in der Orangerie erkranken, ihre wohlgeformten Blätter; übrig bleiben die haarigen Wurzeln und der steil aufragende nackte Stumpf; die „Religionsphilosophische Gesellschaft“, deren Motor Mereshkovskij gewesen ist, war für Blok nur der „Stumpf“ von Mereshkovskij.
„Und was denkst du, welche Farbe hat ,Dima‘?“
„Welche Farbe?“
„Meiner Meinung nach ist er dunkelblau…“
Unsere Improvisationen amüsierten uns; ich improvisierte – Blok korrigierte mich; zuweilen gesellte sich Aleksandra Andrejevna zu uns, die es als vollkommen natürlich empfand, daß ich tagelang bei Bloks saß; einmal nahm sie mich bei der Hand, zwinkerte mit den dunkelbraunen Augen und sagte:
„Wie sollten Sie auch ohne uns auskommen…“
„Das ist doch ganz natürlich…“
„Sie gehören doch zu uns…“
Ich weiß noch, daß die Abwesenheit von S.M. Solovjov, der bis dahin an unseren Sitzungen teilgenommen hatte, nicht als Mangel empfunden wurde; im Gegenteil: ohne Solovjov wurde es stiller, ruhiger, anspruchsloser; und wenn der Aufenthalt in Schachmatovo in mir eine Impression von klaren rosa-goldenen Morgenröten hinterließ, so behielt ich die Zeit in der Wohnung Bloks im Bilde des hohen winterlich blauen Himmels mit ziehenden Lämmerwölkchen.
„Wovon schreiben Sie hier eigentlich?“ – werden mich manche fragen. Ich schreibe von der neuen, wirklich neuen Gemeinschaft, die in behutsamem Verflechten der Seelen entstand: dort, wo a, b und c gegeben sind, dort sind auch die Kristallisationen ab, bc, ba, cb, abc, acb, cab und so weiter gegeben, als unendlicher Fächer von Modifikationen der Beziehungen; ich schreibe von jenem „Persönlichen“, das sich als Teil des Ganzen empfindet; eine „Gemeinschaft“ ohne das schöpferische Moment in den persönlichen Beziehungen der Menschen untereinander, „Gemeinschaft ohne Wechselbeziehungen“ ist ein Trugbild! So ist es: Eine Gemeinschaft, die in allen Schattierungen der Wechselbeziehungen schimmert, ist nicht mehr „Gemeinschaft“, sondern – „Mysterium“:

Blick in Blick: ein blauer Schimmer…
Von Blick zu Blick – von Dir zu mir –
Ersteht das Ich.
Das erste Ahnen webt zwischen uns:
Nicht „Ich“, nicht „Du“ – „Wir“ – „Er“…

Das strebten die Mereshkovskijs an; aber „Er“ erschien nicht, denn in ihrer Gemeinschaft ohne Wechselbeziehung haben sie sich von „Ihm“ abgewandt: und ihre Gemeinschaft versandete im Feuilleton.
Ich erinnere mich: in den Tagen der Revolution interpretierte Isadora Duncan die Siebente Symphonie des unsterblichen Beethoven, und Ljubov Dmitrijevna bestand darauf, daß wir alle ins Konzert gingen; zum ersten Mal erlebte ich die Grundstimmung der Eurythmie, die durch die Gesten der Duncan hindurchschimmerte; ich erinnere mich ebenfalls an die frappierende Interpretation des Prelude Nr. 20 von Frederic Chopin; das junge neue nachrevolutionäre Rußland erhob sich ringsherum; in jenen Tagen begeisterten sich alle für die Duncan, am meisten Ljubov Dmitrijevna; Blok war zurückhaltender, aber auch er gab sich dem Erlebnis der Vereinigung von Ton und Geste hin; Rozanov, den wir im Saal getroffen hatten, mäkelte; er hakte sich bei mir ein, und unzufrieden schwappten die Worte aus ihm heraus:

Nein, nein, nicht eine einzige Bewegung, wie es sich gehört!

Und er winkte ab. 

