Ich will den Horizont streichen
bis auf den Halbmond am Schluß,
wo er als Fragezeichen
aaableiben muß.
Die Antwort steht in den Sternen,
sichtbar und doch zu fern,
um erkennen zu lernen
aaaihren Kern
unter all diesen Resten
der planetaren Spreu.
Und darum schreib ich am besten
aaaden Himmel neu.
Mit seiner Lyrik unternimmt Alexander Nitzberg nicht weniger als die Begründung eines neuen Genres: der Interstellardichtung. Ein Ich greift buchstäblich nach den Sternen, bis es sie in seinem Wahn verschluckt. Pochend, pulsierend findet es sie wieder, in einer neuen Konstellation, in sich selbst.
Nitzberg zündet Farb- und Klangtriebwerke und schießt unsere Sprachsatelliten in neue Umlaufbahnen: kosmisch, magisch, virtuos.
Suhrkamp Verlag, Ankündigung
Alexander Nitzberg, der heute in Wien lebt, ist nicht nur in Moskau geboren (nämlich 1969) und hat aus dem Russischen übersetzt (nämlich Charms, Majakowski und Puschkin), er hat auch die Allüren eines russischen Dichters: Er ist ein Reim-Virtuose und ausgepichter Rezitator der eigenen Poesien. Er traut sich in seinem Lyrik-Baukasten (2005) sogar zu, Dilettanten das Dichten beizubringen. An Witz und Selbstgefühl fehlt es ihm nicht, was schon die Titel seiner früheren Bände bezeugen: Getrocknete Ohren (1996), Im Anfang war mein Wort (1998), Na also! sprach Zarathustra (2000). Gleichwohl hat der Lyriker Nitzberg bisher nicht die Resonanz gehabt, die der lyrische Mainstream anderen Autoren seiner Generation zutrug. Vielleicht bringt ihm (neues Spiel, neues Glück!) sein neuer Verlag (Suhrkamp) mehr Fortune.
Nitzberg, der Artist, setzt sein Spiel auf Risiko. Man möchte sein Farbenklavier ein Sprach-, ja ein Reimklavier nennen. Es ist auf riskante Reim- und Halbreimklänge gestimmt, wie sie die russischen Poeten seit alters lieben. Da reimt sich „Barsoi“ auf „Gebräu“, „clamavi“ auf „nah wie“, „thron ich“ auf „zitronig“ oder „Gleichnis“ auf „Köchelverzeichnis“, Kein Zweifel: nicht der Gedanke erzeugt den Reim, sondern der Reim den Gedanken. Die lyrische Substanz entsteht aus den Klängen, die eine sensible und gewitzte Hand auf dem Sprachklavier erzeugt.
Gut. Das haben auch andere, nicht minder gewitzte Poeten getan – etwa jener Dichter, der seine Zivilisationskritik in die trunkene Flut seiner Reime und Rhythmen tauchte. Kein Zweifel: bei Nitzberg gibt es einen unüberhörbaren Gottfried-Benn-Sound als Generalbass. Hinzu kommt, daß Nitzberg das artistische Moment dadurch betont, daß er die meisten Gedichte in eine einzige Form gießt, in eine schmale vierzeilige Reimstrophe mit verkürztem Schluß. Die geht etwa so:
Sterne: zu Licht erstarrtes
Tönen am Firmament.
Das silberne Horn Astartes
schallt permanent.
Da schallt die Glocke Big Benns – häufig, wenn auch zum Glück nicht permanent.
Doch Nitzberg moduliert diesen Sound immer auch ins Ironische. Er titelt seine „Ironies“ englisch und endet seinen Götterhohn mit einem modischen Accessoire:
eine Seidenkrawatte.
Wenigstens chic!
Schreibt er eine „(Messe noire )“, so setzt er sie in Klammern, und sein Ruf aus der Tiefe endet augenzwinkernd blasphemisch. Dem Dichter ist eines klar:
Man kommt nur mit leichten Tönen
gegen den Himmel an.
Nitzberg thematisiert das Metaphysische erstaunlich oft, läßt aber offen, wie ernst er es meint. Doch er langweilt uns keinen Moment.
Deutlich und offenkundig ist Nitzbergs Faible für die Musik. Vor allem für die Musik Alexander Skrjabins, dessen von Sendungsbewußtsein durchdrungene kosmische Phantasiewelt ihn fasziniert. Nitzberg bringt als Hommage ein Gedicht von Ariadna Skrjabin in seiner deutschen Version, und eines der eigenen Skrjabin-Gedichte versucht die folgende Summe:
„Es gibt keinen Gott, weil ich da bin.“
Lilien und Prométhée.
