TROTZ UND ZUVERSICHT
Den toten Freunden
Der erste kor den strengen Weg der Kunst
Und fand der Dichtung wie der Liebe Gunst.
Die Dichtung blieb ihm hold, die Liebe brach das Wort:
Er griff zum Strick und warf sein Leben fort.
Dem zweiten glückt es nicht, durch Klipp und Riff
Hindurchzuführn sein schwankes Lebensschiff.
Des Volkes Freiheit war dem Freunde teuer,
Er fiel in Spanien im Feindesfeuer.
Der dritte bebte in den Kissen bleich
Und fiebernd jahrlang vor dem Totenreich.
In matten Reimen buhlte er ums Leben,
um störrisch doch dem Tod sich zu ergeben.
Was für ein Tod ist mir, der ich hienieden
In dieser schlimmen Zeit verblieb, beschieden?
Bin ich auf dieser unheilvollen Fahrt
Zum Martertode sinnlos aufgespart?
Die Freunde lehrten mich das Leben lieben,
So bin ich vor dem Tod ein Tor geblieben.
Hier trug der Freunde Beispiel keine Frucht:
ich weiß mich frei von jeder Todessucht.
Ich werde, wenn der Tod mich hier befällt,
Als Liebender verlassen diese Welt,
Und meiner Freunde blasse Frühgestalten
Werden nur zögernd mir die Fackel halten.
In Gedenken an Siegfried Laufer, Kalmán Bodian und David Goldfeld
I.
Unwiederbringliche Verluste, Abschiede im Zeichen endgültiger Trennung, todumschattete Notlagen sind Begleiterscheinungen dieses langen Dichterlebens, das über Jahrzehnte hinweg außerhalb deutscher Sprach- und Staatsgrenzen verlief und unlösbar mit deutscher Literatur verflochten blieb.
„Mein Leben war sozusagen literarisch verseucht. Wenn nicht von Literatur die Rede war, habe ich gewöhnlich große Langeweile empfunden“, erklärte der siebzigjährige Alfred Kittner in einem 1976 mit Gerhardt Csejka geführten Gespräch. Die Parallele zu ähnlich lautenden Behauptungen Franz Kafkas springt förmlich ins Auge. Doch rief die bis zur Selbstvergessenheit gehende Literaturversessenheit in Kittner keine quälenden Gewissensbisse hervor. Aus dem Umgang mit Büchern flossen unversiegbare Sinn- und Kraftströme. Dienst an der Literatur ist für Kittner nicht nur lebenssteigernde Aktivität, sondern Leben schlechthin. Die Hingabe an die Fülle des literarisch Geformten ließ dabei keinerlei Blasiertheit aufkeimen. „Je mehr man bewundert, desto mehr besitzt man“, lautet ein Diktum Stefan Zweigs, das als Wegweiser über Kittners Verkehrsformen mit Literatur stehen könnte. Skepsis schien ihm vor allem den eigenen Versen gegenüber angebracht, deren Publikation er immer wieder hinauszögerte und die er des öfteren Korrekturen unterzog.
In dem geräumigen Speicher seiner weltliterarischen Kenntnisse liegt die Lyrik seiner engeren Heimat in stets griffbereiter Nähe. Zum Bewahrer von Entlegenem und Verschollenem prädestinierten ihn sein ausgezeichnetes Gedächtnis, seine Entdeckerlust und seine Sammlerleidenschaft. Der aus Czernowitz stammende Alfred Kittner, der fünfunddreißig Jahre seines Lebens in Bukarest verbrachte, wurde nicht müde, für die Werke seiner Freunde und Weggefährten zu werben, diesen einfühlsame Aufsätze zu widmen und jene, sobald sich die Umstände als günstig erwiesen, ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen, sie der Vergessenheit zu entreißen. Allerdings fanden Kittner’s Bemühungen bisher nur im deutschsprachigen Verlags- und Pressewesen Rumäniens ein schmales Betätigungsfeld. In der Bundesrepublik hatte sich eine Mauer der Ignoranz um eine vom Wahnblitz der Geschichte zerstörte literarische Landschaft gebildet, eine Schweigemauer, die erst in jüngster Zeit allmählich durchbrochen wurde. Das Interesse galt dabei Herkunft und Ursprung zweier Dichter, deren Werdegang aus ihrer Heimatprovinz wegführte, deren Artikulationsformen sich im weiteren ungehindert entfalten konnten und die sich durch ihre späteren Produktionen einen Spitzenplatz in der deutschen Literatur er-schrieben: Paul Celan und Rose Ausländer. Höchstwahrscheinlich wären ihre Jugendtexte unbeachtet geblieben, hätte nicht der hohe Rang und der eigentümliche Klang ihrer Nachkriegslyrik die Besinnung auf deren Vorgeschichte geradezu herausgefordert. Die Schattenschrift der Bukowiner Zwischenkriegsdichtung wurde dabei meist nur als Kontext entziffert, als Vergleichsmoment mitreflektiert, als Wurzelgrund bestimmter Metaphern vermessen. In Gruppenbildern mit Celan wies man den Autoren mehr oder weniger kleine Nebenrollen zu.