Blok witterte die intuitive Kraft Rozanovs; zuweilen betrachtete er dessen Welt, die ihm so feindlich war, mit unverhohlenem Entsetzen; Rozanov quälte ihn; einmal phantasierte er in einem seiner Briefe an mich, Rozanov, „mit seinem zitternden rötlichen Bärtchen“, schleiche sich immer näher und näher an ihn heran und werde ihn bald einholen. Der „sich heranschleichende“ Rozanov gehört in jene Epoche in Bloks Leben, in der ihn auch Kant quälte; Rozanov und Kant lauerten seinem Bewußtsein auf, während „Sie“, die „Ganze“, sich langsam zurückzog, und an ihre Stelle die Bilder der „Astarte“ traten, die einmal als Abstraktion (Kant), das andere Mal als Sinnlichkeit (Rozanov) sich zeigte; das Ganze bekam einen Riß; zwei Hälften zeichneten sich ab: die eine Hälfte (des Ganzen) – die Logik Kants, die andere – das „Geschlecht“, das Thema Rozanovs. Diese Erlebnisse bewegten Blok schon im Jahre 1903, aber noch 1905 wurde er wachsam, wenn Rozanov auf ihn zukam.
Er hörte aufmerksam zu, wenn die Rede auf Kant kam, aber er äußerte sich sehr selten zu den Themen der kritischen Philosophie und geriet dabei nie in Verlegenheit wie Mereshkovskij, dessen Philosophiererei ein einziger „Lapsus“ ist. Ich philosophierte damals oft; Ljubov Dmitrijevna hörte mir zu, sie studierte damals Philosophie und besuchte eifrig Vorlesungen; einmal fragte sie mich streng, welche gnoseologischen Grundbegriffe „Lapan“ zur Verfügung gestanden hätten, wenn dieser Kulturphilosoph tatsächlich aufgetreten wäre. Diese Frage wurde zum Anlaß eines ganzen Zyklus von Vorträgen, die ich in der Wohnung Bloks improvisierte; Blok war stets anwesend und hörte mir aufmerksam zu.
So lebte ich damals in Petersburg ein doppeltes und sehr kompliziertes Leben: bei Blok, bei Mereshkovskijs; oft wurde ich von L. Semjonov abgeholt; wir gingen in den Letnij Sad. Um jene Zeit machte Semjonov eine radikale Wandlung vom Monarchismus zum revolutionären Maximalismus durch; er ging mit den Arbeitern zum Winterpalais, um zu erleben, wie der Zar sie empfangen würde; aber er mußte sich dort zusammen mit der Menge flach auf das Pflaster legen; rings um ihn pfiffen die Kugeln; eine pfeifende Kugel des Absolutismus traf in ihm die Idee des Absolutismus; er erzählte mir, daß er später dem Großfürsten Vladimir Aleksandrovitsch einmal begegnet sei und instinktiv nach dem Revolver gegriffen habe, um ihn aus der Tasche zu ziehen: noch rechtzeitig kam er zur Besinnung; aber seine Geste war so rasch, so unmißverständlich, daß Unsicherheit und Furcht das großfürstliche Gesicht verzerrten.
Wir diskutierten.
Um diese Zeit tauchten bei Mereshkovskij völlig unerwartet Sventickij und Ern auf; beide kamen gerade aus Moskau und brachten Entwürfe zu einem Schreiben an die Hl. Synode, unterzeichnet von einer Gruppe von Kirchentreuen, die sich gegen die Billigung der Erschießungen durch die Kirche wandten; bei dieser Gelegenheit machten Mereshkovskij, Kartaschov und Filosofov die Bekanntschaft der beiden jungen Leute, die ich von früher kannte; Volshskij begrüßte sie begeistert als „religiöse Radikale“. Einmal hatten wir uns auf der Puschkinskaja bei Percov versammelt, um die Lage der „zornigen Moskoviten“ zu besprechen; außer mir selbst, den beiden Mereshkovskijs und Percov waren noch, wie ich mich erinnere, Filosofov, Rozanov und Ternavcev dabei; Rozanov und Ternavcev nahmen das Projekt Sventickijs nicht ernst; ich weiß noch, wie Ternavcev sagte:

Nun, vielleicht seid ihr tatsächlich Propheten, dann geht mal hin und lest den Hierarchen vor, was ihr aufgesetzt habt.

Darauf rief Filosofov aus:

Aber wie können Sie, Valentin Aleksandrovitsch, diese jungen Menschen in die Höhle des Löwen schicken, wenn Sie doch wissen, was ihnen droht?

Darauf antwortete Ternavcev, halb im Spaß und halb im Ernst:

Was ist dabei? Wenn sie sich im Recht fühlen, ein Urteil über die Kirchenobrigkeit zu fällen, so müssen sie zu allem bereit sein: Daniel wurde in die Löwengrube geworfen und blieb dennoch heil…

Rozanov schwieg während der ganzen Zeit, seine goldene Brille funkelte, und das Knie wippte unentwegt; er erkundigte sich nur beiläufig nach der Herkunft von Sventickij; zu dessen Reformplänen schwappte es aus ihm (er meinte dabei die Synode) heraus:

Das war ein Misthaufen… und es bleibt ein Misthaufen… Und man braucht auch nicht darin zu rühren…

