Alfred Kittner: Wahrheitsspiel

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Alfred Kittner: Wahrheitsspiel

Kittner-Wahrheitsspiel

HERR, ICH BIN DER SIEBENUNDDREISSIGSTE
Alfred Kittners letztes Gedicht: August 1991
im Martinus-Krankenhaus Düsseldorf

Herr,
ich bin der Siebenunddreißigste,
der, der immer zu spät kommt
zur Verteilung Deiner Güte und Weisheit,
Deiner Lieder und Hymnen.
Wär’ ich der Sechsunddreißigste,
hätt’ ich sie Dir dargebracht
mit Schalmeienklängen,
doch so, als der Siebenunddreißigste
verzage ich
und muß vor Dir katzenbuckeln
wie ein toter Schimpanse.
Wirf Deinen schweren schwarzen Hammer auf mich,
daß ich nicht wiederzukehren brauche
zur saueren Wahl,
Zebaoth.

 

 

 

Unter den unmenschlichsten Bedingungen

hat Kittner nicht aufgehört, Gedichte zu schreiben. Die poetische Bewältigung der ihn umzingelnden feindlichen Realität wurde zum Rettungsring aus der Flut des Grauens.

Rimbaud Verlag, Klappentext, 2005

 

Nachwort

Die Auswahl der vorliegenden Sammlung Der Wolkenreiter und des Bandes Wahrheitsspiel, der separat erscheint, wurde ebenso wie die zeitliche und thematische Unterteilung noch zu Lebzeiten des Autors getroffen; später durch einige Gedichte aus dem Nachlaß ergänzt, wobei im Wesentlichen auf Wiederholungen der bereits im Band Schattenschrift enthaltenen Gedichte verzichtet wurde. Da ursprünglich nur an einen Nachdruck des 1939 im Czernowitzer Literaria-Verlag erschienenen ersten Buches Der Wolkenreiter gedacht wurde, wovon dann aber abgesehen werden musste, wurden diesem besonders viele Gedichte entnommen.
Die Neuausgabe Der Wolkenreiter. Gedichte 1925–1944 will Zeugnis ablegen: Sie dokumentiert Stationen eines bewegten Lebens und dichterischen Werdegangs und damit die innige Verknüpfung zwischen Biographie und Versen eines bedeutenden, aber nicht genügend beachteten deutsch-jüdischen Lyrikers. Zu den hier gesammelten Marksteinen seines lyrischen Schaffens zählen neben frühen, in Czernowitz verfassten Gedichte (1925–38), die 1938 unter dem Titel Der Wolkenreiter erschienen waren, hauptsächlich die späteren im Ghetto und den Vernichtungslagern von Transnistrien geschriebenen Verse (1941–1944). Der zweite Gedichtband Wahrheitsspiel enthält dagegen Gedichte aus den Jahren 1945–1991.
Obwohl beide Sammlungen naturgemäss unterschiedliche Themen haben, sind sie von einer sich wandelnden Dichtungs- und Sprachauffassung geprägt. Ausgangspunkt ist ein im ersten Zyklus reflektiertes Grunddilemma: die Auseinandersetzung eines Spätromantikers, der sich als Nachfahre des französischen Vagabunden François Villon, der deutschen Wanderpoeten Jakob Haringer und Peter Hille sowie der Kosmiker Alfred Mombert und Theodor Däubler empfand, mit einer von Materialismus und mangelnder Vorstellungskraft geprägten Gesellschaft. Die Schlüsselthemen des ersten Zyklus „Traumgeklüft“ verbinden das romantische Bild des Dichters als Außenseiter der Gesellschaft mit der symbolistischen Auffassung, dass Lyrik Musik sei.
Kittners frühes, programmatisches Gedicht „Der Wolkenreiter“ versinnbildlicht den Ausbruch des Künstlers aus erdrückenden gesellschaftlichen Zwängen:

Die Wolken legen sich wie raue Häute
Aufs Bett mir schwer,
Und ich bin ihre Beute.

Durch Haine blau, durch Täler voller Licht
Trägt es mich fort.
Und ich erwache nicht.

Wie berg ich mich im Flaum des Schlafs so gut!
Durch Traum zu gleiten,
Herz, wie gut das tut!

Auf dem Pegasus des Traums reitet das lyrische Ich in eine Wolkenwelt, die bald die Form einer bewaldeten Landschaft annimmt, dann wieder anthropomorphe Züge trägt und sich allmählich in Musik auflöst. Fast unmerklich untergräbt Kittners subtile Ironie die traditionelle romantische Dichtungsweise: Im „Wolkenreiter“ ist die kosmische Musik kein Chor von Engelsstimmen. Auf dem Flug ins All wird das lyrische „Ich“ vom dumpfen Getös der Himmelsbrandung begleitet:

In Wolken singt ein tiefer Regenchor.
Die Himmelsbrandung hallt
Dumpf an mein Ohr.

Die innere Befreiung und das Glückgefühl, die das lyrische „Ich“ erfährt, schlagen bald in Beklemmung um. Kittner beschreibt den Reiter unter fremden Gestirnen als einen an Kälte und Einsamkeit Leidenden, der sich nach menschlicher Wärme sehnt. In der vierten Strophe entpuppt sich schließlich sein Pegasus als das Sternbild Urs, drei behäbige Bären, die nicht zum Stehen gebracht werden können.

Hart tret dem Wolkenbär ich in die Weichen,
So kalt ists um mich her,
ich will die Welt erreichen.

Die Welt ist fern, dort schlaf ich warm und gut
Und muß nicht reiten
Durch die Wolkenflut.

Ich kann mein Reittier nicht zum Stehen zwingen;
Nun reit ich immerfort
Auf bösen Schwingen.
(„Der Wolkenreiter“)

„Gestalten“, der zweite Zyklus, besteht aus einer Reihe Portraits biblischer und historischer Figuren (Abel, Johannes der Täufer, Sabbatai Zwi, der falsche Messias, Kolumbus), aus Versen auf die griechische Dichterin Sappho sowie Erinnerungen an den bedeutenden ukrainischen Bildhauer aus der Bukowina Opanas Schewtschukiewitsch.
Der kurze dritte Zyklus, „Tote Liebe“, ist nach einem Gedicht des russischen Lyrikers Iwan Bunin benannt, das Kittner übersetzt hat.
Der vierte und fünfte Zyklus „Tal des Friedens“ und „Spuren im Zeitenmüll“ verknüpfen romantische, in Anlehnung an Eichendorff und Clemens Brentano verfasste Landschaftsgedichte mit spätexpressionistisch geprägten, von Jakob Haringer und Peter Hille beeinflussten, weltanschaulichen Reflexionen, Eindrücken aus seiner Breslauer Zeit und dem Dienst beim rumänischen Militär.
Das im Jahre 1930 in Breslau entstandene Gedicht „Bettelnde Fiedel“ evoziert das Motiv der Wanderung von einer Welt in die andere:

Fiedel, dein lumpiger Jammer,
Von frierendem Bogen gestöhnt,
Hat meine kahle Kammer
Und die leeren Wände verhöhnt.

