Alexej Krutschonych: Phonetik des Theaters

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Alexej Krutschonych: Phonetik des Theaters

Krutschonych-Phonetik des Theaters

DER REBELL

buntar

jɛgo  trrzzzf  tʃus  dtʃuz
vɔ  xɔ  vɔx
tɔ  vɔ  rɔk
nɔ  ʃʃu  radu
jɛn  ʃu
pɛrɔs

 

 

 

Vorwort

Alexej Krutschonych (1886-1968) ist Futurist, ein „Budetljanin“ (Zukünftler) der ersten Stunde und von vielerlei Beruf: Dichter, bildender Künstler, leidenschaftlicher Sammler, außerdem und vor allem aber Spiritus Rector der russischen Lautpoesie, in den 10er Jahren Mitstreiter von Wladimir Majakowski, Welimir Chlebnikow und David Burljuk.
In seinem so genannten Verlag des Autors gab Krutschonych Publikationen in winzigen Auflagen heraus. Diese Publikationen wurden mit Handzeichnungen oder Druckgrafiken von den Malern Kasimir Malewitsch, Olga Rosanowa, Natalia Gontscharowa, Michail Larionow und vielen anderen illustriert. Von 1910 bis 1930 gab er 140 Knishki heraus.
Er gilt damit als Erfinder des Künstlerbuches und ist ein Urahne dessen, was zwei Jahrzehnte später Samisdat (Selbstverlag) getauft wurde. (Übrigens von Nikolaj Glaskow, einem Dichter aus Krutschonychs Freundeskreis.)
Aus dieser Haltung des futuristischen Engagements kritisiert er im vorliegenden Werk die verkrüppelte Sprache des Theaters und schlägt eine neue Sprache der Poesie, die SaUm vor, die mit dem großen Stummfilm das gleiche Tempo hält oder sogar noch rascher sein kann. Die neue Sprache einem neuen Theater! In seinen Beispieltexten findet sich der schlaue Unsinn mit dem Klang für immer vermählt.
Vom Buch gab es insgesamt zwei Ausgaben in den Jahren 1923 und 1925.
Diese konnte man aber nicht einfach ausleihen, weil sie seit der Stalinzeit bis 1988 im Giftschrank (Спецxpaн) der sowjetischen Büchereien aufbewahrt wurden.
So konnte 2001 zwar in Sankt Petersburg auch eine akademische Ausgabe von Alexej Krutschonych mit ausgewählten Werken erscheinen, die Phonetik des Theaters wurde allerdings als einziges seiner Bücher ausgespart, lediglich einige sa-umnische Gedichte haben es isoliert in diese Ausgabe geschafft.
Auch ich war aufgrund von dessen schlechter Zugänglichkeit zu Ostzeiten lange auf der Suche nach diesem Werk, bis ein Freund in der damaligen Sowjetunion mir Negativbilder des ganzen Buches schickte.
Schon vor über 25 Jahren konnte Krutschonychs Phonetik des Theaters so zum ersten Mal auf Deutsch erscheinen. Damals lebte ich in Ostberlin (wo ich auch heute lebe) und stand im Briefwechsel mit dem Slawisten Dr. Peter Stobbe aus Freiburg (den ich persönlich nie kennen gelernt habe). Auf seine Anregung hin wurde der Text übertragen.
Meine Hoffnung war, dass Dr. Peter Stobbe ihn als eigenständiges Buch herausgibt. Stattdessen bekam ich nach einer Zeit von ihm eine Kassette mit drei eingebundenen Heften. Nicht gleich konnte ich meine Übersetzung darin finden, die zwischen zwei Spalten eingeklemmt war. Außerdem war der Text unvollständig: Nicht alle Gedichte von Krutschonych fanden sich im Druck wieder. Die kaum erschwingliche Ausgabe trug den irreführenden Titel Alexej Krutschonych Peter Stobbe Als Hund wir.
Aus diesen Gründen habe ich beschlossen, meine Übersetzung des Buches (mit meinem Vortrag von 1986 und einem Nachwort) neu herauszugeben. Neben der vorliegenden wohlfeilen Ausgabe erschien 2010 auch ein Künstlerbuch mit beiliegender CD im Hybriden-Verlag, Berlin.
In diesen beiden Ausgaben wird auch das in der alten Ausgabe noch nicht in Angriff genommene Problem der Übersetzbarkeit der Beispieltexte in Angriff genommen.
Die Textkompositionen von Alexej Krutschonych, Igor Terentjew und Iljazd (Ilja Sdanewitsch) sind weder in die russische noch in eine andere Sprache zu übersetzen. Nachdichten kann man sie ebenfalls nicht. Man kann sie nur laut lesen. Dann funktioniert der Text und man spürt es am eigenen Leibe, oder am Hirn: – es pulsiert.
Ersetzt man die russischen Buchstaben durch die lateinischen, werden sie sofort ihre Funktionalitäten verlieren und andere Assoziationen hervorrufen. Am Beispiel des Wortes CTИX: das russische Wort hat zwei Bedeutungen – Vers oder ich / er / es beruhigte sich. Schreibt man dieses Wort mit lateinischen Buchstaben, liest man stich.
Darum habe ich die sa-umnischen Gedichte im Original belassen.
In dieser Ausgabe finden sich die Texte allerdings in die internationale Lautschrift übertragen. So gehen zwar inhaltliche Anspielungen des Originals verloren, es kommen auf der anderen Seite aber wenigstens keine irreführenden Verweise aus dem Assoziationsraum der lateinischen Umschrift dazu. Der des Russischen unkundige Leser kann sich das Klangbild des Originals mit weit größerer Zuverlässigkeit erschließen, als mit dem Notbehelf der lateinischen Transkription.

Valeri Scherstjanoi, Vorwort, Februar/März 2010

 

Die Phonetik des Theaters

fundiert das Konzept der futuristischen Kunstsprache Sa-um theoretisch. Gleichzeitig versteht sich der Text als Handbuch und Beispielsammlung für den Sa-um Praktiker. Übersetzt, kommentiert und eingeleitet wurde der Text von Valeri Scherstjanoi dem „letzte(n) Futurist(en)“. (Michael Lentz)

„Der ganze Futurismus wäre ein unnötiges Unternehmen, wäre er nicht zur sa-umnischen Sprache gekommen… Die Gedichte sollen nicht den Frauen ähneln, sondern einer fressenden Säge. Das ist sie, die Verpflichtung, die der erste sa-umnische Dichter Krutschonych auf sich nahm… Statt einer erschöpften Dichtung der Sinnesassoziationen wird hier eine Phono – Logik angeboten, unerschütterlich wie ein Espenpfahl… Denn der Unsinn ist der einzige Hebel der Schönheit, der Feuerhaken des Schöpfertums… Nur der Unsinn gibt der Zukunft den Inhalt“.
Igor Terentjew

Verlag Reinecke & Voß, Klappentext, 2011

 

Phonetik des Theaters:

− Der Versuch, Krutschonych und die Sa-um-Sprache zu verstehen. −

Eine große Klappe hatten sie alle, die Dichter des russischen Futurismus. Hemdsärmelig stecken sie in ihren eigenen Texten. Sie schrieben keine Essays. Sie schrieben Manifeste. Und nichts war ihnen selbstverständlicher, als die ganze Welt umzustürzen. Nicht nur die russische. Einer von ihnen kommt in fast jeder Textsammlung zur russischen Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts vor: Alexej Krutschonych.
Nur einen Text von ihm findet man selten. Nur das Lob von allen Seiten. Mit Majakowski und Chlebnikow war er 1912 am Manifest des russischen Futurismus beteiligt: „Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack“. Die Ohrfeige saß bekanntlich. In den nächsten 15 Jahren ging in der russischen Lyrik die Post ab. Den Revolutionston von 1917 musste Majakowski gar nicht erst erfinden. Den hatte er schon vorher drauf: der Halbstarke der Revolution. Jeder Text wie eine geschmetterte Rede von der Bühne oder vom Panzerwagen – breitbeinig sieht man den Mann vor sich stehen, die Ärmel hochgekrempelt, herausfordernd. Der Anspruch: das Gedicht für ein Publikum, das mit Gedichten sonst eigentlich nichts zu tun hat – Arbeiter, Soldaten, Bauern. Viele davon: Analphabeten.
Logisch, dass so eine Art Lyrik-Verständnis neue Techniken braucht, eine andere Sprache.
Die Experimente mit der Sprache gehören zum Grundbestand des Futurismus. Und der 1886 geborene Alexej Krutschonych hat dafür die radikalsten Ansätze entwickelt. Auch 1912 erschien sein erster Text in der Kunstsprache, die er dafür gemeinsam mit Chlebnikow geschaffen hat: Sa-um. Manchmal auch als Zaum übersetzt. Aber da gehen die Probleme schon los: sa-um ist eigentlich nicht übersetzbar.
Das merkt auch Valeri Scherstjanoi an, der sich seit Jahrzehnten mit Krutschonych beschäftigt und auch seinen Text Phonetik des Theaters ins Deutsche übersetzt hat. Chlebnikow verwendet nur da und dort Sa-um-Elemente. Er verzichtet nicht völlig auf die russische Normalsprache. Krutschonych ist radikal. Wie sein Anspruch: „Saum ist eine neue Kunst, gegeben vom neuen Russland der ganzen erstaunten und verwirrten Welt“, schreibt er in einem Text über die Herkunft der Saumniki.
Eine überall verständliche Sprache also, die auf das Wesentlich zurückgeht. Oder es ausgräbt. Oder es neu schafft. „Die sa-umnische Sprache aber ist ein Stoss, sie durchstößt den glitschigen Nabel der Welt und schneidet die sauren Warzen des Alltags ab!“, schrieb er 1923 in seiner Phonetik des Theaters, im Grunde eine Handlungsanweisung für Schauspieler, wie man mit Sa-um auf der Bühne umgehen müsse. Es gab auch ganze Dramen in der Sa-um-Sprache. Die vorliegende Übersetzung beruht auf der 2. Auflage der Schrift von 1925, ausgegraben aus einem Archiv. Denn zu den gepflegten Klassikern der Sowjetliteratur gehörte Krutschonych natürlich nicht. Wie so viele von denen, die in den 1920er Jahren die Literatur des Riesenlandes zum Brodeln brachten. Bis 1930, als sich Majakowski erschoss. Bekanntlich ja nicht grundlos. Im selben Jahr stellte Krutschonych – der bis dahin im Selbstverlag 140 kleine Büchlein, Knischni, herausgegeben hatte – seine literarische Arbeit komplett ein. Er galt fortan als Unikum, als belächelter Sammler und Bibliophile. Und überlebte so den Stalinismus.
Seine Phonetik des Theaters ist gespickt mit Sa-um-Textbeispielen. Scherstjanoi behilft sich damit, dass er die Texte nicht übersetzt, sondern in die internationale Lautschrift transkribiert. Für all jene, die keine kyrillischen Buchstaben lesen können. Die Schwierigkeiten beim Lesen bleiben, denn Sa-um baut – auch wenn Krutschonych ins Internationale zielte – eben doch auf der russischen Sprache auf, ihren Wortwurzeln und Anklängen. Er nutzt diese Sprachbausteine, um Bilder aus diesem Urmaterial zu bauen – Bilder, die eigentlich erst beim gesprochenen Vortrag greifbar werden: das ratternde Maschinengewehr, das dröhnende Luftschiff oder das Gestammel des erschreckten Spießers. Gern spielt er mit den Assoziationen der Worte, lässt sie changieren und malt so ein Bild – etwa vom gewaltigen Dröhnen des Kaukasuses. Dem deutschen Leser sind hier Grenzen gesetzt, denn die Assoziationen in der russischen Sprache sind natürlich andere als sie jemand im Deutschen hätte.
Einen Versuch wäre es wert – aber der Übersetzer müsste natürlich hochbegnadet sein. Und Vieles neu schaffen. Er müsste in beiden Sprachen wie zu Hause sein.
„Kserks! Izir! Gar tschigar schgar – tjotsch ijgar. Tschintschignar Edolgar Obelgar…“ – Das klingt nach etwas. Da ahnt man Zitate, Bruchstücke, Alliterationen. Doch Vieles funktioniert nur, wenn man die russischen Sinn-Anklänge mitliest. Natürlich hat sich Krutschonych geirrt. Seine Sa-um-Sprache sprengt keine Sprach- und Ländergrenzen. Sie ist so russisch wie das Russische selbst.
Aber mit der Phonetik des Theaters ist jetzt zumindest die kleine Textsammlung verfügbar, die auch dem deutschen Leser nahe bringt, was Sa-um eigentlich war – und vielleicht auch ist. Denn so viel erfährt man ja nicht mehr über moderne russische Lyrik. Das Land ist mittlerweile so fern, wie es das ganze 20. Jahrhundert lang nicht war.

