Alfred Kolleritsch: Im Vorfeld der Augen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Alfred Kolleritsch: Im Vorfeld der Augen

Kolleritsch-Im Vorfeld der Augen

DIE GERÄUSCHE sind aufgebraucht.
Im Gänsemarsch treten sie auf:
Erinnerungen an Angst, Zufall und Not.

Die halboffene Tür
verletzt nicht den Raum.
Die Luft strömt vorbei.
Die Generationen, das wegschmelzende Eis,
erhoffen die nächsten Gewölbe.

Es ist wieder die Zeit,
zu erfahren, sich hinzugeben,
mit dem Hochmut der Farben:
selbst zu sein,
frei zu sein für die DINGE.

Mit unserer Stille aufzutreten,
sagtest du,
heißt, den verlorenen Abgrund finden,
die nüchterne Schädelstätte.

Wir sind hier, wo ist der Ort?
Wo ist die ganze Welt
bis zu unserem Ende?

Es geht darum: herauszufinden
aus der selbstgefälligen Schwerkraft,
aus den Weissagungen.

Anfang und Ende verlieren ihr Maß,
wenn das eigene Herz
seinen Namen weiß:
wir sind da, der Name zu sein.

 

 

 

… Im Vertrauen, dass der Leser weiterdenkt

– Zu Alfred Kolleritsch Gedichten. –

Beim Anblättern und Anlesen des Gedichtbandes von Alfred Kolleritsch mit dem Titel Im Vorfeld der Augen spüre ich eine Irritation, die sich erst allmählich auflösen läßt; aber plötzlich weiß ich, was mich gestört hat, und im gleichen Moment ist die Irritation umgeschlagen ins Positive, in eine Art Erleichterung: das Buch hat keinen Klappentext, die Umschläge des Schutzumschlags sind jungfräulich dunkelblaugrau und leer. Wieso Irritation, wieso Erleichterung: Ich bemerke, wie sehr ich gewohnt bin, zuerst einmal die pauschale Vorankündigung durchzulesen und erst dann mich dem Text zu stellen. Den Ausfall dieser Vorstufe des Lesens empfinde ich jedoch als Erleichterung: ich bin gezwungen, mich sofort und unmittelbar den Gedichten zuzuwenden.
Wenn man ein einzelnes Gedicht liest, wird ein strukturelles Element deutlicher, als wenn man eine Reihe von Gedichten hintereinander liest. Die Gedichtreihe zeigt nicht so etwas wie eine Sprachfigur, sie zeigt eher ein Sprachfeld, ein Wortfeld. Was bleibt mir bei den Gedichten von Kolleritsch zuerst hängen? Wörter mit allgemeinem Charakter eher als Wörter spezieller Bedeutung, Wörter mit konkretem Hinweischarakter. Allgemeine Wörter wie: Hügel – Rand – Herz – Glück – Raum – Tod – Dinge – Land – Fremde. Nicht Indexwörter, sondern Wörter von einer gewissen Lapidarität der Bedeutung, einer gewissen Weiträumigkeit. Das bedeutet zugleich eine Minderung des Spezifischen, der Nuance, der Einmaligkeit. Charakteristisch scheint ein Gedicht wie dieses:

Du wirst zu früh
den Schacht zwischen Wort und Wort
eintauschen gegen Brücken:
Schande des Verzichts!

Was erscheint,
tötest du in der Erscheinung.
Ein Schrei
und dann ein Wort:
wie das Wort ist,
wie man so sagt.

Welchen Hinweis,
welche Sprünge
brauchen wir,
daß diese Stelle

der einzige Weg ist.

Ich möchte nun nicht sofort auf dieses Gedicht eingehen, sondern weiter sagen, was mir zunächst einmal an Formulierungen und Sätzen hängen geblieben ist. Zum Beispiel:

Was bleibt,
zugleich: mit mir und meinem Licht,
ist ohne Rand.

Oder:

Der Baum vergilt mir die Früchte.

Oder:

Die Kleider
regneten über die Haut,

in Strömen,
in Strömen.

Oder:

das Herz: Die Flosse
für die Unaufhörlichkeit des Todes

Aber was ist, um gleich beim letzten Satz zu bleiben, die „Unaufhörlichkeit des Todes“? Sagt man das nicht gemeinhin anders? Etwa Rilke:

Der Tod ist groß. Wir sind die Seinen lachenden Munds.
Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten in uns?

Oder prosaisch: der Tod ist unumgänglich? Aber die „Unaufhörlichkeit“? Kann etwas unaufhörlich sein, das doch seinem Wesen nach einen Einschnitt bedeutet? Ist nicht vielmehr das Bewußtsein von der Sterblichkeit gemeint? Und weiter: was soll denn dann die Flosse sein für diese Unaufhörlichkeit? Was ist das Herz im Bild der Flosse? Das Herz im Bild des Fischs, an dem das Herz nur als Flosse sitzt? Für was würde dann dieses Bild des Fisches stehen?
Ähnliche Fragen könnte ich an die anderen zitierten Sätze stellen. Was ist das ohne Rand Bleibende? Wieso regnen die Kleider, sind sie denn nicht dazu da, den Regen abzuhalten? Was heißt es, wenn ich in dem zitierten Gedicht „zu früh den Schacht zwischen Wort und Wort“ eintausche gegen Brücken? Welche Art von Brücken ist gemeint: syntaktische Brücken, semantische, ideologische? Vielleicht kann ich am raschesten weiterkommen, wenn ich die Metapher der regnenden Kleider aufzulösen versuche. Es steckt etwas darin wie „die Zerstörung des Durstes durch Wasser“, wie Max Bense einst formulierte. Wasser löscht Durst, aber zerstört ihn nicht. Kleider begegnen dem Regen, aber regnen nicht. Die Verkehrung von Passivsphäre und Aktivsphäre in Wortzusammenstellung und Satz führt zu einer bestimmten Art von Paradoxie. Diese paradoxe Redeweise, die in sich unauffällig ist, verkehrt doch die Rede, macht sie nicht eigentlich dunkel, ist nicht hermetisch, aber setzt in die Sprache so etwas wie metaphorische Spiegelflecke ein, die auf den ersten Blick blind erscheinen, doch beim näheren Zusehen zu öffnen sind.
Ein anderes Beispiel:

Wie schnell sie zurückgekehrt sind
von draußen,
nicht von Bergen und Seen,
nicht von den gelben Feldern,
dem Erlengewühl, den Hügeln
und den Wegen in Ebenen:
sie schlugen das Buch zu,
den Zorn des Buches.

Sie liefen ins offene Wort…

Der vergleichbare Vorgang hat hier deutlichere Richtung. Das Draußen, von dem zurückgekehrt wird, schnell zurückgekehrt wird, ist nicht das der Dinge und der Landschaft, sondern das des Buches. Die Rückkehr von draußen bedeutet das Zuschlagen des Buches, den Zorn des Buches. Offenbar sind die Rückkehrer zurückgekehrt, so schnell zurückgekehrt, weil sie vor dem Zorn des Buches das Buch zugeschlagen haben. Und was bedeutet das? „Sie liefen ins offene Wort.“ Sie liefen ins Wort, wie man ins Messer läuft, denn das ist die Redensart: ins offene Messer laufen. Ist das Wort, das Alfred Kolleritsch meint, ist sein Gedicht als die Verdichtung des Worts das offene Messer, in das der läuft, der es liest?
Das wird erläutert und fortgeführt:

Sie liefen ins offene Wort,
von einem ins andere,
im Dienste der Rache
sahen sie (wie immer) innen die Hölle,
das böse Gemach
hinter Auge und Ohr,
und nur eine Trauer
ließen sie zu:
über den erfundenen Abschied
von der erfundenen Wahrheit.

Hier wird die Rede vom offenen Wort doppeldeutig. Das offene Messer steckt noch darin, aber ebenso die Öffnung des Offenen. Denn ein offenes Wort ist wie das andere im Dienst der Rache. Rache wofür? Dafür, daß innen, in der Einbildung, in der Phantasie die Hölle herrscht? Und von dieser Hölle befreit, trauernd, nur eins: der erfundene Abschied von der erfundenen Wahrheit?
Denn, so fährt das Gedicht fort:

Was gewußt war, ist nicht bewältigt,
fortgehetzt sind die Bilder, die Begriffe
ausgekratzt, müde von ihrer Erfindung,
weggeschwemmt von der Wiederkehr,
keine Heimkehr.

Daß sie komme: die Erfahrung,
die herrliche Kralle,
totgekratzt die unbeweisbare Mauerschau,
frei: der Ansturm der Felder
ohne die Zeichen niederzwingender Sterne.

Man muß hier, so meine ich, vom Wortlaut des Gedichts weg, freier paraphrasieren. Es geht um die erfundene Wahrheit. Als erfunden erscheint sie, weil sie keine definitive, unumstößliche Wahrheit mehr ist. War sie das einmal? Wenn man soweit geht, die Wahrheit, die doch wahr sein soll und sonst gar nichts, als erfunden zu bezeichnen, dann wird notwendigerweise auch der Abschied von der erfundenen Wahrheit etwas Erfundenes, eine Relation der Relation. Das aber heißt, daß das, was als wahr gewußt war (als die Wahrheit noch wahr war und nicht erfunden), unbewältigt ist. Und das wiederum bedeutet, daß die Bilder verschwunden sind und die Begriffe von der Wand, an der sie einst erschienen, weggekratzt worden sind. Die, so konnte man übertreibend sagen, Materialermüdung der Begriffe löst die Verbindlichkeit, die früher mögliche Wiederkehr. Aber diese Auflösung bedeutet „keine Heimkehr“.
Es geht, so läßt sich jetzt erkennen, in diesem Gedicht um eine Grunderfahrung mit dem Schreiben, mit dem Finden und Aussprechen der Wahrheit, mit der Aufgabe des Gedichts. Was wegfällt, die Fortsetzung der Bilder, die Auskratzung der Begriffe, ist die Aufgabe der Überlieferung und der Übereinkunft. Die, wie schnell, Zurückgekehrten, von denen am Anfang die Rede ist, sind die, die sich, hoffend oder gläubig, noch einmal aufgemacht haben nach „draußen“. Es ist charakteristisch für die Gedichte von Kolleritsch, wie unversehens so beiläufige und im ersten Lesen am Rande stehende Wörter wie dieses „draußen“ im nachhinein, im Rücklesen, im Versuch, das Knäuel aufzurollen, als das sich jedes dieser Gedichte darstellt, eine enorme Bedeutung erhalten. Dieses „draußen“ erfährt nun fast Heideggersche Ausmaße. Draußen, das ist das Ungedeckte, nicht nur das Offene, und das offene Wort ist nicht nur das offene Messer, sondern das Wort, dem die Bilder fortgehetzt und die Begriffe ausgekratzt sind. Die so schnell Zurückgekehrten aber müssen ja zurückkehren, weil, wenn sie „draußen“ blieben, gar nichts mehr sagbar wäre. Dies aber, die Rückkehr ohne Heimkehr, ist die Erfahrung.