Hinaus auf die kalten Straßen!
Die Straße ist unser Zuhaus.
Bald wird dein Lied verblassen,
Dann werf ich verloren, verlassen,
Den letzten Groschen in den Hof hinaus.

Die Fiedel als Sinnbild einer Dichtung, die sich von gesellschaftlichen Zwängen befreit. Sie treibt das lyrische „Ich“ aus der kalten Kammer bürgerlicher Leere ins bunte Straßenleben, dem eigentlichen Zuhause. Ironie untergräbt auch in diesem Text die Romantik des Wanderlebens. Der Ausbruch aus der finanziell gesicherten, aber langweiligen bürgerlichen Gesellschaft lässt den Künstler zum „armen Spielmann“ werden, dessen Lied trotz Buntheit des Straßenlebens verblasst. Wie die letzte Verszeile andeutet, bleibt der Künstler dennoch bei seiner Verachtung der materialistischen Welt.
Das Gedicht „Sterngesang“ (1927) suggeriert einen anderen Weg:

Als wir durch träumende Täler geschritten,
Breiteten wir die Hände hinter den Hütten
Und senkten das Knie vor der murmelnden Quelle:
Unser Sehnen war Wald und war Wind und war Welle.

Das aus drei Strophen bestehende Gedicht setzt mit dem Bild einer Wanderung durch eine Traumlandschaft an, in der Innenleben und Natur eins werden. In der zweiten Strophe wird dieses Wandern zum Herumirren in einer als „brausende Stätte namenlosen Leids“ und materieller Not beschriebenen Außenwelt. Dieses Bild bringt einen Grundgedanken der frühen Dichtung Kittners zum Ausdruck: Auf der Suche nach geistiger Nahrung im „Zeitenmüll“ kann selbst ein aus der romantisch kosmischen Dichtung hervorgegangenes lyrisches „Ich“ seine als Sehnsucht, Traum und das Lyrische an sich verstandene Identität verlieren. Aber gerade dieser Identitätsverlust zwingt das lyrische „Ich“ zu einer erneuten Suche nach einer Welt der Sehnsucht und Träume als einem erneuten Prozess der Selbstfindung.
Das Gedicht „Herbstmanöver“ aus demselben Zyklus „Zeitenmüll“ spielt auf Kittners bedrückende Erlebnisse während der rumänischen Militärzeit an. „Bettelnde Fiedel“ und „Bücherneppers Klage“ vermitteln ein plastisches Bild der Armut, das auf Kittners Erfahrungen in Czernowitz und Breslau beruhte. Der Weg, den diese Gedichte zeichnen, führt nicht mehr in eine Traumwelt, sondern in ein von Not überschattetes Alltagsleben.
Der abschließende Gedichtzyklus „Zeitenwende“ evoziert die dramatischen Ereignisse, die Kittners Leben prägten: das Jahr 1940, als seine Heimatstadt Czernowitz unter sowjetische Besatzung geriet, das Grauen der Deportation und der Vernichtungslager in den Jahren 1941–1944; die Befreiung und Rückkehr nach Czernowitz.
Kittners in den Vernichtungslagern Transnistriens verfassten Gedichte evozieren das Grauen der Shoah und des Krieges. Trotz Verfolgung, Gettoisierung, Deportation, trotz Todesmärschen und Angst verstummt der Dichter nicht. Schreiben wird zum Rettungsanker und das Gedicht zum geschichtlichen Dokument, das von den Untaten der Verfolger und der Verzweiflung der Verfolgten spricht. Lyrik ist indes auch Zufluchtsort für den Verfolgten. Denn manche dieser Verszeilen erschaffen eine Sprachwelt, die sich der düsteren Realität entzieht.
In Kittners Shoah-Gedichten werden Tatsachen der Deportation und des Krieges im wörtlichen Sinne zur Sprache gebracht:

Die schwarzen Züge rollen auf den Gleisen,
Und auf den Straßen rattern dumpf die Tanks.
Du schreckenvolle Zeit aus Blut und Eisen,
Du blutige Zeit des jähen Untergangs.

Wie Gnome stehn wir zwischen den Maschinen
Und gehn verdrossen mit den Walzen um,
Im Eisenlärm erstarren unsere Mienen,
Die Seelen werden leer, die Herzen stumm.
(„Diese Zeit“, 1943)

Dieses im Vernichtungslager Obodowka verfasste Gedicht prägt sich in seiner nüchternen, faktischen Aussagekraft ins Bewusstsein der Leser ein. Das Bild der „schwarzen Züge“ ist keine neoromantische oder expressionistische Metapher des Todes. Kittners Tatsachenbeschreibungen reduzieren die ästhetisierende Dimension der dichterischen Sprache auf ein Minimum, lassen den Ton seiner Lyrik nüchterner, faktischer erscheinen. Gerade auf diese Weise können die wenigen verwendeten expressionistischen Bilder die Wirkung der aufgezählten Fakten steigern.
Der separat erscheinende Band Wahrheitsspiel bietet, schon vom Umfang her, eine breitere Palette unterschiedlichster Texte. Die thematischen Schwerpunkte der Sammlung sind allerdings deutlich erkennbar. Da lesen wir zunächst Gedichte, die Fragen nach dem Wohin und Woher des menschlichen Daseins aufwerfen. Sie verbinden die Suche nach dem Ursprung des Lebens und dem, was nach dem Tod kommt mit der jüdischen Thematik.

Ach Fragen, Fragen – Blutquellen spritzen auf!
Nicht Zebaoth, nein Lilith spricht Gericht
Und reißt des Hochmuts Maske vom Gesicht:
Die nackte Wahrheit fordert sie zum Kauf.