Trotz allem: mir fiel seine Art auf, Ternavcev zuzuzwinkern (Ternavcev war ein überzeugter Fürsprecher der Kirchen); sie fuhren von Percov zusammen in einer Droschke fort – und sie umarmten sich; ich verstand: nicht die Religion hatten sie gemeinsam – sondern den Sinn für das Leben und für das Ästhetische am Kultus.
In diesen Tagen gingen wir (ich, Sventickij und Ern) von Mereshkovskij nach Hause; an der Litejnyj Brücke blieb Sventickij stehen und begann mir die in ihm sich entwickelnde Idee des „Christlichen Kampfhundes“ auseinanderzusetzen; dieser Bund entstand später in Moskau. Ich wollte zu Blok. Sventickij folgte mir mechanisch, ganz dem Gedanken an den neuen Bruderorden hingegeben; so kam er mit mir zu Bloks und fiel uns allen zur Last; er saß stumm da, zupfte an seinem Bärtchen und grübelte über der Möglichkeit, seinen „Orden“ zu stiften; auch dieses Mal gefiel er Blok nicht.
Niemals werde ich meine letzten Tage in Petersburg vergessen; wir hatten verabredet, uns in Schachmatovo zu treffen; Blok und seine Frau brachten mich zur Bahn; als der Zug sich in Bewegung gesetzt hatte, sah ich aus dem Fenster ihre fröhlichen und freundlich lächelnden Gesichter.
Währenddessen, zu derselben Stunde, wurde der Generalgouverneur von Moskau, Großfürst Sergej Aleksandrovitsch, ermordet. Das erste, was ich in Moskau hörte, gleich am Bahnhof, war eine Zeitungsnotiz über das Attentat im Kreml. Und wieder, wie einst bei der Nachricht über das Attentat auf v. Pleve in der Stunde meiner Rückkehr aus Schachmatovo (1904), zog sich mein Herz zusammen; und wieder richteten sich meine Gedanken unwillkürlich auf Blok. 

(…)

Andrej Belyj: Im Zeichen der Morgenröte. Erinnerungen an Aleksandr Blok, Übersetzung Swetlana Geier, Zbinden Verlag, 1974

 

Werner Helwig: Ein Mystiker der russischen Revolution. Zu Alexander Block, Merkur, Heft 366, November 1978

Oleg Jurjew: Das Lächeln von Alexander Block

 

 

VERSE FÜR ALEXANDR BLOK1
Cтихи к Блоку

I

Wie ein Vögelchen in meiner Hand, ein Leichtgewicht –
Dein Name, wie ein Stückchen Eis im Mund, er spricht
Sich aus mit einem Zungenschlag und gleitet schwerelos
Von meinen Lippen, er umfasst vier Lettern bloss,
Ist wie ein Ball, rasch aus der Luft gegriffen, noch im Flug.
Ein Silberglöckchen, das ich gern im Gaumen trug.

Ein Stein, den grade jemand in den Teich geworfen hat,
Erzeugt den Gleichklang, der zu deinem Namen passt.
In fernem Hufgeklapper klingt er wie ein Echo nach,
Verstärkt sich und dröhnt mächtig durch die Nacht,
Bevor er wie ein Abzugshahn an meiner Schläfe klackt,
Metallisch, klangstark und – dein Name wird zum Akt.

Dein Name – aber ach, was soll’s! – er wird zum Kuss,
Senkt sich auf meine Augen, ja, es ist ein sanftes Muss,
Er löst den Frost, der meine Lider lähmt,
Dein Name ist ein Kuss, der schweren Schnee erwärmt.
Ein Schluck aus blauem, eisig kaltem Quellenschlund.
Denn meinem Traum verleiht dein Name sichern Grund.

15. April 1916

 

II

Wer ruft dich in mein junges Leben,
Du Ritter
2 ohne jeden Tadel?
Du zärtliches Gespenst! Verwegen
Und von höchstem Adel!

Du stehst im bläulich grauen
Dunkel, trägst einen rauhen
dichten Schneebehang.

Nein, nicht der Wind ist’s,
Der mich durch die Strassen hetzt.
Der Feind, der mir im Nacken sitzt,
Beherrscht und lenkt mich jetzt.

Mich hat der Barde längst behext,
Sein blauer Blick,
umflort von Schnee.

Der Schnee – ein Schwan –
Spreizt vor mir sein Gefieder.
Die Federn fangen langsam an
Zu schweben, fallen nieder.

So geh ich auf den Federn
Hin zur Türe, hinter der
Der Tod sich regt.

Hinter dunkelblauen Fenstern
Singt er sein Lied,
Er singt für mich aus fernster
Nähe, es klingt wie ein Geläut.

Eine Reihe von Schreien,
Die Schwanenleier –
Mir zur Feier.

