Alfred Kolleritsch: Gedichte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Alfred Kolleritsch: Gedichte

Kolleritsch-Gedichte

EPIGRAMM

Dir gibt das Verweilen Sanftmut,
sie ist die Überraschung der Strenge,
die nichts bleiben läßt.
Du bist, was du verlierst,
was dir niemand bestimmen darf.

Das seit Anbeginn Gelebte,
wir sind es ganz und der Teil davon
Das dunkelgrüne Kamelienblatt
in deiner Hand übersetzt sich selbst:
Das Blatt bist du, vergiß die Blüte.

 

 

 

Wer spricht in den Gedichten von Alfred Kolleritsch

Oder: Kleiner Versuch über den Dritten

Er ist die Ferne,
zu der er hinsteigt,
Zeit, eingespielt,
Ereignis, ausgeschlossene
Drittes, das den
Wanderer mitnimmt.

(Aus dem Gedicht „Arnold Schönberg, op. 37 / Ein Naturlied“)

Ausgeschlossenes Drittes, das den Wanderer mitnimmt: Das ausgeschlossene Dritte, das ist die Sprechweise der Gedichte von Alfred Kolleritsch, und der Wanderer, das ist der Leser. Ehe diese Weise sich endlich hörbar machte, haben vielerlei Stimmen auf den Wanderer eingeredet, äußere und innere, und es war ein Durcheinander der Stimmen, welches ihm die Wanderluft ausgehen ließ, die Wandereraugen trübte, die Wandererohren verschloß: von außen die Schlag- und Schlagerzeilen, die Meinungen, die Urteile, die Alternativen, die Reklamesprüche, die Zeitansagen, die gefälschten Volkslieder, im Innern alles das zwangsweise wiederholt, zusätzlich gestört von dem Stimmengewirr der Selbstbespiegelung, der Selbstbeurteilung, der Selbsterhöhung, der Selbstverdammung. Diese Stimmen, dem Wanderer zusetzend und ihn, mochte er sich auch geradeaus bewegen, im Kreis irren lassend, waren unzählbar – doch mit dem Augenblick, da jene Stimme, jene des Gedichts, vernehmlich wurde, weder außen noch innen, sondern eben von einer dritten Seite, „ausgeschlossen“ oder unabhängig von dem endlosen Gerede, erschien sie, neben dessen Unordnung, im Bild einer ordnenden Zahl, einer Ordnungszahl, und zwar einer bestimmten: auf die Hunderte, die Tausende, die Myriaden der Durcheinanderredner folgte, sich erhebend aus der ganz anderen Richtung, der einzelne, bestimmte, mich, den der Wirrnis Ausgesetzten, erst in den Wanderer/Leser verwandelnde und mich „mitnehmende“, bestimmende Dritte. „DIE ZAHLEN, im Bund / mit der Bilder Verhängnis / und Gegen- / verhängnis“, so bestimmte es, in einer früheren Lese-Zeit, ein anderer „Dritter“, Paul Celan.
Aber was bestimmt oder ordnet, dem Wanderer jener Dritte? Und wie geschieht es, daß er bestimmt? Und „gibt es einen Klang in diesen Zeichen“? (Kolleritsch) Und höre ich Leser von der Seite jenes Dritten überhaupt so etwas wie eine Stimme?
Was der Dritte, indem er da ist, in der Weise, des Gedichts, und indem ich, der Leser, zulasse, daß er einsetzt, bei mir bewirkt, ist zunächst einmal ein Verstummen, ein Sich-Legen all der inneren und äußeren Stimmen: Ich werde durch ihn zum Schweigen gebracht, endlich – endlich kann ich verstummen –, und von den Nachrichten und Schlagzeilen werde ich durch ihn nicht etwa abgelenkt, sondern ich kann sie überspringen, ein ohne mein Zutun, allein durch mein Aufhorchen geschehender Seitwärtssprung hinaus in eine Weite, welche sich aufgetan hat, als dort einer, ein einzelner, auf einmal, überrumpelnd, mich hören ließ, was weder etwas meinte noch etwas bedeutete. Jetzt ist Platz da für das Dritte, für das Gedicht, und dieser Platz reicht von meinem innersten Ohr bis an seine andere Begrenzung, die nicht benennbar ist, nur umschreibbar mit dem Wort „Ferne“. Und so zum Beispiel läßt das ferne Dritte sich und mich hören:

Dahin ausgedehnt: als Leib.
Der Raum braucht eine Grenze,
in ihm redet jede Welt
und spielt und gibt das Nachspiel

(den Göttern und Maschinen).