Immerhin: Der postume Roman des freiwillig aus dem Leben geschiedenen Robert Flinker (1906–1945) Fegefeuer wurde in Österreich und der Schweiz neuaufgelegt. Aufsehen erregten die erschütternden Nachlaßgedichte der an Typhus im südukrainischen Arbeitslager Michailowka frühverstorbenen Selma Meerbaum-Eisinger (1924–1942), die Jürgen Serke 1980 bei Hoffmann und Campe herausgab: Ich bin in Sehnsucht eingehüllt. Gedichte eines jüdischen Mädchens an seinen Freund; die Münchener Literaturzeitschrift Akzente brachte 1982 eine Aufstellung Bukowiner Lyrik, der ein instruktiver Essay von Bernd Kolf vorangestellt war, die Oxforder Vierteljahresschrift German Life and Letters, Heft 1/1985, widmete die Hälfte ihres Umfangs Immanuel Weissglas, dem zeitweiligen Klassenkameraden Paul Celans – Alfred Kittner nannte die beiden „Orestes und Pylades“; 1986 erschien im Verlag des Südostdeutschen Kulturwerks der Lyrikband Im Untergang. Ein Jahrhundertwerk des in Lenzkirch bei Lörrach lebenden Moses Rosenkranz, im Oktober 1987 fand in Graz ein erstes „internationales Symposion“ zur „Deutschsprachigen Literatur der Bukowina“ statt. Doch keines der westdeutschen Autorenlexika neueren oder älteren Datums verzeichnet die Namen Alfred Kittner (geb. 1906), Moses Rosenkranz (geb. 1904), Alfred Margul Sperber (1898–1967) und Immanuel Weißglas (1920–1979), noch hat sich kein hiesiger Verlag für die Gedichte der beiden letztgenannten, in Rumänien verstorbenen Poeten gefunden.
Die Verlautbarungen dieser Autoren, deren „Dichtung […] fern von den Orten entstand, wo über den Erfolg entschieden wurde“, sind nicht reduzierbar auf den Part von anonymen Choristen oder erinnerungsstarken Chronisten, von Stichwortlieferanten oder Empfehlungsschreibern. Sie verdienen es, als Schriftsteller von eigenen Graden zur Kenntnis genommen zu werden. Dabei geht es nicht darum, um ein Wort von Walter Hinck abzuwandeln, sie an Celan und Ausländer zu messen. Es gilt, sie aus ihrem Schatten herauszuholen.
Als Alfred Kittner am 24.11.1906 in Czernowitz, der Hauptstadt des österreichischen Kronlandes Bukowina, als Sohn einer deutsch assimilierten jüdischen Beamtenfamilie geboren wurde, zählte jene etwa 70.000 Einwohner. Juden, Deutsche, Rumänen, Ukrainer und Polen lebten hier mit- und nebeneinander. Im Zeitalter nationaler Emanzipationsbestrebungen war das heterogene österreichisch-ungarische Staatswesen ein von Krisen heimgesuchtes, von Konflikten durchzogenes Gebilde, die sich in dieser Randregion der Monarchie allerdings in weitaus geringerem Maße bemerkbar machten als in Böhmen oder Galizien beispielsweise. Die Welt schien noch auf Sicherheit und Ordnung gegründet. „Klein-Wien“ am Pruth verfügte über ein deutsches Theater, war Sitz einer kleinen Universität (1900: 42 Lehrer und 392 Studenten) mit drei Fakultäten und mit Vorlesungsreihen in zwei bis drei Sprachen. Ein gut organisiertes Schulwesen trug der ethnischen Vielfalt der Bevölkerung Rechnung. Als „ideale Koine“ bezeichnet Kurt Rein das Deutsche, das als Bildungssprache und allgemein akzeptierte Verkehrssprache zwischen den Nationalitäten fungierte.
Die „Schüsse von Sarajewo“ schlugen wie „ein Schock“ in die vom Tatort so ferne, so nahe Existenz des Siebenjährigen ein. Für Kittner wurden sie zum „ersten entscheidenden Eindruck überhaupt meines Lebens“:
Ich erinnere mich noch sehr lebhaft an die Wirkung, die sie hatten, und auch an die Folgen für uns: die ,Flucht‘ nach Wien. Die Jahre 1914–1918 verbrachte ich in Wien, vorn 7. bis zum 11. Lebensjahr also; ich besuchte hier die Volksschule und die ersten Gymnasialklassen, und die Wiener Kultur, die trotz der Kriegsverhältnisse außerordentlich lebendig war, vermittelte mir weitere entscheidende Eindrücke.
Nach dem Ende des ersten Weltkrieges kehrte Kittner mit seiner Familie in die durch den Vertrag von Saint-Germain an Rumänien gefallene Bukowina zurück und absolvierte in Czernowitz eine deutschsprachige Mittelschule. Den folgenden Lebensabschnitt beschreibt Kittner selbst als „Sturm- und Drangjahre, unstete Wanderzeit daheim und im Deutschland der Vorhitlerepoche: Soldat in Sathmar, Student in Breslau.“ Das Germanistikstudium mußte er vorzeitig abbrechen, der Versuch, in Deutschland Fuß zu fassen, scheiterte. 1931 kehrte er nach Czernowitz zurück, von der nach dem Weltkrieg völlig verarmten Familie war keine Unterstützung mehr zu erwarten, als Notlösung bot sich anfangs eine Stelle als Bankbeamter an, doch schon nach einigen Monaten ergab sich eine Gelegenheit, in die Presse hinüberzuwechseln. Am 13. März 1932 erschien die erste Nummer der Zeitung Der Tag. Unabhängiges demokratisches Organ und Kittner trat seinen Dienst als Feuilleton- und Umbruchredakteur, als Reporter und Korrektor bei einem Blatt an, das mit großen finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Schon Mitte 1935 mußte Der Tag sein Erscheinen einstellen. Alfred Kittner wurde im August 1935 von dem neugegründeten Czernowitzer Tagblatt. Unabhängiges Informationsblatt übernommen. 1938 erschien Kittners erster Lyrikband Der Wolkenreiter. Von den 52 Gedichten dieses Büchleins hat der Verfasser nur 12 in den vorliegenden Auswahlband aufgenommen, einige davon in überarbeiteter Fassung.