Gespenst! Geliebter!
Alles – ich weiss – nur ein Traum.
Bleibt nur meine Bitte:
Verlier dich im Raum! Und amen,
Endlich amen!

1. Mai 1916

 

III

Du folgst der Sonne in den abendlichen Westen,
Betrittst schon bald den Dämmerschein.
Du folgst der Sonne in den abendlichen Westen,
Schon bald wird deine Spur im Schnee verschwunden sein.

Gleichmütig gleitest du vorbei an meinen Fenstern,
Verlierst dich im Gestöber und bist wieder fort,
Mein Herrlicher, mein Göttlicher und mein Gerechter,
Mein sanftes Licht und meiner Seele Hort!

Ich will von deiner Seele nichts für mich allein
Und werde deinen Gang nicht stören!
Nie werde ich in deine blasse, oft gekoste Hand
Auch bloss den Fingernagel bohren.

Nie werd ich dich bei deinem Namen rufen
Und auch nicht meine Arme nach dir recken.
Dir Ehre zu erweisen, fühl ich mich berufen,
Dein fahles Antlitz aus der Ferne anzubeten.

Umweht von feinen leichten Flocken
Lass ich mich nieder auf die Knie,
In deinem Namen lass ich mich verlocken
Zu einem Kuss tief in den Schnee –

Erhaben schreitest du an mir vorüber,
Durchmisst die Grabesstille und gehst fort,
Mein sanftes Licht, mein Seelenhüter,
O meine Heiligkeit – dein Ort ist dort.

2. Mai 1916

 

IV

Dem Tier – seine Höhle,
Dem Pilger – die Wege.
Dem Toten – die Bahre.
Ja, jedem – das Seine.

Frauensache – Lug und Trug,
Zarenpflicht – sprich: Herrsche gut!
Mir bleibt zu tun – genug,
Den Namen zu rühmen, den deinen.

2. Mai 1916

 

V

Alle Kuppeln sind in Moskau voll entflammt,
Die Glocken dröhnen durch mein Land,
Die Gräber liegen vor mir allesamt,
In ihnen ruhen unsre Zaren.

Im Kreml, weisst du, geht der Atem leicht,
Geht leichter als in jedem andern Reich!
Und abends bete ich dich an, du weisst,
Du hast es schon erfahren.

Du überquerst in Petersburg den Fluss Newà,
In Moskau überquere ich den Fluss Moskwà,
Mit tief gesenktem Kopf steh ich nun da,
Derweil die Strassenlampen starren.

Vom Schlaf verlassen liebe ich dich um so mehr,
Vom Schlaf verlassen nehme ich dich wahr,
Wenn in der Früh die Kremlglocken schwer
Von allen Türmen hallen.

Doch trifft mein Fluss nicht deinen Fluss
Und unsre Hände machen miteinander Schluss,
Man bleibt geschieden – das ist unser Muss,
Bis Früh- und Abendrot zusammenfallen.

7. Mai 1916

 

VI

Ach, bloss ein Mensch! So dachte man
Und liess ihn einfach sterben.
Nun ist er tot, der engelhafte Mann –
Nun ist es Zeit, um Klage zu erheben!

Er war’s, der abends jeden Tag besang
Und seine Schönheit rühmte.
Drei Lichter flackerten, gespeist von Tran
Und abergläubischem Bemühen.

Er trat heran im Strahlenmeer –
Er spannte heisse Saiten in den Schnee.
Drei Kerzen gab er für die Sonne her –
Damit sie uns mit ihrem Licht verseh!

Schaut hin, wie seine dunklen Lider nun
Herunter brechen!
O schaut, wie seine Flügel schon rundum
Gestaucht sind und gelöchert!

Der schwarze Rezitator liest,
Das unbedarfte Publikum mag es nicht hören…
– Tot liegt der Dichter im Verlies,
Um seine eigne Auferstehung zu beschwören.

9. Mai 1916

 

VII

Dort, hinter jenem Wäldchen, muss das Dorf
Verborgen sein, wo ich einst wohnte.
Was ich von der Liebe sicherlich nun sagen darf –
Sie ist leichter, als ich einstmals wähnte.

– He, ihr Idole, sollt alle verrecken!
Die Knute, rasch gereckt – sie fällt und trifft,
Dem Aufschrei folgen Schmerzen, Flecken,
Und wieder ruft das Glöckchen in die Pflicht.

Aus den öden Erntefeldern ragen
Reihenweise Pfosten für den Strom,
Und die Drähte, die den Himmel tragen,
Singen und besingen leis den Tod.

13. Mai 1916

Marina Zwetajewa
Übersetzung Felix Philipp Ingold

 

 

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Paul Celans Todesfuge interpretiert von Diamanda Galas im Teatro Albeniz, Madrid, 15.10.2008.

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