Daß sie komme: die Erfahrung,
die herrliche Kralle,
totgekratzt die unbeweisbare Mauerschau,
frei: der Ansturm der Felder
ohne die Zeichen niederzwingender Sterne.

Die Sterne stehen als Metapher, noch einmal für die erfundene Wahrheit, nun nicht als das Verlassene, sondern als das Bedrückende, das in seinen Zeichen die Offenheit versperrte. Erfahrung aber, entgegengesetzt den Bildern und Begriffen der überlieferten Übereinkunft, kratzt nun die unbeweisbare Mauerschau, eben die erfundene Wahrheit, vollends zu Tode, die Mauerschau wird totgekratzt, weil sie unbeweisbar geworden ist, und jetzt ist das wahre Draußen, „der Ansturm der Felder“, frei, auf den, der der Erfahrung teilhaftig geworden ist, einzudrängen, er kehrt, so kann man am Ende ergänzen, noch einmal um, läuft nun ins offene Messer des Worts, weil dessen Offenheit zugleich die Öffnung einer neuen Rede darstellt.
Eine solche eingehende Interpretation und Paraphrasierung eines Gedichts hebt diese Gedichte insgesamt auf eine hohe Stufe des Anspruchs. Kolleritschs Gedichte begnügen sich nicht damit, subjektive Befindlichkeit in heutiger Zeit auszudrücken, er wehrt die Dinghäufung und sinnblinde Aussagereihung der neuen Subjektivität wie der gesellschaftspolitisch ausgerichteten Gedichtschreiber ab. Er läßt sich nicht ein auf den antipoetischen Kontrast, die Kontrafaktur der Alltagsnähe, der Alltagssprache, des Alltagsdenkens. Diese Abwehr, dieses Nichteinlassen bedeutet aber nicht Rückfall in vergangene Rede, Restauration des Poetischen, obwohl das, vom Vokabular her gesehen, zunächst einen gewissen Anschein hat. Und selbst da, wo dies der neuen Tendenz zum „new romanticism“ zu folgen scheint, zerstört es doch diesen Anschein durch seine überall spürbare paradoxale Härte.
Die anfangs beschriebene Verschränkung der Ausdrucksweise, die nicht eigentlich mit dem Verblüffungseffekt des Paradoxons arbeitet, sondern im Austausch, im Umtausch der Bedeutungssphären so etwas wie paradoxale Färbung annimmt, macht diese Gedichte schwierig. Schwierig jedoch nicht, weil hier, vom Wortlaut her, unverständlich geredet würde, im Gegenteil: die Wörter sind einfach, die Sätze sind einfach; sondern schwierig deshalb, weil der Verlauf des jeweiligen Gedichts nicht glatt ist, sondern wie in eine Hemmschicht eingetaucht. Es rutscht nicht, man muß nachhaken, rücklesen, rückblättern. Selbst wenn man, wie ich es versucht habe, ein Gedicht einigermaßen auf einen Verständigungsnenner gebracht hat, löscht das Zweifel nicht aus. Es bleiben Reste, die auch im Sprung von einem Bild zum anderen, in der Unterlegung eines Sinn-Hintergrunds nicht vollends aufgelöst werden können.

Daß es sich anders entfaltet hat:
der Wiesenhang, das große Beisammensein
der Blüten und Gräser,
und die Besessenheit der Falter:
plötzlich frei, ohne Ökonomie,
ohne Zank der Sätze,
als alles für sich…

Das ist ein anderer Gedichtanfang, der in die Abkehr vom Überlieferten weist, in die Erinnerung, daß dort, wo „alles auch göttlich sei“, nichts mehr gehört, ich „meinen“ Augenblick dennoch nicht besitze. Hier widerspricht der Anfang: es hat sich alles anders entfaltet. Der Redende, der das Unerprobte der Erfahrung zu sagen versucht, kann sich dennoch nicht einfach trennen, es hängt ihm an, und ein gewisser verbaler Glanz, der die Gedichte Kolleritschs auszeichnet, hat hier seinen Ursprung.

Bis ins Tiefste, ohne den Raum zu messen,
geht die Erinnerung,
das böse Zwillingsgebilde.

So beginnt das Gedicht „Mein Land“. Ist dieses Tiefste der Abgrund Heideggers, von dem der Philosoph sagt, es müsse solche geben, die in ihn hinabreichen? Und warum ist die Erinnerung ein böses Zwillingsgebilde? Weil die Erinnerung an die vergangene Schönheit der erfundenen Wahrheit, der stimmenden Bilder und Metaphern zugleich deren Ausgekratztheit zeigt? Böse dies Zusammensein von unvergeßlicher Vergessenheit und unausweichlich fordernder Offenheit?
Man könnte die Gedichte Kolleritschs versuchsweise als Gedankenlyrik bezeichnen. Aber schon wenn ich das ausspreche, spüre ich, wo die Grenzen sind und was falsch klingt. Was sich in ihnen zeigt, ist eine Neuorientierung grundsätzlicher Art, eine Neuorientierung, die sich ganz und gar verläßt auf die eigenen Übereinkünfte, nicht hermetisch, sondern im Vertrauen, daß der Leser weiterdenkt. Daß das nicht allein steht, möchte ich mit zwei anderen Gedichtschreibern belegen, mit dem 1935 geborenen Dietrich Krusche und dem 1957 geborenen Uwe Kolbe. Krusches Gedicht liest sich fast wie ein Kommentar zu Kolleritsch:

VERZÖGERTE GEBURT

Schon lange
wachse ich heraus
und stecke wachsend fest.
Längst sind die Wehen
in Wellen über mich hinweggezuckt –
ganz schräg
wachse ich aus
die Füße vorgereckt, die Füße schon
als noch der Kopf
tief innen hing, unfertig und
nicht abgesetzt vom Bauch
mit dem Geschlecht
noch irgendwo am Hals
doppelter Adamsapfel.