In den frühen dreißiger Jahren lebten knapp 150.000 Menschen in Czernowitz. Noch immer stellten die Juden den größten Anteil (fast 40 %) der Bevölkerung, die Zahl der Rumänen war gewachsen, die der Deutschen zurückgegangen. Spannungen und Auseinandersetzungen politischer, sozialer und nationaler Observanz überlagerten sich und erfuhren Zuspitzungen. Kabinettsumbildungen und Regierungswechsel waren im nahegerückten Bukarest an der Tagesordnung. Das politische Spektrum war breitgefächert und reichte von der frühzeitig verbotenen Kommunistischen Partei bis zu faschistischen Gruppierungen. Die Wahllisten des Jahres 1933 verzeichneten über 30 Parteien, 1937 beteiligten sich 66 politische Organisation am Wahlkampf. Auch die nationalen Minderheiten schufen sich eigene politische Körperschaften, die ihre Vertreter im Parlament hatten. Von den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise blieb Rumänien nicht verschont, 1933 erreichte die Zahl der Arbeitslosen die 300.000-Grenze, davon lebten mehrere hundert in Czernowitz, einigen von ihnen erteilte Der Tag das erbitterte Wort. Die Sozialkonflikte verschärften sich im industriellen, die nationalen vor allem im öffentlichen und Bildungssektor. Zwischen 1929 und 1933 fanden in Rumänien 327 Streiks statt. Die Regierungspolitik trachtete danach, das rumänische Staatswesen durch ein unitarisches Modell zu festigen und zu vereinheitlichen. Minderheitenfeindliche Maßnahmen – beispielsweise die Verfügungen des Unterrichtsministers Anghelescu und der vorgeschriebene „Numerus valahicus“ von leitenden Angestellten in industriellen und gewerblichen Betrieben – sowie die wachsende antisemitische Hetze der rechtsextremistischen Formationen entfachten Gefühle der Enttäuschung, Verunsicherung, Angst. Angesichts dieser innenpolitischen Lage und beeinflußt von schwerwiegenden außenpolitischen Kräfteverschiebungen, brachen Divergenzen innerhalb der Minderheiten und zwischen diesen aus.
1932 wurde die Nationalsozialistische Selbsthilfebewegung der Deutschen in Rumänien gegründet. Sie spaltete die Rumäniendeutschen und verstrickte deren Führung in jahrelange aufreibende Machtkämpfe, erschütterte und untergrub die deutsch-jüdische Koexistenz in der Bukowina.
Gefährdet in ihren Existenzmöglichkeiten, reagierten die Bukowiner Juden unterschiedlich, klassen- und schichtenspezifisch. Zu Recht spricht Israel Chalfen von „einer ideologischen Zerrissenheit der jüdischen Nachkriegsgeneration im Osten“. Junge Intellektuelle und Arbeiter fühlten sich von sozialistischen Ideen angezogen – davon zeugt unmißverständlich die von Albert Maurüber herausgegebene Zeitschrift Die Gemeinschaft. Organ für soziale Kultur – die ältere Generation der Kaufleute und Beamten näherte sich dem Zionismus, während der Chassidismus auf dem Lande, aber auch in künstlerischen Kreisen Zulauf hatte. Die Haskala, die jüdische Aufklärungsbewegung, stand in deutlicher Opposition zu den Kabbalaanhängern, zu den Zaddikim, den chassidischen Wunderrabbis, zu ihrer Vermittlerrolle zwischen Gott und Mensch.
An der deutschen Sprache hielten die meisten Juden fest. Als Umgangssprache spielte sie in ihrer unverwechselbaren lokalen Prägung noch immer eine wichtige Rolle. Geistig-kultureller Bezugspunkt war Wien, Sehnsuchtsziel in der Vereinzelung. Verfolgt man die Lebensläufe der in diesem Landstrich geborenen Autoren des 20. Jahrhunderts, so fällt auf, daß viele nach Wien übersiedelten, hier ihre Bücher herausbrachten und über die österreichische Metropole Kontakt zum literarischen Leben Deutschlands suchten. Auch Alfred Kittner sandte seine Verse nach Österreich. Am 19. Mai 1932 schrieb ihm darauf Stefan Zweig aus Salzburg, Kapuzinerberg 5:
[…] daß in Ihren Gedichten eine sehr sichtbare und teilweise schon vollkommen sichere Begabung sich kundgibt.
Und der Wiener Tag verlieh seinem Gedicht „Der Mond der Städte“ anläßlich eines Preisausschreibens am 1. März 1937 den ersten Preis. Aufmunternd-anerkennende Worte fanden für Kittners Lyrik u.a. auch Felix Braun und Jakob Haringer, dessen Außenseiter- und Vagantenlieder dem jungen Bukowiner als Stimme eines Schicksalsbruders vertraut entgegenklangen.
Sechs deutschsprachige Zeitungen erschienen in Czernowitz und sie lieferten sich recht häufig scharfe Wortgefechte. Hinzu kamen: meist kurzlebige Wochen- und Monatsschriften, eine Zeitschrift für Humor, eine Messezeitung, eine Filmzeitung, die jiddischen Czernowitzer Bleter. Mehrere Vortragsreihen mit sozialer, philosophischer und literarischer Thematik wurden eingerichtet, die Buchhandlungen führten ein reiches Angebot moderner Literatur, gut ausgestattete Leih- und Privatbibliotheken standen zur Verfügung. So stieß der Gymnasiast Kittner in der Bibliothek eines Deutschlehrers auf Ludwig Rubiner, Ernst Toller und Klabund und in einer Leihbücherei auf Franz Kafkas Die Verwandlung.
