PETRARCAS GRAB
Der Raub zeigt das Leere, der Armraub,
des Dichters Arm. Sein Schriftzug
wiederholt nicht, die Erinnerung vermehrt
die Dunkelheit: das Zeitalter,
die nach innen stürzende Grenze,
ist seine Not, Laura, die liebt.
Was rettet sie, die zusieht und leidet?
Das Erstaunen verbirgt sich, unzeitig nah,
darin der geraubte Rest, Laura, das Neue,
der Berge, der Wind, die Voraussicht der Welt.
Vor der Scheu, es dem Auge anzuvertrauen.
setzt Alfred Kolleritsch „den Weg“ seiner Gedichte fort. Was das alltägliche Wahrnehmen vermeidet: daß es sich besinnt, erfahren zu wollen, daß das Sehen nicht mehr in die Fülle der Welt hinausreicht, sondern sich an Oberflächen festkrallt, das wollen die Gedichte zeigen. Sie gehen behutsam ins Vorfeld und üben die Begegnung mit dem vom Wahrnehmen und Leben Getrennten, das erstarrt als Wirklichkeit vorausgegeben scheint. Sie klagen diese „Wirklichkeit“ nicht an, sie besetzen auch kein Inneres, sie stehen gegen jede Identität und schlagen sich weder auf die Seite des Heils noch auf die des Unheils. Sie versuchen das Ereignis spürbar zu machen, in dem der sprechende Mensch in der Welt ist, bei den anderen und den Dingen. Die Gedichte brauchen dazu den Gedanken als Widersacher gegen die Naivität, die die verlorene Nähe nicht begreift.
„Ich will“, schreibt Kolleritsch, „in Gedichten nichts nacherzählen, keine Schlaglichter auf die Wirklichkeit werfen und ihr die Moral vorsagen. Ich schaue mit den Gedichten auf die Krallen, mit denen wir uns festhalten an der Zeit, ich will die Krallen öffnen und das Ereignis des Absturzes mit dem Gedicht die Hoffnung eines neuen Haltens fördern.“
Viele Gedichte in diesem Band folgen den Blicken von Malern und nehmen so an dem Vorgang teil, der Bilder zu Wegen macht, in denen uns Welt näher kommt. Sie wollen mit der Lust zu schauen und zu vernehmen Augenblicke schaffen, in denen Zwiesprache möglich ist.
Residenz Verlag, Klappentext, 1986
Ich will nicht behaupten, daß ich Alfred Kolleritschs Gedichte verstanden habe. Bei ersten Lektüreversuchen wurde ich kalt abgewiesen. Ich ließ nicht locker, buchstabierte wieder und wieder jeden Text. Es gelang mir endlich, einzelne Verse, hier und da ein, zwei Strophen, manchmal ein ganzes Gedicht annähernd zu begreifen. Anderen Rezensenten dürfte es ähnlich ergangen sein; aber sie gestehen ihr (partielles) Scheitern höchstens indirekt ein, indem sie entschuldigend auf den „philosophischen Charakter“ dieser Poeme zeigen. Ein Exeget zum Beispiel beginnt seinen Artikel mit einem Hegel-Zitat. Kaum einer, der nicht Heidegger, über dessen Werk Kolleritsch vor 23 Jahren promoviert hat, als Vorbild bemüht.
Sieht man genau hin, so folgen Kolleritschs Gedichte keineswegs den strengen Gesetzen philophischer Reflexion, sondern einer inneren Logik der Bilder (in deren spekulativer Dunkelheit auch meine Verständnisschwierigkeiten ihren Grund haben). Die Sprache ist poetisch; philosophisch nur insofern, als man in ihr „sich selber als Philosophen wiederentdeckt – seit der Kindheit war man Philosoph“, wie es bei Peter Handke einmal heißt.
Ich vermute, daß der 1931 geborene Herausgeber der Zeitschrift manuskripte, Grazer Gymnasiallehrer, Prosaist und Lyriker auf dem Land aufgewachsen ist, (zu) dicht an der erdrückenden Natur, unter dumpfen Machtverhältnissen. Nur als Gezeichneter, Verstümmelter hat er da herausgefunden, ein fast stummer Kaspar, der nach Worten sucht und den die Fremdheit zu Menschen und Dingen nie verläßt. Kolleritschs immer wiederkehrende Hauptwörter markieren eine ländliche Welt: Haus, Schwelle, Feld, Eichen, Geruch der Erde, Leib, Eis, Grenze; hinzutreten metaphysische Begriffe wie Schuld und Schande, das Heile, das Dunkle, Schöpfung, das alte Licht, der Sturz…
Ein österreichischer Totentanz? Tatsächlich ist die Todesobsession, das barocke Vanitas-Motiv stets gegenwärtig:
Was blüht,
es kann nicht sein.