Ralf Julke, Leipziger Internet Zeitung, 19.5.2011

dyr-bul-schtschil

− Das Sa-umnische als sozialer Dialekt der russischen Futuristen. −

Vor 99 Jahren veröffentlichten Dawid Burljuk, Welimir Chlebnikow, Alexej Krutschonych und Wladimir Majakowski „Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack“, das Manifest des russischen Futurismus. Passend dazu ist im Leipziger Verlag Reinecke & Voß unlängst die Neuveröffentlichung der Phonetik des Theaters erschienen, eine Textsammlung mit Aufsätzen und Gedichten von Alexej Krutschonych und seinen Mitstreitern. Das Buch, übersetzt und herausgegeben von Valeri Scherstjanoi, ist gedruckt nach der 2. Ausgabe, die 1925 im Moskauer Verlag des Allrussischen Dichterverbandes aufgelegt wurde. Die Gedichte im Buch sind in russischer Schrift und in internationaler Lautschrift abgedruckt, weil der Herausgeber sie als unübersetzbar bezeichnet.
Alexej Krutschonych, dessen Biographie – nach Scherstjanoi – die Biographie des russischen Futurismus ist, lebte von 1886 bis 1968. Er war Dichter, Zeichner, Sammler und Herausgeber von 140 Künstlerbüchern, als deren Erfinder er gilt, und damit Urvater des späteren Samisdat. Sein Konzept einer neuen, freien Sprache, die es ermöglicht, sich unumschränkt auszudrücken, war ein Gegenentwurf zu der herkömmlichen Sprache, die in Abstraktion, Rationalität und Tradition verharrte. Deshalb ist es nicht erstaunlich, daß Krutschonych von „Vergangenheitlern“ und anderen Repräsentanten des konservativen Kunstbetriebes als „komische Figur, die Gereiztheit auslöst“ angesehen wurde.
Die Phonetik des Theaters, die ab der Stalin-Ära bis 1988 ihr Dasein in den Giftschränken der sowjetischen Büchereien fristete, liefert die Begründung der futuristischen Kunstsprache Sa-um, einer „neuen sozialen Sprache“, die für eine „Hygiene des Halses“ sorgen sollte. Im Dezember 1912 verfaßte Krutschonych das erste regelrecht sa-umnische Gedicht:

dyr-bul-schtschil
ubeschtschur
skum
wy sso bu
r l äs

Der soziale Dialekt Sa-um war die Ausrufung einer neuen Sprachpraxis. Nicht die Bedeutung der Worte, allein ihr Lautbild, der Klang zählte: „Ausdruck von Begeisterung!“, „Rebellion, Gewitter, Wirbel, Kampf, Skandal, Brand…“ – „Die Gedichte sollen nicht den Frauen ähneln, sondern einer fressenden Säge.“ Krutschonychs Gedichte tragen Titel wie „Kriegsruf“, „Die feuchte Scham“ oder „Das Gedröhn des Kaukasus“. Die Phonetik des Sa-umnischen ist keine Laut nachahmende; sie baut auf eigenständige und unerwartete Lautverbindungen.
Krutschonych, der nach seiner Aussage „vergessen hatte, sich aufzuhängen“, zog sich 1930, nach dem Freitod von Wladimir Majakowski, aus allen literarischen Tätigkeiten zurück. Seiner Poesie blieb er allerdings treu. Mit der von ihm deklarierten sa-umnischen Sprache war er der Mitbegründer einer „Phono-Logik“, die den Unsinn als den „einzigen Hebel der Schönheit“, den „Feuerhaken des Schöpfertums“ ansah. Denn: „Nur der Unsinn gibt der Zukunft den Inhalt.“

Kai Pohl, junge Welt, 6.9.2011

 

Krutschonych

Krutschonych (Welimir Chlebnikow 1921)

Kleines, Londoner Gespenst,
Jüngling von 30 Jahren mit Stehkragen,
Schneidend, übermütig und wendig,
Bleicher Bewohner der grauen Steine
Geklebt an den Sibirienruf: „tschonych“
Du fängst flink fremdes Denken,
Bringst es zu Ende, wie zum Selbstmord.
Dein Engliesengesicht eines Leibeigenen,
Deiner Geschäftsbücher.
Müde vom Buch.
Du, Listiger Herausgeber der Schandschriften,
Unrasiert, ungenau, tückisch.
Aber – die Fräuleinsaugen.
Manchmal bist du voll Zärtlichkeit.
Das große Klatschmaul und Schelm,
Verehrer des eigenen Nutzens.
Sie sind ein bezaubernder Schriftsteller,
Burljuks verneinender Zwilling.

Alexej Jelissejewitsch Krutschonych! Seine Biografie ist die Biografie des russischen Futurismus. Er ging in die Geschichte der russischen Avantgarde als Begründer und Schöpfer der Saum’-Sprache in der Poesie ein. Saum’ bedeutet auf den ersten Blick nichts weiter als Unsinn, Quatsch. Wer sich aber mit der Geschichte des russischen Futurismus beschäftigt, stellt fest, dass Saum’, ein Substantiv weiblichen Geschlechts, eine willkürlich geschaffene Poesiesprache ist.

Die Aussagen der Zeitgenossen und Mitkämpfer Boris Kuschner:

Die Sorge darum, dass man der Sprache eine besondere Sprache geben muss, einen besonderen Dialekt, einen ihr einzig eigenen, bewegte die Futuristen dazu, sich mit der Ausarbeitung der saumnischen Sprache, der Sprache von gellenden, kurzen und schrillen Signalen, der Sprache maximaler Rentabilität zu beschäftigen.

Igor Terentjew:

Der ganze Futurismus wäre ein unnötiges Unternehmen, wäre er nicht zur saumnischen Sprache gekommen, die die einzige für die Dichter des Mirskonza (Die WeltVomEndeAn) ist. Mit schallender Stimme, wie der Hals – Tscherwonez eines Shakespeare-Vagabunden wurden die ersten Budetljane-Worte rausgeschmissen:

Dyr bul schtschyr
Wsorwal!
Wssrrrwww!!!
Gly-hly wygly
Tschagadubija!

Betonstark sind diese Worte. Hier sprach die russische Poesie erstmals mit der Stimme eines Mannes und statt der weiblichen Endungen ,-jennych, -énnych‘ stieß dieser Kehlkopf den Laut Gyl-gyl-gylgyl! aus.

„Die Maler-Budetljane benutzen gerne Körperteile, Querschnitte, und die Budetljane-Wortschöpfer entzweigehauene Wörter, Halbworte und deren verwunderliche listige Verbindungen (saumnische Sprache), dadurch wird größte Ausdruckskraft erreicht, und darin gerade unterscheidet sich die Sprache der ungestümen Gegenwart, die die alte erstarrte Sprache vernichtet hat“, manifestierten Alexej Krutschonych und Welimir Chlebnikow 1913 in „Über Kunstwerke“. Das Verdienst Krutschonychs und anderer Saumniki besteht darin, dass sie den Begriff „Saum’“ in das Experimentierfeld der russischen Poesie überführten, wo er Wurzeln geschlagen hat. Man erwähnt bis heute in der sowjetischen Literatur- und Kunstwissenschaft und in den zahlreichen Lehrbüchern für Philologiestudenten den Terminus grafitschesskaja i swukowaja saum (graphische und phonetische Saum’). „Wir haben begonnen, den Wörtern Inhalt nach ihrer grafischen und phonetischen Charakteristik zu geben“, hieß es im futuristischen Manifest Sadok sudej (Richterteich).
Die ersten Budetljane-Schriften entstanden bei Welimir Chlebnikow und Wassily Kamenski bereits um 1908, aber die saumnische phonetische Poesie befand sich noch in einem embryonalen Zustand. Erst im Dezember 1912 erfand Krutschonych sein Dyr bul schtschyl-Gedicht. 1916 verschob sich das saumnische Zentrum in den Süden Russlands. In Tiflis wurde die Gruppe 41° gegründet. „Die hitzigsten Saumniki neben Krutschonych, dem Geißler des Wortes, waren Igor Terentjew und Iljazd (Ilja Sdanewitsch).“
Die Gruppe umfasste u.a. Kyrill Sdanewitsch, Wassili Kamenski, Tatjana Wetschorka und Welimir Chlebnikow. 1921 erschien Krutschonychs Deklaration der saumnischen Sprache in der Form eines poetischen Flugblattes. Darin hieß es u.a.

Gedanke und Rede reichen an das Erleben der Inspiration nicht heran. Daher drängt es den Künstler, sich nicht allein durch die allgemeine Sprache (Begriffe) auszudrücken, sondern auch durch die persönliche (individueller Schöpfer) und durch die Sprache, die keine genaue Zeichen-Bedeutung besitzt (nicht erstarrt ist): die saumnische. Die allgemeine Sprache bindet, die freie ermöglicht, sich unumschränkt auszudrücken. (Beispiel: Go osneg kajd usw.) Saum’ weckt und befreit die schöpferische Phantasie, verletzt sie nicht mit Konkretem. Unter der Bedeutung schrumpft das Wort, krümmt sich, versteinert; Saum’ dagegen – wild, flammend, explosiv (wildes Paradies, feurige Zungen, auflodernde Kohle). Saumnische Schöpfungen vermögen eine universale poetische Sprache zu geben, organisch geboren und nicht künstlich erzeugt, wie Esperanto. Baku – 1921

Alexej Krutschonych war nicht nur ein saumnischer Dichter, sondern auch professioneller Graphiker und Herausgeber futuristischer Knishki (Büchlein) sowie der Verfasser der ersten literarischen Arbeit über Majakowskis Dichtung.
Geboren am 9. Februar 1886 in einer Bauernfamilie, im Dorf Olewka, Gouvernement Cherson, in der Ukraine, studierte Krutschonych an der Kunstschule in Odessa von 1902 bis 1906. Er bekam nach dem Abschluss den Titel eines Diplom-Lehrers für graphische Künste verliehen. Während des Studiums traf er David Burljuk, den zukünftigen „Vater des russischen Futurismus“. (Die „Mutter des russischen Futurismus“ war Wassily Kamenski und Majakowski war der Sohn. Wer war Krutschonych? Er war Inselbewohner.) Doch was für eine Zeit war das! Es waren die Jahre nach der Niederlage der ersten Russischen Revolution (1905-1907), dem kulturellen Verfall des Symbolismus, der Dekadenz. So schrieb Krutschonych in seinen Erinnerungen:

Bekanntlich waren die Jahre von 1907–09 eine Zeit der Reaktion. Im kulturellen Bereich herrschte Finsternis. In der Kunst erlebten mystisch-sexuelle Fragen eine Blüte, (…) die Mauer der Verzweiflung von L. Andrejew, die gefüllten Krinolinen und Fliegen von Kusmin, die Totenzauber von Sologub. Begleitet vom langsamen Wellenschlag des Balmontismus, vom näselnden Ton eines Laien des Pseudo-Apollos.

Philosophie des Abgrunds, Gottsucherei und provinzielle Nietzsche-Anhängerei.
Dagegen kämpften die Budetljane. Die Bekanntschaft mit David Burljuk, der zu Wassily Kandinsky, Franz Marc, Marianne von Werefkin, Alfred Kubin, Alexej von Jawlensky, Gabriele Münter und den anderen deutschen Expressionisten Kontakte pflegte, beeinflusste Krutschonychs schöpferischen Lebensweg. 1912 wurde er über Burljuk mit Majakowski, Chlebnikow, Kulbin, Larionow und Gontscharowa bekannt gemacht. In dieses Jahr der endgültigen Konsolidierung des russischen Futurismus fällt auch die Herausgabe der ersten handgeschriebenen Knishki. In Ermangelung bereitwilliger Verleger griffen die Budetljane zur Selbsthilfe, und publizierten ihre Werke handgeschrieben, handkoloriert, vervielfältigt als Originalgraphiken, meist durch lithographische Verfahren. Mit David Burljuk, Wladimir Majakowski, Lewkij Shewershejew, Nikolai Kulbin wurde Krutschonych zu einem der Organisatoren der futuristischen Treffen in Moskau und Petersburg.
1913 arbeitete Krutschonych als Zeichenlehrer in Smolensk, 1914 war er technischer Zeichner in einer Militäreisenbahnverwaltung in Tiflis. „Wegen meiner  o f f e n e n  futuristischen Auftritte bot mir die Direktion an, in den Ruhestand zu treten, und zwar aus familiären Gründen.“ Im Jahre 1915 war er Kunsterzieher in einem Frauengymnasium der Stadt Batalpaschinsk im Süden Russlands. Auch in der russischen Provinz wirkte der Futurismus wie eine Bombe. 1913 entstand Krutschonychs Libretto zur Oper Sieg über die Sonne und bald fand deren Inszenierung im Petersburger Luna-Park statt. Matjuschin schrieb die Musik, Kasimir Malewitsch entwarf die suprematistische Bühne, Welimir Chlebnikow schrieb einen Prolog. Der Titel der Oper Sieg über die Sonne war gegen den Titel des Gedichtbandes von Konstantin Balmont Budem kak solnze (Lasst uns wie die Sonne strahlen) gerichtet. Diese „symbolistische“ Sonne wurde für Krutschonych und die anderen Budetljane zur Zielscheibe, das „Schwarze Quadrat“ von Malewitsch hingegen die neue Quelle der Energie und des Schöpfertums. Krutschonychs saumnische Poesie entsprach in ihrer Zielsetzung den Manifesten des russischen Kubofuturismus, vor allem dem Manifest „Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack“.
Krutschonych: „Bei den Schriftstellern vor uns war die Instrumentierung eine ganz andere, z.B.:

Po nebu polunotschi angel letel
I tichuju pesnju on pel…

(Im Mitternachtshimmel flog ein Engel
Und er sang ein leises Lied
)

Hier gibt ein blutarmobdachloses Pe-pe-pe die Verzierung ab. Wie die Bilder, die mit Milch- und Mehlbrei gemalt sind, befriedigen uns auch keine Gedichte, die auf
pa-pa-pa
pi-pi-pi
ti-ti-ti
aufbauen. Ein gesunder Mensch kriegt von solcher Nahrung nur Bauchschmerzen. Wir haben ein Beispiel für andere Laut- und Wortverbindungen gegeben:
dyr-bul-schtschyl
ubeschtschur
skum
wy sso bu
r l äs

(übrigens in diesem Fünfzeiler steckt mehr an russischer Nationalität als in der gesamten Lyrik Puschkins.)

Krutschonych:

Rülpser.
Wie ein Gänserich, den Brei voll gefressen
Penne ich.
Die dumme Gans, die Mascha daneben,
mit ihrer rot angelaufenen Fresse
flüstert sie mir was von der Liebe.