In Rose Ausländers autobiographischen Essays, in Alfred Kittners Erinnerungen und literarhistorischen Rückblicken ersteht das Bild einer Stadt, geprägt von regem geistigen Leben, von vielfältigen Interferenzerscheinungen verschiedener nationaler Kulturen, bevölkert von Sozialutopisten und Literaturenthusiasten, von Veränderungswilligen und Träumern, von Atheisten und Mystikern. Und von Dichtern, die sich kannten, die aufeinander reagierten, Manuskripte austauschten, sich gegenseitig Texte widmeten, sich füreinander einsetzten – im Bewußtsein der Zusammengehörigkeit und freundschaftlichen Verbundenheit.
Die Veröffentlichungsmöglichkeiten waren für die Schriftsteller allerdings mehr als bescheiden. Der aktivistisch-expressionistische Nerv. Eine Halbmonatsschrift für Kultur hatte es 1919 nur auf acht Nummern gebracht. Noch im Jahre 1928 bezeichnete Sperber in seinem „Entwurf eines Grundrisses des deutschen Schrifttums in der Bukowina“ die poetischen Stimmen seiner Heimatprovinz als „unsichtbaren Chor“. Dem „Jahrbuch für deutsche Literaturbestrebungen der Bukowina“, Buchenblätter (1932), in dem deutsche und jüdische Dichter zusammenfanden, war keine Fortsetzung beschieden. Im kleinen Czernowitzer Literaria Verlag fanden die jungen Dichter ab 1936 ein Publikationsorgan, zu deutschen Verlagen waren die Zugänge seit Hitlers Machtergreifung ohnehin versperrt und nach dem „Anschluß“ Österreichs entrückte auch Wien in unerreichbare Ferne.
Als Alfred Kittner seine Arbeit am Tag aufnahm, hatte er sich schon in der deutschen Literatur gründlich umgesehen. Die Romantik, die europäische Lyrik des Fin de siècle und des frühen 20. Jahrhunderts, der Expressionismus in seiner widersprüchlichen Ausdrucksfülle sind frühzeitig zu geistigen Heimstätten, zu Gesprächspartnern Kittners geworden. Was auf den ersten, flüchtigen Blick auseinanderzuklaffen scheint – Clemens Brentano und Max Herrmann-Neiße, Joseph von Eichendorff und Franz Kafka, Rainer Maria Rilke und Georg Heym, Alfred Mombert und Georg Trakl, Theodor Däubler und Franz Werfel – wurde von Kittner als Textganzes erlebt, kam seinen Realitätserfahrungen und seinem Kunstverständnis entgegen und hinterließ deutliche Spuren in seiner poetischen Praxis. Als Nah-Verwandte empfand der Bukowiner zwei grenzüberschreitende Meister der skurril-makabren Phantastik: Gustav Meyrink und Alfred Kubin.
Der Tag und das Czernowitzer Tagblatt waren linksbürgerlich orientierte, antifaschistisch eingestellte, auf kein parteipolitisches Programm fixierte Zeitungen. Kittners Beiträge, oft mit den Kürzeln A.K., -k., K -r. gezeichnet, befassen sich mit „Bucovinaer Künstlern“, mit deutscher und rumänischer Literatur, sie schreiben an der Lokalchronik mit und referieren vorrangig über Kulturveranstaltungen in Czernowitz und Umgebung. Zum politischen Zeitgeschehen hat sich Kittner nur selten geäußert, z.B. – durchaus engagiert – zu den Kommunistenprozessen in Czernowitz. Zum Leitartikler fühlte er sich noch weniger berufen. Höchstwahrscheinlich ist es sein Verdienst, daß so häufig Verse in die Seiten der beiden Tageszeitungen eingerückt wurden. Außer Gedichten bekannter deutscher Lyriker – von Georg Heym bis Erich Kästner – werden Texte der Bukowiner Rose Ausländer, Alfred Margul-Sperber, Georg Drozdowski, Silvius Hermann, Viktor Wittner, Itzig Manger, Heinrich Goldmann, Siegfried Laufer, und Alfred Kittner abgedruckt. In einen, vor über einem halben Jahrhundert geschriebenen Aufsatz über die Lyrik Alfred Margul-Sperbers, dem Spiritus rector, der Integrationsfigur der kleinen Gruppe jüdisch-bukowiner Dichter, flicht Kittner eine emphatische Liebeserklärung an Sperber und das deutsche Gedicht ein:
Wieder habe ich, wie so oft in den vergangenen Wochen, eine halbe Nacht über den herrlichen Versen des Dichters Alfred Sperber gesessen, habe mir aus ihnen Verzauberung und Beglückung geholt und dann noch lange Zeit im Dunkel dem Nachhall ihres reinen Klanges gelauscht […] Ariel entsteigt diesen Versen und ich fühle seinen sanften Flügelschlag und mich berühren, reinen seligen Traum […] Es war in einer dumpfen Schulstunde und ich las […] in einer Novelle Eichendorffs. Im Bande müßig blätternd, blieben meine Augen an des Dichters „Mondnacht“ […] haften. Ich las das Gedicht und fühlte, wie Schauer der Glückseligkeit einmal ums andere den Körper durchdrangen, […]. Seit jenen Minuten bin ich dem Gedichte mit leidenschaftlicher Liebe hingegeben, aber die trunkene Beglückung jener seligen Minuten habe ich ganz selten nur, zuletzt bei einigen der Orpheus-Sonette Rilkes und nun auch bei vielen Gedichten Alfred Sperbers wiederempfunden.