Überall Grab und Abschied, „Gelächter und Fluch“:
Und durch die Türen geht das Eis.
Der Dichter beschwört das (uralte, zukünftige?) Unheil der Natur:
So wird die Erde sein:
Das Licht, das Risse zeigt
verdunkelt sich in seine Dinge,
der Unterschied, die Farben,
sind verbraucht,
die Wege fortgegangen.
Eine so dem Zufall, der „Schreckenswelt“ zugeneigte Erregung – das Gegenteil zu Handkes naturgläubiger, sinnenfroher Poesie – mißtraut von vornherein der schönen Oberfläche, der ewigen Wiederholung, der „Augenlust“. Der Augenblick wird nicht genossen, sondern abgewogen. So sind Kolleritschs Liebesgedichte Reflexionen über den Abschied, komplizierte Deutung von Weltlauf und Vogelflug. Keine Momentaufnahmen, Schnappschüsse vom „eben“, vielmehr Konstrukte, klirrende Gebilde aus Wörtern (in denen freilich des Autors Ernst und Erfahrung aufgehoben sind). Sie gehen kaum einmal vom schlichten Erlebnis aus und meiden Gefühle.
Der naive, offene Blick auf die Dinge ist unmöglich geworden, die Nähe endgültig verloren:
Hier suchst du, dieses Land,
den Vorgang der Nähe,
ein Spiel, das abgesagt ist.
Viele Gedichte bleiben irritierend dunkel, als sollten sie beweisen, daß es zwischen Sprache und Wirklichkeit nur scheinhafte Annäherung gibt. „Was das Auge berührt, / verwehrt ihm, es zu besitzen“ – eine Anspielung auf Orpheus, den „Vater der Gesänge“, wie ihn Pindar nennt? Das Auge ist – wie die Hand, die Haut, die Zunge, das Gehör – „betrogen“, es „findet nichts“.
Die Augen, krank, suchen den Vergleich,
sie möchten Ruhe, senkrecht bleiben,
was sie sehen, krallen sie an sich.
Kolleritschs alltagsferne Rede besteht aus „Rissen“, ein Stammeln, wobei Wortbrocken und elliptische Sätze zusammenstoßen, die an Rätselsprüche erinnern.
Mittot im Bild
ist das Gegenüber. Der Anfang
dazwischen verhüllt sich im Klaren.
Manchmal wird, unter sperrigen Abstrakta, eine eigentümliche Schönheit sichtbar, „der Glanz einer Pfütze“. Man glaubt Trakls, Hölderlins Tonfall zu vernehmen: Der Wind ist „hartgeschliffen“, oder „hochgewachsen“. Dann wieder:
Querliegende Sätze.
Gegen die Bilder. Bild an Bild versucht
sich zu decken, das Nachbild, schäbige Wahrheit.
Ein bis in die gebrochene Syntax hinein radikaler Zweifel an der Erkennbarkeit und Sagbarkeit der Welt, an der Verläßlichkeit der Sinne, ist Thema der Gedichte. Es gibt hier keine „mundgerechte“ Ab-Bildung von schon Gewußtem. Öfters folgt Kolleritsch den Blicken der Maler, beschreibt den Weg, auf dem ein Bild entsteht, als sei dies die letzte, vermittelte, immer wieder gestörte Möglichkeit einer „Berührung“ der Dinge. „Spuren, Reste“, kreisend um einen verborgenen Kern. Oder gibt es diese authentische Mitte gar nicht; ist das Auge – wie der Teich – blicklos, das Selbst ohne Identität?
Michael Buselmeier, Die Zeit, 27.3.1987
Das Rühmen, das Verwandeln der Dinge und ihre Rettung – also Rilke; und immer wieder Heidegger, über den Alfred Kolleritsch 1964 promoviert hat, wie andere auch und vierzehn Jahre vor ihm Ingeborg Bachmann: Dies und mehr noch haben wir (die Rezensenten) aufgeboten und herangezerrt, um mit der offensichtlichen Schwierigkeit der Gedichte von Alfred Kolleritsch einigermaßen fertig zu werden, um nachzuweisen, daß seine Gedankenlyrik (falls der Begriff überhaupt noch tauglich ist) auch tatsächlich auf Gedankensysteme zurückführbar sei, nie ganz schlüssig, nie zur Gänze, aber doch mehr oder weniger und immerhin. So geht das seit 1978, seit dem Band Einübung ins Vermeidbare, für den Kolleritsch den Petrarca-Preis erhielt. Im Vorfeld der Augen (1982) und Absturz ins Glück (1983) schienen solchen Deutungsmodellen noch näher zu kommen.