In den 20er Jahren war Krutschonych Mitglied der LEF-Redaktion, in der LEF-Zeitschrift erschienen seine Gedichte, einige poetische Abende mit ihm wurden organisiert. Majakowski war sein Schutzpatron. Es war die Blütezeit für Krutschonychs Tätigkeit als Verleger von über hundert Büchlein. Mitte der 20er Jahre spitzte sich die Konfrontation zwischen der Saum’-Sprache und ihrer Rolle in der Gesellschaft zu. In Krutschonychs Buch Fonetika teatra (Phonetik des Theaters), das 1923 erschien, versuchte Boris Kuschner, eines der Mitglieder der Linken Front der Künste, Krutschonychs Saum’ im Vorwort zu dieser Ausgabe zu verteidigen, indem er die Saum’-Sprache als einen neuen „sozialen Dialekt“ bezeichnete und sagte:

Die abgenutzte und ausgelaugte Agitationstechnik, die in der Praxis unserer Revolution zu einer allbekannten Sache wurde, braucht Erneuerung, neue Verfahren. Die saumnische Sprache drängt sich von selbst auf, eine neue Agitationsmethode zu werden.
Auf solche Weise haben wir mit der
saumnischen Sprache der Futuristen kein formales poetisches Verfahren vor uns, sondern eine Entlarvung und eine vorausgegebene Entwicklung des sprachlichen Dialekts im sozialen Querschnitt. (…) Die saumnische Sprache siegt und wird siegen als ein sozialer Dialekt.

Anfang der 30er Jahre beendete Krutschonych seine Tätigkeit als Herausgeber, er schrieb kaum noch Gedichte und wurde Sammler, bibliophiler Fanatiker, in den zahlreichen Memoiren der Zeitgenossen als verschrobener Kauz bezeichnet.
Alexej Krutschonych besuchte oft die Künstlerwerkstätte von WCHUTEMAS (Die Höheren Künstlerischen Werkstätten), er war mit Alexander Rodtschenko, Warwara Stepanowa, Gustav Kluzis, EI Lissitzky, Nikolai Assejew befreundet. Walentin Katajew erinnerte sich:

Im Wchutemas-Hof. (…) Neben ihm (Chlebnikow – V. S.) nistete lewejschij is lewych (der Linkste von den Linken), der unverständlichste von allen russischen Futuristen, (…) der Verfasser der legendären Strophe Dyr-bul-schtschyl. Er ernährte sich von Brei und bewirtete damit gerne seine hungernden Mitgenossen. (…) Er betrieb An- und Verkauf von Büchern, spielte Karten, sammelte Autogramme von unbekannten Autoren in der Hoffnung, dass sie einmal berühmt würden, er erschien unerwartet in den Wohnungen von Bekannten und Unbekannten, die mit Kunst zu tun hatten. Dort trug er mit schrillendem Kindergeschrei Gedichte vor, währenddessen er tänzelte und Rapierausfälle machte. Er war vollgeladen mit einem gewissen verneinenden Ton des Antipoetismus, manchmal mit einem stärkeren als die Ladung der allgemeingültigen Poesie.

Der Dichter Nikolaj Assejew war wohl der einzige, der versuchte, Mitte der 30er Jahre Krutschonych und seine Poesie in Schutz zu nehmen. Davon zeugen die bisher unveröffentlichten biografischen Materialien über die Zeit seiner Arbeit am Poem „Majakowski natschinajetsja“ („Majakowskis Beginn“). Am 8. Dezember 1936 sprach Assejew öffentlich über sein Poem. Man warf ihm vor, er erwähne im Kapitel „Otzy i deti“ („Väter und Söhne“) Krutschonychs dichterische Tätigkeit. Assejew:

Vortrefflich ist es, wenn Genosse Sacharow sagt, dass Krutschonych die Gesellschaft sprengt. Bei Krutschonych bildete sich ein Reflex heraus und er blieb ein Einzelgänger mit diesem Reflex. Ich bin davon überzeugt, dass Sie, wenn man Krutschonych richtig darstellt, einen wunderbaren Wortmeister, einen besonderen Kenner sehen werden. Und die jungen Burschen spucken darauf. Man muss aber die Sprachwissenschaft und die Lautstrukturen eines Verses begreifen. Sie sind der Meinung, Krutschonych ist irgendein Gauner. Warum stelle ich seine Figur in meinem Poem dar? Weil man Krutschonychs Einfluss auf Majakowski in Betracht ziehen muss. Es stimmt, dass Krutschonych eine komische Figur ist, die Gereiztheit auslöst. Dann urteilt über ihn, zum Teufel. (…) Wir sind den kapriziösen Kindern ähnlich, wir werfen ihn wie ein Spielzeug zur Seite. Es stellt sich heraus, dass ein stolzer Mensch, ein Mann von großem Geschmack und ein Poesiekenner unbeachtet an der Seite steht.

Bereits seit 1912 haben sich bei Krutschonych zeitgenössische Bücher und Manuskripte massenweise angesammelt. Bis zu seinem Tod im Jahre 1968 blieb Alexej Krutschonych ein leidenschaftlicher Sammler. Krutschonych war häufiger Gast in den Häusern der Schriftsteller in Moskau. Oft konnte man ihn in Peredelkino, der Schriftstellersiedlung bei Moskau sehen. Im Kreise der Freunde, während der eifrigen Streitgespräche, vergaß Krutschonych nie seine alte Aktentasche, in der Handschriften, Fotos, Zeichnungen usw. verschwanden. In mehr als 40 Jahren des unermüdlichen Suchens schuf Krutschonych eine große und wertvolle Kollektion. Wer war da nicht vertreten! Juri Tynjanow, Konstantin Simonow, Dmitry Schostakowitsch, Pablo Neruda, Jean-Richard Bloch, Johannes R. Becher, Sergej Konnenkow u.a. Der gesamte Umfang der Alben z.B. über Pasternak beläuft sich auf mehr als 1000 Blätter, 18 Alben über Zwetajewa, mehr als 600 Blätter Chlebnikows Manuskripte. Im Moskauer ZGALI (Zentralarchiv für Literatur und Kunst) werden mehr als hundert von Krutschonychs Alben aufbewahrt. Alexej Krutschonych starb 1968 in Moskau, wo er fast sein ganzes langes Leben gelebt hatte. Ja, er wurde zum Bibliophilen, aber er gab seine Poesie nie auf.

Valeri Scherstjanoi, aus: Valeri Scherstjanoi: Mein Futurismus, Matthes & Seitz, 2011

Zwei russische Dichter des Futurismus

− Valeri Scherstjanoi und Alexei Jelissejewitsch Krutschonych. −

Der Futurismus war für Valeri Scherstjanoi von Anfang an ein Lebensmittel und ein Mittel des Widerstands. Jelissejewitsch Krutschonych lieferte mit Phonetik des Theaters, eine Collage aus futuristischen Lautgedichten und theoretischen Texten zu ihrer Begründung. Zwei Rezensionen.

„Ich sage mein Futurismus, wie ich mein Leben sagen kann.“ Bereits der erste Satz in Scherstjanois Buch macht deutlich, was von ihm zu erwarten ist: Keine grundlegend neue Erkenntnisse über den Futurismus, sondern ein anderer und höchst subjektiver Umgang mit ihm, geprägt von einer Lebensgeschichte, die sich in zwei gleich lange Kapitel aufteilt: dreißig Jahre Russland und dreißig Jahre Deutschland. Angefangen hat diese Verknüpfung von Futurismus und Leben im Alter von achtzehn Jahren und mit Majakowski. Die Legende vom großen proletarischen Schriftsteller, der sich gegen diese Zuschreibung nicht mehr wehren konnte, war schnell zerstört.

In der Bibliothek habe ich mir seine gesammelten Werke geliehen und dort habe ich dieses Gedicht gefunden, das wir in der Schule auswendig lernen mussten. Dann habe ich noch ein Gedicht entdeckt, das hieß „Mit voller Stimme“, und es war das letzte Gedicht von Majakowski, die Einleitung zu einem großen Poem, das er nicht geschrieben hat, weil einige Monate danach hat er sich erschossen. Und in diesem Gedicht, diesem letzten Gedicht, das ich in der Schule 1968 vortrug, wurde ich von seinen offenen Worten überrascht. In diesem Text, wo er sich an die Menschen der Zukunft wendet, da fehlte ein Reim. (rezitiert auf Russisch) In dem russischen Buch, da waren Auslassungspunkte. Warum? Jetzt lese ich es auf Deutsch, was fehlte im sowjetischen Buch: „Durchwühlt ihr einst der Jetztzeit Kot-Petrefakt.“ Also auf Russisch heißt das einfach Scheiße. Und dann dachte ich, wieso schreibt der große revolutionäre Dichter, dass die Zeit Scheiße war? Und warum bringt sich der große proletarische Dichter ums Leben?

Der Futurismus war für Scherstjanoi von Anfang an ein Lebensmittel und ein Mittel des Widerstands. Ein Klang, der die Geräusche der Straße in sich aufnahm und schon deshalb verknüpft ist mit einem Leben, das nicht trennen kann zwischen den Wonnen der Poesie und den Zumutungen, denen die Poeten genau so ausgesetzt sind wie alle anderen. Alles geschieht gleichzeitig.

Alles ist da. Und Poesie und Lyrik, Liebesgedichte und die grausame Politik, und dann dazu noch das Schicksal meiner Mutter. Eine Frau, die aus Litauen stammt, und genau vor 70 Jahren, nur weil ihr Vater deutscher Abstammung war, ihre Mutter litauischer, und nur wegen ihres deutschen Vaters musste sie ihre litauische Heimat verlassen und dann abtransportiert nach Kasachstan.

Dort ist Scherstjanoi aufgewachsen und von dort aus ist er, mit deutscher Ehefrau, in die DDR gekommen, mit seinem Futurismus im Gepäck.

Die Sowjets sind in Afghanistan einmarschiert und um die gleiche Zeit, das war im November 1979, bin ich nach Ostberlin einmarschiert. Ich wusste gar nicht, ich bin ausgebildeter Germanist, was mache ich in der DDR? Da ich mich schon damals fleißig mit Majakowski und Chlebnikov beschäftigte, wusste schon mehr vom Futurismus, habe ich zu mir gesagt und später meinem großen Freund Carlfriedrich Claus, ich will den Deutschen in der DDR über Majakowski, über den russischen Futurismus erzählen. Ich kam damals ins Erzgebirge nach Sachsen und nach zwei Monaten hatte ich schon meinen ersten Vortrag in der Galerie Oben in Karl-Marx-Stadt. Nach dem Vortrag habe ich dann ein russisches Gedicht vorgetragen. Damals schrieb ich Gedichte auf Russisch. Und die Leute, die nichts verstanden haben, haben dieser Rezitation begeistert zugehört. Dann dachte ich, es geht doch um die Form. Man kann so gut vortragen, dass die Leute, die diese Sprache nicht verstehen, zuhören. Das war der Anfang in Richtung Lautpoesie.

Mein Futurismus ist das bisher umfangreichste Buch Scherstjanois. Es trägt verstreut publizierte Texte zusammen und ergänzt sie, zum Beispiel durch die autobiografische Skizze „30 Jahre Deutschland“, und rundet sie ab mit seinen scribentischen Zeichnungen. Diese verweisen direkt auf seine lautpoetische Vortragskunst, denn sie sind auch Notationen, die allerdings nur ihr Urheber versteht und die sich im Vortrag ständig verändern.

Im Zustand der Begeisterung, entweder mache ich Tonbandaufnahmen oder ich schreibe schnell in dieser scribentischen Sprache, die ich dann jederzeit ins Russische oder ins Deutsche übertragen kann. Jedes Zeichen hat in erster Linie mit Artikulation zu tun. Ich sehe ein Zeichen, ich weiß das ist [liest das Zeichen: dlll] Es ist ein Chaos. Wie ich das lese, von links nach rechts, von rechts nach links, da ist egal. Was ich jetzt vorgetragen habe, das ist auch nur eine einmalige Sache.

Die scribentischen Notationen wären vermutlich ohne die Anregung durch die Sprachblätter von Carlfriedrich Claus nicht entstanden und doch haben sie eine völlig andere Funktion. Sie verweisen nicht auf Gedankenwelten, sondern auf den spontanen Akt der Artikulation. Ähnlich verfährt er mit den historischen Futuristen, die er wie Zeitgenossen befragt und so zu lebendigen Lehrern werden lässt. Scherstjanoi arbeitet daran, die Zeit aufzubrechen, ihr die Linearität zu nehmen. Insofern ist er nicht nur, wie Michael Lentz in seinem Nachwort schreibt, der letzte Futurist, sondern auch der erste der Gegenwart.

Jetzt bin ich bei Alexej Krutschonych, dem Vater der russischen Lautdichtung. Er hat nämlich gesagt: Gedanke und Rede reichen an das Erlebnis der Inspiration nicht heran. Die Komposition entsteht spontan, total unbewusst. Wenn man sie bewusst machen will, muss man sie aufschreiben. Aber wenn ich das aufschreibe, dann heißt das, es ist alles vorbei.

Der kleine Essay über Krutschonych in diesem Buch ist zugleich das Nachwort zu einem anderen Buch, das ein paar Wochen früher erschienen ist. Scherstjanoi hat Krutschonychs Phonetik des Theaters, eine Collage aus futuristischen Lautgedichten und theoretischen Texten zu ihrer Begründung, herausgegeben und übersetzt. Die Gedichte, die unübersetzbaren, sind hier in Lautschrift wiedergegeben, nur durch lautes Lesen kann man eine Vorstellung von ihnen bekommen, obwohl es schier unmöglich sein dürfte, Scherstjanoi in dieser Disziplin zu übertreffen. Er ist ein Glücksfall, der nicht nur Gegenwart und Vergangenheit zusammenbindet, sondern auch zwei Kulturen, zusammengehalten von zwei Hausgöttern, Majakowski und Carlfriedrich Claus.

Zwei Leuchttürme würde ich sagen und ,majak‘, das weiß man nicht, wenn man nicht russisch kann, das ist Leuchtturm, aber das war kein Künstlername, ich höre sofort den Wortstamm seines Eigennamens, das ist ein großer Leuchtturm und der zweite ist Carlfriedrich Claus. Ich habe wirklich Glück gehabt, dass Carlfriedrich Claus aus dem Erzgebirge stammte wie meine Ehefrau. Zwei große Leuchttürme, die bleiben, mein Leben lang, ein Russe und ein Deutscher.