„Ich war ja gewissermaßen klassenlos, ich war, als Tagesschreiber, sozial nirgends eingeordnet und lebte von der Hand in den Mund, in äußerster Armut“, umreißt Kittner seine gesellschaftliche Randposition in dem mehrfach zitierten Gespräch mit Gerhardt Csejka. Er gehörte nicht dem wohlhabenden jüdischen Bürgertum an, das eine Stabilisierung der Verhältnisse erhoffte. Der Zionismus lieferte keine sinnstiftenden Argumente für eine rettende Einbettung in nationalreligiöse Zusammenhänge. Hineingezwungen in einen Brotberuf. dem er zwar gewissenhaft nachging, aber nicht völlig darin aufging, war das Gedicht für Kittner das einzig gemäße Medium der Selbstverständigung auf schwankendem Boden. Überdies war die lyrisch verdichtete Redeform in ihrer gattungsspezifischen Konstitution nicht auf das Bukowiner Insel- und Umgangsdeutsch angewiesen, dessen Topik, Lexik und Grammatik von jiddischen, slawischen und rumänischen Einflüssen durchsetzt war. Im Gedicht konnte der Anspruch auf Zugehörigkeit zur „großen“ deutschen Lyrik am ehesten künstlerisch legitimiert werden.
Erlebnisgrundlage der meisten Gedichte des Wolkenreiters bildet das Bewußtsein des Nicht-Dazugehörens, des Außenseitertums, das Gefühl des Verlorenseins, die Wahrnehmung eigener, verunsicherter Identität. „Wirklichkeit“ war für Kittner keine erfaßbare und rational entzifferbare Größe, war etwas Instabiles, Changierendes, von unerwarteten Einbrüchen und Verwandlungen, bedrohlichen und befreienden, zerstörerischen und verzaubernden, Durchkreuztes. Zwischen Augenblicksempfindungen erfüllten, glückhaften Daseins und andauernden Erfahrungsweisen von Einsamkeit und Angst bewegt sich seine Poesie.
Realitätsbilder in spätexpressionistischer Ausführung thematisieren die Befindlichkeiten eines Umhergetriebenen und Ruhelosen im nächtlich-düsteren Prostituierten- und Kaschemmenmilieu. Die meisten dieser Gedichte, deren schmerzlichem Grundton ein Schuß trotzigen Zynismus’ beigemischt ist, sind in der Halbmillionenstadt Breslau entstanden. Die gemildert-expressiven Darstellungsmuster erwiesen sich als verwertbar, um das fern der Heimat Erlebte auszudrücken. Die in Czernowitz geschriebenen Gedichte breiten Innenwelt in ihrer Zwiespältigkeit aus, das Psychogramm überwuchert die spärlichen Ansätze einer Soziographie des Marginalen. Mit einer bemerkenswerten Ausnahme: „Ostern 1933“, eine apokalyptische Vision dessen, was im Zeichen Hitlers Wirklichkeit wurde.
Die Umwelt wird ins Abgründige, Nicht-Geheure, Unheimliche verfremdet, staunend und schaudernd erlebt das Subjekt seine Entmächtigung und Verdinglichung:
[…]
Im Fenster hängt schwarz das Kreuz der Nacht,
An das ich geschlagen bin,
Und dem ich in ohnmächtiger Schlacht
Mit blutenden Stunden dien.
Und mitten in meine nächtliche Welt
Find ich auf einmal so fremd
Und kalt wie ein Ding mich hingestellt
In meinem frierenden Hemd.
(„Nachtwache“)
Dadurch rücken einige Gedichte Kittners in die Nähe von Kafkas Prosa. Hier wie dort gleitet das Ich unversehens, ohne Vorwarnung, in Notsituationen, die es durch Reflexion nicht aufhellen kann. Andererseits eröffnen sich auch Fluchtträume von romantischer Beschaffenheit: weltentrückte Naturlandschaften und Traumtiefen voller Wunder. Vielfältig abgewandelt durchziehen die Gegensatzpaare Natur-Gesellschaft, Traum-Realität die Bukowiner Lyrik der Zwischenkriegszeit. Poesie verwandelte die Wirklichkeit, machte sie erträglicher, indem sie ihr Wunschbilder vom unentfremdeten Leben entgegenhielt.
Der Einsatz von Rollenlyrik – ihr gelungenstes Beispiel: „Kaspar-Hauser-Lied“ – dient dazu, Subjektives zu artikulieren. Der Poeta doctus Kittner verleugnet den Erlebnislyriker nicht, wenn er Mythisches und Historisches im Wechselspiel von Anverwandlung, Rekonstruktion und Aktualisierung zum eigenen Existenzmodell umformt. Die Bindung an Vorgesprochenes und Vorgeprägtes wird auch durch Kittners Vorliebe für überlieferte Topoi und metrisch durchgestaltete Bauformen dokumentiert. Syntaktisches wird nicht aufgesprengt, der Diskurs über Rätselhaftes nicht verschlüsselt. Zu dieser Entscheidung dürfte sowohl Sperbers Bekenntnis zu „allem Veraltetem und Herkömmlichem in Form, Wahl und Behandlung der dichterischen Gegenstände“ als auch Kittners Kafka-Faszination beigetragen haben:
Ja, ich erinnere mich ganz deutlich, daß ich es damals als mein Ziel empfunden habe, diese Kafka-Welt […] aus der Prosa in die Lyrik hinüberzutragen […] Im wesentlichen kam meine Betroffenheit daher, daß es Kafka gelungen war, trotz dieser ganz neuen traumhaften Sicht die tradierte epische Berichtform beizubehalten.