Weltuntergänge. Skrjabin.
Zum Fünfuhr-Tee.
Zu diesem Tee reiche man Nitzberg-Gedichte, in kleinen Dosen.
Das Reizen aller Sinne, das Vertauschen von Gehör und Auge, das Verschmelzen der Eindrücke zur Synästhesie – seit Jahrhunderten ist dies die vornehme Aufgabe der Lyrik.
Alexander Nitzberg bringt mit seinem Farbenklavier tatsächlich die Welt zum Schwingen und Klingen. In sein Farbspektrometer steckt er einerseits Noten aus dem musikalischen Bereich, Lebensläufe von Komponisten und Faustregeln des Kontrapunkts.
Sein sogenannter Einflüsterer ist der russische Komponist Alexander Skrjabin, der sich selbst als Komponist und Farb-Synästhesist bezeichnet hat.
In den Moskauer Straßen
wo die Winde voll Wut
alte Fassaden zerfraßen,
ist es gut
anzuhalten, zu fühlen,
wie man langsam verrinnt
im urigen, slawophylen
Labyrinth.
Wenn der bärtige Wachmann
mit fürchterlich viel Geschnauf
an einem vorbeigeht, wacht man
schon noch auf… (S. 21)
Aber die Musik dieses multi-organischen Zuschnitts bringt nicht nur den Komponisten an den Rand der Farbskala, auch der Zuhörer erfährt dabei den Rausch der übergekippten Sinne, vor allem wenn das Gesamtbefinden durch genügend Absinth beschleunigt wird.
Ich hab mich dessen entsonnen
über dem Glas Absinth –
dass zwei geronnene Sonnen
meine Augen sind… (S. 28)
Das von Farben illuminierte lyrische Ich kostet sich in der Folge über grünen Mohn vor in jene Zone, worin sich die Zunge sichelförmig aufputscht zum Mond, ehe das ganze Paket von Empfindungen sich in die nächstbeste Galaxie verfrachtet.
Vielleicht hat Musik generell mit diesem Verwischen von schroffen Schraffuren der Wahrnehmung zu tun, einmal eingetreten in den Kosmos der Musik, geht es darin zu wie an manchen Tagen im Weltall.
„Du, Mozart, bist ein Gott
und weißt es gar nicht.“
Alexander Puschkin
Mozart. Schwingendes Gleichnis
dessen, was eigentlich schweigt
und sich im Köchelverzeichnis
nur zeitlich zeigt.
Wo der Zirkel präzise
vom einstigen Anfang weiß,
schließt die ersehnte Reprise
endlich den Kreis.
Zentripetales Schwinden
hin zur finalen Idee.
Tonika. Wiederfinden.
Amade. (S. 74)
Alexander Nitzberg zieht alle sprichwörtlichen Register der Musikkunde und Kompositionstechnik, um aus diesem Farbenklavier den richtigen Klang herauszuholen: dekadent, verschmitzt, verloren. Die Lyrik verschwindet letztlich als Klang in sich selbst.
So heben sich langsam steiler,
aufspannend ein kleines All,
lauter Bedeutungspfeiler
zum Wortkristall. (S. 76)
Helmuth Schönauer, aus Helmuth Schönauer: Tagebuch eines Bibliothekars, Bd. IV, 2009–2012, Sisyphus, 2016
Meiner Meinung 4 Sterne – Nitzberg ausgezeichnet mit vielen Preisen, ist als Übersetzer und Lyriker hervorgetreten… seine, in Farbenklavier, komponierten gebundenen Reime, die einen zum aufmerksamen Wachen über dem Buch zwingen, erinnern an Shakespeares Gebilde mancher Sonette… er verfasst in einem Reim eine eigene Welt.. fasst unglaubliche Dinge in einen Vers… Als ich das Buch zum ersten Mal las, begann ich nur noch in einer Zeile zu denken, die mich nach einem Weltraum, in den anderen hob… Er hat es verdient, weitere Reime zu verdichten um einen Zyklus, wie zum Beispiel den „Taucher“ von Schiller, in einer eigenen Weise zu erdenken… Danke für meisterliche Kurztexte.