Joachim Büthe, Deutschlandfunk, 22.8.2011

 

Hinweis in Lyrikzeitung & Poetry News auf Sa-um-Texte Krutschonychs: Wenn die Waffen heulen oder Warum Sa-um-Gedichte „ordentliche“ Titel haben.

Jan Kuhlbrodt: Endlich. Ein persönlicher Bericht angesichts der Phonetik des Theaters von Alexej Krutschonych herausgegeben von Valeri Scherstjanoi.

 

Alexej Krutschonych und der Kubofuturismus

1913 erschienen in Moskau im Verlag von G.L. Kusmin und S.D. Dolinski die zwei Dichtungen Die Eremiten und Die Eremitin von Alexej Krutschonych mit Steindrucken von Natalja Gontscharowa. Kusmin war ein Flieger und Dolinski ein Musiker, die Krutschonych und Majakowski im Sommer 1912 auf dem Lande in Petrowsko-Rasumowskoje kennengelernt hatten: Sie waren bereit, die Bücher dieser unbekannten Dichter herauszugeben, die bald als Kubo-Futuristen von sich reden machen würden. Den Druck besorgte die Lithographierwerkstatt von S. Mucharski in Moskau.
1912 entstanden, gehören die 12 Steindruckarbeiten von Natalja Gontscharowa (Umschlag und Eingangsgraphik stammen von ihrem Mann Michail Larionow) zu den Lithographien, die die Künstlerin innerhalb von einem Jahr für mehrere Ausgaben des Dichters schuf. Vorausgegangen sind die Lithographien für die erste Ausgabe des Spiels in der Hölle, einer gemeinsamen Dichtung von Alexej Krutschonych und Welimir Chlebnikow, und die Lithographien im Sammelband Welt vom Ende, an dem sich die Gontscharowa mit Arbeiten zu Krutschonychs Reise um die Welt und Chlebnikows Wila und der Waldschrat beteiligt. Beide Ausgaben werden mit drei weiteren – von Michail Larionow illustrierten – Büchern Krutschonychs und dem Manifest der Kubofuturisten Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack vom Dezember 1912 am Schluß der Eremiten vom gleichen Verlag empfohlen.
Dieser verhältnismäßig kurzen Zusammenarbeit von Michail Larionow und Natalja Gontscharowa mit Alexej Krutschonych und Welimir Chlebnikow verdankt die russische Kunst einen Impuls, der nicht nur das Büchermachen veränderte. Wie sich hier der Buchstabe aus seiner Gefangenschaft in Letter und Zeile befreit und handgeschrieben im gemeinsamen Medium der Lithographie seines zeichnerischen Ursprungs gewahr wird – das ist Teil eines umfassenden Rückanschlusses, den unsere Maler und Dichter wesentlich mitbestimmten. Eines Rückanschlusses an Quellen des russischen Geistes, die in den zweihundert Jahren der Petersburger Periode vernachlässigt worden waren. Es ist der erste Biograph der Gontscharowa und Larionows, Ilja Sdanewitsch, der 1913 (unter dem Pseudonym Eli Egljanburi) auf die byzantinischen, die georgisch-armenischen und die östlich-mongolischen Elemente in der frühen russischen Kunst hinweist, die in Andrej Rubljow ihre erste Höhe erreichte. Es habe dann mit Peter I. eine verhängnisvolle Spaltung in eine städtische und eine bäuerliche, eine Metropolen- und eine Provinzkultur eingesetzt, die bis in die Gegenwart anhalte. Die neuen Primitiven, die die Vorherrschaft der Renaissanceperspektive durch die ganz anderen Maßverhältnisse eines gleichzeitigen Sehens ablösten, schlössen an die Ikonen ebenso an wie an die Volksbilderbögen und die Miniaturen auf Tabletts und Tabakdosen. Die französischen Maler hätten mit ihrem Blick über die Grenzen der europäischen Kunst hinaus den Russen die neue Sicht auf ihre eigenen Traditionen ermöglicht. Egljanburi-Sdanewitsch zitiert dazu aus einem Brief von Natalja Gontscharowa:

Der Kubismus, schreibt sie, ist gut, wenn auch nicht ganz neu. Die skythischen Steinweiber, die bunten russischen Holzpuppen, die auf den Märkten verkauft werden, sind in der Manier des Kubismus gemacht. Skulpturen, ja, aber in Frankreich war der Ausgangspunkt für den Kubismus in der Malerei die gotische und die Negerskulptur.

Höhe gewinne diese Anstrengung freilich nur in der Besinnung auf die stärksten Transzendierungen des Nationalen – in der Religion und in der Staatlichkeit. Natalja Gontscharowa schreibt weiter:

Ich behaupte, daß die religiöse Kunst und die Kunst, die die Staatlichkeit verherrlicht, immer die vollkommenste Kunst war und zwar im wesentlichen deshalb, weil diese Kunst bis zu einem gewissen Grade traditionell und nicht theoretisch ist. Der Künstler wußte, was er darstellt und wozu er es darstellt und das machte, daß sein Gedanke immer klar und bestimmt war und ihm nur blieb, diesem Gedanken die vollkommenste und bestimmteste Form zu geben.

Marina Zwetajewa hat in ihrem Essay über Natalja Gontscharowa vom März 1929 die bäuerlich-religiöse Überlieferung als den tiefsten Grund ihrer Malerei beschrieben:

Jahreszeiten in der Arbeit. Jahreszeiten in der Freude. Die Ernte. Das Pflügen. Die Aussaat. Das Apfelpflücken. Der Holzhacker. Die Schnitter. Bauernweiber mit Harken. Das Kartoffellegen. Die Hausierer. Der Gärtner –  b ä u e r l i c h e  Figuren. Und verflochten mit ihnen (wo ist Gott, wo der Großvater? wo ist der Pflüger, wo der Apostel?) die aus den  I k o n e n : Georg, Barbara, die große Dulderin, Johannes der Täufer (flammend, geflügelt, im Tigerfell), Alexius, der Gottesmann im weißen Hemd, dicklippig, sehr gütig, mit einem langen Bart – ringsum blühende Wildnis, sein Leben. Von den Bauernbildern stammen ,Weinlese‘ und ,Ernte‘ aus der Apokalypse. In Öl, so groß wie die ganze Wand der Werkstatt.

Aus diesem Geist entstehen die Fresken und Gemälde zur biblischen Geschichte. Aus diesem Geist entstehen die Lithographien zu Krutschonychs Dichtung von Einfalt und Gefährdung der Eremiten, Lithographien, die dem Text eine große Dimension geben. Aus diesem Geist entstehen zu Beginn des Krieges die Blätter Mystische Bilder des Krieges. Und aus diesem Geist entstehen 1914/1915 die Dekorationen der Gontscharowa für Djaghilews Inszenierung von Rimski-Korsakows Oper nach Puschkins Märchen vom Goldenen Hahn in Paris – das Theater als ein dritter Ort der Transzendierung des Nationalen auf der Höhe von Religion und Staatlichkeit. Genau diese Transzendierung der bäuerlich-provinziellen Unmittelbarkeit war es, die das Ungehörige, das Anstößige, das Subversive ausmachte – die Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack. Krutschonychs Druck von Kinderzeichnungen und Kinderversen, Larionows Interesse für Ladenschilder und Kasernengraffiti, Ilja und Kirill Sdanewitschs Sorge um die Bilder des georgischen Naiven Niko Pirosmani – alles ging gegen die herrschende Ästhetik des Symbolismus und des Jugendstils und man spürt in den Besprechungen neben der Gereiztheit die wirkliche Verletzung. Doppelt ungehörig, daß die ,Wilden‘ Rußlands, wie David Burljuk die neuen Maler in seinem berühmten Aufsatz für den Blauen Reiter nennt, keine ganz jungen Leute mehr waren, alle schon um dreißig, Malewitsch war über dreißig und Kandinsky beinahe fünfzig. So schreibt Alexander Benois, Maler und Kunstkritiker aus dem Kreis der Welt der Kunst im April 1913:

Es ist doch wohl undenkbar, daß der hochtalentierte Larionow noch in zehn Jahren dumme Streiche machen und seine albernen Bilderbüchlein herausgeben wird.

Die „albernen Bilderbüchlein“ warfen alles über den Haufen, was bisher für Buchformat, Papier- und Druckqualität, Illustrationsprinzipien, überhaupt für Kunstwürdigkeit als verbindlich gegolten hatte. Im Juni 1913 feierten die Umstürzler ihren Sieg über den Drachen der Kritik. Kasimir Malewitsch setzt auf dem Druckbogen für die 2. Auflage von Krutschonychs Gedichten Gesprengtes neben seine „Weltlandschaft“ eine weitere Kreidelithographie: einen von sieben Lanzen durchbohrten Drachen – im Hals die Lanze von Larionow und Gontscharowa, in der Brust die von Krutschonych und Malewitsch, im Bauch die von Tatlin, Burljuk und Majakowski, im Schwanz und durch bis in den Kopf die von Chlebnikow. Text, um den sich der Drache krümmt:

Die Kritik, die die Werbizkaja, Brjussow, Balmont, Repin und viele andere fütterte und an unserer Sa-um stirbt.

Die „Sa-um“ war eine Idee von Alexej Krutschonych. Mit dieser Neubildung bezeichnete er seit Dezember 1912 zunächst seine eigene, dann aber eine mögliche Weltsprache, die auf Grund ihrer Lösung aus dem festgeschriebenen Verhältnis von Zeichen und Bedeutung eine völlig neue Freiheit in der organisch-expressiven Verbindung kleinster Lautelemente aus möglichst vielen Sprachen gewinnen sollte. „Sa“ heißt russisch „jenseits, hinter, außerhalb, über“; „um“ – „Verstand, Vernunft, Sinn, Geist“. Auf diese Weise könnte der Weg von der Inspiration zur sprachlichen Schöpfung in kürzester Zeit und mit geringstem Verlust an ursprünglichen rhythmischen Impulsen zurückzulegen sein.
Krutschonych ist nicht müde geworden über diese Idee zu staunen, und er hat fünfundfünfzig Jahre lang die Entstehung und Verwandlung der Idee immer wieder neu begründet und beschrieben. 1923 kommt er in seinem Text „Woher und wie entstanden die Sa-um-nisten“ ausführlich auf den Dezember 1912 zu sprechen:

Als Zeit der Entstehung der SA-UM-SPRACHE als Phänomen (d.h. einer Sprache, die keine utilitäre Bedeutung hat), einer Sprache, in der ganze selbständige Werke und nicht nur einzelne Passagen (Refrain, Lautornamentik usw.) geschrieben werden, ist der Dezember 1912 anzusehen, als von mir dieses heute Allgemeinbekannte geschrieben wurde:

Dür bul schtschül
Ubesschtschur
skum
Vy so bu
r l äs

Dieses Gedicht kam im Januar 1913 zur Welt in meinem Buch Pomade… Im April 1913 wurde von mir die „Deklaration des Wortes als solches“ gedruckt, in der zum erstenmal eine Definition der SAUMSPRACHE gegeben und dieser  T e r m i n u s  eingeführt wurde, der heute allgemein anerkannt ist (nachgedruckt in meinem Buch Die Apokalypse in der russischen Literatur).
Ich zitiere den zentralen Teil der Deklaration: „Gedanke und Rede bleiben hinter dem Erleben des Inspirierten zurück, daher hat der Künstler die Freiheit, sich nicht nur in der allgemeinen Sprache (des Begriffs) auszudrücken, sondern auch in einer persönlichen (der Schöpfer als Einzelner) und in einer Sprache, die keine bestimmte Bedeutung besitzt (nicht erstarrt ist) – der SA-UM-SPRACHE. Die allgemeine Sprache bindet, die freie erlaubt, sich umfassender zu äußern“…

So sehr Krutschonych sich aber bemühte, diese Sprache als die Weltsprache einer Poesie der Zukunft einzuführen und unter immer neuen Gesichtspunkten sprachökonomisch, psychoanalytisch, sprachsoziologisch zu begründen, er hat nur dann die ihm vorschwebende Universalität gewonnen, wenn er Anschluß an ein umfassendes künstlerisches Weltbild bekam. Das war bei Welimir Chlebnikow der Fall, das war bei Natalja Gontscharowa der Fall und das war bei Pawel Filonow der Fall, der die Dekorationen zur Oper von Krutschonych Der Sieg über die Sonne malte, die im Dezember in Petersburg gemeinsam mit Majakowskis Tragödie Wladimir Majakowski uraufgeführt wurde. Krutschonych war es, der Filonow bewundernd einen „Augenzeugen des Unsichtbaren“ nannte.
Krutschonych hat diesen Mangel an eigener innerer Sammlung auszugleichen versucht durch den Kult von Sammlungen: Er sammelt (und ediert zum Teil) die Manuskripte der verehrten Dichter – Chlebnikows, Pasternaks, der Zwetajewa; er legt biographische Alben an, über hundert ist zu vermuten, in die er alles Erreichbare an Manuskript, Fotographie, Rezension einklebt und zum Teil von den Porträtierten selbst kommentieren läßt; er sammelt auch unausgesetzt sich selbst – eine nicht endende Feier seiner 1912 bekundeten Selbständigkeit. Und das war keine Überhebung. Boris Pasternak hat in einem Augenblick, da er, anders als seine ehemaligen Kameraden Majakowski und Assejew, sich gegen die Kunstpolitik der Kommunistischen Partei entscheidet, in Alexej Krutschonych ein Beispiel gesehen und ihm am 25. Dezember 1925 für das Büchlein Kalender diesen Gruß zum neuen Jahr und zum bevorstehenden vierzigsten Geburtstag am 9. Februar geschrieben:

Lieber  K r u t s c h o n y c h, wozu brauchst du dieses Vorwort? Eine Empfehlung hast du nicht nötig. Jemanden davon zu überzeugen, der das noch nicht begriffen hat, wäre zu spät. Meine Sache ist das nicht, sie würde mich ermüden. Du bist unter uns der Hartnäckigste, an dir hat man sich ein Beispiel zu nehmen. Ein Lob, bitte sehr. Und nun ein Neujahrsgeleit für dein Büchlein. Den Zustand vor Augen, in den es uns beim Anhören versetzte, kann man deinen Lesern nur jene Unverdrossenheit wünschen, die uns viele in der kanonischen Kunst unmögliche Dinge offenbarte.
Der Schein von Literatur ist dahin. Die Erinnerung an den Sinn, die Erinnerung an einen lächerlichen und schnell zurückgenommenen Anspruch ist tot. Es hatte leicht nach Theater, genauer nach Zirkus gerochen. Alle Kategorien haben sich verflüchtigt. Geblieben ist nur der Scharfsinn einer allgemeinen Bedeutsamkeit, naturalistisch, Sache von zwei Minuten wie bei einem begabten Imitator. Ein flüchtiges, zerflatterndes Aufmerken zwang zum Lachen an Stellen, die nicht wirklich komisch sind und durch dieses Lachen tauchten die breiten typischen Bilder der Natur eins nach dem anderen im Bewußtsein auf, hervorgerufen durch eine heftige Geste, die eines Zauberers beinah, verwandt dem gleißnerischen Grund der Kunst.
Einige Worte über die letztere. Deine Rolle in ihr ist bemerkenswert und lehrreich. Du bist ganz am Rand. Ein Schritt weiter und du bist außerhalb, d.h. in der rohen Alltäglichkeit, in der es mehr Wunderliches gibt als gemeinhin angenommen. Du bist ein lebendiges Stück ihrer gedachten Grenze. Selbst ihre gröbste Formel, die Formel des Effekts (schlagender Wirkung) ist weiter als das Gebiet, das du dir abgeteilt hast. Der Augenblick riskanter Kulisse und der Augenblick unvorhergesehener Begeisterung sind im lyrischen Verfahren nicht voneinander zu trennen. Das ist ein Blitz. Aber selbst das erscheint dir noch nicht eng genug und du wirfst aus diesem elementaren Paar den zweiten, den vergeistigenden Teil hinaus. Wenn man das Prinzip der Inhaltlichkeit von Form zum fanatischen Glänzen bringt, muß man sagen, du bist der Inhaltlichste überhaupt. Es gibt eine Masse von Beispielen – und das sind Natürlich alle die, die du attackierst, ebenso wie die, die du aus Freundschaft nicht anrührst, darunter  M a ja k o w s k i,   A s s e j e w, mich selber und viele andere – wo die Frage immer angebrachter ist, ob „das alles noch Kunst ist oder schon längst stabilisierte großsprecherische Banalität?“ Dir kann dieser Zweifel nichts anhaben. Die Frage, ob das schon Kunst ist, was du gibst – die einzig mögliche in deinem Fall, ist längst beantwortet. Und du hältst so sehr fest am Schöpferischen in seinem Ursprungsstadium, daß man keine Übergänge zu fürchten hat. Es wird sie nicht geben. Du läßt kein Erwachsensein zu.

Fritz und Sieglinde Mierau, Juli 1990, Herzattacke, II, 2017

Der Autor im Bild

– Zur Ästhetik des Kubofuturismus. –

Der Abgott-Künstler ist ein Vorurteil der Vergangenheit.1
Kasimir Malewitsch

1
Zu den hauptsächlichen Charakteristika der europäischen „Kunstismen“ im frühen 20. Jahrhundert – Expressionismus, Kubismus, Futurismus, Dadaismus, auch Surrealismus – gehören die enge wechselseitige Beziehung und die starke gegenseitige Beeinflussung unterschiedlicher künstlerischer Medien. Zwar hatte es solche Beziehungen und Beeinflussungen, insbesondere zwischen Literatur und Musik, schon zur Zeit des Impressionismus und des Neosymbolismus gegeben, doch dominant wurde der intermediale Bezug – nunmehr vor allem zwischen Wort- und Bildkunst – erst mit dem Durchbruch der internationalen Avantgardebewegung in den Jahren unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg.2 „Wir wollen“, so formulierte es der Dichter Welimir Chlebnikow, „daß das Wort kühn der Malerei nachfolge.“3 Und ein Kunsthistoriker, mit dem Chlebnikow 1912 die Stschukinsche Galerie in Moskau besucht hatte, um sich die dort ausgestellten Werke Picassos anzusehen, wird sich später daran erinnern, daß der junge Autor „eine Analogie herstellte zwischen der neuen französischen [d.h. kubistischen] Malerei und seinen eigenen formalen Experimenten im Bereich der poetischen Sprache“.4
Die namentlich für den russischen Kubofuturismus bestimmend gewordenen Wechselbeziehungen zwischen Dichtung und Malerei finden in der künstlerischen Biographik jener Zeit eine durch zahlreiche Beispiele belegbare Entsprechung, nämlich das gehäufte Auftreten von Doppelbegabungen; so gut wie alle führenden Wortkünstler der vorrevolutionären Avantgarde Rußlands – darunter Wladimir Majakowskij, Jelena Guro, Aleksej Krutschonych5 – sind auch mit bildnerischen Arbeiten hervorgetreten, und umgekehrt haben sich manche Kunstschaffende – Dawid Burljuk, Ljubow Popowa, Kasimir Malewitsch – zusätzlich, mehr oder minder erfolgreich, in der Dichtung versucht.6 Von daher kann es kaum verwundern, daß damals nicht nur zahlreiche, an zeitgenössische Maler oder Bildhauer gerichtete Widmungsgedichte entstanden sind, sondern auch, ebenso zahlreich, bildnerische Werke, welche Persönlichkeiten des literarischen Lebens – zumeist Autoren aus dem Freundeskreis der Maler – zum Gegenstand haben. „Gegenstand“ ist hier im eigentlichen Wortsinn zu verstehen, handelt es sich doch zum überwiegenden Teil um Portraits, die nicht mehr mimetisch auf ein reales Vorbild bezogen, viel eher darauf angelegt sind, eine bestimmte Person – nicht anders als ein Stilleben, eine Landschaft – zum Anlaß und zum Objekt für die Durchführung eines bestimmten künstlerischen Verfahrens zu machen.7 Solch ein Vorgehen ist dort von besonderem Interesse, wo der Künstler sich mit einem andern Künstler auseinandersetzt, indem er ihn, mit welchen Mitteln auch immer, ins Bild bringt und durch das Bild ihn befragt oder ihm antwortet.
Ein aufschlußreiches, geradezu paradigmatisches Exempel dafür, wie auf solche Weise ein künstlerisches Programm bildhaft gemacht werden kann, ist Kasimir Malewitschs Ölgemälde Engländer in Moskau (Angličanin v Moskve, 1913/1914), das als ein Schlüsselwerk des russischen Kubofuturismus zu gelten hat8 und von dem man weiß, daß es ein verkapptes Portrait des Dichters Aleksej Krutschonych ist, vergleichbar – und auch zeitgleich – mit den Bildnissen eines Architekten (Stroitel’, 1913) und eines Fliegers (Aviator, 1914), die Malewitsch zu Ehren seines Malerfreunds Iwan Kljun beziehungsweise des Poeten und Piloten Wassilij Kamenskij gemalt hat.
In der damaligen Kunst- und Literaturszene Moskaus spielte Krutschonych, wie man aus zahlreichen zeitgenössischen Bilddokumenten und Textzeugnissen ersehen kann, die Rolle eines exzentrischen Einzelgängers.9 Im Unterschied zu fast allen andern Protagonisten der „zukünftlerischen“ russischen Avantgarde, im Unterschied etwa zu Majakowskij, zu Larionow oder zu den Brüdern Burljuk, die durch ausgefallene Kleidung und provokantes Verhalten öffentliches Ärgernis erregten, scheint Krutschonych weniger als Rowdy denn als Dandy auf sich aufmerksam gemacht zu haben. Er provozierte Skandal durch das, was er sagte und schrieb, er schockierte durch seinen graphomanischen Furor, durch seine bald zynische, bald ironische Schlagfertigkeit, durch seine scharfen kulturkämpferischen Parolen; im übrigen fiel Krutschonych im bunten „asiatischen“ Moskau gerade dadurch besonders auf, daß er stets korrekt – nach europäischer Mode – gekleidet war, er trug dunkle Anzüge, darunter meist ein weißes Hemd mit Krawatte, schwarzes poliertes Schuhwerk, und dies mag denn auch dazu geführt haben, daß man in ihm einen „Westler“, einen „Engländer“ sehen konnte.
In den Jahren 1912 bis 1914 war der persönliche wie auch künstlerische Kontakt zwischen Alexeij Krutschonych und Malewitsch besonders intensiv. Im Sommer und Herbst 1913 bereiteten Malewitsch und Krutschonych gemeinsam mit Michail Matjuschin die Inszenierung der futuristischen Oper Sieg über die Sonne (Pobeda nad solncem) vor, zu der Krutschonych den Text, Matjuschin die Musik geschrieben hatte und die nun von Malewitsch für die Bühne eingerichtet werden sollte.10 Die Uraufführung der Oper – sie fand im Dezember 1913 in St. Petersburg statt – wurde zu einem Gründungsdatum der russischen postsymbolistischen Moderne, deren Ästhetik und Poetik sie, als Gesamtkunstwerk, auf radikal innovative und zugleich exemplarische Weise anschaulich machte.11 Nebst einer Reihe von Künstlerbüchern, welche Malewitsch, ebenfalls in Zusammenarbeit mit Krutschonych, im selben Jahr realisiert hat, ist zuletzt auch – vermutlich zwischen Herbst 1913 und Frühjahr 1914 – der Engländer in Moskau entstanden, ein Bildwerk, von dem man also annehmen kann, daß es so etwas wie eine visualisierte Synthese dessen darstellt, was Malewitsch und Krutschonych in den vorausgegangenen Monaten gemeinsam erarbeitet hatten, nämlich die erstmalige, wenn auch noch keineswegs konsequent durchgesetzte „Kristallisierung der Gegenstandslosigkeit“, welche „die alten Formen und Darstellungsweisen ablösen“ sollte. Darum hat der Suprematismus, wie Malewitsch im Rückblick auf das Jahr 1913 festhält, „auf den Brettern des Theaters durch die Oper Sieg über die Sonne die Gegenstandslosigkeit verkündet. Er wollte damit sein Bewußtsein und die Entwicklung der Kunst von Form Vorstellungen der Vergangenheit befreien.“
Der Kubofuturismus hat damals „eine neue Ordnung der malerischen Einheit geschaffen“, doch kann man ihn deswegen „noch nicht zur Gegenstandslosigkeit rechnen“, denn „das Bewußtsein des Kubisten ist noch in den Elementen des Gegenständlichen befangen. Es bringt diese nur in eine neue malerische Ordnung. Im Kubismus“, so fügt Malewitsch hinzu, „ist noch zwangsläufig der menschliche Verstand beteiligt, in ihm leben noch Elemente der gegenständlich-praktischen, wissenschaftlichen Ordnung“.12
Engländer in Moskau – der anekdotische, potentiell narrative Bildtitel kontrastiert sehr auffällig mit dem hohen Abstraktionsgrad der Darstellung, deren figürliche beziehungsweise gegenständliche Anteile durch disparat angeordnete, malerisch ausgearbeitete Schriftelemente überlagert sind und durch rein flächenhafte, den Bildraum begrenzende, zugleich ihn strukturierende Farbfelder gewissermaßen unterlegt werden. Das Bild scheint, betrachtet man die Ebene der dargestellten Gegenständlichkeit, seinen Titel eher dementieren als bestätigen zu wollen; jedenfalls läßt es keine für „Moskau“ spezifischen Realien erkennen, und die puppenhafte Halbfigur, welche die rechte Seite des Gemäldes dominiert, weist keinerlei Charakteristika auf, durch die sie als typischer Engländer – oder als Konterfei Krutschonychs – ausgewiesen wäre.
Figur und Gegenstände, skripturale und malerische Versatzstücke haben nicht – jedenfalls nicht primär – einen über das Bild hinausweisenden mimetischen Wirklichkeitsbezug aufzuzeigen, vielmehr kommt ihnen, innerhalb des aperspektivisch konzipierten Bildraums, eine konstruktive Funktion zu; und das heißt – nicht die Figur als solche, nicht die Gegenstände oder die Schriftzeichen als solche sind, soweit sie der diskontinuierlichen Darstellungsebene zugehören, für die Bildwahrnehmung relevant, sondern die formalen und symbolischen Beziehungen – die Brüche, die Verschiebungen – zwischen den heterogenen bildnerischen Elementen, aus denen die Komposition im Akt des Betrachtens sich aufbaut. Man müsse, meint Malewitsch, „das Gegensätzliche nehmen, um das System der Einheit aufzubauen“.13 Indem Malewitsch auf solche Weise die bloß wiedererkennende, an dargestellten Gegenständlichkeiten orientierte Bildrezeption erschwert, läßt er das Bild um so deutlicher in seiner Phänomenalität sichtbar werden; er macht das Bild als Bild präsent dadurch, daß er dessen Abbildfunktion aufhebt, zumindest sie einschränkt.
Dieses auf den Effekt der Verfremdung angelegte Verfahren – es sollte die Entautomatisierung des Wahrnehmungsvorgangs bewirken, um solchermaßen, gleichsam durch ein Störmanöver, auf die Materialität, die Faktur des Bildwerks zu verweisen – ist besonders charakteristisch für Malewitschs kubofuturistisches Schaffen der Jahre 1913 und 1914, das in seiner künstlerischen Biographie so etwas wie einen Zwischenschritt bedeutet, nämlich den Übergang vom Primitivismus zum Suprematismus, mithin von einer stark reduktionistischen, aber noch immer gegenstandsbezogenen Darstellungsweise zu einer völlig ungegenständlichen Bildkunst, die Malewitsch in der Folge als einen „neuen“, rein „malerischen Realismus“ praktizierte – mit dem Ziel, das Bild in seiner realen Gegenwärtigkeit wahrnehmbar zu machen, statt es auf eine bloß „realistische“ Widerspiegelungsfunktion in bezug auf diesen oder jenen Wirklichkeitsausschnitt festzulegen, den es, als Signifikant, zu vertreten hätte.
Für das hier praktizierte Vorgehen und die dadurch erreichte künstlerische Wirkung sind Malewitschs „alogische“ Bildwerke wie auch die „transmentalen“ Texte Krutschonychs – und der Moskauer Futuristen insgesamt – gleichermaßen beispielhaft. „Zwischen den Wörtern im Vers der Gedichte der Futuristen geschieht dieselbe Wechselbeziehung wie in den futuristischen Bildern“, heißt es dazu, kurz und bündig, in einem zeitgenössischen Kommentar zur Ästhetik des Futurismus;14 und Krutschonych selbst hält präzisierend fest:

Die zukünftlerischen Maler verwenden gern Körperteile, Ausschnitte, und bei den zukünftlerischen Sprachschöpfern sind es zerstückelte Wörter, Halbwörter und deren wunderliche scharfsinnige Verbindungen (zaumnyj jazyk). Dadurch wird die größte Ausdruckskraft erreicht. Und eben dadurch zeichnet sich die Sprache der dynamischen Gegenwart aus, welche die einstige, erstarrte Sprache vernichtet hat.15

Diese intermediale strukturelle Analogie hat auch, im Hinblick auf den italienischen Futurismus, Carl Einstein beobachtet und in seinem großen Essay zur „Kunst des 20. Jahrhunderts“ (1926) als Spezifikum der europäischen Moderne herausgestellt:

Man erinnert sich hier der Auflösung der literarischen Figur in dynamische Komplexe; ein Durchdringen der Sensationsteile zu reicherem, bewegtem Komplex wird versucht. Man faßt in das Motiv seine Umwelt und deren Wirkung und versucht die Atmosphäre der Skulptur einzubauen.16

Was Einstein an dieser Stelle ausführt, läßt sich uneingeschränkt auch auf den (ihm freilich unbekannten) Engländer in Moskau beziehen, war doch die russische mit der westeuropäischen, die literarische mit der bildnerischen Avantgarde seit ihren Anfängen um 1910 aufs engste verbunden; im weiteren schreibt Einstein:

Gibt man bestimmte Teile menschlicher Figur, so ist nicht die symmetrische Gegenseite zu wiederholen, sondern deren Symptome und Wirkungen werden gegeben. Die gegenständlich symmetrische Harmonie ist erledigt; man malt das Sichdurchdringen der Dinge und stellt die dynamisch am stärksten ergriffenen Teile dar, Seelenabläufe und Gleichzeitigkeit der Motive. Um diese Empfindungen fein aufzufassen, muß die intellektuelle Kultur vergessen werden; man steht am Beginn einer neuen Empfindsamkeit. Die Flecken, Linien und Farbfelder sind durch die Wirklichkeit und eine innere rhythmische Mathematik bedingt; man gibt die ,Funktionskomponenten‘ zwischen äußerer konkreter Szene und innerer Ergriffenheit.

Wiederum mit Bezug auf den italienischen Futurismus, aber doch auch im Sinn der „zukünftlerischen“ Avantgarde Rußlands verweist Carl Einstein auf diverse strukturelle und formale Analogien zwischen Bild- und Wortkunst:

Das Gedicht ist Analogiefolge (siehe die Symbolisten und Mallarmé); sie wird ungemein erweitert, man erhält damit eine Art Vielklang der Metaphern; das Maximum scheinbarer Unordnung ist erwünscht. […]17

Wenn Einstein im selben Zusammenhang, wiewohl beiläufig, von der Notwendigkeit spricht, das künstlerische, das auktoriale Ich „zu zerstören“, so deutet er damit indirekt an, daß die Auflösung des zentralperspektivischen Bildraums und also auch der bildnerischen Darstellungsfunktion eine zumindest partielle Entmündigung des schöpferischen Subjekts mit sich bringt, einen Autoritätsschwund der Künstlerschaft zugunsten erhöhter Werkautonomie – das Selbst des Bilds, des Texts nimmt überhand, emanzipiert sich vom Ich des Autors.
Die Autonomie von Text und Bild kann sich am klarsten dadurch beweisen, daß – und inwieweit – der referentielle Bezug zwischen Werk und Wirklichkeit abgeschwächt beziehungsweise aufgehoben wird zugunsten der ästhetischen „Selbstziele“ (samoceli) des künstlerischen Materials sowie der aus dem Material erwachsenden Eigendynamik des künstlerischen Verfahrens.18 Wie nachdrücklich das Selbst – die „Selbstheit“ (samovitost’) des sprachlichen und bildnerischen Zeichens – von der kubofuturistischen Avantgarde betont wurde, geht nicht zuletzt aus den zahlreichen um 1912/1914 erschienenen Manifesten hervor, in denen, unter anderem, die Rede ist von der „Neuen Heraufziehenden Schönheit des Selbstwertigen [samovitoe] Worts“ oder von „Farbe, Linie und Form als selbstgenügsamen [samodovlejuščie] Größen“ der Bildkunst.19
Damit diese „Selbstheit“ durchgesetzt werden kann, müssen die entsprechenden Zeichen im Bild, im Text aus ihren konventionellen, über Text und Bild hinausweisenden Bedeutungszusammenhängen befreit und gewissermaßen auf sich selbst – ihre Laut- oder Schriftgestalt, ihre Form oder Materialität – zurückgeführt werden. Diese Rückführung der Zeichen aus der Semiosphäre der Repräsentation in die Sphäre der Realpräsenz bedingt „in allen Bereichen der Schönheit einen großen Bruch [velikaja lomka]“,20 nicht nur den Bruch des Referenzbezugs zwischen Signifikant und Signifikat, sondern auch zwischen den Signifikanten selbst (den Wörtern, den Buchstaben „als solchen“), ganz zu schweigen vom generell angestrebten Traditionsbruch und vom Aufbrechen automatisierter Wahrnehmungsweisen oder Lesarten durch die Verfremdung des bildnerischen, des sprachlichen Materials.
Um jede Form von „Widerspiegelung“, von Repräsentation – sei’s im Text, sei’s im Bild – zu vermeiden, müsse die Welt, meint Krutschonych, „von hinten angegangen“ werden:

uns freut diese rückläufige Bewegung (bezüglich des Worts haben wir bemerkt, daß man es vom Ende her lesen kann, und dann bekommt es einen tieferen Sinn!) – Wir können die Schwere der Gegenstände verändern (diese ewige irdische Gravitation), wir sehen hängende Gebäude und die Schwere von Lauten.21

– Diese Sätze lesen sich fast wie ein vorgreifender Kommentar zu dem bekannten photographischen Gruppenbild vom Dezember 1913, welches Krutschonych und Malewitsch mit weiteren Künstlerfreunden in der verkehrten Kunstwelt eines bürgerlichen Interieurs zeigt – einzelne Möbel stehen „umgekehrt“ (Füsse nach oben), an der Decke hängt, ebenfalls „umgekehrt“, ein Konzertflügel, und an der Wand im Hintergrund steht, wiederum „umgekehrt“, ein Bücherregal.22
Der „große Bruch“ wird somit zur negativen ästhetischen Prämisse der künstlerischen Avantgarde, die den Akt des Zertrennens, Versetzens und Neuzusammenfügens, wie er vor allem in der Skulptur (Materialplastik), im Film (Schnitt/Montage), in der Collage, aber auch bei den intermedialen „Sprüngen“ zwischen den verschiedenen Künsten zu beobachten ist, als paradigmatische Geste praktiziert hat. „Wie dem auch sei“, so heißt es, zusammenfassend, bei Malewitsch, „im Kubofuturismus ist die Ganzheit der Dinge zerstört, sie wurde zerschlagen und zerstückelt; das war ein Schritt zur Vernichtung der Gegenständlichkeit. Die Kubofuturisten sammelten alle Gegenstände auf dem Marktplatz zusammen und zerschlugen sie in Stücke, doch sie verbrannten sie nicht. […] In der futuristischen Kunst erkennen wir alle Formen des wirklichen Lebens, und wenn sie an unpassende Stellen verschoben sind, so geschah das nicht unbewußt, sondern hat seine gesetzmäßige, bewußte Begründung darin, den Eindruck des bewegten Chaos im heutigen Leben hervorzurufen.“ Wohlverstanden – hervorzurufen, und nicht bloß wiederzugeben.23
Von daher erklärt sich das auffallend häufige Vorkommen negativer oder privativer Begriffe in den damals veröffentlichten Programmschriften der Futuristen und Formalisten, die Dominanz von Tätigkeitswörtern wie „zerstören“, „verwerfen“, „zerbrechen“, „zerstückeln“, „zerspalten“, „zerreißen“, „entstellen“ oder „verfremden“. So forderten beispielsweise Krutschonych und Chlebnikow in einem 1913 gemeinsam verfaßten Manifest, die „zukünftlerischen Maler“ sollten „mit Körperteilen, in Schnitten [razrezami] arbeiten und „die zukünftlerischen Sprachschöpfer“ – dementsprechend – „mit zerstückelten [razrublennymi] Wörtern, Halbwörtern“; im übrigen sollte für futuristische Buchwerke der Slogan gelten:

– wenn du’s gelesen hast, zerreiß es [razorvi]!24

In einer andern, etwa gleichzeitig entstandenen futuristischen Grundsatzerklärung hieß es, die gesamte Bildkunst müsse auf die „unrichtige Perspektive“ festgelegt werden, die zuerst der Kubismus angewandt habe, während in der Sprachkunst „seltsame, ,sinnlose‘ [bessmyslennye] Wort- und Buchstabenverbindungen“ vorherrschen sollten; das Wort müsse unerwartet, unpassend, willkürlich sein; Unordnung und Dissonanz sollten den Text wie auch das Bild bestimmen – „alle möglichen Unrichtigkeiten und Unerwartetheiten, alle Härten, Nichtübereinstimmungen (Dissonanzen) sowie rein archaische Ungeschlachtheit“. Grammatik und Syntax seien zu „zertrümmern“ [rasšatat’], Zerstörung und Chaos seien jeder Ordnung vorzuziehen:

Wir haben den Gegenstand zerhackt. – Wir begannen die Welt zu durchschauen.25

Dieses dekonstruktive Verfahren bewirkt, soweit es in der Wortkunst angewandt wird, die Fragmentierung des Vers- und Strophenbaus, die Brechung rhythmischer und melodischer Strukturen, die Ablösung der Wort-Form vom Wort-Inhalt, des Wort-Dings vom Ding-Wort, mithin also die Freisetzung des „Worts als solchem“ und dessen semantische Erneuerung durch morphologische, phonetische oder auch typographische Dissektion. In der Bildkunst kommt es als Folge solchen Verfahrens zur diskontinuierlichen Präsentation der dargestellten Gegenständlichkeit, zur verfremdenden Desintegration und Umfunktionalisierung der Objektwelt, deren Wahrnehmung nunmehr ein neues – ein erkennendes, nicht bloß ein wiedererkennendes – Sehen ermöglicht und auch erfordert, ein aktives Sehen, welches, der aperspektivischen Wechseloptik des Kubofuturismus entsprechend, die heteromorphen Bildgegenstände ebenso wie die rein malerischen Bildelemente syntagmatisch so zu ordnen vermag, daß dieser perzeptive Ordnungsprozeß selbst wesentlich zur Konstitution des Bildwerks beiträgt. Von Interesse sind hier folglich nicht mehr die bildexternen Wirklichkeitsbezüge, sondern die ungewohnten, oft exzentrischen Beziehungen zwischen den Bildrealitäten selbst. Denn neu – so heißt es in einer Programmschrift Majakowskijs aus dem Jahr 1913 – „kann heute nicht irgendein beliebiges, in unserer grauen Welt noch niemandem bekanntes Ding sein, sondern nur die gewandelte Sicht auf die Wechselbeziehungen zwischen all den Dingen, die unter dem Einfluß des gewaltigen und wahrhaft neuen Lebens der Stadt ihr Antlitz schon längst verändert haben“.26 Die von Majakowskij implizit postulierte Entautomatisierung der Wahrnehmung im Hinblick auf die „Wechselbeziehungen“ zwischen Dingen und/oder Wörtern hat auch Malewitsch im Sinn, wenn er (in einem später entstandenen Text und in entsprechend veränderter Ausdrucksweise) schreibt:

Aufgenommen wird nicht die Welt der Dinge, auch nicht ihre äußere Hülle, sondern nur das Zusammenwirken von Erregungen. Die Wahrnehmung von Erscheinungen steht außerhalb aller Kategorien, und Unterscheidungen nach allgemeingültigen Begriffen. Wir haben nur auf dem Felde der Erregungen Figuren untergebracht, deren Bewegungen und deren Tempo wir nach dem Gesetz der gegenseitigen Wechselbeziehungen messen.27

Der Autor – ob Maler oder Schriftsteller – kann sich jedoch nicht damit begnügen, die Beziehungen zwischen „all den Dingen“, welche die wahrnehmbare Welt ausmachen, festzustellen, um sie – im Bild, im Text – darzustellen, vielmehr besteht seine Aufgabe nun darin, solche Beziehungen herzustellen, indem er sie eigens ins Werk setzt, sie strukturell zum Tragen bringt innerhalb eines autonomen künstlerischen Raums. „Wir brauchen kein Medium, weder Symbol noch Gedanken“, betont Krutschonych, „wir liefern unsere eigene neue Wahrheit und dienen nicht etwa der Widerspiegelung irgendeiner Sonne (oder eines Balkens?).28

 