III.
In den enddreißiger Jahren glich Czernowitz einem Pulverfaß. Während der kurzen Regierungszeit der rechtsgerichteten Nationalchristlichen Partei wurden offen antisemitische und antidemokratische Aktionen in die Wege geleitet, denen auch das Czernowitzer Tagblatt zum Opfer fiel. Schon Anfang 1938 mußte Kittner nach einem neuen Arbeitsplatz Ausschau halten und fand ihn schließlich nach langjähriger Arbeitslosigkeit in einer örtlichen Bibliothek. Unter der Diktatur Carols II. (1938–1940) geriet das außenpolitisch isolierte Rumänien in die Einflußsphäre Deutschlands, doch wurden die marginalisierten jüdischen Autoren nicht mundtot gemacht, ihre Bücher nicht verbrannt. Lyrikbände von Alfred Margul-Sperber, Rose Ausländer, Moses Rosenkranz und David Goldfeld erschienen noch 1939 und 1940 und wurden in der zusammengeschrumpften deutschsprachigen Lokalpresse auch rezensiert.
Im Juni 1940 hatte die Sowjetunion Ansprüche auf Bessarabien und die Nordbukowina geltend gemacht und sie durch ein Ultimatum an Rumänien auch durchgesetzt. Die deutsche Bevölkerung dieser Gebiete wurde ins „Reich“ umgesiedelt, Kittner verblieb in Czernowitz und schrieb nun für die Schublade, in der schon hunderte von Jugendgedichten – die meisten expressionistischer Faktur – lagen, die er in den Wolkenreiter nicht aufzunehmen gewagt hatte. Der größte Teil davon ging 1942 verloren. Erhalten haben sich einige wenige Gedichte aus den Jahren 1939–1942: Signale aus einer sinnentleerten Welt, Botschaften des Ausgesetztseins, gespenstische Visionen.
Am 22. Juni 1941 überfiel Deutschland die Sowjetunion, am 5. Juli besetzten deutsche und rumänische Verbände Czernowitz. Die SS-Einsatztruppe D übernahm das Militärkommando. In den ersten Wochen wütete der Mord, darauf folgten die Errichtung eines Gettos und die Massenverschleppungen der Juden in das zwischen Dnestr und Bug gelegene südukrainische Transnistrien. Im Sommer 1942 wurde Kittner deportiert, sein mit Toten gesäumter Leidensweg führte durch mehrere Vernichtungslager: Steinbruch am Bug, Tschetwertenowka, Demidowka, Obodowka. Dank des Durchbruchs der Roten Armee bei Uman im Frühling 1944 wurde Kittner befreit und gelangte im Gefolge der Sieger ins verwüstete Czernowitz. Knapp ein Zehntel der jüdischen Bürger seiner Vaterstadt hatte die Jahre 1941–1944 überlebt. Alfred Kittner: Heimkehrer zum dritten Mal. Diesmal nur für ein Jahr, nichts verlockte zur Bleibe. Im September 1945 verließ Kittner Czernowitz in Richtung Bukarest, seine Geburtsstadt sollte er nicht mehr wiedersehen.
Unter den unmenschlichsten Bedingungen hat Kittner nicht aufgehört, Gedichte zu schreiben. Die poetische Bewältigung der ihn umzingelnden feindlichen Realität wurde zum Rettungsring aus der Flut des Grauens. Als „Reimchronik eines Deportierten“ bezeichnete der Autor die Gedichte der Jahre 1942–1945, jene, die er retten konnte. Sie sind erst 1956 in Buchform erschienen und bilden den Schwerpunkt von Kittners zweitem Lyrikband Hungermarsch und Stacheldraht. Verse von Trotz und Zuversicht. Der Allgegenwart der Vernichtung begegnet Kittner in strophisch strukturierter, oft liedhafter Gegenrede, dem Ungeheuerlichen wird durch eindringliche Schlichtheit entgegengewirkt. Weder pathetisches Selbstmitleid noch radikale Weltverzweiflung kommen auf. Viele Gedichte sind als Erfahrungsberichte angelegt und vergegenwärtigen in unbeschönigten Bildern Szenen aus dem Lager-„alltag“: Martermärsche der zwischen Lebenstrieb und Todeswunsch schwankenden Freiheitsberaubten, Sterbebeschreibungen, der Sadismus der Peiniger, Überfälle durch plündernde Räuberbanden. Gleichzeitig sind die Texte Zeugnisse des Selbstbehauptungswillens, Ausdruck der Unvernichtbarkeit menschlicher Denk- und Fühlkraft.
Im Unterschied zu Immanuel Weißglas, der das Selbsterfahrene in den Todesstätten in ein archetypisches Konfliktmodell von Seinsmächten verwandelt, in seinen kunstvoll komponierten Gebilden das Historische mythisiert und den Mythos historisiert, bevorzugt Kittner die Formen unmittelbarer Schilderung. Selten wird die konkrete Erfahrungsdimension mit der Passionsgeschichte des jüdischen Volkes in Verbindung gebracht. Doch selbst in dieser „Reimchronik“, die so offensichtlich auf Tatsächliches ausgerichtet ist, wird die Faktizität der Ereignisse mancherorts ins Traumhafte, Halluzinatorische, Schemenhafte aufgelöst.