Was Krusche hier noch einmal in die fast geschlossene Metapher zurückholt, weitet sich aus zum Bild, in dem erkennbar wird, was in den anderen Gedichten angeschlagen wird. Enger geflochten, heftiger, widerspenstiger nach klingt das, was der Jüngere, aus der DDR-Erfahrung einer neuen Generation heraus, Uwe Kolbe, zu sagen versucht. Und allein die Tatsache, daß ich hier drei so unterschiedliche Autoren in einen Vergleich eher zwingen als bringen kann, zeigt, so meine ich, die Bewegung, in der diese Gedichte stehen:

SO SCHENKTE DER ABEND SEINEN HIMMEL

Alle irdischen Schatten hält diese Kuppel,
diese Hand geballt,
wölbt jede schwankende Form.
Gottes Achselschweiß peitscht uns als Regen.
Gelächter, Wohnblock fällt
auf Wohnblock wie Kulissen in sich,
ist wütender Schmutz, ist hektische Stille.
Verzicht ist unmöglich
über jene Stimmung hinaus:
Infantile Depression, Irratio und diffuses Licht,
Leider, betonend und Zäsur.
Abend wehrt sich in mir
gegen Abend, Schimmer steht
gegen Schimmer.
Bewußtsein heißt das Lebenselement
der Szenerie, federnder Dolch
im Schacht der Gefühle.
Wie wäre die Welt bereit,
Besitzer und Namen zu wechseln.

Helmut Heißenbüttel, Manuskript einer Funkbesprechung. Gesendet vom Deutschlandfunk, 6.6.1982

 

Frei zu sein für Dinge

Beim Lesen ist dieses Vorwissen aber entbehrlich. Es genügt, wenn man weiß, daß es Gedichte eines Fünfzigjährigen sind. Durch publizistische Nachwuchsförderungen und Wettbewerbe wird oft der Eindruck erweckt, die neue Lyrik sei eine Parallelveranstaltung zu „Jugend musiziert“. Das vergißt sich hier bald. Etwa in jenem Gedicht, das mit dem Ausruf eines Erschreckens beginnt: „Wie wir uns wiederbegegnen!“ Der Leser möge prüfen, ob er in dieses „Wir“ mit hineingehört. Erfahrungen sind vorausgesetzt, die mir für eine irrwegbewußte Generation spezifisch erscheinen.

Jeder von uns war beschäftigt
nicht mit Geduld
aber mit Zorn,
daß der Befehl
nicht vor der Nacht ausgeführt war:
(…)
Wir hatten die Dinge ohne die Dinge,
die Menschen ohne die Menschen,
wir zitierten und sagten, wir sind.

Wer sich betroffen fühlt, dürfte dazugehören. Doch die Anmaßung des Für-andere-Sprechens ist diesen Gedichten fremd, sie wird verworfen:

Es ist ein Wahn, den Plural zu feiern,
irrsinniger als der Spiegel:
die Leichtigkeit, sich wiederzugeben.
„Du hast mich verraten“, sagen die einen,
die anderen schweigen.
Ich sage, das Wahre
ist ein Abguß des Todes.

„Plural“ meint hier die erste Person pluralis. Das „Wir“ ist verdächtig, sobald es sich über die kleinste Mehrzahl erhebt. Im intimen Wir kann sich das Ich noch behaupten, im großen droht es zu verschwinden. Diese Gefahr ist in fast allen Gedichten gegenwärtig, als Gefahr, sich im Ungefähren, im „Wahn“, in den ungenauen Worten und in der Gefolgschaft von „Weisungen“ zu verlieren, denen unsere nicht weniger ungenauen Hoffnungen nachlaufen möchten, erlösungslüstern. Das Ich der Gedichte weiß diese Gefahr bereits hinter sich. Für „Weisungen“ sagt Kolleritsch auch „offenes Wort“ oder „die Geräusche“ – sie „sind aufgebraucht“ und es war „Täuschung, / den Geräuschen zu trauen“.
In einem anderen Gedicht wird das zu große Wir im „Sie“ zum Thema, also die erste Person des Plurals in der dritten: „Wie schnell sie zurückgekehrt sind / von draußen…“ –

Sie liefen ins offene Wort,
von einem ins andere,
im Dienst der Rache
sahen sie (wie immer) innen die Hölle,
das böse Gemach
hinter Auge und Ohr,
und nur eine Trauer
ließen sie zu:
über den erfundenen Abschied
von der erfundenen Wahrheit.

Was gewußt war, ist nicht bewältigt,
fortgehetzt sind die Bilder, die Begriffe
ausgekratzt, müde von ihrer Erfindung,
weggeschwemmt von der Wiederkehr,
keine Heimkehr.