Entblößt zu stehn im Kreuzfeuer der Fragen –
Woher? Wohin? Das tolle Wahrheitsspiel…

(„Wahrheitsspiel“, 1971 )

Manche Texte wie „Schädelstätte“ und „Totengedächtnis“ verknüpfen diese existenziellen Fragen mit Angstträumen und Fiebervisionen, die wie Ahnungen des nahen Endes wirken: „Aus Dunkel bin ich gekommen, / Ins Dunkel kehr ich zurück“, heißt es in einem seiner Texte aus dem Jahre 1963. Im Gedicht „Schlaf, dumpfer Wächter“ prallen gegensätzliche Metaphern der Zeit aufeinander: Es ist die unmessbare Ewigkeit, die in der messbaren Zeit einen „Raum“ zwischen „Niemals“ und „Nie“ eröffnet. Wie in der frühen Dichtung trägt auch in diesem Gedicht der Schlaf, Bruder des Todes, das lyrische „Ich“ in die Zeitlosigkeit des „Niemals und Nie“.
In Gedichten, die viele Jahre nach dem Krieg entstehen, streift der Lyriker auch den nüchternen Ton seiner Dichtung ab und spielt mit der Sprache, ihrem onomatopoetischen Klang, um sich über die „Klug- und Schleimscheisser“ lustig zu machen, lässt indes auch die „Poesie“ als Schmetterling im „Lunapark“ zum Vorschein treten. Das lyrische „Ich“ im Gedicht „Gebrochene Worte“ (1982), das zu Celans Sprachzertrümmerung Stellung nimmt, bricht nicht das Wort, sondern die „Worte“, um aus „Wortspiel“ und „Wortverschleiß“ eine neue Welt hervorzuzaubern, in der Sprache ihre alttestamentarische Kraft wiedererlangt. Es ist eine Rückkehr zum biblischen Ursprung:

Am Anfang war das Wort!

Es ist eine Rückkehr im Bewusstsein des Missbrauches, der mit der Sprache getrieben wurde.
Die späten Gedichte, die den Tod evozieren, verwenden ebenfalls eine visionäre Sprache. Aber es ist nicht mehr die neoromantische Sprache der frühen Dichtung, sondern ein „Wahrheitsspiel“ von Erinnerungen an die Shoah:

… Das tolle Wahrheitsspiel
reißt Narben auf, und Haltung gilt nicht viel,
Muß man auf Händen nackt die Seele tragen.

Zu leicht befunden! Welch ein harter Spruch
Läßt die Gewißheit vieler Jahre schwanken,
Frißt sich als Zweifelswurm in die Gedanken,
Wandelt, was Segen schien, in bittren Fluch.

Wirf, alter Knabe, die Verbände ab:
Ein Phönix wird aus Schweiß und Blut geboren.
Nur wer sich hüllenlos ans Spiel verloren,
Sinkt, ein Versöhnter, in ein gastlich Grab.

Der auf „Wahrheitsspiel“ folgende Zyklus „Keine Leier, nur ein Leierkasten“ ist ebenfalls geprägt von Todesahnung, Trauer über das Schicksal des jüdischen Volkes, aber auch Auseinandersetzung mit dem Zeitgeist im Allgemeinen, mit neuen modischen Sprach- und Stilrichtungen in der zeitgenössischen Dichtung. Deutlich erkennbar sind Einflüsse der skurrilen Phantastik von Gustav Meyrink und Alfred Kubin, deren Werke Kittner überaus schätzte. Franz Kafkas Werk war den an Literatur interessierten Bukowinern bereits vertraut, als dieser Schriftsteller im Westen kaum bekannt war und gelesen wurde. Wie sehr er sich mit diesem Dichter verwandt fühlte, betonte Kittner immer wieder. Daher versuchte er nach eigenem Bekenntnis, das Unheimliche, das Gefühl der Fremdheit, das ihn mit dem Prager Bruderschriftsteller verband, in seinen Versen wiederzugeben. Inmitten dieser düsteren Thematik finden wir allerdings auch ein Gedicht, in dem das lyrische Ich alle Sorgen und Gedanken abstreift und die Sommerferien am Schwarzen Meer in vollen Zügen genießt:

Sonne legt sich Schicht auf Schicht
Mir aufs blasse Angesicht –

Liege, trunken ganz von Licht,
Sonne sengt und Sonne sticht.

Lieg im Sand, ein fauler Wicht,
Kenne Tag noch Stunde nicht.
(„Sonnenbad“, 1971)

Im Zyklus Zwischen „Nimmer und Nie“ sind Widmungsgedichte vereint, Erinnerungen an die Eltern, seine Frau Ilse, an den jung an Tuberkulose verschiedenen Dichterfreund Siegfried Laufer, an die überaus geschätzte „gute Stimme“ Alfred Margul-Sperbers, dessen offenes Bekenntnis zur Tradition Kittner aus dem Herzen gesprochen war, an die von den Vertretern der älteren Generation geächtete, von Kittner jedoch geschätzte, früh verstorbene Siebenbürger Lyrikerin Astrid Connerth, der es zum ersten Mal gelungen war, parallel zu Aufnahmen eines Kunstfotographen Gedichte über Wassertropfen, Schneeflocken und Kristalle in einer Kultursendung des deutschen Fernsehens zu zeigen und vorzulesen, eine hochinteressante Sendung, die leider nicht wiederholt wurde; an zwei Schicksalsgenossen während der Deportation in Transnistrien, einen Nachruf auf Karl Horowitz, den Vater der Herausgeberin dieses Bandes, dem er sich geistig sehr verbunden fühlte; dem Bukarester Juliu Konstantin Spiru, bei dessen geselligen Abenden er zusammen mit Sperber und Cisek und bedeutenden Vertretern des rumänischen Kulturlebens anregende Gespräche führte; an Gisbert Kranz, den Aachener Privatgelehrten und langjährigen Leiter der Inkling-Gesellschaft für Literatur und Ästhetik, den „Freunden daheim“, d.h. nach seinem Verbleib im Westen in Bukarest Gebliebenen, allen voran dem plötzlich vom Tod hinweggerafften rumäniendeutschen Dichter und Journalisten Franz Storch und nicht zuletzt seinen früheren und späteren Freundinnen und Musen.
Das Gedicht „Den Freunden Daheim“ (1982) stellt zwei Welten einander gegenüber, die von einer „nicht überschreitbaren Grenze“ getrennt sind. Die einzige Verbindung zwischen Freunden „hüben“ und „drüben“ bleiben die Gedanken:

Ihr drüben
ich hüben
noch fühl ich
den Druck eurer Hände
doch die Wärme
erkaltet
und nur in Gedanken
streben sie noch
zueinander
hoffnungslos
über unüberschreitbare
Grenzen.

(„Den Freunden daheim“)

Der letzte Zyklus des Bandes „Im Zwielicht“ enthält erotische Gedichte und gibt Reiseeindrücke aus der Bretagne, aus Teneriffa und Israel wieder. Manche auf Reisen verfassten Gedichte gehen von einer realen Begebenheit aus, evozieren indes einen Weg in einen ganz anderen Bereich: Im Gedicht „Nächtlicher Flug über Tel-Aviv“ (1986) sind die Lichter der Stadt – aus der Sicht des Shoah-Überlebenden – „Jahrzeitlichter für unsere Toten“. Das Gedicht verbindet diese Todesthematik mit dem Hinweis auf die Einzigartigkeit des Neuanfangs. Die letzte Verszeile ist daher eine Schlüsselfrage:

Ward jemals aus Leiden
So Freude geboren
wie hier
im neu erblühten Land?