Mario Osterland: Planet Nitzberg
fixpoetry.com, 19.3.2012
– Der geborene Dichter Alexander Nitzberg. –
eine der heiklen Herausforderungen im Umgang mit der schönen Literatur ist die Verbindung zwischen Erkenntnisernst und Humor als Methode. Der Dichter, der den Witz in Gebrauch nimmt, der Ungewohntes kollidieren lässt, Kleines groß und Großes lächerlich macht, der das Lächerliche ernst nimmt und das Ernste im zierlichen Ornament versenkt, unser Dichter also hinterlässt dem deutenden Liebhaber ein Problem: Wie reden und rühmen jenen Spaß des Lesens oder Hörens, ohne ihn sogleich in historischer Kenntnis und hermeneutischem Verständnis zu versenken? In diesem Sinne hat der Düsseldorfer Dichter Alexander Nitzberg schon manchen Gast und Leser, zahlenden Zuschauer, lauschenden Hörer und staunenden Eckensteher ratlos zurückgelassen. Ratlos der seltsamen Beglückung wegen, die ihm zuteilwurde, die er aber nicht unterbringen konnte in der Kunstsparten-Ordnung und der korrespondierenden Ordnung der Vergnügen.
Mir selbst, ich gestehe es, ging es nicht anders. Alexander Nitzberg ist nämlich vieles, was unter dem schönen Ausdruck Poet zusammenfällt, doch selten noch darunter aktiv gedacht wird: Er ist – natürlich – Verfasser von Versen, und zwar solchen auf festen Füßen, und wenn nicht, dann von einer tänzerischen Abweichung eigenen Rechts. Er ist Dichter von gereimten Versen, die zudem in Strophen gefasst sind, ordentlichen Strophen, soll heißen altbewährten, oft über Bord gegangenen und wieder erstandenen Strophen mit geschmeidig geformten Reimschemata, von sich aus auf halbem Wege zum Gesang, immer zur Rezitation animierend.
Alexander Nitzberg ist, von dem Genannten noch einmal unterschieden: ein Rezitator. Er tritt auf und verwandelt sich in einen, durch den das streng geformte Sprechen wie durch einen dreidimensionalen Oskar-Schlemmer-Körper hindurchgeht. So war das früher jedenfalls auf Düsseldorfer Altstadtstraßen. Eine skurril gekleidete humane Membran, ein Performer, der den Weltraum mit Klang- und Sinngebilden ausfüllt, solang die Aufmerksamkeit die Schau gestattet. Alexander Nitzberg war da nie zimperlich. Er zog sich an wie weiland Wilde oder auch andere Dandys, die zum Stempeln gehen mussten, den Frack mit Schößen, den Zylinder obenauf, und hoch die Zauberhand und auch die hohe Stimme höher:
Leute, der Bänkelsänger heute hat seinen Rilke in- und Artmann auswendig und wird von Orpheus künden…
Damit der Zauber noch ein wenig visuelle Unterstützung fände, war durchaus ein Stab dabei, zum Gehen, Zeigen, Zaubern eben.
Nun also Nummer drei: Alexander Nitzberg war (und ist natürlich) ein Zauberer: ein richtiger, mit roten Tüchern und Kaninchenohren. Er holt Ihnen aus dem Ärmel, was nie drin war, so wie man lesen kann, was nie geschrieben wurde, wenn man Dichter oder mehr noch: wenn man Kritiker ist.
Es hatte etwas Parodistisches, zweifellos, Zirkuscharme und nostalgische Momente wie Punkte auf dem Einstecktuch im Paletot. Wie aus einem andern Jahrhundert, eigentlich eine Erscheinung vom geträumten Jahrmarkt. So war das damals auf der Bolkerstraße in Düsseldorf, der Straße, an der Heinrich Heine geboren wurde. Dort traf ich Alexander Nitzberg vor zwanzig Jahren und wusste nicht, wohin, woher – nein, nicht mit mir – mit ihm.
Das, was mir damals fremd, doch hoch beachtlich schien – allein der freie, also auswendige Vortrag gebundener Rede wie gerade erfunden war ein Phänomen für sich –, dies Fremd-Vertraute war mir damals schlicht zu viel. Ich war gedanklich postmodern schon anderswo gebunden, in Philosophie und Prosa sozusagen, und obwohl Hanns-Josef Ortheil in frühen Aufsätzen die Postmoderne eben auch als Wiederholung alter Formen verstand, blieb ich der Idee des Endes der Ideen treu und ließ so auch das historisch-exotische Nitzberg-Phänomen in einigem Abstand zur eigenen Denkform beiseite.