So könnte man bei dem neuen Band Augenlust weitermachen. Feststellungen wie „das Umverwandeln fehlt“ oder, „daß die Hand nicht ausreicht, die Erde zu beschützen“, ließen sich als eine Entfernung von Rilke deuten, andere jedoch, in denen es um die Wechselbeziehung zwischen Gegenständlichkeit und den Grundarten von Evidenz geht, wären dann versuchsweise auf Edmund Husserls Phänomenologie zu beziehen. Der Gedanke liegt keineswegs fern, sogar biographische Gründe ließen sich restituieren – nur, diese Gedichte entziehen sich beharrlich der Evidenz, und gerade darin liegt ihre außergewöhnliche Qualität.
Mit Bildern und Artefakten, also Prägungen der Literatur, der bildenden Kunst und der Musik, denken sie sich an eine Welt heran, die sich ins Dunkle hüllt. Diese Gedichte zu lesen, sie immer wieder zu buchstabieren, gehört zu den strengen Vergnügungen, die ein verunsicherter Kopf sich leisten kann, wenn er das sucht, was heutige Welt nicht mehr bietet: eine Weltanschauung. Was es dabei zu schauen, zu fühlen, zu hören oder zu schmecken gibt, ist jedoch nie ein Ganzes. Wahrnehmbar sind „Reste“ und „Risse“, allenfalls wie sich einzelne „Dinge zu Dingen stellen“. Nähe ist nicht erfahrbar; das Licht ist „das alte Licht“, es wird von Dunkelheit aufgezehrt. Selbst wo vom „sehenden Wasser“ gesprochen wird, von augengleichen Teichen, in denen die Welt sich – als Spiegelung – noch ansehen kann, selbst da muß der Betrachter, der die Teiche umkreist, erkennen, daß auch sie keine Mitte bilden. Weder der Betrachter kann sich als Mitte empfinden, noch kann das, was er schauend umkreist, eine Mitte sein. Die Welt ist immer „voraus“; Vergangenheit und Zukunft sind „unüberholbar voraus“, eine „Vorwölbung des Dunklen“.
Es gibt eine starke „Begegnungslust“ in diesen Gedichten, eine ständige Spurensuche: was die Augen sehen, „krallen sie an sich“, aber die Wahrnehmung gleitet an zersprungenen Oberflächen ab. „Die Augen schmerzen“; ein ruhiges Begreifen, ein Ausruhen im Begriff ist nicht möglich. Der Verlust, der hier beschrieben wird, besteht nicht erst, seit dafür kulturpessimistische Formulierungen gefunden wurden, die „Verlust der Mitte“ oder ähnlich heißen. Derlei Etikettierungen werden stets angelegentlich auf die aktuelle Gegenwart bezogen, bedienen sich dabei aber sehr viel älterer Grunderfahrungen von Dichtern und Künstlern. Es bedurfte des Ersten Weltkrieges nicht, um die neuen Formen zu finden, die aus der Formzertrümmerung gebildet wurden. Es gibt keine ästhetischen Rechtfertigungen für Massenvernichtungen.
Dieser Gedichtband könnte ein Mißverständnis nahelegen. Er enthält auffällig viele Gedichte, die man gemeinhin als Naturgedichte bezeichnet. Nicht die Unwirtlichkeit der Städte, sondern das Unheil der Natur steht im Vordergrund. Aber diese Gedichte schlagen kein Kapital aus der ökologischen Krise, in der wir leben. Sie haben auch damit etwas zu tun, dieser oder jener mag sie so lesen. Das wäre denkbar, aber Thema dieser Gedichte ist die Sagbarkeit, ist die Wörtlichkeit von Welt.
Der Satz, dies oder das sei nur ein Streit um Worte, ist gegenüber einem Wortkunstwerk völlig unangemessen. Genau darum aber handelt es sich hier, um etwas ganz Fremdes, das uns alle Wörter und Begriffe aus der Hand schlägt, mit denen wir sie zu etikettieren pflegen.
Die Nacht, in den Rissen der Rede,
schweigt abseits, ohne Sichtbarkeit
Was wir bei Alfred Kolleritsch lesen, sind „querliegende Sätze“ „gegen die Bilder“. Gelungene Nachbilder von Wirklichkeit wären bloß „schäbige Wahrheit“. Nur „in Worten noch“ ist „zertrümmerter Zusammenhalt“ wahrnehmbar, aber die Wahrheit der Dinge und Gegenstände ist durch Wörter, durch Benennungen nicht evozierbar. Dieser Zusammenhang ist auch subjektiv nicht mehr herzustellen:
Du bist, was du verlierst,
was dir niemand bestimmen darf.
Lediglich im Traum sind die Spuren wirklichen Lebens zu erkennen. Zeichen sind mit Worten nicht zu ersetzen, aber die Bilder, jene ganz fernen, nie gehörten Wortbilder, mit denen Kolleritsch denkt, reichen ins Verborgene voraus, also auch in die Vergangenheit, die uns in der Zukunft stets einholt.