Bukarest nach dem Sturz der Militärdiktatur Ion Antonescus. Die rumänische Hauptstadt ist zeitweiliger Aufenthaltsort der Bukowiner Autoren, die der Deportation entgangen waren, Getto, Arbeits- und Vernichtungslager überlebt hatten. Für einige wurde sie zur Zwischenstation auf dem unsicheren Weg in die Fremde der Freiheit: Rose Ausländer, Paul Celan, Alfred Gong. Die anderen – Alfred Kittner, Alfred Margul-Sperber, Immanuel Weißglas – blieben.
Schon wenige Tage nach seiner Ankunft fand Kittner eine Anstellung in der Bibliothek des ARLUS (Gesellschaft für kulturelle Beziehungen mit der Sowjetunion) und wirkte nebenher auch als Rundfunksprecher. Einige Jahre später wurde er Direktor der Bibliothek des Instituts für kulturelle Beziehungen mit dem Ausland. Ab 1958 lebte er als freischaffender Schriftsteller und Übersetzer.
Als Augenzeuge erlebte Kittner die folgenreichen Ereignisse, die über die politische Bühne des Landes gingen und im Dezember 1947 zur Abdankung des rumänischen Königs und zur Proklamation der Volksrepublik führten. Für die Entwicklung der deutschsprachigen Literatur – von den etwa 16 Millionen rumänischen Staatsbürgern bekannten sich bei der Volkszählung aus dem Jahre 1948 beinahe 350.000 zur deutschen Muttersprache – schuf das neue Regime einen zweckentsprechenden, straffen organisatorischen Rahmen: Zeitungen und Zeitschriften wurden ins Leben gerufen, deutschsprachige Abteilungen den rumänischen Verlagen angegliedert, Literaturkreise gegründet usw.
An alle Autoren erging der kategorische Aufruf, als militante Verteidiger und Gestalter der radikalen gesellschaftlichen Umwälzungen aufzutreten. Eine rigoros festgeschriebene Abbildtheorie grenzte den Sprachgestus auf die Illustration vorgegebener Thesen, auf die Eindeutigkeit eines parteipolitischen Manifestes, auf mobilisierende und propagandistische Funktionen ein. Die Entfaltung der Subjektivität wird als „Subjektivismus“, Stimmungs- und Meditationslyrik als „Intimismus“, Individualstil als „Formalismus“ abqualifiziert. Prompt fielen Kittners durchaus weltfreundliche Gedichte, die in der ersten sozialistischen rumäniendeutschen Lyrikanthologie Aufbau und Frieden (1950) zu stehen kamen, der Wachsamkeit der Ordnungshüter zum Opfer – „als Requisit aus der Rumpelkammer des Symbolismus, billigster Abklatsch von Mallarmé“. Erst nachdem schrittweise und mühselig ästhetische Positionen zurückerobert werden konnten, die man allzu leichtfertig aufgegeben hatte, trat der Lyriker wieder an die Öffentlichkeit, zuerst im Banater Schrifttum (Heft 1/1955, Heft 2/1956), danach mit dem Band Hungermarsch und Stacheldraht. Von den 57 Gedichten, die dieses Buch beherbergt, sind nur zwei neueren Datums. Weitere fünfzehn Jahre vergingen, bis Kittner seinen dritten Band – Flaschenpost (1970) – veröffentlichte, der mit einem Lyrikpreis des rumänischen Schriftstellerverbandes ausgezeichnet wurde. 1973 erschienen die Gedichte, ein Querschnitt durch das lyrische Schaffen der Jahre 1925–1972.
Inzwischen hatte sich die literarische Szene verändert, war lebendiger, farbiger geworden. Die eng geschnürten, dogmatisch verkrusteten Schreibkonzepte wurden als unbrauchbar verworfen, ein erstaunlicher Formenpluralismus setzte sich durch, aufgebrochen wurden vergitterte Traditionsbezirke, erfahrene Autoren, die den Konjunkturzwängen widerstanden hatten, und selbstbewußte, hochbegabte Anfänger besetzten das Gelände.
„Für Kittner kam eine Reihe guter Jahre“, vermerkt sein ehemaliger Verlagslektor Dieter Roth, „Jahre auch des Reisens nach Österreich, in die Bundesrepublik und in die Schweiz, zu Begegnungen und Vorträgen.“ Eine Rente des Schriftstellerverbandes sicherte ihm den Lebensunterhalt, ungezählte Bücherpakete trafen wohlbehalten ein, eine weitverzweigte Korrespondenz verband ihn mit Gleichgesinnten von nah und fern, seine einzigartige, etwa 16.000 Bände umfassende Bibliothek und seine Sammlungen unveröffentlichter oder schwer greifbarer Texte stellte er bereitwillig in- und ausländischen Literaturforschern und Germanistikstudenten zur Verfügung, zu den alten Freunden gesellten sich neue; Wolf von Aichelburg, Andreas Birkner, Oscar Walter Cisek, Franz Storch, Dieter Schlesak, Alfred Margul-Sperber zählten zu den gern gesehenen Gästen Kittners. Aufmerksam verfolgte er das Literaturgeschehen und entdeckte immer wieder Benachteiligte, Abseitsstehende, schockierte auch mal die von jungen Leuten getragene Literaturkritik durch originell anmutende Werturteile. Jahrzehntelange Arbeit investierte er in die geduldige Zusammen- und häufige Umstellung einer mehrbändigen rumäniendeutschen Lyrikanthologie, die im Typoskript vorliegt.