Trotz neuem Start in einem demokratischen Land, das Meinungs- und Reisefreiheit gewährleistet, verbindet der Lyriker die neuen jüdischen Motive seiner Dichtung mit der „alten Weise“, dem Lied des wandernden Juden:

Hat mich ein Stein geboren?
Du alte jüdische Weis,
Dem Elend, dem Hunger verschworen
– Noch summt da und dort dich ein Greis.

Aus Gräbern stöhnen die Ahnen,
Als Rauch klagt der Enkel das Lied,
Das aus ewigen Sternenbahnen
In ewige Fremde zieht.
(„Eine alte Weise“, 1978)

Unter dem Titel „Ausgepowertes Land“ finden wir hier auch das einzige Gedicht Kittners, das scharfe Kritik an Ceaucescus Diktatur, am kommunistischen System und dessen Folgen übt. Die bewegendsten Zeilen dieses letzten Zyklus setzen sich erneut mit dem Tod auseinander, ahnen das nahe Ende voraus. Zu dieser Gedichtgruppe gehört auch Kittners letztes, im Düsseldorfer Martinus-Krankenhaus verfasstes Gedicht, das er einer Freundin diktierte, da er des erlittenen Schlaganfalls wegen den Bleistift nicht mehr in der Hand halten konnte.
Der sensible Lyriker Alfred Kittner (1906–1991), der sich als traditionsverbundener Erlebnislyriker verstand, hatte auf seinem Lebensweg so manche Sonnenfinsternisse erlebt. Das erste Trauma seines Lebens war der frühe Tod der Mutter. Sein Vater, ein Bankbeamter, war mit seinen beiden Söhnen allein geblieben. Er hatte große Mühe, sich um ihre Erziehung zu kümmern und ihnen die Geborgenheit eines zu Hause zu geben. Zwar war die Bukowina in Kittners Kindheit eine Oase relativ friedlicher Koexistenz vieler verschiedener Nationalitäten, die eine ungewöhnliche mehrsprachige Kultur hervorgebracht hatte, aber der Erste Weltkrieg setzte allen kulturellen Bestrebungen zunächst ein jähes Ende. Die Not seiner Familie, die von Czernowitz nach Wien flüchten musste und dort im Elend lebte, war das zweite Trauma seines Lebens.
Nach dem Krieg kehrte der Lyriker nach Czernowitz zurück, integrierte sich wieder ins Leben der Stadt und besuchte auch weiterhin die Schule. Der rumänische Militärdienst war die dritte traumatische Erfahrung. Kittner wurde öfters von Offizieren schikaniert und mehrmals in einen Karzer gesteckt. Aus finanziellen Gründen musste er einen Brotberuf ergreifen und konnte daher sein Studium nicht abschließen. Er wurde zunächst Bankbeamter und arbeitete dann als Journalist für linksliberale Zeitungen wie Der Tag und das Czernowitzer Morgenblatt. Seine Freizeit widmete er der Dichtung.
Als Czernowitz im Jahre 1940–41 unter sowjetische Besatzung geriet, erlebte Kittner die Verlogenheit einer Diktatur, die zwar ein Arbeiterparadies auf Erden zu errichten versprach, aber in Wirklichkeit die Bevölkerung grausam unterdrückte und alle potenziellen Feinde nach Sibirien verschleppte. Die Skala der so genannten „Feinde“ war breit. Sie umfasste nicht nur Kapitalisten, sondern auch Sozialdemokraten, Liberale und Antifaschisten, die zunächst das sowjetische System unterstützt hatten. Auch Kittners Freunde und Bekannte waren darunter. Er selbst wurde nicht nach Sibirien deportiert, lebte weiterhin in Czernowitz und verdiente seinen Lebensunterhalt als Bibliothekar.
Die sich anschließenden Jahre waren noch traumatischer. Nach der Eroberung der Bukowina durch rumänische faschistische Truppen im Sommer 1941 wurden Kittner und seine Familie wie alle anderen Juden aus Czernowitz am 11. Oktober in ein Getto getrieben und im Juli 1942 in die Vernichtungslager von Transnistrien deportiert. Die Opfer mussten tagelang zu Fuß durch Niemandsland marschieren, wurden ausgeraubt, brutal zusammengeschlagen und ermordet. Die Überlebenden wurden in einen verlassenen Steinbruch „verbracht“, wo die meisten an Hunger, Erschöpfung oder Typhus starben. Auch im Getto und in Transnistrien schrieb Kittner weiterhin deutsche Gedichte. Manchmal sprach er Verse selbst bei der schweren Zwangsarbeit vor sich hin. Die Schönheit und Vollkommenheit des Gedichts, der Wirklichkeit im Vernichtungslager entgegengestellt, gaben ihm den Mut, weiterzuleben.
Kittner gehört zu den wenigen Überlebenden der Lager von Transnistrien. Im Jahre 1944, nach Czernowitz zurückgekehrt, gelangte der Lyriker 1945 über Polen nach Bukarest, wo er zunächst mit dem Elend des Flüchtlingsdaseins konfrontiert wurde. Später erhielt er eine Stellung als Rundfunksprecher, dann als Bibliothekar der Gesellschaft für kulturelle Beziehungen mit der Sowjetunion (ARLUS) und schließlich als Verwaltungsdirektor der Bibliothek des Instituts für kulturelle Beziehungen mit dem Ausland. Ab 1958 lebte er als freischaffender Schriftsteller und Übersetzer, war zeitweilig mit Schreibverbot belegt, konnte jedoch in Tauwetterperioden drei Lyrikbände veröffentlichen. In dieser Zeit wurde er mit dem Lyrikerpreis des rumänischen Schriftstellerverbandes ausgezeichnet. Nach dem Tod von Alfred Margul-Sperber galt Alfred Kittner vielen jüngeren Siebenbürger und Banater Dichtern als Doyen der rumäniendeutschen Literatur.
Im Jahre 1981 nahm er an einem Lyriker- und Übersetzertreffen in der Bundesrepublik teil und beschloss, nicht mehr nach Rumänien zurückzukehren. Der Lyriker ließ sich in Düsseldorf nieder, wo er weiterhin Gedichte schrieb und Reisen unternahm. Der wohl schmerzlichste Verlust in seinem Leben war die Zerstörung seiner Bukarester Büchersammlung, die 16.000 Bände und viele wertvolle Manuskripte umfasste. Die Geheimpolizei konfiszierte sie, schmiß einen Teil der Bücher weg und gab einen anderen Teil an Antiquariate weiter. Die Zerstörung seiner Bibliothek durch die rumänische Geheimpolizei war ein Racheakt, mit dem Kittner gerechnet hatte. Es schmerzte ihn, aber er zog es vor, die letzten Jahre seines Lebens in Freiheit zu verbringen.