Nicht allein für den Leser hat mit solchen Zeilen das Dritte eingesetzt, sondern auch für den Schreiber selber; anders als das bekannte lyrische Ich oder vielleicht ein konkreter Poet tritt Alfred Kolleritsch in seinen Gedichten nie als der Autor oder Urheber auf – ist tatsächlich „nur“ der Schreiber: dieser hat dem Dritten nachgesprochen und es wiederholt, ebenso wie jetzt der Leser.
Ja, jener oder jenes Dritte bestimmt, ordnet, wirkt, läßt sich hören aus einer, meinungs- und eindeutigkeitsfreien, Ferne: diese seine besondere Zone ist seine Haupteigenschaft und seine erste Wirkung; von so weit her kommen seine Wortfolgen, daß sie, und hätte ich die Buchstaben auch nah vor Augen, wie gesendet erscheinen.

Aus dem Wollen hinaus. Tiefer
zu einer anderen Grenze, der Schwung,
der sie findet, ist der Anfang…

Ihre zweite Wirkung jedoch, an der Stelle gleich welchen Sinns, oder etwa auch nur eines mich vereinnahmenden Rhythmus, ist ihr Tonfall, ein Tonfall, welcher den Eindruck des Fernen noch unterstützt. Und der Tonfall des Gedichtes ist so, daß er schon im Ansetzen ein Machtwort spricht: Jetzt, nach all dem Gerede, bin ich an der Reihe, das Dritte, das Gedicht. Die Machtworte des Gedichts freilich befehlen nichts, gebieten nicht, klagen nicht an, klären nicht auf, offenbaren nichts – sie wissen nicht mehr als ich oder du, bleiben, so klar und fest auch ihr Tonfall ist, unverständlich, undeutbar, unentschlüsselbar, ja sogar ohne sich je zu einem vertrauten Bild zu fügen oder durch auch nur ein einziges Wortspiel sich Nähe und Einverständnis zu erschwindeln, sie bleiben entschieden im Dunkeln, wo ihr Reich ist, und nachvollziehbar an ihnen ist nicht ihr Sinn, vielmehr ihr Ernst, welchen sie durchhalten vom ersten Satz bis zum letzten: ihre größte, ihre krönende Wirkung – Autorität ohne Autor, allersanfteste Autorität, die nur eingreift und wirksam wird, wenn ich Leser für sie bereit bin und sie will.

Im Zimmer ist Sonne,
eine Blume bleibt,
eine Hand sucht die Geschichte der anderen.
Die Zeit nimmt uns hin.

Ihr einziger Anspruch.

Zum Zeugnis dazu der Satz eines anderen Dritten, René Chars, ungefähr so:

Eine Zeit wird kommen, da nur noch eine Sprache, die wir nicht verstehen, uns retten wird.

Paradox des Dritten schließlich, daß er oder es sich zwar hören läßt, aus der Ferne, in einem besonderen Tonfall, als „die andere Nähe, die unbegegnete, / die der Welt ihre Flügel gab“, aber zugleich ohne Klang, ja ohne Stimme ist. Das Gedicht lesend vernehme ich das Dritte „jenseits“: jenseits des Klangvollen und Stimmhaften, als ein skandiertes Schweigen, parallel zu dem Rauschen der Bäume, eben als ein Naturlied (ein „Liedrest“ bei Paul Celan) – nicht „Lied der Natur“, sondern Lied eines Menschen parallel zur Natur, diese so „realisierend“, in dem Sinn, wie für Cézanne das Malen ein Realisieren parallel zur Natur war.
So lese ich jedenfalls die Gedichte des Alfred Kolleritsch; oder so, mit der Vorstellung des Dritten jenseits von uns beiden, gelingt mir das Lesen. Dieses kann dabei weder ein Überfliegen, noch ein Mich-Berauschen, ja nicht einmal das übliche poetische Anklingen-Lassen sein (es sei denn, ich nennte den Schweigemoment, welchen der Text mir zusendet, einen „Anklang“). Aber es wird dazu von mir zum anderen auch kein eigenes Buchstabieren, Tüfteln oder ein mich abstumpfendes, einschränkendes, verkleinerndes Lernen gefordert: „einfach so“, indem ich aufhorche und mich einlasse, erfahre ich durch das Dritte, das Gedicht, begeistert mein Wissen.