Herbert Wiesner, Süddeutsche Zeitung, 1.10.1986
Ernest Wichner: Das Entstehen der Landschaft beim Sprechen
Lesezeichen, Herbst 1986
Gisela Bartens: Sammeln im Vorfeld
Süd-Ost Tagespost, 12.12.1986
Alfred Warnes: Gedichte und Spleengesänge
Wiener Zeitung, 19.12.1986
Heinz Neidel: Suche nach dem Widerpart
Nürnberger Nachrichten, 27.12.1986
Gerhard Melzer: Im Blitz das Licht sehen
Neue Zürcher Zeitung, 28./29.12.1986
Riki Winter: Alfred Kolleritsch. „Augenlust“
Literatur und Kritik, Heft 211/212, Februar/März 1987
Anonym: Von des Dichters Augen
Passauer Presse, 7.4.1987
Die Heimkehr,
ohne fortgewesen zu sein,
angefaßt von den Zweigen,
der Pulsschlag im Tau.
Wirr die Nähe
(Tröstliche Parallelen)
Seltsam oder nicht: es fällt mir schwer, mir Alfred Kolleritsch als Kind vorzustellen. Seit meine eigenen Kinder erwachsen sind, stelle ich mir Kindsein wieder als etwas vor, was eher unbeschwert als beschwert, eher heiter als ernst, eher vertrauensvoll als ängstlich ist. Vor allem denke ich (wieder), dass Kinder dem, was auf sie zukommt, erwartungsvoll entgegenblicken, zuversichtlich. Alfred Kolleritsch hingegen, denke ich mir, war ein Kind, das rasch eine Falte über der Nasenwurzel zeigte, ein Kind, das erst einmal seine Schultern ein wenig zurückzog, ehe es die Hand ausstreckte, ein Kind, für das das Alleinsein ebenso angemessen war wie das Spielen mit anderen Kindern. Ich stelle mir also offenbar den sagen wir mal zehnjährigen Alfred als ein ziemlich unkindliches Kind vor, wobei er in Wahrheit womöglich der lustigste Bub von ganz Brunnsee war, er hat es nur niemanden merken lassen. Natürlich komme ich auf diese Ansicht über den kleinen Alfred – außer durch meinen falschen Begriff von Kindheit – durch den erwachsenen Kolleritsch, mit dem ich übrigens zahlreiche außerordentlich heitere Abende verbracht habe, bei denen wir das Lachen nur unterbrochen haben, um wieder einen Schluck trinken zu können. Dieser erwachsene Kolleritsch war für mich im Wesentlichen immer ein grüblerischer Mensch, ein Nachdenker, kein Leichtfuß.
Wie Wolken zerstören,
den Wind ausbeuten,
um sich zu verwandeln!
Dich bringt der Blick
weg vom Dauern,
ausgeklammert
gehst du und gehst du.
(Tröstliche Parallelen)
Der Leichtfuß bin da schon eher ich, der ich so alt werden kann, wie ich will, Alfred wird immer der Ältere sein, einer, der sich nicht nur die Dinge schon etliche Jahre länger hat durch den Kopf gehen lassen, sondern bei dem sie auf ihrem Weg durch seinen Kopf auch weit mehr Spuren hinterlassen haben. Ich habe das vor Jahren schon gedacht, als wir einmal ein paar gemeinsame Tage in Griechenland verbrachten und bei der Gelegenheit das Theater von Sikyon besuchten: Ich ging auf den oberen Rängen einer Schildkröte nach und sah ihn dann allein unten auf einem der letzten Marmorsessel der ersten Reihe über sein Notizbuch gebeugt, schreibend, und beneidete ihn um seine Gedanken. Ja, so etwas gibt es, und ich hoffe, Sie merken: Alfred Kolleritsch ist für mich nicht nur eine Respektsperson: Manchmal ist er auch so etwas wie ein großer Bruder.