Bereits 1932 schrieb Stefan Zweig, dem Kittner seine Gedichte eingesandt hatte, dem jungen Lyriker einen lobenden Brief und hob hervor, sein Talent offenbare sich in einer fast absoluten Weise in seinen Gedichten (Zweigs Brief vom 19. Mai 1932 an Alfred Kittner). Auch Jakob Haringer und Felix Braun, die Kittners Gedichte gelesen hatten, ermutigten ihn. Im Jahre 1937 gewann Kittner einen Lyrikwettbewerb, den die Zeitung Wiener Tag ausschrieb. Ein Jahr später veröffentlichte er im Czernowitzer Literaria Verlag seinen ersten Lyrikband Der Wolkenreiter, der Gedichte aus den Jahren 1925 bis 1938 umfasst. Zu jener Zeit fühlten sich die deutschsprachigen Autoren der Bukowina zunehmend in einer rumänischsprachigen Umwelt isoliert. Viele von ihnen waren Juden. Trotz wachsendem Nationalismus, Faschismus und Antisemitismus hielten diese Lyriker an ihrer Muttersprache fest. Selbst im Getto und im Vernichtungslager gab Kittner die deutsche Muttersprache nicht preis.
Einige dieser Shoah-Gedichte erschienen bereits während des Krieges in der in Moskau veröffentlichten deutschsprachigen Zeitschrift Internationale Literatur. Im Jahre 1956 brachte Kittner seine Shoah-Dichtung im Band Hungermarsch und Stacheldraht heraus. Die beiden ersten Zyklen dieses Bandes, „Vom Steinbruch führt kein Weg zurück“ und „Tagwerk des Todes“, sind wichtige lyrische und historische Dokumente, die Lesern das Unfassbare vor Augen führen: die Deportation, die Hungermärsche, den Alltag im Steinbruch, die Grausamkeit der Täter. Der dritte Zyklus „Schauer des verwehten Tages“ hält die Verzweiflung der Opfer fest. Der letzte Zyklus „Und immer leuchtet noch ein Stern“ setzt Hoffnung und zeugt von seinem ungebrochenen Lebenswillen. Alfred Margul-Sperber hatte Kittners Chronik eines Deportierten „ein in der Hölle verfasstes Tagebuch genannt“. Diese Verse dokumentieren die Hoffnung und den Glauben ans Leben. Viele Jahre nach dem Krieg unterstrichen Alfred Margul-Sperber, Oskar Walter Cisek und Wolf von Aichelburg in ihren Aufsätzen über Kittners Lyrik, es sei ein Wunder, wie ein so empfindsamer Dichter, die Deportation überleben konnte.
Im Jahre 1970 veröffentlichte Kittner einen weiteren Gedichtband mit dem Titel Flaschenpost, der ihm den Preis des rumänischen Schriftstellerverbandes einbrachte. Eine Auswahl aus seinem Werk erschien dann 1973 in dem Band Gedichte; er enthält Texte, die Kittner in den Jahren 1925 bis 1972 verfasst hatte. Für den 1988 erschienenen Gedichtband Schattenschrift, der frühere, im Todeslager entstandene Gedichte mit Texten verbindet, die aus der Perspektive des Überlebenden geschrieben sind, erhielt Kittner die Ehrengabe des Andreas Gryphius-Preises. In den letzten Lebensjahren zeichnete er auf Drängen von Edith Silbermann seine Erinnerungen auf Kassetten auf. Die Veröffentlichung ist ihr zu verdanken.
Kittner machte sich nicht nur einen Namen als Lyriker, sondern auch als Übersetzer und Herausgeber. Zu den über vierzig rumänischen Autoren, deren Werk er ins Deutsche übertrug, zählen Mihai Eminescu, Alexandru Odobescu, Nina Cassian, Zaharia Stancu, Jean Barth, Marin Preda, Veronica Porumbacu und viele andere. Kittner brachte auch die Gedichte Alfred Margul-Sperbers und Oskar Walter Ciseks heraus. Viele Jahre lang arbeitete er an einer Anthologie rumäniendeutscher Lyrik, sammelte tausende Gedichte, brachte dieses Unterfangen aber leider nicht zum Abschluss. 1994 erschien posthum die Anthologie Versunkene Dichtung der Bukowina, an der er ebenfalls jahrzehntelang gearbeitet hatte. Es ist die umfassendste Sammlung von Gedichten deutschsprachiger Bukowiner Autoren, zu denen nicht nur deutsche, österreichische und jüdische, sondern auch rumänische und ukrainische Lyriker zählen.
Trotz vieler Publikationen und wichtiger literarischer Preise sind keine umfangreichen Studien über Kittners Werk erschienen. Die Sekundärliteratur über seine Lyrik umfasst Rezensionen, Essays, Einleitungen oder Nachworte zu seinen Gedichtbänden. Bereits in den späten dreißiger Jahren hatten indes Czernowitzer, Prager und Basler Zeitungen wie die Nationalzeitung (Basel, 19. November 1939), die Czernowitzer Allgemeine Zeitung (Dezember 1939) und das Czernowitzer Morgenblatt (17. Januar 1940) auf sein Talent aufmerksam gemacht. Der deutschjüdische Lyriker Robert Flinker lobte Kittners Mut, in einer Zeit materialistischen Denkens und der Kriegstreiberei nach Wahrheit und Schönheit zu streben und sich für universelle menschliche Werte einzusetzen. Alfred Margul-Sperber hatte in seinem Vorwort zu Kittners Band Hungermarsch und Stacheldraht ebenfalls einen Einblick in sein Schaffen gegeben und auf die politischen Implikationen der Gedichte von Kittner aufmerksam gemacht. Auch Oskar Walter Ciseks Rezension (vom 18. März 1957), die in der Neuen Literatur erschienen war, und Wolf von Aichelburgs Einleitung zum späteren Band Flaschenpost (1970) liefern interessante Interpretationen zu Kittners Gedichten und weisen auf Affinitäten zu Alfred Kubins phantastischen, skurrilen Zeichnungen und Texten, zu Kafkas Parabeln und Jean Pauls Werken hin. Peter Motzans Nachwort zu Schattenschrift geht dem Weg der Lyrik Kittners vom neoromantischen Frühwerk bis zum faktischen Stil seiner späten Texte nach. Peter Motzan, Bernd Kolf, Jürgen Wallmann, Oskar Walter Cisek verstanden Kittners Lyrik als Fusion zwischen Erlebnis- und Bildungsdichtung. Im Gegensatz zu ihnen zeigte Barbara Wiedemann-Wolf wenig Verständnis für die Gedichte Kittners und kritisierte seine Vorliebe für traditionelle Stilelemente als Mangel an dichterischer Innovation. Andere betrachteten diesen Aspekt der Lyrik als politische Tat und Antwort auf den Missbrauch, den Nationalisten und Faschisten mit diesen Traditionen trieben. Die Sprache seiner späten Dichtung ging durch ein von den Gedichten inszeniertes linguistisches Purgatorium. Denn Kittner hoffte, auf diese Weise selbst verhunzten Worten einen neuen Sinn zu geben.
Die Veröffentlichung der beiden Gedichtbande, die Kittners Vermächtnis darstellen, sollen erneut die Aufmerksamkeit der Leser auf sein Werk lenken und Literaturwissenschaftler zur weiteren Erforschung seiner Gedichte anregen. Der mutige deutsch-jüdische Lyriker, der die deutsche Sprache weder im Todeslager noch im kommunistischen Rumänien aufgab, verdient eine späte Anerkennung seitens der Literaturkritik und des deutschsprachigen Lesepublikums.