Ein immenses Übersetzerpensum und eine intensive Herausgebertätigkeit begleiteten und ergänzten die dichterische Produktion. Kittner hat tausende von Seiten rumänischer Prosaisten, hunderte von Gedichten rumänischer Lyriker, mehrere Bühnentexte rumänischer Dramatiker ins Deutsche übertragen und zur Popularisierung des rumänischen Schrifttums im deutschsprachigen Raum nicht wenig beigetragen. Er hat die Werke seiner neidlos bewunderten Freunde Oscar Walter Cisek und Alfred Margul-Sperber kommentiert und ediert und hat in Aufsätzen und Einführungen auf zahlreiche andere Autoren aufmerksam gemacht. Dem Vermittlungsgewerbe zwischen den Nationen und Sprachen, über Grenzen und Vorurteile hinweg hat Kittner viel Zeit und schöpferische Energien geopfert.
1980, nach dem Tod seiner Frau, ließ sich der Fünfundsiebzigjährige in der Bundesrepublik nieder. Seit 1981 lebt er in Düsseldorf, in unverminderter geistiger Frische, erstaunlich rüstig, schon wieder von Büchern umlagert. „Es blieben aber nicht nur die ,irdischen Güter‘ in Bukarest, die Bücher und Briefe, die für Kittner gewiß einen Teil seines Lebens bedeuten, sondern es blieben Menschen zurück, denen der Schriftsteller Freund, Ratgeber und Anreger war, es blieb auch in der Ferne eine Stadt, in der Kittner, schon einmal entwurzelt, doch wieder Wurzeln geschlagen hatte“, schrieb Helga Abret in dem umfangreichsten Essay, der über Kittner bisher in der Bundesrepublik erschienen ist.
Das eigene Werk der letzten vier Jahrzehnte ist schmal. Als Kittner 1945 in Bukarest ansässig wurde, schien sein dichterischer Formationsprozeß schon abgeschlossen. Unauslöschlich prägten sich die Holocaust-Erfahrungen ein, selbst wenn sie nicht die thematische Dominante des Spätwerks bilden und selten alleiniger Gedichtanlaß sind.
„Nichts wollte ich beweisen. Ich wollte mich selbst beweisen“, lautete Kittners Replik auf Gerhardt Csejkas Frage nach dem Referenz-Charakter seiner Lyrik. Kollektivistischen Heilslehren gegenüber blieb er immun, die Position des Sachwalters von spezifischen Gemeinschaftsbelangen, die von vielen deutschen Autoren aus Siebenbürgen und dem Banat eingenommen wurde und die zum traditionellen Rollenverständnis des Minderheitenschriftstellers gehörte, war ihm wesensfremd, an der gesellschaftsbefragenden kritischen Rationalität der jungen Generation vermißte er die poetische „Substanz“. In einem Brief vom 31.10.1978 schrieb er mir u.a.:
Gegenüber allem, was sich in den letzten unfruchtbaren, weil ruhelosen Jahren aus mir abgesetzt hat, erfüllt mich maßloses Mißtrauen, und da ich alles, schon nach den ersten Zeilen, verwarf, warf ich es auch von mir, wenn ich es nicht gar, wie es in den meisten Fällen geschah, bei diesen ersten, mich unbefriedigenden Zeilen bewenden ließ.
Dabei gibt es unter den Spätversen durchaus beachtliche Gedichte. Dazu gehören m.E. nur wenige der diskursiv-erörternden Texte, sondern vor allem die bildhaft verdichteten, rhythmisierten Artikulationen, die sich visionär ins Kosmische und Abgründige öffnen. „Blaueule Leid“; „In einer Schmerznacht“; „Mondaufgang am Meer“ u.a.
Als auslösendes Moment wirkt noch häufig die Einmaligkeit einer Begegnung mit der Erinnerung, mit der Natur, mit der geliebten Frau. Die Gefühlsergriffenheit setzt die Phantasie in Bewegung, erschließt Realität als innerweltliche Epiphanie oder „romantisiert“ sie ins Numinose.
Die von einer Summe umdüsterter Erfahrungen gespeiste Welterkenntnis des alternden Dichters tendiert in anderen Gedichten zur Bilanzierung gelebten Daseins. Rastlose Wanderschaft, labyrinthische Wirklichkeit, das herannahende Ende sind Motivkonstanten dieser zum Sentenzhaften, Spruchhaften, zum desillusionierten Räsonnement hindrängenden Meditationen. Die schönsten Bilanz-Gedichte wissen das Emotional-Verschwommene zu meiden und erliegen auch den Gefahren besserwisserischer Rhetorik nicht. Die Reflexion teilt sich darin in Form metaphorischer Anschaulichkeit mit und durchbricht die Stereotypen, die sich anderwärts eingenistet haben. Wer den lebenssprühenden Menschen Kittner kennt, staunt über die geradezu grimmige Insistenz, mit der die Alterslyrik um den Tod kreist, mit der seine Ankunft erwartet und – allein schon durch seine vielgesichtige Evokation – abgewehrt wird.
Ausgesetztsein und Preisgegebenheit: Kittner hat diese Grenzerfahrungen durchlitten, die Sprache haben sie ihm nicht verschlagen, die Lebenskräfte nicht abgewürgt. Schön wär’s, wenn er noch die Geduld aufbrächte, seiner Lyrik ein Memoirenwerk an die Seite zu stellen.
Peter Motzan, Nachwort
hat Kittner nicht aufgehört, Gedichte zu schreiben. Die poetische Bewältigung der ihn umzingelnden feindlichen Realität wurde zum Rettungsring aus der Flut des Grauens.
Rimbaud Verlag, Klappentext, 1994
Schreibe einen Kommentar