Die Augenlust… setzt die Welt aus, Riegel zerreißen,
erstaunt im Begehren, das anderes sucht.

Unser gemeinsamer Dritter ist zwar, in Kolleritschs Weise, besonders, aber keineswegs einzig oder einmalig: Unter vielen Gestalten ist er uns schon begegnet und hat sich hören lassen, als der Orpheus, der die wilden Tiere zum Lauschen brachte; als der Daniel in der Löwengrube; als Jünglinge im Feuerofen; als „jener“, der nicht im Donner und Sturm vernehmbar wird, sondern erst…; als Fragment des Heraklit; als „Sanftes Gesetz“, wie es Adalbert Stifter erfuhr und aufzeichnete; als rufender Muezzin; als der endlos seine Klagepsalmen murmelnde Wahnsinnige in seinem Gitterbett; als der so unverständliche wie begeisterte Traumredner; als die plötzlich zungenredenden Kinder; als der fast stimmlose Sänger des „Cottonfield Blues“.
Läßt sich demnach sagen, was das Wesen jenes Dritten ist? Nein (denn es ist für sich schon ein Wesen, ein Eigenwesen: das „Gedichtwesen“ – im Sinn des „Wesens der Azurblauen Höhle“ oder des „Wesens der Gelben Schlucht“ das Wesen des Gedichts). Aber vielleicht läßt es sich umschreiben oder apostrophieren, zum Beispiel so wie in Platons Atlantis-Text „Kritias“ als „der Gott, welcher in Wirklichkeit schon längst, in der Rede dagegen soeben erst entstand…“, oder es läßt sich einfach hören aus dem Gedicht selbst, aus dem „Wenn das Denken die Pfingst- / schneise herabkommt, endlich…“ (Paul Celan) ebenso wie aus dem „Wir können nicht zum Schweigen bringen, / wer wir sind“ (Alfred Kolleritsch).

Peter Handke, Vorwort

 

„Ich will“,

schreibt Alfred Kolleritsch, „in Gedichten nichts nacherzählen, keine Schlaglichter auf die Wirklichkeit werfen und ihr die Moral vorsagen. Ich schaue mit den Gedichten auf die Krallen, mit denen wir uns festhalten an der Zeit, ich will die Krallen öffnen und das Ereignis des Absturzes erzeugen und im Moment des Fallens mit dem Gedicht die Hoffnung eines neuen Haltens fördern.“

Suhrkamp Verlag, Klappentext, 1988

 

Fahne aus Eis

Und immer geben die stillsten und fernsten Schritte den vertrautesten und nächstliegenden Klang. Gehend, fern und deshalb ganz in sich, ohne die anderen, nur dem Halt in den schweigenden Zeichen vertrauend, erschrieb und erschreibt sich Alfred Kolleritsch in seinen Gedichten seine/unsere eigentliche Wirklichkeit; es steckt eine schwebende Kraft in den Worten, Zeilen, Zeichen, die stets das Andere, das Abwesende, die Distanz benennt und überwindet. Wie Paul Celan, wie Francis Ponge, wie René Char, gibt er den Dingen und scheinbaren Paradoxien ihre Wirklichkeitsform zurück:

Es gibt Tage, an denen die Dinge
die Namen der Dinge sind,
Schriftzüge
unter den Himmel geschrieben:
aufgeboten von den Erzählern.