Der junge Lektor, als der ich vor dreieinhalb Jahrzehnten nach Österreich kam, lernte mit ihm jemanden kennen, der das Hochstaplerische, das ja aller Literaturkritik und Literaturbeurteilung notwendig eigen ist, durch Neugier, Wachheit und Zugewandtheit mehr als ausgeglichen hat. Bisweilen schien es geradezu, als habe er sein eigenes Schreiben-Wollen auf die Kollegen und Kolleginnen ausgelagert, denen er mehr Aufmerksamkeit zu schenken schien als sich selbst. Zwar soll heute vor allem der Dichter Alfred Kolleritsch geehrt werden, aber natürlich, wir alle hier wissen das, gehört die Zeitschrift manuskripte untrennbar zum Gesamtkunstwerk Kolleritsch. Sie zeigt ihn als einen anarchischen Organisator, der Anfängern wie ausgewiesenen Könnern gleichermaßen seine Schulter anbietet, damit man darauf für ein Weilchen seinen Kopf bette und hinterher sagen kann: Ich war übrigens wieder mal in den manuskripten. Er hat Autoren gedruckt, die heute niemand mehr kennt, er auch nicht, aber er hat auch die gedruckt, die heute jeder kennt. Will man wissen, welche Kriterien ihn beim Auswählen geleitet haben, wird es wie immer in solchen Fällen schwer sein, den gemeinsamen Nenner zu finden; so viel aber lässt sich doch über alle unscharfen Qualitätsanforderungen hinaus sagen: Er hat immer erwartet, dass seine Autoren und Autorinnen ihr Schreiben vollkommen ernst nahmen, so wie er es nicht anders von sich selbst kannte. Um welches Thema es auch immer ging: Der Sprache die notwendige formale Entsprechung abzuverlangen, war und ist kein Witz. Der Anspruch kommt von der Sprache selbst, nicht vom Publikum. Und genau diesen Anspruch will man von der prüfenden Instanz des Herausgebers spüren, kompetent freilich. Lustig ist da gar nichts. Eben deswegen ist Alfred Kolleritsch ein geachteter Mann.
Es herrschte ja immer ein ordentliches Durcheinander in dieser Zeitschrift. Aber ein Abend mit dem jeweils neuen Heft, und man weiß wieder, was für eine herrliche Kakophonie die Gegenwartsliteratur ist, solange sie wirklich noch ganz Gegenwart ist. Ein für alle offener Kindergarten, gehütet von Alfred, dem erwachsenen Kind. Wenn man sich dann zwischen den von ihm und seinen Mitstreitern bewilligten Texten hin und her bewegt, blätternd, suchend, vor und zurück, hier eine Erzählung, da ein Gedicht, dort ein Romananfang, dann könnte, sollte und wird man zwangsläufig auch ins Sinnen kommen, was man denn eigentlich zu finden hofft in dieser Literatur.
Ich denke, eine halbwegs passable Antwort darauf ist immer noch das bewährte Dreiergespann Das Wahre, das Gute und das Schöne. Dazu findet sich in der ebenso gewaltigen wie bärbeißigen Prosa Der letzte Österreicher, der die Österreich-Nostalgie à la Hofmannsthal mit nur einer Bewegung vom Tisch wischt, folgende Passage:
Wie leidenschaftlich hatte er gestritten und gekämpft, um recht zu haben, wenn es um die Versinnlichung der großen Wörter ging, um das ,Wahre‘, ,Gute‘ und ,Schöne‘. Er rief sie aus dem Abgrund zurück, in dem sie zu versinken drohten, und wenn man ihm entgegenhielt, daß sie eben dieser Abgrund sind, schrie er los: „Aber was ist dann die Vernunft“. Er ließ die Vorbeiziehenden durch seine drei Wörter gehen, sie heimkehren in die Wörter… (Der letzte Österreicher)
Das Wahre: das will wohl heißen: die Welt, wie sie ist, unverfälscht. Und wie ist die Welt? Wechselhaft. Viel zu oft für mich so und für dich anders. Und selbst für mich mal anders und mal so. Manchmal sogar beides zugleich. Vor allem aber ist sie vieldeutig und schwer durchschaubar. Wenn aber das Gedicht uns die Welt so zeigen soll, wie sie ist, und wenn sie also schwer durchschaubar ist, dann muss wohl auch das Gedicht schwer durchschaubar sein? Das muss es wohl, auch wenn wir das nicht gerne hören, haben wir das Verständliche doch lieber als das Unverständliche, das Eindeutige lieber als das Mehrdeutige, das Klare lieber als das Unklare. Und gern geben wir offenbar etwas vom Wahren auf, wenn uns die Welt nur überschaubar gezeigt wird, geordnet, begriffen, im Griff. Das Kind im Wald pfeift keine Fugen, lieber etwas Einfaches. So verfliegt die Angst.
Inzwischen haben wir weitergeblättert im Heft und unter den Texten ausnahmsweise auch etwas vom Herausgeber selbst gefunden, Gedichte von Alfred Kolleritsch. Und als sei es die Probe aufs Exempel: Wir lesen sie, und wir verstehen nur die Hälfte. Höchstens. Wir atmen auf: Das muss die Welt sein, wie sie ist. Und noch einer atmet hörbar auf: der Autor. Er muss, ja er soll nicht schlauer sein wollen als sein Text. Vielmehr ist das gelungene Gedicht doch allemal der Klügere von beiden. Und wie soll ich da nicht an das Lektoratsgespräch denken vor Jahren, wo wir über die Fahnen gebeugt saßen und ich ihm bei einem Gedicht sagen musste: Lieber Dichter, hier verstehe ich überhaupt nichts mehr. Und er es dann noch einmal überflog, sich zurücklehnte und mit vollem Ernst sagte: Ich auch nicht, aber es ist schön. Und ob, war meine Antwort, und wir waren beide glücklich.