Wer mögen sie sein, denen dies widerfuhr? (Morgen wird es anderen widerfahren.) Indem das Gedicht ihnen keinen Namen gibt, öffnet es sich für Bedeutungen, die sonst ausgeschlossen blieben. Aber die Scheu zu benennen, hat auch eine Unschärfe zur Folge. Ich kann den ausgelassenen Namen nicht selbst finden, vielleicht kommt es nicht auf ihn an, doch bleibt dann eben meine Übereinstimmung mit dem Gedicht etwas vage. Jene Unbekannten haben ihr Wissen „nicht bewältigt“. Wer dürfte von sich das Gegenteil behaupten? Sie haben „die Bilder“ fortgehetzt, das mag heißen: die Poesie. Sie haben die „Begriffe ausgekratzt“, das mag bedeuten: Schindluder mit der Philosophie getrieben; Sie haben (sagt das Gedicht) das Innere des Menschen nur noch als „Hölle“ gesehen, seine Innerlichkeit zum Schmähwort gemacht. Aber „im Dienste der Rache“ – welcher Rache? (Ist das nicht etwa auch ein zu „offenes Wort“?) Polemik dringt ins Gedicht. Ich kann ihre Notwendigkeit verstehen, aber sie hat ein kaum zu fassendes Objekt: das vom Ich verlassene Wir, ein suspektes Sie, das nur durch die Standortvermessung des Ichs ein wenig kenntlicher wird.
Das Subjekt der Gedichte hat eine Wende vollzogen, sie mag eine Lebensentscheidung des Autors sein. Wenn man sagt, sie sei gegen die Intellektualität als Lebensform gerichtet, ist das vielleicht eine zu schwache Andeutung. Aber dieses Ich gehört einem Menschen, der nach Anlage, Neigung und Bildung das Denken zum primären Organ seiner Weltaneignung und seiner Selbstbefragung entwickelte und der gerade deshalb in dem Verdacht leben muß, „die Welt“ geschehe anderswo, sie könne anders sein, als der nur Denkende sie sieht, und auch die Erkenntnis des Selbst sei mit diesem Organ allein nicht zu erlangen. Eine solche Disposition, die einen Mangel mit einem Vorsprung verbindet, ist die klassische Disposition des Aufbrechenden.
Die zunehmende Häufigkeit solcher Wenden scheint zivilisationsgeschichtlich heute sehr nötig, trotzdem wird jede für sich ihre individuelle Notwendigkeit selbst beweisen müssen. Für Kolleritsch ist das Gedicht zum Instrument einer solchen Beweisführung geworden, vielleicht zum Vollzugsorgan der Wende selbst. Nie sind Standortbestimmungen dringlicher als gerade im Augenblick solcher Kehren. Doch läßt sich der Wendepunkt wirklich vermessen? Das Woher ist verworfen, das Wohin noch kaum zu benennen, gewiß ist nur der Affekt der Entscheidung, die Energie des Aufbruchs.
Vermutlich liegt hier das Sprachproblem jeder Aufbruchs- und Entscheidungslyrik, vor allem aber einer, die den „offenen Worten“ mißtraut. Bei Kolleritsch gibt sich die Wende als die beginnende Rettung des Selbst zu erkennen, doch das Rettende bekommt keinen Namen. Ein Richtungswink, ein Begriff muß genügen: „die Erfahrung“. Dringlich wird dieses Wort gesprochen, ebenso dringlich wie andere Wörter, die in sein Umfeld gehören (etwa „die Dinge“, „die Stille“). Die Emphase ist nötig, sie scheint das einzige (vielleicht zu schwache) Mittel zu sein, durch das ein abstraktes Wort zum Gegenwort aller „ausgekratzten Begriffe“ werden könnte. In der Schlußstrophe tönt „Erfahrung“ fast wie der Name des Heils:

Daß sie komme: die Erfahrung,
die herrliche Kralle,
totgekratzt die unbeweisbare Mauerschau,
frei: der Ansturm der Felder

ohne die Zeichen niederzwingender Sterne.

In dieser Richtung ist das Subjekt unterwegs. Die Nähe des Ziels wird nicht vorgetäuscht, vielleicht bleibt es unerreichbar. Am klarsten, scheint mir, zeigt sich die Redlichkeit dieser Poesie in ihrem vorsichtigen Gebrauch idyllischer Natur- und Erinnerungsbilder. So in dem Gedicht „Landschaft aus der Erinnerung“. Von schöner Natur ist die Rede, wie es sie ungefährdet nur noch in unserer Erinnerung gibt. Vielleicht ist selbst dieses Erinnern objektiv falsch; aber ich möchte glauben, daß es ein Richtig und Falsch für Erinnerungen nicht gibt. Von Schönheit spricht das Gedicht, vom „großen Beisammensein der Blüten und Gräser“ (dem paradiesischen „Wir gedankenfreier Wesen“), von der „Besessenheit der Falter“, von erklingendem Holz, von Farbengüssen und von der besitzlosen Teilhabe dessen, der dies alles in sich aufnahm, es vergaß und nun in sich wiederfand. Er will „in Erwartung der Früchte“ anspruchslos bleiben, sich nicht einmischen, ohne „den Zank der Sätze“ sein. Das Flüchtigste sei das Dauerhafteste: „Der Duft kam, / das Überdauern…“ Die Schlußstrophe sollte man meditieren:

Das alles auch göttlich sei,
hieß,
es gehört nicht den Menschen
später: in Fässern, Herbarien,
im Wiederweg, Jahr für Jahr
unter der Gleichzeitigkeit
vergangener Tage,
schaffte die Lust den Sieg:
„mein“ Augenblick,
ohne ihn zu besitzen.