Obwohl dies nicht ganz einfach war, da Alexander Nitzberg seine Gedichte, doch auch viele Übersetzungen aus dem Russischen, dann seine Herausgebertätigkeit ausgerechnet bei einem guten Freund, dem Verleger Bruno Kehrein vom Grupello Verlag, entfaltete. Doch irgendwann verstetigte sich die Art der „zufälligen“ Nitzberg-Begegnungen auf eine nicht ganz geheure Weise. Dafür, dass man eigentlich nicht so viel miteinander zu tun hatte – aus intellektuellen Abgrenzungsbedürfnissen –, dafür hatte man schließlich verdammt viel miteinander zu tun. Doch immer über Bande, immer über den Dritten gespielt.
Einen dieser Dritten will ich nun doch kurz erwähnen, zumal Alexander Nitzberg mit ihm die „Dampfbetriebene Liebesanstalt“ „eingesprochen“ hat, wie es heute hörbuchtechnisch heißt: Thomas Kling nämlich. Und dies allein, die vortragende Zusammenarbeit mit Kling, bezeugt für den, der sich ein wenig auskennt, den Mut, das Selbstbewusstsein und a fortiori das rezitatorische Können des Sprechers Nitzberg, denn Thomas Kling war ein Präzeptor der strengen Observanz, ein Charmeur, wenn es lief und klang, doch ein Berserker in Fällen lautlichen Dilettantismus oder gar der Laut- und Klangvergessenheit. Thomas Kling ist jener forciert moderne Dichter der die artistische Performance des Gedichts nach Dada und den Wiener Poeten wieder in die Welt gebracht und zu neuen Formen geführt hat, mit seinen „Sprachinstallationen“, seinen Performances, den fulminanten Auftritten des so von ihm genannten „Sprechstellers“.
Mit jenem inzwischen verstorbenen Dichter Thomas Kling hat Alexander Nitzberg in gemeinsamen Sitzungen Gedichte der russischen modernen Poesie eingesprochen, jener Poeten des silbernen Zeitalters, die er liebt und bis heute mit Kenntnis und Liebe und Eifer übersetzt. Einmal seien die Namen der liebsten Dichter wenigstens genannt: Wladimir Majakowski und Nikolaj Gumiljow.
Also: Der moderne Berserker schätzte den Spieler traditioneller Formen, den kontrollierten Humoristen, der exzentrische Avantgardist achtete den exzentrischen Traditionalisten, der, und das muss hier einmal deutlich gesagt sein, es sehr viel schwerer hatte und hat auf dem Literaturmarkt, dessen Segment für Poesie sowieso schon überschaubar ist. Und das bei so viel Können, Fleiß und sollen wir sagen: Genie? „Ungeniertes Genie“, wie Nitzberg sich einmal selbst bezeichnet hat? Oder sagen wir besser: Mitgift.
Bevor ich aber über die beeindruckende familiäre Mitgift des Alexander Nitzberg rede, die wie jede auch eine Last der Altvorderen sein mag, eine kurze Probe jener gekonnten Leichtigkeit, die humorvoll ist und dennoch, statt im Lachen sich zu lösen, ins Absurde ausrückt und zu des Grundgedankens Kern zurückweist; ein paar Verse, ein paar Strophen, die unter dem Titel „Mein lyrischer Leierkasten“ stehen und den offenen Ausgang des Lachens meiden, auch wenn der Titel des gesamten Bandes einen solchen Ausgang zu versprechen scheint: „Na also!“, sprach Zarathustra. Darin:
Mein lyrischer Leierkasten
trillert in heitrer Tonart,
meine Gedankentasten
sind frisch poliert und gebohnert.
Ich spiele auf euren Nerven,
ihr könnt euch dagegen nicht wehren.
Ich wäre Millionär, wenn
Verse die Währung wären.
Bin oft ein mondäner Dämon,
dann red’ ich in Glanz und Glossen
und pfeife verbotene Themen
(den Flohwalzer eingeschlossen),
liebe große Gebärden,
lache in Feuerwerken,
und sollte ich traurig werden,
ihr würdet es kaum bemerken…
und es endet einige Strophen später kursiv:
Labe, mein Leierkasten,
du, Deutsche Bundeslade,
die da in Prosa fasten
mit poetischer Schokolade!