Amy D. Colin und Edith Silbermann, Nachwort, aus dem Band Alfred Kittner: Der Wolkenreiter

 

Alfred Kittner oder das Menschenrecht auf Poesie

– Laudatio auf Alfred Kittner, als Notlösung gehalten anlässlich eines von der Karl-Franzens-Universität Graz im Oktober 1987 organisierten Symposiums über die deutschsprachige Literatur der Bukowina, weil Peter Motzan, der damals noch in Rumänien lebte und in Graz über Kittner referieren sollte, die Ausreise nicht gestattet wurde. –

Über ein dreiviertel Jahrhundert hat Alfred Kittners Leben im Zeichen der Poesie gestanden, denn er war neun, als ihm, wie er einmal erzählte, während eines Konzerts, in dem die Vertonung von Eichendorffs „Mondnacht“ gesungen wurde, „schockartig“ aufging, was Dichtung sein kann. Über ein dreiviertel Jahrhundert also, und es werden von dem erinnerten Erlebnis auch nicht mehr sehr viele Jahre vergangen sein, bis der Junge selbst sich zum Lyriker mauserte. Und bis zu seinem Tod – 1991 – blieb Kittners Begeisterung und blieben seine hervorbringenden Kräfte ungebrochen. Ein langes Treusein und ein großes Glück.
„Mein Leben“, hat Alfred Kittner 1976 in einem Gespräch mit Gerhardt Csejka bemerkt, „war sozusagen literarisch verseucht. Wenn nicht von Literatur die Rede war, habe ich gewöhnlich große Langeweile empfunden.“ Diese Sätze sind oft zitiert worden, und ich muss zugeben, dass sie mich betroffen machten, als das Typoskript, noch warm aus Csejkas Schreibmaschine, durch die Bukarester Redaktion der Neuen Literatur kursierte. Ist das möglich?, fragten wir uns, seine ganze Tätigkeit widerlegt das doch, hat er nicht „Hungermarsch und Stacheldraht“ geschrieben, die Gedichte, in denen die Schrecken des Völkermordes weiterleben? Und all die Reportagen, die Berichte des jungen Czernowitzer Journalisten, denen man es anmerkt, dass der Autor genau hingesehen hat auf das alltägliche Leben der Leute, und dass er mitfühlte, mit dem Rabbi wie mit dem Zigeuner? Unser Herr Kittner, den alle Welt mag – das muss unbedingt gesagt werden, dass ihn alle mochten, die Jungen wie die Alten, die Bohemiens wie die Misanthropen, die Klassiker wie die Modernisten und Phantasten, ja, sogar die anspruchsvollen Klausenburger Kritiker, viele Damen und zugleich auch ganz und gar unliterarische Menschen… Ist es also möglich, dass er sich langweilte, wenn einmal nicht von Literatur die Rede war?
Ich für mein Teil setzte seinen Ausspruch in Klammer. Erst vor Kurzem, als ich die mir bekannten Texte des Dichters noch einmal las und die, die ich noch nicht kannte, dazu, alle zusammen im freien Verein, löste sich der Widerspruch auf. Es handelt sich, glaube ich, um eine verknappte Formulierung, die man sich selbst ergänzen muss – wenn man überhaupt Statements von Dichtern wörtlich nehmen will.
Gewiss und zu seinem poetischen Nutzen hat Alfred Kittner sich gelangweilt, wenn von Dingen die Rede war, die nichts für die Literatur hergeben, zumindest indirekt. Das ist durchaus keine Gleichgültigkeit anderen Menschen gegenüber, im Gegenteil, eine – gewiss, besondere – Art, sich auf das Lebendige, Bewegliche, Ernste oder Verspielte, aber auf jeden Fall auf das Substantielle zu konzentrieren, von dem jedes Gerede über Nichtigkeiten nur ablenkt.

Leben und Spiel ach sind eins –
Aber sie glauben es nicht
Gehen so erwachsen einher
Sprechen wie man sie’s gelehrt
Von Dingen die keiner bedarf
Lumpen vergänglicher Art
Spülicht von Straße und Markt –
Und da spricht man halt mit…