Kasimir Malewitsch: Engländer in Moskau (Öl auf Leinwand, 1913/1914)

Kasimir Malewitsch: Engländer in Moskau

 

Kasimir Malewitsch :Engländer in Moskau (schematische Nachzeichnung von Felix Philipp Ingold)

Kasimir Malewitsch: Engländer in Moskau (schematische Nachzeichnung von Felix Philipp Ingold)

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Der erste Wahrnehmungseindruck, den Malewitschs Engländer in Moskau vermittelt, ist wohl der, daß hier aus einer Vielzahl von heterogenen, in ungefähr gleichartiger ikonischer Dichte angeordneten, rein malerischen Bildelementen – Formen, Farben – eine verhältnismäßig strenge Komposition sich aufbaut, die zunächst als ornamentale, axialsymmetrisch angelegte und diagonal sowie kreuzweise verstrebte Malfläche erkennbar wird, als ein struktureller Raster, aus dem keines der ihn konstituierenden Elemente dominant hervortritt. Der zweite Blick wird auf die Darstellungsebene des Bildwerks gerichtet sein und nebst unterschiedlichen Gegenständen wie Fisch (f), Leiter (c), Löffel (g), Säbel (a) auch mehrere kyrillische Buchstabengruppen (1–5) ausmachen. Da die ins Bild gesetzten Gegenstände und Schriftzeichen insgesamt recht gleichmäßig über die Malfläche verteilt sind, kann bei deren Betrachtung momentweise eine verfremdende Unschärfebeziehung zwischen bildnerischen und skripturalen Elementen eintreten, die Ungewißheit nämlich, ob hier ein Bild als Text zu lesen oder ein Text als Bild zu sehen sei.
Wer sich auf den Text einläßt, wird sofort von der schweifenden Bildbetrachtung zur linearen Lektüre übergehen, den Blick also im Hin und Her von links oben nach rechts unten gleiten lassen, wodurch die verstreuten Lettern erst eigentlich als – fragmentierte – Wortgebilde erkennbar werden, und sobald dann die solcherart gelesenen, gleichsam zusammengelesenen Wörter ihrer Bedeutung nach verstanden sind, wird sich der Wahrnehmungsvorgang erneut auf die Ebene der Darstellung verlagern, um zu verifizieren, ob und in welcher Weise der Text sich auf die im Bild repräsentierte Gegenständlichkeit bezieht.
Bei dieser hermeneutischen Bildbefragung wird man nicht zuletzt auch auf jene übergänglichen malerischen Formen aufmerksam werden, welche – wie etwa die drei geknickten, an der Basis durch eine schwarze Grundlinie verbundenen schraubenzieherartigen Gebilde am linken Bildrand in der Mitte (d) oder das fächer- beziehungsweise segelähnliche weißgelbe Dreieck oben links (n) – auf keinen real existierenden Gegenstand bezogen werden können, obwohl sie, in ihrer durchaus illusionistischen Darbietungsart, realen Gegenständen durchaus ähnlich sind. Keinerlei Gegenstandsbezug, mithin auch keine Ähnlichkeit, ist in jenen Bilddistrikten auszumachen, die lediglich flächenhaft – in verschiedenen Farben und in mehr oder minder klar voneinander abgehobenen Parzellen – ausgearbeitet sind (p); sie bilden im wesentlichen den bunten mosaikartigen Malgrund, auf dem (oder vor dem) sowohl die Bildgegenstände wie auch die ikonischen und skripturalen Zeichen disponiert sind.
Betrachtet und bestimmt man bei näherem Hinsehen nun die Wechselbeziehungen zwischen den einzelnen, scheinbar unverbunden nebeneinanderstehenden Bildelementen, so wird im Prozeß der Wahrnehmung auch die räumliche Anlage des Werks erkennbar; es zeigt sich, daß wir kein bloß flächenhaftes Ornament vor uns haben, sondern einen hochdifferenzierten multiperspektivischen Bildraum, der sich – horizontlos, schattenlos – auf dreierlei Weise konstituiert, nämlich einerseits durch Gegenstandsüberschneidungen auf der Darstellungsebene (z.B. Säbel/Kerze, Kirche/Fisch), andererseits durch die alogische Proportionierung der einzelnen Bildobjekte (vgl. Leiter/Kirche/Fisch) und den unterschiedlichen Abstraktionsgrad der Gegenstandsdarstellung (vgl. die flächenhafte Schematisierung des roten Pfeils [a], des roten Löffels [g] neben der farbperspektivischen Modellierung des Zylinders, der Kirche [e], der Leiter [c], der Kerze [b].
Der Vordergrund dieses diskontinuierlichen Bildraums wird durch den großen schwebenden Säbel (a) bestimmt, welcher wie eine dingsymbolische Parenthese alle andern dargestellten Gegenstände – mit eingeschlossen die puppenhafte Halbfigur – zusammenzufassen und sie gleichzeitig von der bildexternen Wirklichkeit fernzuhalten, „abzuschneiden“ scheint. Auf derselben Vordergrundsebene schweben auch die sorgsam ausgemalten Einzelbuchstaben beziehungsweise Wortfragmente (1–5), die jedoch ihrerseits – durch unterschiedliche Farbgebung und Proportionierung – räumlich voneinander abgesetzt sind (vgl. das braune 3A, das, trotz gleichbleibender Buchstabengröße, hinter das graue TMEHИE zurückgetreten scheint, sowie die Verräumlichung der Letterngruppen ЧAC, TИЧ und HOE durch die verschieden große Ausführung einzelner Buchstaben). Alle Schriftzeichen überschneiden sich mit andern Bildelementen, werden aber ihrerseits in keinem Fall überschnitten, was ihre vordergründige Präsenz zusätzlich betont; außerdem sind sie im wesentlichen horizontal angeordnet – ihre Lesbarkeit wird dadurch zwar erleichtert, zugleich jedoch auch erschwert, da die Wortfragmentierung (die Auflösung der Wörter in Silben und die daraus sich ergebende Verschiebung der Wortgrenzen) eine Bedeutungserweiterung bewirkt, die vom Betrachter, vom Leser erst erschlossen werden muß.
Zwei Wörter, bestehend ausschließlich aus Großbuchstaben und aufgeteilt in fünf Letterngruppen (1–2; 3–5), hat Malewitsch auf vier Zeilen ins Bild gesetzt; es handelt sich dabei um die Wortverbindung ЗATMEHИE ЧACИЧHOE, die üblicherweise zur Bezeichnung einer partiellen Sonnenfinsternis verwendet wird. Die mehrfache Fragmentierung des Wortbestands setzt aber diverse weitere Bedeutungsebenen und damit auch weitere Deutungsmöglichkeiten frei.
So ist die in die Bildecke oben rechts gesetzte Buchstabenverbindung 3A (1) einerseits als Vorsilbe zum Substantiv ЗATMEHИE („za/tmenie“) zu lesen, andererseits aber auch als eigenständiges Wort – eine Präposition – mit der Bedeutung hinter, diese Bedeutung verweist auf einen zentralen Begriff der russischen avantgardistischen Poetik, nämlich auf den Neologismus ЗAYMЪ („za/ um’“), mit dem die alogische oder transrationale, hinter oder nach dem Verstand („um“) sich artikulierende Sprachkunst des Kubofuturismus bezeichnet wird.29 Das Wort „za“ verweist aber auch, liest man es, als Palindrom, rückwärts, auf die erste Person Einzahl (ich, altrussisch „az“) und ist zugleich der Name des ersten Buchstabens des kyrillischen Alphabets. Von zusätzlichem Interesse ist die Tatsache, daß Malewitsch an einer wenig beachteten Stelle seines umfangreichen theoretischen Werks von Krutschonych hat sagen können, er sei „das Alpha des Hintersinns [zaum’]“ gewesen und werde es auch immer bleiben.30Dieser Buchstabe – A – spielt bei Malewitsch eine dominante Rolle; er findet in mehreren Bildtiteln aus der Zeit um 1913/1914 als Anfangsbuchstabe Verwendung, so etwa – nebst dem Engländer in Moskau („Angličanin…“) – in Arithmetik (Arifmetika, 1913) und in Der Flieger (Aviator, 1914), welch letzteres Bild in der Mitte oben mit einem großen, in weißer Farbe gemalten A versehen ist, das als Anfangsbuchstabe zum Wort für Apotheke („Apteka“) gehört und das dort zusätzlich mit der Ziffer Null – 0 – korrespondiert, welche wie der Buchstabe A für einen Anfang steht.[footnote]Siehe dazu die Hinweise bei Larissa Shadowa: „Ein Wort über Kasimir Malewitsch“, in: Kasimir Malewitsch (Werke aus sowjetischen Sammlungen), Ausstellungskatalog Kunsthalle, Düsseldorf 1980, S. 39–59; hier S. 49 Malewitsch mag sich in diesem Zusammenhang auf einen Text von Welimir Chlebnikow bezogen haben, der 1912/1913 entstanden und 1914 unter dem Titel „Gespräch zwischen Oleg und Kasimir“ erschienen ist. Ob der Vorname „Kasimir“ bei Chlebnikow als direkte Anspielung auf Malewitsch zu lesen ist, bleibe dahingestellt; die außerordentliche Seltenheit dieses Namens, zumal im Russischen, könnte aber ein Indiz dafür sein. Im Gespräch zwischen Oleg und Kasimir ist, unter anderm, von der „Natur des Anfangslautes“ die Rede, welche „anders als die der übrigen [Laute]“ sei; es heißt dort mit Bezug auf den „Anfangslaut“ A, daß dieser „hartnäckig am Anfang der Namen der Kontinente“ stehe:

Asien, Afrika, Amerika, Australien, obwohl diese Namen sich auf verschiedene Sprachen beziehen. Vielleicht ersteht, ungeachtet der Gegenwart, in diesen Wörtern die Silbe A der Ursprache wieder auf, die einstmals das Festland bezeichnet hat.31

In einem später verfaßten Text über „Die Künstler der Welt“ (1919) ist Chlebnikow noch einen Schritt weiter – von der Wortkunst zur Bildkunst – gegangen, indem er die einzelnen Buchstaben beziehungsweise Laute des Alphabets als räumliche Koordinaten auslegte und das Alphabet insgesamt als „ein knappgefaßtes Wörterbuch der räumlichen Welt“ bezeichnete, die mit der Welt der „Kunst“ und des „Pinsels“ doch so eng verbunden sei.[footnote]A.a.O., S. 219; vgl. dazu Rudol’f Duganov, a.a.O. (siehe Anm. 5), S. 154ff.
Die Bildinschrift „Verdunkelung“ läßt sich weder auf den Bildtitel noch auf die im Bild dargestellten Gegenstände beziehen. Größe, Farbe und Anordnung der Lettern verstärken die ikonische Qualität der Wörter, verhindern aber keineswegs deren Lektüre; diese wird freilich erschwert durch die Brechung der Wortkörper. Der Text scheint als zufällige, malerisch dargebotene Wortkonstellation für sich selbst zu stehen, bezeichnet jedenfalls keinen der dargestellten Gegenstände und bezieht sich auch nicht auf den Titel des Bilds; er ist, scheinbar vor oder über der Malfläche, so disponiert, daß er den Bildraum und die Bildgegenstände wie ein unregelmäßiges grobes Gitter teilweise überlagert – mag sein, daß Malewitsch hier seine Sprachskepsis zum Ausdruck bringt, seine Überzeugung, daß jeglicher Bilddiskurs die Bildwahrnehmung stört, wenn nicht gar verhindert. Der Text kann aber auch, sofern man abzurücken vermag von seiner konventionellen Bedeutung, als bildinterner Kommentar zum Bild selbst gelesen werden, wobei die Sonnenfinsternis – „zatmenie“ heißt wörtlich Verdunkelung, Verfinsterung, in übertragenem Sinn auch (geistige) Umnachtung – als Metapher für jene Sinnverdunkelung zu verstehen wäre, die Malewitsch, in Übereinstimmung mit der kubofuturistischen Ästhetik und Poetik, durch die alogische Anordnung seiner Bildgegenstände bewußt anstrebt.32
Dieser Alogismus zeigt sich auch darin, wie Malewitsch das zum Begriff Verdunkelung (1–2) gehörende (nachgestellte) Adjektiv partiell („častičnoe“) im unteren Bildteil visuell darbietet. Das Wort ist in drei Teilstücke (3–5) zu je drei Buchstaben zerlegt; ЧAC („ČAS“) und TИЧ  („TIČ“) – getrennt durch die Kerze (b), welche die vertikale Mittelachse des Bilds hervorhebt – stehen annähernd auf gleicher Höhe, während der letzte Wortteil, HOE („NOE“), in die Bildmitte nach unten versetzt ist. Das Wort „častičnoe“ ist, wie das deutsche Adjektiv teilweise, von „čast’“, der Teil, abgeleitet. Indem Malewitsch es in seinem Bild tatsächlich zerteilt, evoziert er die Wortbedeutung nicht nur, er realisiert sie auch und veranschaulicht damit das kubofuturistische Postulat der Gegenstands- und Wortzerstückelung – das Adjektiv wird in seinem Letternbestand gezeigt als das, was es bedeutet, d.h. seine Semantik wird optisch wahrnehmbar gemacht.
Die Zerstückelung ermöglicht überdies diverse zusätzliche Lesarten, sofern man die einzelnen Wortsegmente kontextfrei wahrnimmt. Die Buchstabengruppe „čas“ (3) ist identisch mit dem russischen Hauptwort für Stunde (auch Zeit); die Silbe „tič“ (4) verweist, liest man sie gegenläufig zur üblichen Leserichtung, auf das russische Wurzelelement „čit-“, welches generell den Vorgang des Lesens („čitat’“) bezeichnet; und die letzten, separat gestellten Buchstaben ,,-noe“ werden im Russischen so ausgesprochen wie das deutsche Adjektiv neue, was sich wiederum auf das avantgardistische Innovationspostulat beziehen ließe.
Wenn Malewitsch durch die Erschwerung beziehungsweise Störung der Lektüre die Wortbedeutungen vervielfacht, entspricht er damit einer Forderung, die für die Sprachkunst des Kubofuturismus – und gerade auch für Aleksej Krutschonych – bestimmend geworden ist:

wir haben erkannt, daß man für die Darstellung [izobraženie] des schwindelerregenden heutigen Lebens und des noch dynamischeren zukünftigen [Lebens] die Wörter auf neue Art und Weise kombinieren [socetat’] muß, und je mehr Unordnung wir in den Bau der Sätze bringen, desto besser.33