Vielleicht war die Göttlichkeit der Welt nie anders als so zu definieren – ex negativo („es gehört nicht den Menschen“). Die Erfahrung des Glücks ist die Erfahrung der aufgehobenen Zeit. Begeistert wird das Wort „mein“ ausgesprochen, weil es nun frei sein soll vom Anspruch auf einen Besitz. In welche Bahnen schwenkt hier das Denken und Fühlen ein?
War nicht „Erfahrung“ das Losungswort Rilkes, als er 1906 jene Wende vollzog, der wir die Neuen Gedichte und die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge verdanken? Und hatte Rilke nicht seine Wende mit denselben Begriffen markiert, die nun bei Alfred Kolleritsch wiederkehren: das Gebot „der Stille“, die Selbstbefreiung des Ichs in der Hinwendung zu „den Dingen“, die Aufhebung der Besitzansprüche im „Bezug“? Das kommt hier zurück, zwar nicht als dieselbe Entscheidung, nicht als dasselbe Programm, und erst recht nicht als Anklang an den Rilke-Ton – aber es ist ein Gleiches. Auf der Ebene solcher Entscheidungen gibt es prinzipiell keine Originalität, nur Notwendigkeiten. Wenn Übereinstimmung hier irgendetwas beweist, so gewiß nicht eine Rückschrittlichkeit des heute geschriebenen Gedichtes, sondern Rilkes Modernität, Rilkes Zeitgenossenschaft, das Fortbestehen und die Verschärfung derselben historischen Bedingungen, unter denen schon er seine Wende vollzog. Kolleritsch spricht von der seinen. Wir haben zur Kenntnis zu nehmen, und es muß uns frag-würdig sein, daß er sich dabei Rilkescher Schlüsselbegriffe bedient:

Es ist wieder Zeit,
zu erfahren, sich hinzugeben,
mit dem Hochmut der Farben:
selbst zu sein,
frei zu sein für die Dinge.

Es ist heikel, wenn man solche Verse heraushebt und dem Leser doch raten muß, sich nicht zu fest an einzelne Sätze zu halten und sie nicht vorschnell als adressierte Botschaften zu lesen. Sie sind allenfalls Zurufe, und wir müssen es ernst nehmen, wenn der Dichter (im ersten Text des Bandes) auf die Frage, ob sein Gedicht auch „für andere“ sei, eine Antwort gibt, die das Ja nicht vom Nein trennen will: „Man soll das Ohr nicht besetzen.“ Kolleritsch weiß, „wie ungeheuer Feststellungen sind“. Wir aber sollten diese Warnung beherzigen und die Bewegung eines Gedichtes nicht durch eigene Fest-Stellungen beenden. Auch die Abstraktheit der etwa als Botschaften lesbaren Sätze sollte uns davor bewahren.

Mancher wird die Bevorzugung allgemeiner Begriffe in Gedichten für einen poetischen Mangel halten. Mir schiene ein solches Urteil voreilig, vor allem aber zu allgemein. Kolleritsch hat eine Wende vollzogen, die sich mit Rilkes Neuorientierung vor einem dreiviertel Jahrhundert vergleichen läßt. Er lädt selbst zu einem solchen Vergleiche ein, indem er Schlüsselbegriffe der Rilkeschen Dichtungs- und Lebensphilosophie übernimmt. Das ist kühn und als Kühnheit zu respektieren. Weiter reicht die Vergleichbarkeit nicht, und gerade der Abstand wird nicht verwischt. Die privaten Bedingungen beider Entscheidungen stehen hier nicht zur Diskussion, die geschichtlichen Bedingungen aber haben sich verschärft: Die Refugien des Ichs sind in einer Welt, die auf seine und ihre eigene Auslöschung programmiert scheint, im Schwinden begriffen; die Bedrohung übersteigt unsere Vorstellungskraft. Daß Rilke noch einmal die Kraft und die Möglichkeit fand, seine Wende unter den Schirm eines Mythos zu stellen, bleibt ein grandioser Skandal in der Geschichte der modernen Lyrik, es ist fast ein Wunder. Orpheus, der Sänger des „reinen Bezugs“ und der Besitzlosigkeit – Rilkes Rettung der Poesie im Mythos. Und seither scheint die westeuropäische Lyrik andauernd mit ihrer Rettung beschäftigt: Sie wäre die Rettung des Ichs.
Mir scheint, daß im Lichte von Rilkes prekärer Mythenfindung auch etwas an Kolleritschs Versen deutlicher wird. Im Schutz eines Mythos konnten poetische Bilder gedeihen, Begriffe konnten zu Namen werden, Abstrakta sich in Erfahrungszeichen verwandeln. Ein solcher Schirm ist seither nicht mehr gefunden worden, und wenn ihn ein heutiger Lyriker kaum noch zu suchen wagt, halte ich dies für einen Beweis von Einsicht und Tapferkeit. Beide haben ihren Preis, und ich glaube, er deutet sich bei Alfred Kolleritsch in der Häufigkeit abstrakter Worte und in der Emphase ihres poetischen Gebrauches an. Nur im letzten Gedicht des Bandes nehmen sie überhand, auf siebenundzwanzig Zeilen zweiundzwanzig allgemeine Begriffe: Angst, Zufall, Not, Raum, Dinge, Stille, Abgrund, Ort, Schwerkraft, Weisungen, unsere ganze Welt… Dieser Extremfall ist irritierend und aufschlußreich. (Er irritiert aber nicht meine Sympathie.) Wenn die Wende, von der die Gedichte Zeugnis geben, der Ausbruch aus einer intellektuellen Gefangenschaft ist, so scheint mir dieses Gedicht vor der Schwelle gesprochen, über die die anderen Gedichte bereits hinweg sind.
Aus allen aber spricht die Gewißheit einer offenen Tür. Wenn diese Tür zu den „Dingen“ führt, so führt sie (sagen die Verse) zugleich auch nach innen, in „unsere Stille“. Ein anderer Name steht für das Ziel nicht bereit. Das wird manchem zu wenig sein, manchem vielleicht schon zu viel. Aber die Scheu, es zu benennen, hat ernsteste Gründe. Wenn „Gott“ nur mehr ein Zitatwort ist, das in distanzierenden Anführungszeichen erscheint, weil nur noch „sein Schweigen! sein Ganzes zu nennen“ ist, tritt auch ein Namensverbot für näher liegende Ziele in Kraft. Kein Name für Rettendes besäße die kollektive Verbindlichkeit. Wie könnte sich die heillose Vereinzelung unseres Denkens und jeder unserer Erfahrungen in einem „Ganzen“ aufheben? Wie könnten das Ich und das Sie ein Wir ergeben, das nicht ebenso heillos und seinsverlassen wäre? Ein in Klammern geschriebener Satz deutet die Richtung an, in der eine Antwort auf solche Fragen zu finden wäre. Er ist nur die Partikel eines größeren Textes, er hat kein Subjekt und kein Prädikat, er ist unabgeschlossen, er fordert zu etwas auf: „Als Teil! im Schmerz das Ganze“.
Rührte nicht jedes Gedicht dieses Bandes an Wurzeln unserer geistigen Existenz, so wäre mir das Buch allein dieses Satzes wegen teuer. Wer ihn zu Ende meditieren könnte, müßte sich jenseits aller Trauer wiederfinden. Alfred Kolleritsch scheint diesen Weg in seinen Gedichten beschritten zu haben.