Ehe wir aber jetzt auf das Schöne zu sprechen kommen – ich habe es nicht vergessen –, ein Kurzes noch zum Guten. Dazu vielleicht vorab ein Zitat aus dem Wilhelm Meister, und zwar aus seinen Wanderjahren, nur um anzudeuten, dass wir uns der weiteren Dimensionen dieses Begriffs bewusst sind:
Des Schönen sind die Menschen selten fähig, öfter des Guten. Woraus sich ergibt, wie selten das Schöne gelingt.
Das Gute soll hier aber jenseits aller Moral – oder jedenfalls jenseits der üblichen – das gut Gemachte sein, das handwerklich gut Gefügte, die Form- und Sprachqualität. Dazu nur so viel: auch Alfred Kolleritsch hat nicht nur Meisterwerke verfasst, und manchem meint man die Anstrengung des Verfertigens noch anzusehen. Aber ich kenne kein einziges schlechtes Gedicht von ihm! Der eigene Ton, also das Unverwechselbare, ist immer zu hören, das Reflexionsniveau immer anspruchsvoll, die Bildwelt immer herausfordernd. Nun aber: den Ton zu hören, der Denkspur zu folgen, die Bilder aufsteigen zu lassen – klärt das die Welt nicht? Gewinnt sie so nicht Gestalt? Wird nicht das Rätsel Welt, gerade wenn es Rätsel bleibt, durchscheinender? Ja, doch, das wird es. Und was können wir von diesem klug gestalteten Bilderrätsel sagen, was ist im Glücksfall wie durch Zauberhand, wie eine Aura Wort um Wort entstanden? Die Schönheit, ja, und auch sie ist ein Rätsel durch und durch, aber im Gegensatz zur Welt, die erst durch sie wirklich zur Erscheinung gebracht wird, im Kern ein klares, leuchtendes, einfaches, kindliches. Vielleicht etwas, was sich in einem Kind einnisten konnte, das durch die Wälder von Brunnsee streifte oder auf den See selbst blickte und auf die Wolken über ihm. Das wäre jedenfalls naheliegend für jemanden, der „als Sohn eines Gärtners in einer vornehmen Villa an der Stadtgrenze“ aufwuchs, wie es gleich zu Beginn der „Ortliebschen Frauen“ heißt. Wer alles drei zusammenbringt, das Wahre, das Gute, das Schöne, der jedenfalls ist, wie Alfred Kolleritsch, ein Dichter.
Er ging durch sich.
Mit nahm er,
was in den Dingen war.
Er ließ sie,
baute Gärten,
aus ihrem Blühen
fand er nicht zurück.
(Tröstliche Parallelen)
Und:
SCHÖPFUNG
Der Leib will die Welt,
durch ihn sind Furchen,
aufgerissene Wege
gehen ihn.
Angelockt, zu sehen,
versucht das Auge
den geöffneten Himmel.
Wolkenflüge
zeigen den Raum.
Sie vermehren die Sinne,
sie überstürzen den Leib,
Sichtbarkeit anzunehmen.
Die Begegnung.
(Augenlust)
Zurück zur Schönheit: sie ist es, die der schwer durchschaubaren Welt, auch da, wo von deren Hässlichkeit die Rede ist, den Schein der Verträglichkeit und Klarheit gibt.
Auch so verfliegt die Angst.
Und noch etwas nimmt uns die Schönheit: das Steirische, nämlich das Lokale, Provinzgebundene, die häusliche Einmischungslust, die ja die Kehrseite ist des letztlich unfruchtbaren Selbsthaders, der auch Alfred Kolleritsch in vielen schwachen Momenten überkommt. Zugleich geht es um die falsch verwachsenen Narben der Geschichte, der bösen Geschichte, der von Menschen gemachten Gottesplagen. Sie wollen und müssen – etwa in dem wichtigen Roman Allemann – noch einmal aufgerissen werden, damit sie gütlicher zusammenwachsen und die Erzählung ein Heilbad werde.
Am Ende des Krieges fiel ich in die Stadt, in der ich sterbe. Den Namen der Stadt spreche ich nicht mehr aus. Ich wollte die Stadt von ihrer Enge heilen, mithelfen, ihr die Verkrustung abzureißen, den deutschnationalen Panzer, aber unter jedem Stück entfernter Haut spannte sich wieder ein Stück Haut. Unter dieser Haut war das vielfältige Österreich erstickt, unser Herz! (Der letzte Österreicher)
Wir suchen die Schönheit wie die verlorene Kindheit, jene Zeit, die von Schönheit noch nichts weiß, die aber später im ersehnten Schönen ihr Abbild findet. Diese Kindheit darf man getrost auch Paradies nennen. Alfred Kolleritsch bedrängt es immer wieder mit seinen Zweifeln, so dass es da, wo es, wie in jedem seiner Gedichte, wenigstens einmal aufscheint, sein Leuchten über jeden Vers wirft.