Sie werden, liebe (Laut-)Leser, das Gedicht nur zu fassen bekommen, wenn Sie innerlich ein festes A aufrichten, Maß und Halt, das A im Anfang und im Ade und, ach ja, im Omega. Denn wenn Sie nur die Süße der Schokolade auf Poesie reimen, dann sind Sie bei Heine, der einen Platen verhöhnt ob seiner Süßlichkeit. Wenn Sie aber mit Majakowski und anderen Akmeisten und Futuristen das Gedicht als ein quadratisch-festes Ding denken, ja dann sind Sie nahe daran, den Schokoladenquader von Ritter-Sport mit der Kaaba von Mekka zu kreuzen und so eine eigene lautliche Studie in A zu schaffen.
Doch A wie Ach: von der Pracht- und Sprachmetaphysik in Abbreviatur nun zur Mitgift, zur Wiege. Tatsächlich bringt Alexander Nitzberg einen Lebenslauf auf die Waage, der zu schön ist für einen Dichter, um wahr zu klingen. Er ist nämlich als ein solcher geboren. In Moskau 1969 war’s, und zwar als Sohn einer rezitierenden Mutter, einer hauptberuflichen Schauspielerin und Rezitatorin, deren Arbeit es war, auf öffentlichen Bühnen in Russland, in der Sowjetunion unter Breschnew, auswendig Gedichte aufzusagen, und dasselbe von allem Anfang an auch in die offenen Ohren des Sohnes. Und es ist nicht nur nicht schwer, sondern so gut wie unvermeidlich, sich den Sohn Alexander als einen lang geübten, einmalig schönen Sprechakt der Mutter Ella vorzustellen. Ein Leben als geordneter Klang.
Doch es kommt noch schöner, und das im Wortsinne: was die schönen Künste angeht eben: Der leibliche Vater ist Bildhauer und Maler und der Stiefvater, der Alexander Nitzberg weitgehend erzieht, ebenfalls. Sowohl die Mutter wie der Stiefvater sind jüdischer Abstammung, der leibliche Vater altgläubiger russisch-orthodoxer Christ, ein Mann mit langem frommem Bart. Die Mutter lässt sich im atheistischen Russland taufen. 1980 emigriert die ganze Familie aus der sowjetischen Diktatur. Die ebenfalls malende Schwester Alexanders ging nach New York, ihr malender Vater mit ihr; die immer schon Deutsch-liebende Mutter Ella ging mit Alexander nach Dortmund erst, dann nach Düsseldorf, wo dieser an der Robert-Schumann-Hochschule Bratsche studierte. Heute schlägt er das Klavichord an zum Vers des alten Edmund Spenser beispielsweise.
Wahnsinn – diese familiäre Kunstdichte!, möchte man ausrufen, oder doch eher, wie Alexander Nitzberg es im Gespräch formulierte: von Kunst vergewaltigt? So oder so – so schlimm kann es nicht gewesen sein. Das sieht man an verschiedenen Phänomenen. An der Poesie Alexander Nitzbergs zweifellos, die so gekonnt gefügt ist und dennoch fließt, dass alle Schwere des Machens leicht in ihr tänzelt. Weil sie so deutlich ist, weil die Souveränität des Machens im lyrischen Gebilde aufgehoben ist: Seht, wie ich reime und raune und rede die Wahrheit über das Gedicht, dass es ganz für sich und eine Welt in der Welt sei. Das sagt er ohne Scham. Alexander Nitzberg ist mutig, ich sagte es bereits, und wenn es sein muss, auch mal dreist:
Bin oft der Große Nasowas,
und nichts an mir ist gewöhnlich,
dann halten die Zeugen Jehovas
mich für Satan persönlich. –
Doch da wir uns nun schon auf dem heiklen Gelände der Lebensgeschichte bewegen, kann ich eine weitere schöne Szene nicht für mich behalten. Vor geraumer Zeit habe ich Alexander Nitzberg und seine Frau Natalia auf der Lindenstraße in Düsseldorf besucht. Die beiden haben zwei Kinder, damals zwei und ein Jahr alt. Die zweijährige Elisabeth öffnete mir die Tür und wollte auf den Arm genommen werden. Dann strahlte sie den Besucher aus größter Nähe an. Und aus dem dunklen Flur kam rezitierend der Vater, erkennbar poetische Worte murmelnd, also Verse auf Russisch, mit leiser, eindringlicher Stimme, vielleicht um sie zu beruhigen auf fremdem Arm. Und ebenfalls murmelnd fiel das Kind in den Singsang ein und rezitierte mit offenem Blick auf den Besucher weiter und weiter.