In bisher vier Gedichtbänden, erschienen seit 1978, tilgte Kolleritsch unentwegt die Spuren der Alltagssprache; ein Reinigungsprozeß, reich an behutsamen Bildern, reich an sensibler Melodik. Randerscheinungen werden dabei zum Gegenstand großer dichterischer Klarheit, deren Reinheit und Durchdrungenheit durch die nun von Peter Handke getroffene Auswahl an lyrischen Arbeiten noch deutlicher erkennbar wird.
Ein schmaler Band, aber von großem Gewicht. Fernab von konventionellen, hastigen Werks-Querschnitten, neu und zusätzlich gewichtet durch Handkes Erläuterungen zu dieser sehr persönlichen Zusammenstellung.
„Ich schaue mit den Gedichten auf die Krallen, mit denen wir uns festhalten an der Zeit, ich will die Krallen öffnen und das Ereignis des Absturzes erzeugen und im Moment des Fallens mit dem Gedicht die Hoffnung eines neuen Haltes fördern“, meint Kolleritsch. Dies impliziert die eingangs erwähnte Gegenbewegung, den Gang in das Abwesende als einzig bleibende Alternative zum abwesenden Gang. Fall und Tonfall, hier fanden sie ihre Entsprechung. Das Chaos der menschlichen Natur liegt weit hinter den Gedichten, in ihnen ruht stattdessen die stets aufs neue entschlüsselte und nahegebrachte Ordnung der fernsten Dinge. Peter Handke zitiert in seinen einführenden Worten eine Passage aus dem Schönberg-Gedicht von Kolleritsch:

Er ist die Ferne,
zu der er hinsteigt
Zeit, eingespielt,
Ereignis, ausgeschlossenes Drittes, das den
Wanderer mitnimmt.

Dieses „ausgeschlossene Dritte“, so Handke, „das ist die Sprechweise der Gedichte, und der Wanderer, das ist der Leser“.
Worte, Überlebende einer erstarrten Gesellschaft, leisten beiden, dem Autor und dem Wanderer, ihre verschwiegene Gesellschaft.
Nie versuche Kolleritsch, sich Nähe und Einverständnis durch Wortspiele zu erschwindeln, erläutert Handke die Auswahl der lyrischen Arbeiten – „sie bleibt entschieden im Dunkeln, wo ihr Reich ist, und nachvollziehbar an ihnen ist nicht ihr Sinn, vielmehr ihr Ernst, welchen sie durchhalten vom ersten Satz bis zum letzten: ihre größte, krönende Wirkung – Autorität ohne Autor, allersanfteste Autorität, die nur eingreift und wirksam wird, wenn ich Leser für sie bereit bin und sie will“. Natürlich dokumentiert die vorliegende Sammlung auch die Wandlungen des Verfassers, seine unverwechselbare Handschrift, seine Verweigerung vor stilistischen Zeitmoden, seinen unbeirrbaren Blick für die Schatten und das Licht.
Es ist, wie Borges einmal feststellte, in der Tat absurd, von Pflichtlektüre zu sprechen, weil es auch kein Pflichtglück gibt. Wohl aber gibt es für Wanderer zwischen den „Fahnen aus Eis“ unentbehrliche Weggefährten, die Ausdauer haben und zur passenden Zeit Hinweise wie diesen bieten:

Glück ist es, wenn ich den Glanz übersetze.

Nachzulesen in der „Ewigen Erzählung“ von Alfred Kolleritsch. Besonders dort gehorchen die Formen der Übersetzungen allesamt eigenen, beständigen Regeln, die viele Lesarten zulassen, aber nur auf ein Verständnis hinzielen: „Nichts ist es selbst.“ Die Dauer, die Kolleritsch seinen Wahrnehmungen so gerne abspricht, haben sie sich wie von selbst geholt.

Werner Krause, Kleine Zeitung, 5.1.1989

 

Alfred Kolleritsch im Gespräch mit Eberhard Büssem am 17.2.2006 in der Sendung alpha-Forum

 

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Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Handkerl“.

 

Bild von Juliane Duda mit den Zeichnungen von Klaus Ensikat und den Texten von Fritz J. Raddatz aus seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Hier „Handke, der“.

 

 

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Barbara Frischmuth, Friederike Mayröcker, Franz Weinzettl und Lydia Mischkulnig gratulieren

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Harald Miesbacher: A. K., die manuskripte, ihre Autoren und ich… 
manuskripte, Heft 191, März 2011

Rainer Götz: Rede zum 80. Geburtstag von A. K. Literaturhaus Graz (16.2.2011)
manuskripte, Heft 191, März 2011

Anton Thuswaldner: Alfred Kolleritsch: Der Dichter als Denker
Die Furche, 17.2.2011

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Präsentation des Lyrikbandes Es gibt den ungeheuren Anderen von Alfred Kolleritsch im LITERATURHAUS GRAZ am 5.2.2013.
Ausschnitte aus der gemeinsamen Lesung von Alfred Kolleritsch und dem Grazer Schauspieler Daniel Doujenis.

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