Ich gebe es zu, am meisten würde es mich entzücken, würde Alfred Kolleritsch heute der Alfred Kolleritsch-Preis verliehen. Nicht nur weil er ihn verdient hätte wie kein zweiter – er hat auch jeden anderen Literaturpreis verdient –, sondern weil er in meinen Augen literarisch weiter gekommen ist als Franz Nabl, weil er aus der Enge des Herkommens seine Ahnung von Weite-Welt-Zustimmung und seinen Sinn für tragische Notwendigkeiten souveräner zu verknüpfen weiß.
Andererseits: es ist zwar wahr, dass nun mal nicht jede Stadt eine Tochter oder einen Sohn hat wie Goethe, Heine oder Bachmann, und es ist ebenso wahr, dass Franz Nabl in keiner Weise das Kaliber eines Hamsun oder Céline hatte. Wahr ist aber ebenso, dass auch Nabl das Grüblerische mit der Ahnung von der Möglichkeit eines befreiten Lebens zu verknüpfen wusste, auch wenn ihn seine Befangenheiten nur selten dahin brachten, wo man ihm gern begegnet wäre. Lesen die Jungen Nabl? Fördert die Stadt die verlegerische Präsenz dieses Autors? Auf jeden Fall hat mir Franz Nabl die erste Zusammenarbeit mit Peter Handke beschert, als dieser 1975 die Erzählung „Charakter“ herausgab. Ich fand im Nachwortmanuskript damals das Wort zutiefst, das mir nicht gefiel, und bekam von Handke dafür den Gegenvorschlag zuhöchst. Handke ist gewiss der Dichter, der Alfred Kolleritsch am zutiefsten verbunden ist. Die Freundschaft zwischen diesen so verschiedenen und sich doch immer wieder in Gemeinsamkeiten treffenden Männern ist – ich traue mich das zu sagen – unverbrüchlich, der nahezu lebenslange Briefwechsel der beiden zeigt das auf inspirierende Weise.
Dort kann man übrigens auch nachlesen, dass fast nichts geworden wäre aus der geplanten Hochzeit mit Gabriele Lichtenegger im Marmorsaal von Schloss Mirabell in Salzburg. Nicht weil Sohn Julian seine Mutter wiederholt fragte: Mama, müssen wir wirklich heiraten?, sondern weil ich knapp zuvor mit Peter Handke aneinander geraten war und es so aussah, als ob ein freundschaftliches Miteinander nicht stattfinden könnte. Zum Glück vertrug man sich dann aber doch noch rechtzeitig, Handke und ich ließen uns als Trauzeugen eintragen, wobei die junge Frau im Magistratsbüro noch fragte: Handke – mit weichem oder hartem D?, und als der Standesbeamte nach glücklich vollzogener Trauung ausrief: Es darf geküsst werden! und meine vierjährige Tochter Daphne auf eben den Standesbeamten zustürmte und ihn küsste, da war dann doch alles im Lot.
Die Stadt Graz zeichnet heute einen ihrer bedeutendsten Dichter aus – und wirklich bedeutend waren unter den vielen, die die Grazer Szene bespielten, ja nicht so viele. Er hat sich um diese Stadt verdient gemacht und entscheidend dazu beigetragen, dass Graz und Literatur für lange Zeit geradezu synonym schienen, wir wissen das nicht erst seit heute.
Als ich vor mehr als drei Jahrzehnten Alfred Kolleritsch in der Billrothgasse besuchte und ihm vorschlug, dem ersten Privatdruck ein richtiges Gedichtbuch folgen zu lassen, da fügte es sich, dass, noch bevor das Buch erschienen war, Peter Handke und seine Mitstreiter ihm den Petrarca-Preis verliehen, damals der schönste und am schönsten gefeierte Literaturpreis überhaupt. Da konnte es kein Zufall sein, dass bereits seit Hunderten von Jahren in dieser Stadt als kostbarste und hinreißendste Kunst-Stücke die beiden Cassoni der Paola Gonzaga im Dom gehütet werden, wenngleich einigermaßen zweckentfremdet: die beiden Aussteuertruhen der mantovanischen Prinzessin enthalten heute heiliges Gebein. Tempora mutantur, geblieben aber ist die Pracht des geschnitzten Elfenbeins, das, wie wir wissen, die Trionfi des Petrarca an uns vorüberziehen lässt: den Triumph der Liebe, der Keuschheit, des Todes, des Ruhms, der Zeit und der Ewigkeit. Das alles – ja doch, auch die Keuschheit – sind große, wenn nicht die größten Themen jeder Kunst und also auch der Kunst Alfred Kolleritschs. Das Phantasievollste ist, wie denn auch nicht, der Triumph der Liebe, Triumphus Cupidinis, jenes Bild, auf dem die lorbeerbekränzten Dichter den Wagen des wilden Kindes Amor – un garzon crudo – begleiten, zu dem einer von ihnen – alzando gli occhi – sehr aufmerksam hinaufschaut: Petrarca selbst. In der Truhe mit diesem Relief wird heute der Arm der hl. Agathe aufbewahrt – oder ist es vielleicht längst ein anderer Arm?