Diese neue „Unordnung“ – des öftern auch Alogismus („alogizm“; „alogičnost’“) genannt – ist für Malewitschs Engländer in Moskau insgesamt konstitutiv, beschränkt sich also keineswegs auf die ins Bild gerückten skripturalen Versatzstücke. Zwischen und hinter den zerteilten Wortgebilden eröffnet sich der von disparaten, gleichsam schwebenden Gegenständen besetzte Bildraum, der in komplexer Staffelung mehrere Ebenen zu verschränken scheint. Auffallend sind die alogischen Wechselbeziehungen zwischen den raumbildenden Gegenstandsüberschneidungen und den damit in keiner Weise korrespondierenden Gegenstandsproportionen, welche jeglicher illusionistischen Raumempfindung zuwiderlaufen.
Aufgrund der Überschneidungen müßte man annehmen, daß sich unmittelbar hinter dem Säbel (a) die Kerze (b) befindet, hinter der Kerze die Leiter (c) und die Kirche (e), dahinter der Fisch (f) und der Löffel (g), noch weiter hinten der rote Pfeil (m) und hinter dem Pfeil das nach vorn ragende Gestänge mit den drei senkrechten Spitzen (d) sowie die Halbfigur des Engländers mit Stehkragen (l) und Zylinder (h); hinter dem maskenhaften, zur Hälfte durch den weißen Fisch verdeckten Gesicht ist ein grobgezacktes Sägeblatt (i) zu erkennen, darunter – scheinbar zurückversetzt hinter die Schulter der Figur – eine weitere, in zwei gebogenen Zeilen angeordnete und sorgsam ausgemalte Inschrift: REITGESELLSCHAFT („SKAKOVOE OBŠČESTVO“) – eine Wortverbindung, die sich allenfalls auf den narrativen Werktitel beziehen ließe (Engländer/Reitgesellschaft) und deren realistische, in den Bildraum integrierte Darbietung (als Haus- oder Türschild) sich von den übrigen, gleichsam vor das Bild geschobenen Schriftelementen formal wie auch funktional klar unterscheidet (6). Unter dem Schriftzug der Reitgesellschaft, räumlich also nochmals nach hinten versetzt, ist eine merkwürdig verformte Schere (k) zu erkennen.
Durch die ungleichen Größenverhältnisse zwischen den teils flächenhaft, teils dreidimensional dargestellten Objekten und durch die unbestimmbare räumliche Disposition der rein malerischen Bilddistrikte wird die Wahrnehmung dynamisiert; dem Blick eröffnen sich immer wieder andere Perspektiven und damit auch immer wieder neue Bedeutungszusammenhänge – ein Effekt, wie er, auf sprachlicher Ebene, durch die Wortfragmentierung und die dadurch bewirkte Versetzung der Wortgrenzen hervorgerufen wird.
In ikonographischer Hinsicht bilden die vier vor der linken Gesichtshälfte des Engländers angeordneten und signifikant aufeinander bezogenen Objekte – Kerze, Leiter, Fisch, Kirche – eine in sich geschlossene Gruppe religiöser beziehungsweise christlicher Dingsymbole, die als solche von den übrigen, eher trivialen Bildgegenständen – dem Säbel, dem Dreizack, dem Löffel, der Säge, der Schere und dem Schriftschild der Reitgesellschaft – kontrastiv, vielleicht polemisch abgesetzt sind. Von keinem der disparaten Gegenstände ließe sich sagen, daß er zur Figur des Engländers beziehungsweise zur Person Krutschonychs einen erkennbaren referentiellen Bezug aufweise.
Einen solchen – wiewohl indirekten – Bezug scheint Malewitsch lediglich durch den Bildtitel andeuten zu wollen, indem er Krutschonychs literarische Befremdlichkeit mit der Fremdheit eines englischen Touristen in Moskau assoziiert. Es handelt sich dabei um einen verfremdenden, das Fremde jedoch gleichzeitig synthetisierenden Kunstgriff, den später Welimir Chlebnikow in ein dichterisches Portrait Krutschonychs übernehmen wird, wo dieser als „kleines Londoner Gespenst“ auftritt, als „ein Bürschchen von 30 Jahren“, das – wie bei Malewitsch – einen steifen „Hemdkragen“ trägt und von dem gesagt wird, sein Gesicht mit den „mädchenhaften Augen“ gleiche demjenigen eines „English [ėngliza?] Leibeigenen“, der „büchermüde“ geworden sei.34
Die unterschiedlichen, alogisch aufeinander bezogenen Bildgegenstände, von denen die Halbfigur des Engländers umgeben, teilweise auch verdeckt ist, lassen sich – sieht man einmal ab von den bereits erwähnten christlichen Dingsymbolen, die hier nicht als Symbole, sondern als dinghafte Konstruktionselemente des Malwerks fungieren – in zwei ungleich große Gruppen aufteilen. Die eine, kleinere Gruppe besteht aus dem Zylinder (h) und dem roten Löffel (g) in der Bildmitte oben. Diese beiden weder funktional noch formal zueinander passenden alltagsweltlichen Objekte hat Malewitsch wohl deshalb miteinander verschränkt, weil sowohl der Löffel wie der Zylinder von den russischen Futuristen bei performativen Auftritten des öftern als Erkennungszeichen verwendet wurden, mit denen zugleich der „öffentliche Geschmack“ herausgefordert werden sollte.35 Durch diverse Bilddokumente ist belegt, daß der Zylinder – im damaligen Künstlermilieu Moskaus eine geradezu exotisch anmutende Kopfbedeckung – zur üblichen futuristischen Kostümierung gehörte.36 Auch gibt es ein vom 8. Februar 1914 datiertes Pressebild, auf dem Malewitsch, angetan mit einem steifen schwarzen Hut, wie auch der Engländer in Moskau ihn trägt, als Teilnehmer einer Straßenaktion zu sehen ist; zu sehen ist außerdem, daß Malewitsch und sein Begleiter am Revers ihrer Wintermäntel je einen großen Holzlöffel befestigt hatten, was von den Passanten, wie es im Zeitungsbericht heißt, mit „verwunderten Blicken“ zur Kenntnis genommen wurde:

Die einen kichern. Die andern geben ihrem Ärger hörbar Ausdruck: „Ob man auf diese Leute nicht das neue Gesetz zur Bekämpfung des Hooliganismus anwenden könnte?“37

Die persönliche Teilnahme Malewitschs an dieser Aktion läßt auch bei ihm auf jenes Skandalbedürfnis schließen, das für die künstlerische Kultur des Kubofuturismus insgesamt charakteristisch war und das bei Majakowskij, Krutschonych oder Larionow besonders vehementen Ausdruck fand.[footnote]Malewitsch soll auf sein Malwerk Engländer in Moskau ursprünglich einen echten Holzlöffel als Collageelement appliziert haben; vgl. dazu Troels Andersen, a.a.O. (siehe Anm. 8). – Zum performativen Skandalismus der russischen Avantgardisten um 1913 vgl. u.a. die Dokumentation von L. Alekseeva: „Larionov. Gončarova. Majakovskij“, in: Literaturnaja ufeba, 1990, Heft 3, S. 167–172; mit Abb. „Wer immer Malewitsch mit einem großen Holzlöffel im Knopfloch gesehen hat“, so heißt es in Michail Matjuschins Memoiren, „Krutschonych mit einem Kissen, das am Ende einer Schnur an seinem Hals hing, Burljuk mit bemaltem Gesicht und Majakowskij in seiner gelben Bluse – hatte sehr oft keinerlei Zweifel daran, daß dies eine Ohrfeige war, die seinem Geschmack galt.“38
Im übrigen ist anzunehmen, daß die Verwendung des Löffels als Instrument der Provokation durch eine weithin bekannte russische Redensart angeregt wurde, derzufolge ein volles Faß Honig mit einem einzigen Löffel Teer verdorben werden könne („ložka dëgtju v bočke mëda“) – Malewitschs Holzlöffel wäre also eine im Bild realisierte volkstümliche Metapher, die ganz allgemein die Störung eines idealen harmonischen Zustands durch aggressive Fremdeinwirkung vergegenwärtigt, eine Metapher, die zusätzlich, wiewohl indirekt, zur Bezeichnung des futuristischen Normbruchs und des damit zusammenhängenden Verfremdungseffekts eingesetzt wird, für den gerade der Engländer in Moskau ein anschauliches Beispiel bieten kann.
Die restlichen von Malewitsch ins Bild gesetzten Objekte bilden eine zweite Gruppe, deren Zusammengehörigkeit durch die gemeinsame Funktion des Zertrennens bestimmt ist: der Säbel (a) zerteilt, die Schere (k) zerschneidet, die Säge (i) zersägt, die Zacken zerhacken; der rote Pfeil (m) scheint den Bildraum gleichzeitig zu durchschneiden und aufzubrechen. Bruch und Schnitt haben, wie bereits ausgeführt wurde, als die paradigmatischen Operationen der avantgardistischen Bild- und Wortkunst, insbesondere des russischen Kubofuturismus, zu gelten, und von daher wäre der Engländer in Moskau nicht bloß als ein verkapptes Dichterportrait zu betrachten, sondern – darüber hinaus – auch als eine Art bildnerisches Manifest, das die zentralen Postulate der Avantgarde sowie auch Malewitschs eigene dekonstruktive Verfahrensweise auf metaphorischer Ebene anschaulich macht. Dafür spricht, unter anderem, die Tatsache, daß etwa das Sägemotiv (welches hier durch die gezackten Rücken- und Schwanzflossen des Fischs noch betont wird) bei Malewitsch und seinen künstlerischen Zeitgenossen auch anderweitig mehrfach vorkommt, was auf dessen programmatische Bedeutung schließen läßt.39 Dieser Schluß findet seine buchstäbliche Bestätigung in der bereits erwähnten, von Krutschonych und Chlebnikow gemeinsam – im Herbst 1913 – verfaßten und von Malewitsch mit Illustrationen versehenen Programmschrift über Das Wort als solches („Slovo kak takovoe“), wo es an einer Stelle, mit Bezug auf die futuristische Wortkunst, heißt:

Wir aber sind der Meinung, daß die Sprache vor allem Sprache sein muß, und wenn sie denn an etwas erinnern sollte, dann am ehesten an eine Säge oder an den vergifteten Pfeil eines Wilden.40

Pfeil und Säge – also je ein Objekt aus der Lebenssphäre der „Wilden“ und der „Zivilisierten“ – werden hier in einem Satz als Gegenstandsmetaphern aufgeboten, so wie Malewitsch, etwas später, sie in seinem Bild zusammenführt, das nun vollends erkennbar wird als ein polyvalentes künstlerisches Modell, in dem die Ästhetik des russischen Kubofuturismus beispielhaft umgesetzt und zugleich, mit ausschließlich bildnerischen Mitteln, kommentiert wird. Wenn dabei der Autor Aleksej Krutschonych, auf den Malewitschs Engländer in Moskau vielfach Bezug nimmt, als reale Person bis zur Unkenntlichkeit verfremdet, fraktalisiert, im Bild also nicht dargestellt, vielmehr zum Verschwinden gebracht, zur Unperson gemacht wird, dann entspricht dies fraglos dem Selbstverständnis der damaligen künstlerischen Avantgarde, die sich nicht nur gegen die überkommene Autorität kanonisierter „Klassiker“ – und gegen Autorität schlechthin – auflehnte, sondern auch bemüht war, das gängige Konzept der Autorschaft dahingehend zu relativieren, daß sie den auktorialen Schaffensakt des Wort- oder Bildkünstlers zurücktreten ließ hinter die Eigengesetzlichkeit und Eigendynamik die dem künstlerischen Material als solchem immanent ist.
Krutschonych war es, der in einer späteren Schrift zur Theorie und Technik der Verschiebung in der russischen avantgardistischen Verskunst noch einmal von der „Überspringung des Bewußtseins“ sprach und darauf hinwies, daß diese Überspringung durch das Verfahren der Verschiebung (sdvig) selbst bewirkt werde;41 dieser autodynamische künstlerische Prozeß bezieht seinen Impuls nicht mehr aus Ideen, sondern aus dem künstlerischen Material und dessen strukturellen Eigenarten, das heißt – die neue Form, ob Text oder Bild, wird auch den „neuen Inhalt schaffen, und nicht umgekehrt“.42 Der Autor tritt nicht mehr als „Schöpfer“ von Kunstwerken auf, er ermöglicht und fördert bloß – als Anreger, als Arrangeur – deren Entstehung, indem er sie einer neuen Wahrnehmung zugänglich macht, durch die sie sich – als Werke der Kunst, und nicht als Werke der Künstler – überhaupt erst zu konstituieren vermögen.

Felix Philipp Ingold, Skript zu einem Vortrag (Universität St. Gallen), abgedruckt u.d.T. „Der Autor als Unperson“ im Tagungsband Fragen nach dem Autor (Universitätsverlag Konstanz, 1992); russisch im Sammelwerk Avtor i tekst, S.-Petersburg 1996.

 

 

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Alexej Krutschonych liest seine Gedichte in der Wohnung von Lilja Jurjewna Brik.

1 Antwort : Alexej Krutschonych: Phonetik des Theaters”

  1. nitzbergs sachen sind naheliegend (auch in meiner bibliothek), aber gleichzeitig liegt ihm sa-um und “sowas” eher fern. – im übrigen danke für die sehr gute und nützliche arbeit!

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