Peter Horst Neumann, Die Zeit, 25.3.1983

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Albert Berger: Die Besinnlichkeit des Intellektuellen
Lothar Jordan, Axel Marquardt, Winfried Woesler (Hrsg.): Lyrik – Erlebnis und Kritik

Ursula Krechel, Ursula: Die Augengläser der Begriffe
Lesezeichen, Heft 4, Frühjahr 1982

Beatrice von Matt: „Fluchtwege wiederholen sich“
Neue Zürcher Zeitung, 8.5.1982

Walter Hinck: Lob des Schielens. Gedichte von Alfred Kolleritsch und E.A. Richter
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.6.1982

Dieter Bitterli: … selbst zu sein, frei zu sein für die Dinge…
Luzerner Neueste Nachrichten, 8.7.1982

Jürgen P. Wallmann: So nah in der Ferne. Verse gegen den Stundenschlag
Rheinischer Merkur, 9.7.1982

Martin Kraft: Im Vorfeld der Augen
Der Landbote, 31.7.1982

Georges Hausemer: Wie ungeheuer Feststellungen sind. Alfred Kolleritschs neue Gedichte
Saarbrücker Zeitung, 2.10.1982

Georg Hausemer: Die nachgemachte Welt hinterschauen
Das Pult, Heft 65, 1982

Germinal Čivikov: Als sei das andere / gleich gesagt / anders. Marginalien zur Sprachskepsis und Sprachkritik der Gedichte „Im Vorfeld der Augen“ von Alfred Kolleritsch
literatur für leser, Sonderdruck, Heft 2, 1986

Erhard Schütz: Bildbereinigung oder Hochmut der Farben
Schreibheft, Heft 19, 1982

Jürgen P. Wallmann: Alfred Kolleritsch: Im Vorfeld der Augen
Literatur und Kritik, Heft 173/174, 1983

Philip Grundlehner: Alfred Kolleritsch. Im Vorfeld der Augen
World literature today. A literary quarterly of the university of Oklahoma, Spring 1983

 

Laudatio Alfred Kolleritsch

Alfred Kolleritsch (geb. 1931) ist als Präsident der (Grazer Künstlervereinigung) Forum Stadtpark und als Herausgeber der (Literaturzeitschrift) manuskripte zu einer Leitfigur der österreichischen literarischen Avantgarde geworden. Seit fast zehn Jahren widmet er sich konsequent dem Gedicht (1978 der Gedichtband Einübung in das Vermeidbare, 1982 Im Vorfeld der Augen, 1983 Absturz ins Glück, 1986 Augenlust). Er ist kein Trakl-Epigone, aber er denkt mit und auch in Bildern aus der heutigen Sprachkrise über sie hinaus.

So die Kurzbegründung der Jury, die den Träger des Georg-Trakl-Preises für Lyrik zum 100. Geburtstag Georg Trakls vorzuschlagen hatte. Ich möchte, als ein Mitglied dieser Jury, der auch Brigitta Ashoff, Kurt Klinger und Walter Vogt angehörten, diese Kurzbeschreibung etwas weiter ausführen.
1979 schrieb Manfred Mixner in seinem Beitrag zum Kritischen Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur vom „Eindruck einer magischen Bildwelt“, den „alle Texte von Alfred Kolleritsch“ „erwecken“, „trotz ihrer mitunter den Leser schier abweisenden philosophischen Komplexität“.

Er findet darin eine vorherrschende Richtung gegen das Erstarren der Bilder:

Sich diese Bilderwelt bewußt zu machen, sie nicht als festgemachte zu begreifen (wie eben falsches Bewußtsein Tradition versteht), ist das Ziel des erinnernden Schreibens von Kolleritsch.