PETRARCAS GRAB
Der Raub zeigt das Leere, der Armraub,
des Dichters Arm. Sein Schriftzug
wiederholt nicht, die Erinnerung vermehrt
die Dunkelheit: das Zeitalter,
die nach innen stürzende Grenze,
ist seine Not, Laura, die liebt.
Was rettet sie, die zusieht und leidet?
Das Erstaunen verbirgt sich, unzeitig nah,
darin der geraubte Rest, Laura, das Neue,
der Berg, der Wind, die Voraussicht der Welt.
Vor der Scheu, es dem Auge anzuvertrauen.
(Augenlust)
Ja, Graz hat mit Petrarca längst – und vermutlich lange Zeit, ohne es zu wissen – einen der größten Dichter in seinen Mauern gehabt: wer weiß, ob nicht von da aus alles seinen Anfang nahm. Liebe, Keuschheit, Tod, Ruhm, Zeit und Ewigkeit: was Dichtung ist, das rührt an diese Dinge. Und an uns und bringt so das eine und das andere zusammen, so heute auch uns. Das ist gut, das ist schön, das ist wahr. Zum Abschluss aber noch etwas: Alfred Kolleritsch, auch wenn er ein wenig zarter geworden ist in den letzten Monaten, war nie nur Denker und Dichter, sondern mit Hingabe und Lust auch Esser und Trinker. Und wie es bei einem solchen nicht anders sein kann, kommt dann das Denken und Trinken, Essen und Dichten, das Kochen, Vermischen, Vertilgen, Verwandeln anstiftend und uns alle heiter beflügelnd zu uns, denn es macht Appetit auf Gedichte und Wein, Gedichte von Alfred Kolleritsch und steirischen Wein: Nehmen wir von beidem nicht zu knapp, sie werden uns helfen, ein längeres Leben zu leben. Mit einem letzten Gedicht lassen Sie mich schließen:
TRANSZENDIEREN
Sie sind eins,
Zahnfleisch, Zähne, die Lippen
und der rote Lachs.
Du nimmst im Beißen die Verführung an
zu überführen, den Widerstand
aufzuheben im Geschmack,
Welt überschüttet die Empfindung.
„Pfeffer auf der Zungenmitte,
Unerbittliches, in sanfter Butter
aufgehoben, einmal nicht zu trennen,
wenn eins ins andre übergeht“, sagst du,
„Scharfes, Salz, und zart das Saure.“
Ich sehe das Einlösbare. Es erscheint
im Muskelspiel der Wangen, im Augenblick,
da der Gedanke in die Speise kommt und
das dir Versprochene, über Zutaten hinaus,
das Neue ist: vergänglich und im zweiten
Bissen wiederholt (die Beständigkeit der Dauer).
Der Genuß bewegt dich, du nimmst teil
an ihm, wie die Schmerzen Schmerzen aller sind,
das Schmecken nimmt dich an seine Seite.
Du trinkst den Wein wie Wind dazu. Der Rest
der Austernsauce siegt in deinen Augen;
so einfach ist, was alles ist, mit uns.
(Augenlust)
Jochen Jung, Die Rede zur Verleihung des Franz Nabl Preises an Alfred Kolleritsch wurde am 8.10.2009 im Grazer Literaturhaus gehalten.
Alfred Kolleritsch im Gespräch mit Eberhard Büssem am 17.2.2006 in der Sendung alpha-Forum
Barbara Frischmuth, Friederike Mayröcker, Franz Weinzettl und Lydia Mischkulnig gratulieren
Harald Miesbacher: A. K., die manuskripte, ihre Autoren und ich…
manuskripte, Heft 191, März 2011
Rainer Götz: Rede zum 80. Geburtstag von A. K. Literaturhaus Graz (16.2.2011)
manuskripte, Heft 191, März 2011
Anton Thuswaldner: Alfred Kolleritsch: Der Dichter als Denker
Die Furche, 17.2.2011
Präsentation des Lyrikbandes Es gibt den ungeheuren Anderen von Alfred Kolleritsch im LITERATURHAUS GRAZ am 5.2.2013.
Ausschnitte aus der gemeinsamen Lesung von Alfred Kolleritsch und dem Grazer Schauspieler Daniel Doujenis.
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