Und eben dies hatte Mutter Ella mit dem kleinen Alexander getan. Sie hat ihn täglich mit Poesie genährt, mit auswendig gekannter, also inwendiger Poesie, poetry by heart. Und Alexander Nitzberg ist, wie handfestere Helden in Blut, gleicherweise in Poesie gebadet. Er kann unendlich viele Gedichte auswendig, auf Russisch, Deutsch und auch auf Englisch. Aus dem elisabethanischen Englisch hat er kürzlich sämtliche Sonette Edmund Spensers, eines Zeitgenossen Shakespeares, übertragen. Wenn er Rilke zitiert, braucht er nicht nachzuschlagen, neben vielen anderen kann er auch die Sonette an Orpheus, den Gott übrigens seiner eigenen Dichtung, auswendig. Immerhin hat er den Zyklus „Orpheus’ Sonette an Rilke“ verfasst.
Und wenn er den Prozess des Übersetzens beschreibt, dann kann man länger ins Sinnen kommen über die eigenen mnemotechnischen und inspirationsverarbeitenden Kapazitäten. Denn das ungenierte Genie ist auch noch enorm fleißig. Als ich Alexander Nitzberg nach der Übersetzungsarbeit aus dem Renaissance-Englisch fragte, gab er ein Traumbild fast von dem, was auf Erden Arbeit heißen kann. Und sei es auch ein wenig stilisiert, so ist es doch ein Bild von produktivem Tun, an dem der Marx der „Deutschen Ideologie“ ebenso seine Freude hätte wie der Freud der „Topologie des Unbewussten“: Mit seiner Familie verbrachte er die Sommertage am Strand. Er las die Sonette von Edmund Spenser, prägte sich jeweils eines ein und ging schwimmen. Und in den Wellen schaukelnd, formte er oder etwas in ihm vermittelt über Klang und Rhythmus die deutsche Entsprechung.
Und dann, dachte ich, hast du die Fassung gleich aufgeschrieben, nasse sandverklebte Hände, der Stift im Mund der Tochter, das Papier wellig… doch nein, das mit dem Lesen und dem Schwimmen und dem schwimmend neu Erfinden, das ging den ganzen Tag so hin und her, und irgendwann, am Tag danach, oder auch eine Woche später, schrieb er auf, was es in ihm gedichtet hatte.
Tatsächlich hat es etwas Luxuriös-Aristokratisches, solch eine Mitgift von Gedicht und Gedächtnis. Wir haben uns dann auseinandergesetzt darüber, was an dieser Mitgift Gen und was Gehirn sei. Was Speicher und Prozessor, was mütterliche Einflüsterung. Wie dem auch sei – was auf die Welt kommt und sie bereichert, zählt. Und dass ein poetischer Reichtum hier zu finden ist, zu lesen und zu hören in den Gedichten, den Übersetzungen, den literaturgeschichtlichen Beschwörungen. Und dass der zeilenbrechende reimlose Modernismus nicht das alleinige Maß für den Markt sein kann, sondern der alte Formenkanon sein Recht behält, wenn er zündend angewandt wird. Alexander Nitzberg hat als Beleg seiner Traditionsneigung einen Lyrik-Baukasten vorgelegt: mit lauter Regeln und Formen nach dem Motto: Wie geht und was bewirkt der vom Trochäus gefolgte Daktylus? Auch das erfordert Mut, Regeln aufzuschreiben, wo die Zeit einer scheinbaren Regelauflösung huldigt. Doch das gilt nicht. Was gilt, folgt immer der Regel. Und sei es in ihrer Brechung, die zu einer neuen führt. Oder mit Alexander Nitzbergs lyrischem Leierkasten gesagt:
Ich bin vielleicht ein Verwegner,
aber sicher kein Sohn des Bösen,
nur ein unversöhnlicher Gegner
der Serien-Seriösen.
Hubert Winkels, aus Hubert Winkels: Kann man Bücher lieben? Vom Umgang mit neuer Literatur. Kiepenheuer & Witsch Verlag, 2010
Moritz Fehrle im Gespräch mit dem Schriftsteller und Übersetzer Alexander Nitzberg: Man muß Sprache Gewalt antun.
Anne-Cathrine Simon und Eduard Steiner im Gespräch mit Alexander Nitzberg: „Ich übersetze lieber politisch unkorrekt“.
Michael Wurmitzer im Gespräch mit Alexander Nitzberg: „Sprache hat viele Schatzkammern“.
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