Dazu ein Zitat aus dem Roman Die grüne Seite (1974):

Zwischen den abgelehnten Erklärungsangeboten behaupteten sich Bilder, und weil sie sich behaupteten, mußten sie entlarvt werden… Er hatte oft erlebt, wie fortschrittliche Menschen völlig unkritisch ihre innere Metaphorik übersahen, diesen Hang des Menschen, Unsicherheit, Angst und Distanz durch Dauer zu ersetzen, durch eine der Zeit widerlaufende Identität.

Immer wieder gehe es Kolleritsch darum, „die von Erstarrung bedrohte Bilderwelt in Bewegung zu halten… Wahrheit nicht als endgültige, tödliche zu begreifen.“
So gesehen bekommen die Absagen, mit denen der Gedichtband Einübung in das Vermeidbare beginnt und endet, so wie auch der Titel einen positiven Sinn, als Wegzeichen eines Prozesses, in dem fixierende Täuschungen und Selbsttäuschungen immer aufs neue aufgedeckt und weggeräumt werden. Die erste Verszeile lautet:

MEINEN EINFÄLLEN vertraue ich nicht

und am Ende heißt es:

Erinnerungen können sich ausbreiten
sie nehmen die Kälte
von Abbildern an…
Aber bald kommt etwas Neues…
Die Chance schwindet,
es noch zu sagen

Peter Handke hat in seiner Rede zur Verleihung des Petrarca-Preises, den Kolleritsch für Einübung in das Vermeidbare 1978 erhielt, vom Anschein einer „Geschichte“, einer „Entwicklung“ gesprochen, den diese Gedichte erwecken. Das läßt sich ausweiten auf die folgenden Gedichtbände, deren Titel allein schon Bewegung, Fortschreiten anzeigen, auch in ihrer Abfolge: Im Vorfeld der Augen, Absturz ins Glück, Augenlust.
Dieser Gedicht-Weg in seiner besonderen Verbindung von Bild und Abstraktion, von Sprachreflexion und Sprachgebrauch führt nicht ins End-Gültige, ins Unvermeidbare. Das letzte Gedicht des bisher letzten Gedichtbandes ist mit „Rettung“ überschrieben. Es wendet sich sowohl gegen das „(Heil); was nie geblieben, nie gewesen ist“, wie gegen den „Zorn“, der „das Entschwundene“ „vergißt“ (Kolleritschs erste Gedichtsammlung, z.T. eingegangen in Einübung in das Vermeidbare, trug den Titel erinnerter zorn). Und wieder steht am Ende eine Absage:

im Gleichen redet alles weiter, die Reden reden gegeneinander, wovon einmal die Rede war, ist aus der Rede fort, sie summt sich selbst, die Welt ist nackt, verdammt, getrennt. Die Namen fehlen ihr, zu sein, was sie nicht ist.

Diese Diagnose hat sich bereits Im Vorfeld der Augen aphoristisch verdichtet:

„… Einmal.
Es wiederholt sich…“

„… Wie Mozarts Söhne
nehmen diese Dinge nur noch teil…“

Aber auf der Gegenseite zielen diese Gedichte immer wieder über die verfestigten Grenzen der Absage hinaus:

VON DIESER Wiederholung: die Chance
sie zu vergessen.
Das Untertauchen der Wahrheit,
das Wegschwimmen der Rastsätze:
Überglück.

(Im Vorfeld der Augen)

Daß sie komme: die Erfahrung,
die herrliche Kralle…
frei: der Ansturm der Felder
ohne die Zeichen niederzwingender Sterne

(Im Vorfeld der Augen)

Wiederum verraten bereits die Titel der Gedichtbände etwas von dieser anderen Seite. Auf einem schmalen Grat zwischen dem Nichtmehr-So-Sprechen-Können und der stets gefährdeten Einübung in ein anderes Sprechen bewegen sich Alfred Kolleritschs Gedichte. Damit erinnern sie ganz leise und ganz von fern an Georg Trakl.
Gegen jede vorschnelle Gleichsetzung, Harmonisierung seien sie abschließend noch einmal selbst aufgerufen:

DU WIRST zu früh
Den Schacht zwischen Wort und Wort
eintauschen gegen Brücken:
Schande des Verzichts!…

(Im Vorfeld der Augen)

Walter Weiss, aus Hans Weichselbaum (Hrsg.): Trakl-Forum 1987, Otto Müller Verlag, 1988

 

Alfred Kolleritsch im Gespräch mit Eberhard Büssem am 17.2.2006 in der Sendung alpha-Forum

 

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Barbara Frischmuth, Friederike Mayröcker, Franz Weinzettl und Lydia Mischkulnig gratulieren

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Harald Miesbacher: A. K., die manuskripte, ihre Autoren und ich… 
manuskripte, Heft 191, März 2011

Rainer Götz: Rede zum 80. Geburtstag von A. K. Literaturhaus Graz (16.2.2011)
manuskripte, Heft 191, März 2011

Anton Thuswaldner: Alfred Kolleritsch: Der Dichter als Denker
Die Furche, 17.2.2011

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Präsentation des Lyrikbandes Es gibt den ungeheuren Anderen von Alfred Kolleritsch im LITERATURHAUS GRAZ am 5.2.2013.
Ausschnitte aus der gemeinsamen Lesung von Alfred Kolleritsch und dem Grazer Schauspieler Daniel Doujenis.

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