Diese Verse schrieb Alfred Kittner 1968 – unter einem totalitären Regime –, und man kann das Werturteil, das darin gefällt wird, als Dreh- und Angelpunkt seiner literarischen Karriere betrachten: Er hat nicht, er hat nie mit-gesprochen, nicht um falschen Ruhm und auch niemals um persönlicher Vorteile willen, in all den Jahren, in denen er leicht – durch die Ideologisierung und politisch genehme Einfärbung seiner Aussagen – zu Geld und Ämtern hätte kommen können, in den Jahren also, in denen er es vorzog zu schweigen und sich sein Brot mit Übersetzungen zu verdienen. Und er hat auch nicht mit-gesprochen im Sinne einer Modernisierung, nach der es ihn anscheinend nicht verlangte.
Dass er nicht prononcierter modern sei, wurde ihm manchmal vorgeworfen und Kittner war auch wirklich kein Wegbereiter. Es gab Lyriker in der Nachkriegszeit, die es waren – es hat einen Lyriker wie Paul Celan gegeben, der eine neue dichterische Sprache gefunden hat, eine Sprache für den Menschen, der sich – wie heißt es in der berühmten Rede? – der sich „überflogen von Sternen, die Menschenwerk sind… zeitlos und auch in diesem bisher ungeahnten Sinne und damit auf das Unheimlichste im Freien“ befindet. Aus dieser präzedenzlosen, bedrohten Freiheit und aus der tiefen existenziellen Verzweiflung heraus, die uns in ihm ein Spätopfer des Holocaust erkennen lässt, gewiss aber auch aus seinem ungewöhnlich aktiven Sprachdenken heraus, hat Celan das Deutsche aufgebrochen, dass Neues zusammenwuchs.
Rose Ausländer hat unter Celans Einfluss ihre Art zu schreiben verändert, und so wurde sie spät noch die große alte Dame der deutschen Dichtung. Alfred Kittner hat ähnliches nicht versucht, ja er hat sich auch innerlich davon distanziert. Kittner ist ein Lyriker romantischer – in seinen Anfängen romantisch-expressionistischer – Prägung, der die seelische Kraft und die sprachliche Begabung besaß, sein Staunen und seinen Schmerz, Liebe und Freude an der Natur, seine Todesgedanken und seine Abenteuerlust in überlieferten Formen zum Ausdruck zu bringen und das gelang ihm oft in überzeugender und zarter, eben in „lebendiger“ Art.
Genau Beobachtetes rührt uns an und hält die Sätze gespannt, die gültige Entsprechung der Bilder prägt sich uns ein – so im Fall der Gedichte, die dem „Schwarzen Meer“ gewidmet sind – oder es bricht Phantastisches herein; manchmal gelingt auch ein ganz großer Wurf mit den Mitteln des kleinen Liedes, wie zum Beispiel in „Das Gras“:

Wie bist in diesem Grashalm, Christ,
So prinzlich du emporgeschwellt,
Und hast, der du die Liebe bist,
Zum Leib dies Hälmlein dir erwählt.

Dies schlanke Reislein Wohlgeruch…
Mit zweien Fingern fasst die Hand,
Die sündige, den grünen Herrn:
O kühle, Heiland, meinen Brand
Und rette unsern blutigen Stern.

Hier wäre eine Klammer zu öffnen: ist dies ein religiöses Gedicht? Gewiss nur sehr bedingt, wie Kittner überhaupt nicht unmittelbar als frommer Dichter, als ein Mann Gottes angesprochen werden sollte, außer, wenn man wirklich meint, wie dies Gedicht es sagt, dass Gott die Liebe sei und das Erbarmen.
Es fällt aber auf, dass dieser jüdische Dichter – der dem Schicksal seines Volkes so erschütternde Verse gewidmet hat wie „Alter jüdischer Friedhof in Worms“ und vor allem die tieftraurige Klage „Hat mich ein Stein geboren?“ (eines seiner schönsten Gedichte überhaupt) – dass Alfred Kittner also auch den Symbolwert christlicher Feiertage – Weihnachten, Ostern – einzusetzen verstand, um seine poetischen Ziele zu erreichen. Natürlich gibt es dafür biographische Erklärungen, mich hat aber die warmherzige und so diskrete Selbstverständlichkeit, mit der der Dichter das tut, jedes Mal an die Bukowina meiner Kindheit erinnert: Auch später noch habe ich in Gegenden gewohnt, in denen es verschiedene Nationalitäten gab, die verschiedene Glaubensbekenntnisse hatten, aber nur in der Bukowina war es so gewesen, dass wir die Feste der jüdischen und rumänischen Freunde unserer Familie miterlebten.
Die „überlieferte Form“ war es auch, die in den Gedichten aus der Zeit der Verschleppung – 1942–44 – dem Ansturm der Verzweiflung standgehalten hat. Neben den Versen, die Anklage und Aufschrei geblieben sind (wertvoll auch diese, auf andere Art, denn sie halfen überleben und stehen gegen das Vergessen), ist Alfred Kittner auch das Unglaubliche gelungen, noch dort, im Lager, im Angesicht von Leid und Gefahr, lebendige Dichtung hervorzubringen.
Texte wie „Die Irren“, „Einem Gefährten“, „Die Ballade vom Kossoutzer Wald“, „Wilde Kresse“, „Friedhof Obodowka“, „Im Klee“ oder „Alter Brunnen“ sind direkt in den Tagen und Nächten der Verschleppung, neben Kranken und Sterbenden, unter der Bedrohung durch Peiniger und Mörder entstanden. Das ist nicht nur literaturhistorisch bedeutsam.

Wir haben jedoch jetzt wieder da anzuknüpfen, wo vom Stil, von alten und neuen Formen in Kittners Poesie die Rede gewesen ist. In seiner Jugend war der Dichter ein Expressionist – und irgendwie ist er es auch später geblieben, denn so etwas vergeht nie ganz. Er betont die Bedeutung sehr früher Lektüren und spricht von den eigenen expressionistischen Gedichten einer ganzen Periode, die verloren gegangen sind. Aber noch viel öfter ist Alfred Kittner später eben ein Autor, der aus dem stilleren Wellengang seiner Verse heraus die expressionistischen Schwingen eben nur schnell mal ausbreitet – was jedes Mal erfrischend wirkt.
Und manchmal gelingt es ihm – in seinem späteren Werk öfter – den traditionellen Vorbildern gegenüber frei zu sein, dann schreibt er, als wäre er nicht der so belesene Literat, der alles, was er liebt, bewahren möchte, sondern frei, „ein Mann allein“ vor seinem Schicksal: „Blaueule Leid“, „Stumme Antwort“, „Mein Haus“, das sind nur einige der Texte, die das Herzstück seines Werkes bilden.
Alfred Kittner war als Dichter der, der er auch als Mensch war. „Nichts habe ich beweisen wollen. Ich wollte mich selbst beweisen“, antwortet er auf eine entsprechende Frage Csejkas in dem bereits erwähnten, sehr ergiebigen Gespräch. Sich selbst beweisen, und zwar nicht gegen andere und über andere hinweg, sondern für die anderen das gleiche wollend. Das aber heißt, Poesie als Menschenrecht fordern und dafür einstehen. Das ist, näher betrachtet, das ethische Programm Alfred Kittners und der Einstellung, die darin Ausdruck findet, entspringt die sozial-kulturelle Rolle, die er immer und überall, wo er war, gespielt hat. Csejka spricht das an:

… Sie sind immer wieder mit herausgeberischen Arbeiten, Übersetzungen, Ratschlägen, Hinweisen, Auskünften der Welt tatkräftig zur Verfügung gestanden, junge Autoren haben sich an Sie gewandt, Sie haben für die scheinbar hoffnungslosesten Fälle nach Kräften ,das Eis gebrochen‘. Zuspruch erteilt und nie auf die philantropische Tour, sondern immer aus ehrlicher Überzeugung…

Aber das allein, das Menschenrecht auf Poesie anzuerkennen und sich dafür einzusetzen, ergäbe noch nicht die tragende Basis für ein ausgedehntes, in den besten Hervorbringungen seines Autors beispielhaftes Werk auf dem Gebiet der Lyrik und der Lyrikübertragung. Damit dies zustande kommen konnte, mussten die Sensibilität und Zartheit, die Phantasie, der Humor, die Spielfreude und die Neugier, der künstlerische Fleiß und die Weltaufgeschlossenheit Kittners ein ästhetisches Programm erhalten. Oder nennen wir es lieber eine Zielsetzung, ein Ideal? Die wohl wichtigsten Sätze dazu hat der Dichter wie folgt formuliert:

Es mag 1922 gewesen sein – Kafka war jedenfalls noch am Leben – als ich in einer Leihbibliothek… ein schmales, schwarzes Bändchen, Kafkas Verwandlung fand. Seither habe ich alles, was von Kafka erschienen ist, zu seinen Lebzeiten und nach seinem Tod, leidenschaftlich in mich aufgenommen, ja, ich erinnere mich ganz deutlich, dass ich es damals als mein Ziel empfunden habe, diese Kafka-Welt, diesen Einbruch des Irrealen in die Wirklichkeit, aus der Prosa in die Lyrik hinüberzutragen.

Wollen wir das als Programm ansehen, so war es ein sehr anspruchsvolles und von diesem Dichter nur in seinen allerbesten Texten zu erfüllen.
Blättert man, in Kenntnis dieser Zielsetzung, Alfred Kittners Gedichtbände noch einmal durch, so wird man feststellen, dass die eindrucksvollsten Texte genau da zu finden sind, wo tatsächlich Wirklichkeiten verschiedenen Grades als Gleiches behandelt worden sind.

Das kann zustande kommen, wenn vom Tod die Rede ist: vom Tod, der manchmal gar nicht genannt wird, wenn seine Gegenwart sich unmissverständlich und unerbittlich zu erkennen gibt. Oder das Irrationale verdichtet sich im Bild einer Landschaft, in einem Naturvorgang, im wechsel der Tageszeiten, so unverhofft, dass vor Freude – wie es in „Regenreise“ heißt – „das Herz zu klopfen sich nicht mehr vermisst“.
Überhaupt, Kittner ist in seinen besten Texten nicht mehr der Dichter des bedächtigen Vergleichs: in „Der Wolkenreiter“ wird eine poetische Vision nicht als solche beschrieben, sondern als unmittelbare Realität.

Drei Wolkenbären stapfen im Gefild,
Ich schwank auf ihnen,
Urs, ein Götterbild.

Die Nebel brauen durch Gehölz und Wand,
Baumkronen streife ich
Mit nasser Hand.

Es verdichtet sich „aus Mohn und Mond ein Mirakel“ für den Dichter – aber für uns, als Leser, auch.

Der dünne Rauch aus Silben,
Krikelkrakel auf brüch’gem Papier –
Mag’s verwehn, mag’s vergilben –
Mir war’s das Elexier.

In ihm sah ich gespiegelt
Den Kuss, den Schrei, den Stern,
In ihm bot sich versiegelt
Mir allen Wesens Kern

So kommen wir, vorläufig, zum Ende. Jeder zusammenfassenden Wiederholung aber hat die im Leben plötzlich auftauchende Korrespondenz einiges voraus. Und so will ich dem Andenken Alfred Kittners zum Schluss dieser Zeilen eine wahre Begebenheit widmen, die sein poetisches Credo bestätigt. Dass es dabei um gen au jene „blaue Blume“ geht, die unser Dichter – seiner Aussage nach – als lesendes, beziehungsweise als hörendes Kind zuerst gepflückt hat, um Eichendorffs „Mondnacht“, ist mir eine besondere Freude.

In meinen frühen bundesrepublikanischen Jahren verdiente ich meinen Lebensunterhalt zum Teil damit, dass ich „Deutsch als Fremdsprache“ unterrichtete. Meine ersten Schüler kamen aus Polen und verstanden zunächst kein Wort von dem, was ich ihnen einleitend zu sagen versuchte: kein Wort. Das war am ersten Dezember und wir haben, schwere Monate hindurch, sechs Stunden täglich und mehr am Rande der Verzweiflung gearbeitet. Im Frühling – „Erde, du fröhliche…“ – war dann alles schon leichter und es kam der Tag, an dem der Konjunktiv zu lernen war. Wie immer der Poesie vertrauend und eingedenk der Tatsache, dass gerade dieser Dichter ein Landsmann der meisten meiner Schüler war, schrieb ich Eichendorffs „Mondnacht“ an die Tafel und bat Frau Maria Oglodek die Verse zu lesen und uns zu sagen, ob das, was da steht, wirklich geschieht, oder ob der Dichter es sich nur vorstellt. Frau Oglodek war eine schwergeprüfte Ehefrau und Mutter, 43 Jahre alt, jetzt mit dem Kind allein in Deutschland. Sie hatte schon immer gerne gelesen, aber nie Gelegenheit dazu gehabt, außer in jener kurzen glücklichen Zeit, in der sie als Verkäuferin in einem Kiosk arbeitete. „Es war, als hätt der Himmel / Die Erde still geküsst, / Dass sie im Blütenschimmer / Von ihm nun träumen müsst…“ lasen wir, zunächst zusammen, und Frau Oglodek befand: „Das ist nicht wirklich passiert, das stellt sich der Dichter nur so vor.“ Die zweite Strophe dann, im liebenswürdig-flotten Indikativ: „Die Luft ging durch die Felder / Die Ähren wogten sacht / Es rauschten leis die Wälder…“ „Ist so gewesen“ sagte meine Schülerin, „das hat der Dichter wirklich gesehen“. Jetzt aber kam die dritte Strophe und ich war eben bereit, die Konsequenzen meiner Unvorsichtigkeit zu tragen und erklärend einzugreifen, aber Maria Oglodek las bereits: „Und meine Seele spannte / Weit ihre Flügel aus, / Flog über stille Lande…“ – hier stutzte die Frau, dann sagte sie mit voller Überzeugung: „Spannt wirklich Flügel aus, Frau Axmann, ist bestimmt so gewesen“.

Elisabeth Axmann, Südostdeutsche Jahresblätter, Folge 1, 1993

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Kalliope

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